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Pfotenglück und Sommerwellen

Als Buch hier erhältlich:

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Manchmal ist das größte Glück nur eine Fellnase entfernt

Isalie Charlotte Hansen hat sich ihren größten Traum erfüllt und ist als Influencerin von Hamburg aus durchgestartet. Ihre Kanäle, auf denen sie Marketingtipps gibt, haben Hunderttausende Follower und sie ist bei Unternehmen als Beraterin gefragt. Doch als sie einen Auftrag von einem Bauernhof an der Küste erhält, betritt Isalie Neuland. Nicht nur, dass sie sich mit der neuen Materie auseinandersetzen muss, auch Max, der schlecht gelaunte Sohn ihrer Auftraggeberin, legt ihr so manchen Stein in den Weg. Dabei findet Isalie Max eigentlich ganz attraktiv. Jetzt muss sie ihn nur noch davon überzeugen, dass auch in ihr, dem Stadtkind, mehr steckt.


  • Erscheinungstag: 15.04.2025
  • Aus der Serie: Lichterhaven
  • Bandnummer: 8
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906857
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Zum Buch

»Guten Tag«, grüßte sie und bemühte sich um ein unbefangenes Lächeln, um den beiden Männern zuvorzukommen, die sie beide sichtlich überrascht musterten. »Tut mir leid, dass ich hier einfach so auf Ihrem Grundstück herumlaufe. Ich bin Isalie Hansen. Ich hatte angenommen, Sie erwarten mich bereits.«

»Und wie wir Sie erwartet haben.« Der blonde Mann lächelte ebenfalls, trat auf sie zu und ergriff ihre ausgestreckte rechte Hand. Sein Händedruck war energisch und fest. »Nicht wahr?«, wandte er sich an seinen Begleiter. »Wir konnten es kaum noch erwarten.«

Zu Isalies Überraschung erntete er dafür einen heftigen Hieb mit dem Ellenbogen von dem braunhaarigen Mann.

»Halt die Klappe.« Mit weitaus weniger freundlicher Miene trat er auf Isalie zu, schob seine Hände jedoch in die Taschen seiner Hose, anstatt ihr ebenfalls die Hand zu schütteln. »Sie sind also hier«, stellte er lapidar fest.

»Ja, äh, das bin ich.« Isalie wusste nicht ganz, wie sie mit dieser unterkühlten Begrüßung umgehen sollte. »Sie haben es schön hier«, fügte sie deshalb etwas lahm hinzu.

Ihr Gegenüber hob denn auch nur spöttisch die Augenbrauen, dann grinste er. »Mal sehen, ob Sie das in einer halben Stunde immer noch denken. Max Paulsen«, stellte er sich vor und reichte ihr nun doch die Hand.

Zur Autorin:

Seit Petra Schier 2003 ihr Fernstudium in Geschichte und Literatur abschloss, arbeitet sie als freie Autorin. Neben ihren zauberhaften Liebesromanen mit Hund schreibt sie auch historische Romane. Sie lebt heute mit ihrem Mann und einem deutschen Schäferhund in einem kleinen Ort in der Eifel.

Petra Schier

Pfotenglück und Sommerwellen

Roman

HarperCollins

1. Kapitel

Als sein Wecker um fünf Uhr dreißig aufdringlich zu piepsen begann, zog Max Paulsen mit einer Hand stöhnend sein Kissen über die Ohren, mit der anderen tastete er rasch nach dem Unruhestifter und schaltete den Alarm aus. Durch die Ritzen der nicht ganz geschlossenen Rollläden stahl sich bereits etwas Tageslicht ins Schlafzimmer. Da das Fenster gekippt war, konnte er das vielstimmige Morgenkonzert der Vögel hören. Einen Moment blieb er ganz ruhig liegen und starrte in die diffuse Dunkelheit, doch da spürte er, wie sich neben ihm etwas regte.

»Ist schon morgen?«, drang eine helle Stimme gedämpft zwischen Kissen und Decke auf der rechten Betthälfte hervor.

Er spürte, wie die Hand seiner Tochter nach ihm tastete, ergriff sie und drückte sie kurz. »Schlaf weiter, Mäuschen, es ist noch zu früh für dich.«

Die Antwort darauf konnte er nicht verstehen.

Halb amüsiert, halb nachdenklich schwang er sich aus dem Bett, suchte, ohne Licht zu machen, Unterwäsche und Arbeitskleidung aus Schubladen und Kleiderschrank zusammen und wollte schon hinüber ins Bad schleichen. Gerade, als er die Schlafzimmertür öffnete, kam ihm sein fünfjähriger Sohn Jonathan entgegen. Der Junge trug einen Schlafanzug mit gelben Ufos auf dunkelblauem Untergrund und schlurfte mit hängendem Kopf und Schultern wortlos an ihm vorbei ins Schlafzimmer. Max wusste, dass der Junge wahrscheinlich kaum richtig wach war, deshalb sprach er ihn nicht an, sondern sah ihm nur zu, wie er, was in letzter Zeit häufig vorkam, auf Max’ Bettseite unter die Bettdecke krabbelte, sich einkuschelte und offenbar sofort einschlief.

Einen langen Moment blickte Max unschlüssig zu dem Doppelbett, aus dem nun zweistimmig tiefes, gleichmäßiges Atmen zu vernehmen war. Das schräge Krähen des Hahnes aus dem Hühnerstall ließ ihn leicht zusammenzucken. Rasch zog er die Schlafzimmertür bis auf einen kleinen Spalt hinter sich zu und begab sich endlich ins Bad, um sich für einen weiteren anstrengenden Tag fertig zu machen.

Als er etwas mehr als eine Stunde später von den Ställen, in denen er die sechs Schweine, zwei Rinder, drei Kühe und siebzig Hühner versorgt hatte, ins Haus zurückkehrte, lag bereits herrlicher Kaffeeduft in der Luft. Aus der Küche war leises Klappern, die Stimme seines Vaters und das Lachen der Kinder zu vernehmen. Einen kurzen Augenblick blieb er im Hauseingang stehen, schloss die Augen und dankte dem Himmel dafür, dass er liebevolle und zupackende Eltern hatte, die ihm mit Jonathan und Lilly beistanden. Anders hätte er sein Leben nach der Scheidung von seiner Frau Inga vor etwas mehr als einem halben Jahr nicht in den Griff bekommen.

Inga hatte ihn im letzten Sommer verlassen und davor bereits mindestens ein Jahr lang, vielleicht sogar schon länger, so genau wollte er es gar nicht wissen, mit einem anderen Mann betrogen. Helge Mendelsen, gut aussehend und alleinstehend, war in Lichterhaven bisher immer als Hallodri und notorischer Schürzenjäger bekannt gewesen. Das hatte sich offenbar schlagartig geändert, nachdem Inga auf seine Annäherungsversuche eingegangen war. Die beiden waren seither ein Herz und eine Seele, und leider war Max einer der Letzten gewesen, der von dieser Tatsache erfahren hatte.

Er war mit Inga schon seit der Schulzeit liiert gewesen. Manche hatten sie sogar als so etwas wie das Traumpaar von Lichterhaven bezeichnet; er selbst hatte es genau so empfunden. Er hatte immer geglaubt, dass sie die gleichen Werte, Ziele und Träume hatten. Sie hatten recht früh geheiratet und den Bauernhof von seinen Eltern übernommen. Seine Mutter Inette arbeitete mittlerweile ganztags in dem Fischspezialitätengeschäft seiner Cousine, das täglich mit fangfrischem Fisch und Krabben versorgt wurde, die sein älterer Bruder Jörn lieferte.

Jörn war Fischer von Beruf, Krabbenfischer hauptsächlich, doch die Fischerei war kein einfacher Broterwerb, deshalb betätigte Jörn sich daneben auch noch in der Tourismusbranche. Er hatte zwei uralte Krabbenkutter für viel Geld restaurieren lassen und bot für die zahlreichen Feriengäste, die in der Sommersaison Lichterhaven fluteten, Ausflugsfahrten zu den Seehundbänken und weiteren Sehenswürdigkeiten der Nordsee an.

Auch Max’ Vater half immer mal wieder im Fischereibetrieb seines ältesten Sohnes und im Laden aus, hatte sich jedoch inzwischen auch als Imker einen Namen gemacht. Die restliche Zeit, die ihm neben diesen Beschäftigungen blieb, unterstützte er Max tatkräftig auf dem Hof oder kümmerte sich um seine beiden Enkelkinder. So wie jetzt.

Max atmete einmal tief durch, straffte die Schultern und betrat die große, gemütliche Wohnküche mit der elfenbeinfarbenen L-förmigen Küchenzeile im Landhausstil. Sein Vater stand an der über zwei Meter breiten Kochinsel und war gerade dabei, gekochte Eier aus einem Kochtopf zu fischen. An dem rechteckigen Tisch saßen Jonathan und die zwei Jahre ältere Lilly auf der Eckbank mit der schon etwas abgeschabten bunten Polsterung und schaufelten Cornflakes mit Milch in sich hinein.

Max’ Vater hob den Kopf und lächelte ihm zu, als Max einen der drei ebenfalls gepolsterten Stühle unter dem Tisch hervorzog und sich darauf fallen ließ. »Alles in Ordnung draußen? Ich habe gestern Abend einen Fuchs um den Hühnergarten herumschleichen gesehen. Zum Glück waren alle Hennen bereits im Stall, sonst hätte es bestimmt einen Aufruhr gegeben, auch wenn der Fuchs gar keine Möglichkeit hat, den Zaun zu überwinden.«

»Alles in bester Ordnung.« Max streckte die Beine aus. »Jetzt, wo wir nur noch so wenige Tiere haben, ist die Arbeit schnell getan.« Er bemühte sich um einen heiteren Ton, doch der Blick seines Vaters verriet, dass er genau wusste, wie Max sich in Wahrheit fühlte. Da er und Inga den Hof nach ihrer Hochzeit gemeinsam übernommen hatten, stand ihr nun die Hälfte des Besitzes zu. Da Max sich nicht von seinem Zuhause hatte trennen wollen, hatte er sie mit der Hilfe seiner Eltern und seines Bruders ausbezahlt. Dazu hatte er nicht nur einen hohen Kredit aufnehmen, sondern auch einen großen Teil seines Tierbestandes veräußern müssen. Die nunmehr bis auf ein paar wenige Tiere, die er zur Selbstversorgung behalten hatte, leeren Stallungen verursachten ihm tagtäglich ein Gefühl der Hilflosigkeit und Trauer.

Inga hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als die entsprechenden Vereinbarungen unterzeichnet worden waren. Sie wollte nur zügig das ihr zustehende Geld für ihre neue Zukunft mit Helge haben, Max’ Gefühle schienen sie vollkommen kaltzulassen. Sie hatte sogar behauptet, dass ihm ihre Gefühle all die Jahre ebenso einerlei gewesen seien. Dabei hatte sie nie auch nur ein Wort darüber verlauten lassen, dass sie unglücklich sei oder sich ein anderes Leben wünschte. Max war sprichwörtlich aus allen Wolken gefallen, als er erfahren hatte, dass sie bereits seit Längerem eine Affäre mit Helge hatte und ihn verlassen wollte.

Was womöglich noch schwerer auf Max’ Schultern lastete, war die Tatsache, dass Inga nicht einmal das geteilte Sorgerecht für Lilly und Jonathan angestrebt hatte. Ein Besuchsrecht hatte ihr vollkommen ausgereicht, und selbst das nahm sie nur unregelmäßig wahr. Fast kam es ihm so vor, als wolle sie mit ihrem alten Leben vollkommen abschließen. Dabei behauptete sie, dass sie die Kinder liebte, und Max klammerte sich daran, hoffte aus tiefstem Herzen, dass sie die Wahrheit sagte. Denn anderenfalls hätte er all die Jahre mit einer ihm völlig fremden Frau zusammengelebt, die ihm jedes Lächeln, jedes Lachen, jedes zärtliche Wort nur vorgespielt hatte. Ihm und den beiden wundervollen Kindern, die sie zur Welt gebracht hatte und die noch immer nicht ganz begriffen hatten, dass ihre Mama einfach von heute auf morgen gegangen war und sie nur noch alle zwei, drei Wochen für ein paar Stunden besuchte.

Inga und Helge waren inzwischen nach Cuxhaven gezogen, das etwas mehr als eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt lag. So waren sie aus dem Auge, jedoch keinesfalls aus dem Sinn – zumindest nicht bei den Kindern. Doch Inga wollte es nicht anders und behauptete, sie sei einfach nicht zur Mutter geschaffen und dass sie es für besser hielt, wenn Max das alleinige Sorgerecht hatte. Sie wollte die Verantwortung nicht mehr tragen, und das konnte Max ihr nicht verzeihen. Er hatte sich mittlerweile damit abgefunden, dass sein ursprünglicher Lebenstraum geplatzt war, doch zu sehen, wie sehr die Kinder unter dem gefühllosen Verhalten ihrer Mutter litten, konnte und wollte er nicht hinnehmen. Es war einfach nicht richtig.

»Frau Schrader hat gesagt, wir lernen heute neue Lieder, die wir auf dem Stadtfest singen«, riss Jonathans Stimme Max aus seinen abdriftenden Gedanken. »Und wir machen ein Spielstück, nee«, er kicherte, »ein Theater, das führen wir nämlich dann in dem großen Zelt auf dem Marktplatz auf. Alle Kinder aus dem Kindergarten machen mit, aber auch die Großen aus der Grundschule. Aber wir brauchen keinen Text auswendig zu können, sondern sind nur Blumen und Vögel oder so.«

Max richtete seine Aufmerksamkeit auf die Kinder, die inzwischen beide ihre Müslischalen geleert hatten. »Ein Theaterstück führt ihr auf?« Dunkel erinnerte er sich, dass Lillys Klassenlehrerin so etwas in einem der letzten E-Mail-Newsletter geschrieben hatte. »Und da fangt ihr jetzt erst mit dem Üben an?«

»Warum?«, wandte sein Vater ein. »Es sind doch noch fast sechs Wochen bis zum Stadtfest. Das werden die Lütten mit ihren Lehrerinnen und Lehrern und dem Personal im Kindergarten doch wohl hinkriegen.«

»Kriegen wir hin«, bestätigte Jonathan mit altkluger Miene. »Nur Lilly hat Angst, weil sie nicht auf die Bühne will. Und Frau Schrader sagt und ihre Lehrerin nämlich auch, wir müssen da alle rauf. Weil die Schulkinder sind alle Schafe und Lämmchen, und die können mäh machen und sprechen und singen, weil das nämlich ein Musikspielstück ist, also ein Theater mit Musik.«

»Ein Musical?« Max lachte. »Na, da bin ich aber mal gespannt, wie das wird. Müsst ihr euch da auch verkleiden?« Er sah die beiden schon vor seinem inneren Auge in wolligen Schäfchenkostümen.

»Und tanzen auch«, bestätigte Jonathan aufgeregt. »Der Oskar fand das blöd und hat gesagt, das macht er nicht, aber Frau Schrader hat gesagt, wir machen alle mit, und das wird total lustig.«

»Dass das lustig wird, darauf verwette ich dieses Frühstück.« Max’ Vater brachte ein Tablett mit Toast, Butter, Schinken, Marmelade und Eiern zum Tisch und setzte sich neben Max, sprang aber gleich wieder auf. »Du liebe Zeit, schaut mal auf die Uhr! Da klönen und klönen wir in einem fort, dabei ist es schon fast halb acht. Lilly, Jonathan, ab mit euch ins Bad und die Zähne geputzt, Gesichter und Hände gewaschen – ja, vor allem du, Jonathan, du hast einen Milchbart bis fast zu den Ohren! Dann zieht eure Schuhe und Jacken an, und schnappt euch eure Taschen. Nicht, dass ihr noch zu spät in die Schule und den Kindergarten kommt!«

»Wir kommen nicht zu spät, Opa.« Zum ersten Mal ergriff Lilly das Wort. »Wir kommen nie zu spät. Ist doch gar nicht weit bis zur Schule, und der Kindergarten ist direkt daneben.«

»Es ist weit genug.« Eric Paulsen deutete zur Tür. »Eine Viertelstunde braucht ihr schon, und ich will nicht, dass ihr rennt, verstanden? Dabei könntet ihr unachtsam werden und auf die Straße laufen, und da fahren Autos, wie ihr wisst. Lilly, du musst auf deinen kleinen Bruder gut aufpassen.«

»Und Motorräder und Vespas wie die von Meike Henderson gibt es auch.« Jonathan grinste von der Tür aus seinen Großvater an. »Die fährt wie ’ne gesengte Sau, sagt der Hinnerk immer.«

»Jonathan!« Tadelnd hob Max den rechten Zeigefinger. »Ich glaube, ich muss mal ein ernstes Wörtchen mit Hinnerk über seine Ausdrucksweise reden.«

Jonathan stob nur kichernd hinter seiner Schwester her, die sich bereits auf den Weg ins Bad gemacht hatte.

»Das dürfte vergebene Liebesmüh sein.« Eric setzte sich wieder, schien aber mit einem Ohr auf die Geräusche zu achten, die die Kinder im Obergeschoss verursachten. »Der gute Hinnerk schnabbelt doch immer, wie er gerade lustig ist.« Er warf einen Blick auf die Wanduhr über der Tür. »Deine Mutter müsste jeden Moment vom Hafen zurück sein.«

»Hat sie heute wieder die Ladung Fische und Krabben von Jörns Kuttern abgeholt?« Max nahm die Teller und das Besteck vom Tablett und verteilte alles auf dem Tisch.

Sein Vater sammelte derweil die Müslischalen und Löffel der Kinder ein und stellte sie in die Spülmaschine. »Ja, diese Woche übernimmt sie die frühe Schicht, weil Katrin krank geworden ist. Ein Darmvirus, glaube ich. Hoffentlich geht der jetzt nicht rum. So was können wir gerade gar nicht brauchen.«

»Was können wir nicht brauchen?«, kam Inette Paulsens Stimme aus Richtung der Haustür. Im nächsten Moment betrat sie die Küche. »Ah, ihr habt schon den Tisch gedeckt, wie fein!«

»Nicht nur das. Frühstück ist fertig.« Eric lächelte ihr zu. »Erst müssen wir aber dafür sorgen, dass die Kinder sich auf den Weg zur Schule machen.«

»Was?« Inette blickte zur Uhr hinauf. »Sind sie etwa noch nicht unterwegs?«

»Ich kümmere mich um die beiden.« Hastig sprang Max auf und machte sich auf den Weg ins Obergeschoss, aus dem zweistimmiges Gekicher und Gekreisch zu ihnen herunterschallte. »Wer weiß, was die beiden sonst alles anstellen.«

***

Als Max etwa zehn Minuten später in die Küche zurückkehrte, goss seine Mutter gerade Kaffee in seinen Becher. »Na, hast du die beiden Goldschätze gut auf den Weg gebracht?«

Max nickte nur, setzte sich und nahm einen großen Schluck von dem heißen Gebräu.

»Hat Lilly wieder die ganze Nacht bei dir geschlafen?« Auch Eric trank von seinem Kaffee. »Das wird allmählich zur Gewohnheit, oder?«

Seufzend stellte Max den Kaffeebecher wieder ab. »Was soll ich denn machen? Sie weint sich in den Schlaf, wenn ich sie nicht zu mir ins Bett lasse.«

»Die Lütte ist nun mal sehr sensibel und empfindsam.« Inette reichte den Brotkorb herum. »Ich glaube nicht, dass es ihr schadet, wenn sie eine Weile bei ihrem Papa schläft.«

»Ihr vielleicht nicht«, brummelte Eric halb besorgt, halb amüsiert. »Aber wie soll denn der Junge je wieder ein nennenswertes Liebesleben entwickeln, wenn sein Bett ständig von einer Siebenjährigen belagert wird?«

»Papa!« Peinlich berührt blickte Max zur Decke. »Mach dir bitte keine Gedanken um mein Liebesleben. Ich habe keins und lege auch keinen Wert darauf. Im Augenblick habe ich wirklich andere Probleme.«

»Schon gut.« Eric zuckte mit den Achseln. »Ich mein ja bloß.«

»Unser Sohn ist erwachsen«, eilte Inette Max zu Hilfe. »Er weiß schon, was er tut und was richtig für ihn ist. Wenn er im Moment kein Interesse an einer neuen Frau hat, ist das vollkommen in Ordnung. Es soll ja wohl, wenn es doch einmal dazu kommt, auch wirklich die Richtige sein. So jemanden zu finden, ist gar nicht so einfach.«

»Vor allem, wenn man gar nicht erst sucht«, warf Eric mit einem Anflug von Sarkasmus ein.

»Frauen, die sich sehenden Auges mit einem Landwirt einlassen, wachsen außerdem nicht gerade auf den Bäumen«, fuhr Inette ungerührt fort und strich sich dabei ihr kinnlanges, blondes Haar hinters Ohr. »Manche stellen sich das so romantisch vor, aber wenn sie merken, wie viel Zeit und Arbeit in dieser angeblichen Idylle steckt, nehmen sie Reißaus.« Sie hielt kurz inne. »So wie Inga.«

Max runzelte die Stirn, ging aber nicht darauf ein.

Seine Mutter hatte seine skeptische Miene jedoch bemerkt. »Doch, doch, mein Schatz. Genauso war es doch. Ihr ist alles über den Kopf gewachsen. Nun gut, wahrscheinlich hätte sie dich gar nicht erst heiraten dürfen. Ich hätte nie erwartet, dass sie sich einmal so entwickeln würde. Manchmal frage ich mich, ob wir oder ihre Eltern sie zu sehr in eine bestimmte Richtung gedrängt haben, weil ihr doch so ein schönes und glückliches Paar wart. Zumindest hat sie auf mich nie unglücklich gewirkt. Und dann plötzlich wie aus heiterem Himmel dieser Knall. Sie hätte doch längst etwas sagen können. Niemand wäre ihr böse gewesen. Überrascht vielleicht, aber es hätte doch Lösungen gegeben! Stattdessen fängt sie etwas mit Helge an. Ausgerechnet.«

»Scheint aber wohl doch die große Liebe zu sein«, wandte Eric ein. »Auch von seiner Seite. Er hat ja anscheinend sein Schürzenjägerdasein komplett aufgegeben.«

»Das mag ja sein«, gab Inette widerstrebend zu, »aber richtiger wird das Verhalten der beiden und ganz besonders von Inga deshalb nicht. Lässt Max einfach mit Kind und Kegel allein sitzen und treibt ihn auch noch beinahe in den Ruin. Das ist kein feiner Zug von ihr, nein, ganz sicher nicht.«

Einige Minuten widmeten sie sich schweigend dem Frühstück, bis Inette erneut das Wort ergriff. »Max, mal ehrlich, so wie die Dinge sind, können sie nicht bleiben. Es ist eine Sache, wenn du vorerst keine neue Frau an deinem Leben und dem der Kinder teilhaben lassen willst. Ich kann es sogar gut verstehen, auch wenn es mir als Mutter das Herz bricht, mir vorstellen zu müssen, dass du alle Herausforderungen des Lebens allein meistern musst. Versteh mich bitte nicht falsch, ich weiß, dass du das kannst, und wir sind ja auch noch da, aber letztendlich ist der Mensch nicht zum Alleinsein geschaffen.« Sie schwieg einen Atemzug lang, bevor sie fortfuhr: »Sei es, wie es ist. In dein Privatleben mische ich mich nicht ein, solange ich nicht darum gebeten werde – und auch dann nur äußerst ungern. Aber was den Hof betrifft … dein Zuhause und deine Lebensgrundlage: Da muss sich etwas ändern, und zwar bald, anderenfalls steuerst du geradewegs in den Bankrott.«

Max ließ das letzte Stückchen Brot, das er gerade zum Mund führen wollte, auf den Teller fallen. »Stell dir vor, Mama, das weiß ich. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass ich mich nur mit dem Ackerbau nicht mehr lange über Wasser halten kann. Jetzt, wo die Kühe und Rinder fast alle weg sind, entstehen zwar auch weniger Kosten, aber da ich auch einiges an Land an die Dennersens verpachten musste, damit sie überhaupt so viele unserer Tiere übernehmen konnten, stehe ich dumm da. Mir fehlt weiteres Ackerland, um zu expandieren. Aber hätte ich die Tiere anderswohin verkaufen sollen?«

»Du hast es nicht übers Herz gebracht.« Sein Vater legte ihm kurz eine Hand auf den Arm. »Das ist verständlich. Es war vielleicht unklug, aber nun ist es nicht mehr zu ändern.« Seufzend rieb er sich übers Kinn. »Wahrscheinlich hätte ich es auch nicht anders gemacht.« Auf seinen Lippen erschien ein schiefes Grinsen. »Wir Paulsens sind eine fürchterlich weichherzige Bande.«

Inette schmunzelte. »Da kann ich nicht widersprechen. Und genau deshalb möchte ich dir, Max, einen Vorschlag unterbreiten. Du sagst selbst, dass du nicht weißt, wie es weitergehen soll. Vielleicht liegt das gerade daran, dass du emotional so sehr mit diesem Hof verbunden bist. Ich könnte mir vorstellen, dass jemand von außerhalb mit einem frischen, unvoreingenommenen Blick eher Ideen oder sogar Strategien entwickeln würde, welche Möglichkeiten es gibt. Deshalb würde ich gerne eine Unternehmensberatung engagieren, die sich den Hof mal näher ansieht und mit dir über mögliche Lösungsansätze spricht. Vielleicht erzählst du bei der Gelegenheit auch von deiner Idee, Fremdenzimmer anzubieten. Ich meine, das tun ja inzwischen viele, weil Jahr für Jahr mehr Touristen nach Lichterhaven kommen. Dennersens zum Beispiel haben regelmäßig gute Einnahmen aus den vier Ferienappartements, die sie ganzjährig vermieten. Wir müssten uns selbstverständlich genau überlegen, wie wir das organisatorisch hinbekommen, denn auch ohne die Tiere hast du ja noch genug zu tun und bist auch nur allein. Lilly und Jonathan sind noch zu klein, um dir zu helfen, und dein Vater und ich sind ebenfalls bereits weitgehend ausgelastet. Aber bestimmt kann so eine Unternehmensberaterin dir eine Menge Vorschläge unterbreiten, auf die du selbst im Leben nicht gekommen wärst. Das ist ja schließlich ihr Job, objektiv ein Unternehmen zu betrachten und Strategien zur Optimierung vorzuschlagen.«

Überrascht über den plötzlichen Eifer seiner Mutter, stutzte Max. »Das hört sich ja fast so an, als hättest du bereits eine bestimmte Person im Auge.«

»Mhm, ja.« Mit einem strahlenden Lächeln bot seine Mutter ihm noch einmal von dem Kaffee an, doch er lehnte mit einer knappen Handbewegung ab. Daraufhin stellte sie etwas umständlich die Kanne wieder auf dem altmodischen Stövchen ab, das bereits Max’ Großmutter benutzt hatte. Schließlich räusperte sie sich. »Ich habe sie sogar schon engagiert.«

»Was bitte?« Verblüfft starrte Max sie an.

»Wie kommst du denn dazu?«, fragte auch Eric überrascht. »Eine Unternehmensberaterin? Wo hast du die denn überhaupt aufgetan?«

»Ich habe sie auf YouTube entdeckt.« Inette strahlte, ihre kurzfristige Verlegenheit schien verflogen zu sein.

Entgeistert fuhr Max auf. »Auf YouTube?«

»Nein, ganz genau gesagt auf Instagram«, korrigierte Inette hastig und mit leuchtenden Augen. »Dort habe ich zuerst durch reinen Zufall ein Reel von ihr entdeckt.«

»Ein Reel?«, echote Max ahnungsvoll.

»Ja, genau, und das gefiel mir unglaublich gut, also habe ich mir ihr Profil angeschaut. Sehr professionell und sympathisch, das muss ich schon sagen. Sie hat über hunderttausend Follower, das muss man sich mal vorstellen! Auf ihrem Profil war ihr YouTube-Kanal verlinkt, und da folgen ihr sogar noch viel mehr Menschen. Sie macht ganz viele Videos zum Thema Marketing und Unternehmensberatung und Coaching und all so was. Man kann sie für Seminare buchen oder auch für eine Vor-Ort-Beratung. Da reist sie dann zum Standort des Unternehmens, bleibt dort ein paar Tage …«

»Ein paar Tage?« Max hüstelte.

»Ja, oder solange es eben dauert, den jeweiligen Laden wieder zum Laufen zu bringen.« Inette lachte. »Na ja, mehr als eine Woche wird sie kaum irgendwo bleiben, weil sie ja so gefragt ist. Das meiste macht sie von zu Hause aus, aber sie begleitet manchmal Aufträge auch mit regelmäßigen Update-Videos, weil andere von solchen Erfahrungen ja auch profitieren können.« Sie winkte ab. »Wie auch immer, ich fand ihre Videos einfach toll, und damit stehe ich nicht alleine da, sonst hätte sie ja nicht so viele Follower. Tja, und da habe ich sie neulich einfach mal angeschrieben. Sie war erst etwas überrascht, glaube ich, weil sie sonst bestimmt nie wegen eines Bauernhofs um Hilfe gebeten wird, sondern von ganz anderen, größeren Unternehmen aus der Industrie oder der Wirtschaft oder so. Aber sie hat zugesagt und will sich den Hof mal unverbindlich ansehen.«

»Will sie das?« Befremdet musterte Max seine Mutter. »Und wann soll das geschehen?«

»Sie kommt morgen Abend her.« Inette lächelte breit. »Ich werde ihr dein Gästezimmer herrichten, dann braucht sie nicht in ein Hotel und kann das Leben auf dem Hof gleich rund um die Uhr miterleben.«

»Damit war sie einverstanden?« Max konnte es sich kaum vorstellen.

»Ja, war sie.« lnette griff quer über den Tisch nach seiner Hand. »Max, versuch es doch bitte einfach. Schaden kann es doch nicht.«

»Helfen aber sicher auch nicht.« Er verdrehte die Augen. »Aber da du sie ja offenbar schon herbestellt hast, kann ich sie ja jetzt schlecht abweisen.«

»Typisch deine Mutter.« Eric schüttelte milde tadelnd den Kopf. »Wo kommt die Frau denn her? Hoffentlich berechnet sie nicht schon allein einen horrenden Betrag für die Anreise.«

»Sie lebt in Hamburg.« Inette zog ihre Hand wieder zurück. »Anfahrtskosten berechnet sie nur, wenn es zu einem festen Beratungsvertrag kommt. Das halte ich für sehr kulant. Und so weit ist Hamburg ja nun auch nicht.«

»Kann ich bitte wenigstens mal eins von diesen sagenumwobenen YouTube-Videos sehen?« Max stand auf und nahm das handliche Tablet aus dem Küchenregal, wo er es außerhalb der Reichweite der Kinder aufzubewahren pflegte.

»Aber selbstverständlich! Nur einen Moment.« Inette nahm ihm das Tablet aus der Hand und hatte nur Augenblicke später ein Video aufgerufen. »Hier, das ist eines ihrer Werbevideos. Es gibt aber auch thematisch sortierte Playlists mit Marketingtipps oder zu einigen ihrer Kunden, denen sie erfolgreich geholfen hat.« Sie hielt Max das Tablet unter die Nase und startete das Video.

Für eine geraume Weile starrte Max sprachlos auf den Bildschirm. Er hatte erwartet, eine kompetente Mittvierzigerin zu sehen, die lehrerinnenhaft über Unternehmensberatung dozierte. Stattdessen lachte ihn eine lebhafte junge Frau von höchstens Mitte zwanzig an. Ihre tizianroten Locken kringelten sich wild um ein gleichermaßen eigenwilliges wie hübsches herzförmiges Gesicht mit hellem Teint, auf dem sich unzählige Sommersprossen tummelten. Ihre Augen blitzten in einem ungewöhnlichen Graugrün in die Kamera. Sein Blick fiel auf ihren Namen: Isalie Charlotte Hansen. »Isali…e?« Energisch schüttelte er den Kopf. »Oh nein.«

»Was hast du denn?« Verwirrt sah seine Mutter ihn an. »Das ist doch ein schöner Name. Er wird aber mit langem I am Ende ausgesprochen. Isaliii«, betonte sie übertrieben.

Ohne zu antworten, öffnete Max wahllos ein Video nach dem anderen, und seine innere Ablehnung wuchs von Sekunde zu Sekunde. Schließlich rief er auch noch Instagram auf und suchte nach ihrem Profil. Dann drückte er seiner Mutter das Tablet in die Hand. »Vergiss es.«

»Vergiss was?« Ehe er sich abwenden und die Küche verlassen konnte, hielt seine Mutter ihn am Arm zurück. »Was hast du denn auf einmal?«

»Dieses Mädel ist doch höchstens fünfundzwanzig!«

»Sechsundzwanzig«, korrigierte Inette. »Na und? Sie hat ihr Studium in Rekordzeit abgeschlossen, was auf ihre Intelligenz schließen lässt, und sich noch vor ihrem Abschluss selbstständig gemacht. Das ist doch bewundernswert. Und ihr Erfolg spricht für sich.«

»Mama, schau sie dir doch bitte mal an!« Max verdrehte die Augen. »Das ist so eine ausgeflippte Influencerin aus der Großstadt. Die hält es hier keine halbe Stunde aus, und Ahnung von Landwirtschaft hat sie erst recht nicht. So ein verrücktes Hühnchen kommt mir nicht auf den Hof, das ist rausgeschmissenes Geld.«

»Maximilian Paulsen, mäßige dich mal ein bisschen.« Inette stemmte empört die Hände in die Hüften. »Seit wann hast du denn so viele Vorurteile? Nur weil es sich um eine junge, moderne Frau mit einem hübschen Gesicht handelt, kannst du ihr doch nicht einfach ihre Qualifikation absprechen. Sie hätte meine Einladung bestimmt nicht angenommen, wenn sie sich die Aufgabe nicht zutrauen würde. Schau dir doch mal die Referenzen auf ihrer Website an, da bleibt dir die Luft weg.«

»Die bleibt mir jetzt schon weg«, knurrte Max.

»So frauenfeindlich haben wir dich aber nicht erzogen«, brummte Eric ungehalten. »Was ist denn in dich gefahren?«

»Gar nichts.« Erregt rang Max die Hände. »Ich bin nicht frauenfeindlich. Ich bin bloß … Influencerinnen-aus-Großstädten-feindlich«, schloss er genervt. »Das ist eine absolute Schnapsidee, und wenn ihr mal etwas nachdenken würdet, wäre euch das auch vollkommen klar. Wie soll mir denn dieses bunte Häschen auch nur ansatzweise aus der derzeitigen Misere heraushelfen? Sagt mir das mal bitte!«

»Buntes Häschen?« Seine Mutter sah aus, als kämpfe sie mit einem Lachen.

Wieder wedelte Max wild mit den Händen. »Da gibt es ein Video, in dem schminkt sie sich und redet dabei über irgendwas, vermutlich albernen Blödsinn. Das kann man doch wohl nicht ernst nehmen.«

»Quatsch.« Nun schmunzelte seine Mutter tatsächlich. »Das macht man heute so. Jedenfalls die jungen Frauen auf Instagram und TikTok und so.«

»Was weißt du denn von TikTok?« Konsterniert starrte Max seine Mutter an.

»Sehr viel mehr als du offensichtlich«, konterte sie ungerührt. »So etwas macht sie doch nicht dauernd, und ich bin sicher, sie hat sich etwas dabei gedacht. Außerdem hat sie schon ganz anderen Unternehmen aus der Misere geholfen. Warum also nicht auch dir? Oder uns, denn wir sind eine Familie und sitzen alle in einem Boot.«

Kopfschüttelnd blickte Max zwischen seinen Eltern hin und her, doch wie es aussah, würde er gegen die beiden nicht ankommen. Das war schon schwierig genug, wenn nur seine Mutter sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Doch diesmal schien sein Vater von der Idee ebenfalls sehr angetan zu sein. »Ihr wollt das wirklich durchziehen?«

»Ich halte es für eine großartige Chance.« Inette lächelte das stählerne Lächeln, das er gut genug kannte, um zu wissen, dass Widerstand zwecklos war.

Unwillig verzog er die Lippen, nickte noch einmal knapp und wandte sich zur Tür. »Lasst das Geschirr einfach stehen, ich kümmere mich später darum. Erst muss ich noch rüber zu Benno und hören, wie weit er mit der Reparatur des kleinen Treckers ist. Wenn ich ihm nicht ein bisschen auf die Zehen trete, lässt er sich Zeit bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.«

Ehe er die Küche endgültig verließ, blickte er seine Eltern noch einmal über die Schulter an. »Es ist eine Schnapsidee, da könnt ihr mir erzählen, was ihr wollt.«

2. Kapitel

»Du bist dir aber schon im Klaren darüber, dass das eine absolute Schnapsidee ist, oder?« Während Chloe Hansen sprach, lief sie wie ein Schatten hinter ihrer Zwillingsschwester Isalie her, während diese Kleidungsstücke und Badutensilien zusammensuchte, um sie in ihrem Reisekoffer zu verstauen, der auf dem Bett lag. »Ich meine, Lichterhaven! Das ist am Ende der Welt. Gut, es liegt direkt an der Küste, das stelle ich mir um diese Jahreszeit ganz nett vor, aber was in aller Welt hat dich geritten, so einen Auftrag anzunehmen? Ein Bauernhof! Du hast nicht die geringste Ahnung von Landwirtschaft.«

Isalie blieb, die Arme voller Kleidungsstücke, direkt vor ihrem Koffer stehen und ließ alles hineinplumpsen. »Ich hatte auch keine Ahnung von Wanderschuhen, Gastronomiezubehör, Backöfen, isotonischen Getränken und all den anderen Dingen, deren Hersteller oder Verkäufer ich schon aus dem Tal des Jammers herausgelotst habe. Das muss ich doch auch gar nicht. Erst schaue ich mir den Betrieb an, dann kommt die Recherche. Außerdem habe ich den Auftrag noch gar nicht angenommen. Ich weiß selbst, dass diese Anfrage etwas außerhalb meiner Komfortzone liegt.«

»Etwas?«, echote Chloe halb lachend, halb verzweifelt. »Wann warst du denn zuletzt auf einem Bauernhof? Ich kann es dir genau sagen: noch nie!«

»Das stimmt nicht ganz.« Isalie schmunzelte und begann, den Klamottenberg in ihrem Koffer auseinanderzuklauben und die einzelnen Kleidungsstücke ordentlich zu falten. »Weißt du noch, damals in der fünften Klasse? Da hat unsere Lehrerin Frau Müllermann mit uns diesen Tagesausflug aufs Land gemacht. Damals haben wir einen großen Bauernhof besucht und uns alles genau angesehen und erklären lassen. Ich erinnere mich noch genau an die süßen Kälbchen und an die Hühner. Schafe hatten sie auch, und du warst ganz verliebt in eines der Lämmer. Wir haben dich fast nicht wieder zurück in den Bus gebracht, weil du es am liebsten behalten hättest.«

Irritiert starrte Chloe sie einen langen Moment an, dann lachte sie trocken. »Okay, der Punkt geht an dich. Ich ziehe aber gleich wieder einen halben ab, weil ein einziger Tag auf dem Land dich ganz sicher nicht qualifiziert für das, was du da jetzt vorhast. Das hier ist kein Sonntagsausflug. Diese Leute erhoffen sich kompetente Hilfe von dir, und ich sehe gerade nicht, wie du die leisten sollst, wenn du dich so weit aus deiner Komfortzone heraustraust, wie du es nennst. Immerhin hängen Existenzen davon ab, wenn du sie für eine deiner innovativen Ideen begeisterst. Gesetzt den Fall, dir fällt überhaupt etwas ein.«

Sorgsam verstaute Isalie die Kleidungsstücke neben- und übereinander im Koffer. Dann ging sie noch einmal hinüber ins Bad und klaubte weitere Waschutensilien, Lotion, Cremes und Make-up zusammen.

Erneut war ihre Schwester ihr gefolgt und in der Tür stehen geblieben.

»Darf ich mal?« Isalie schob sich mit so vielen Utensilien, wie sie tragen konnte, an Chloe vorbei. Wieder warf sie zunächst alles in den Koffer, bevor sie begann, die Sachen zu sortieren. Sie hatte bereits zwei farbenfrohe Kulturköfferchen bereitgestellt, in denen sie die Sachen nun sorgsam verstaute. »An Ideen wird es mir schon nicht mangeln. Ehrlich gesagt sind mir schon gestern Abend und heute den ganzen Tag über ein paar Dinge durch den Kopf gegangen. Noch nichts Konkretes natürlich, denn dazu kenne ich die Situation vor Ort ja nicht gut genug, aber ich habe auch schon ein bisschen über Lichterhaven recherchiert. Die Stadt ist nicht besonders groß; hat weniger als 10 000 Einwohner. Wohl fast schon eher ein etwas überdimensionales Dorf.« Sie lachte. »Sehr ländlich natürlich, aber auch entzückend urig mit einem mittelalterlichen Stadtkern samt Stadtmauer und all so was. Außerdem haben sie sich ganz stark auf den Tourismus ausgerichtet, was nur logisch ist, denn davon lebt ja so gut wie die gesamte Nordseeküstenregion. Insofern könnten mir meine Erfahrungen, die ich damals mit dieser Touristikfirma gesammelt habe, durchaus weiterhelfen.«

»Was hat denn ein Bauernhof großartig mit Tourismus zu tun?« Kopfschüttelnd ließ Chloe sich auf der Bettkante nieder. »Ich finde, du hättest lieber den Auftrag dieses Pharmakonzerns annehmen sollen. Da hättest du dann zwar bis runter nach Baden-Württemberg fahren müssen, aber so etwas ist doch viel eher deine Kragenweite, oder etwa nicht?«

»Kann sein.« Isalie hielt im Sortieren inne und ließ sich ebenfalls auf die Bettkante sinken. Bedächtig faltete sie die Hände im Schoß. »Ich hatte aber keine Lust darauf, dem arroganten Management eines Pharmakonzerns Honig ums Maul zu schmieren und in diesen Honig geschickt die besten Ratschläge zu verpacken, wie sie ihre neuesten Pillen gegen Kopfschmerzen unter die Menschheit bringen können. Oder wie sie die Produktion genau dieser Pillen optimieren und gleichzeitig Personal einsparen können.«

»Aber genau das ist doch dein Job.« Chloe neigte den Kopf ein wenig zur Seite und musterte sie aufmerksam. »Mit genau solchen Unternehmensberatungen hast du dir deinen guten Namen geschaffen. Weißt du eigentlich, wie stolz ich darauf bin? Auf meine große Schwester?« Die letzten beiden Wörter begleitete sie mit einem Grinsen und in die Luft gezeichneten Anführungsstrichen, denn Isalie war gerade einmal zwölf Minuten älter als sie. »Und jetzt stößt du so einen super Kunden vor den Kopf, indem du ihn auf unbestimmte Zeit vertröstest. Dieser Auftrag ist Gold wert! So viel Kohle, wie die Pharmaindustrie scheffelt, gibt es nur noch in wenigen anderen Branchen zu verdienen. Schon mal gar nicht auf einem Bauernhof!«

»Das kann schon sein«, gab Isalie ruhig zu, »aber ist es diese Familie in Lichterhaven weniger wert, qualifizierte Hilfe zu erhalten? Hier geht es nicht in erster Linie ums Geld, auch wenn du vollkommen recht hast, dass ihre Existenz womöglich daran hängt. Ich bin es einfach leid, mich für die oberen Zehntausend abzustrampeln, während ich das, was ich eigentlich ursprünglich einmal hatte tun wollen, ganz aus den Augen verloren habe.« Sie blickte ihrer Zwillingsschwester fest in die graugrünen Augen. »Ich habe mich verzettelt, Chloe. Ich fahre jetzt schon eine ganze Weile auf der Überholspur, und inzwischen kommt es mir so vor, als hätte ich dabei eine wichtige Ausfahrt verpasst. Du weißt doch noch, wie ich während meines Studiums die ersten Beratungsanfragen angenommen habe. Damals waren es kleinere und Kleinstbetriebe, Handwerker, Kleingewerbe. Diese Menschen haben wirklich von den Strategien profitiert, die ich für sie ausgearbeitet habe. Da gab es den direkten Kontakt, und ich musste mich nicht nach gefühlt hunderttausend Gesetzen und Regelwerken richten. Oder nach trotzigen Managern, die die Einbildung mit Löffeln gefressen haben.«

»Na, na, so schlimm ist es doch wohl auch wieder nicht.« Chloe lachte. »Ich dachte immer, deine Arbeit macht dir Spaß.«

»Das tut sie ja auch – meistens.« Isalie löste die Hände, verschränkte sie jedoch gleich wieder. »Es ist nur so, dass ich in letzter Zeit nicht mehr so genau weiß, ob ich diesen Job wirklich bis in alle Ewigkeit genauso machen will wie bisher. Wie gesagt, ich habe einmal ganz anders angefangen.«

»Ja, und du hattest damit so viel Erfolg, ebenso wie mit deinen Kanälen in den sozialen Netzwerken, dass dir inzwischen die großen Firmen regelrecht die Tür einrennen und sich um eine Beratung bei dir kloppen. Das ist doch ein Wahnsinnserfolg, oder etwa nicht?«

»Selbstverständlich ist es das.« Unschlüssig, wie sie der Schwester ihre Gefühle vermitteln sollte, hob Isalie die Schultern. »Nicht, dass du glaubst, ich wäre undankbar oder so etwas, es ist nur so, dass mir das alles manchmal zu viel wird. Du weißt genau, dass ich eigentlich gar nicht so gerne reise. Es ist fürchterlich umständlich, weil ich kein Auto besitze. Fliegen oder Bahnfahren und dann mit dem Taxi oder den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein, ist nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigung. Natürlich ist es schön, immer wieder mit interessanten neuen Menschen zusammenzukommen, aber das könnte ich bestimmt auch, wenn meine Kundschaft nicht nur aus Großkonzernen bestehen würde.« Seufzend ließ sie die Schultern kreisen. »Vielleicht brauche ich auch einfach nur mal ein bisschen Urlaub und Abstand von allem.«

Chloe rückte näher zu ihr heran, ergriff ihre Hände und drückte sie sanft. »Das wird es sein, Liebes. Du hast ja auch schon seit fast einem Jahr keinen Urlaub mehr gemacht. So etwas nagt natürlich an der Motivation. Wie lange wirst du denn in Lichterhaven bleiben?«

»Wahrscheinlich bis Samstag oder Sonntag, also drei oder vier Tage.«

Bedächtig nickte Chloe vor sich hin. »Vielleicht solltest du einfach noch ein paar Tage dranhängen und ein bisschen ausspannen.«

»Das dürfte schwierig werden, weil ich doch privat auf diesem Bauernhof unterkomme und nicht in einem Hotel.«

»Ach das.« Chloe winkte lässig ab. »Es sollte doch wohl möglich sein, in Lichterhaven oder Umgebung ein Hotelzimmer zu finden.«

»Jetzt um diese Jahreszeit?« Isalie lachte. »Die Hauptsaison hat gerade begonnen, vergiss das nicht. In so einem schönen Touristenstädtchen wie Lichterhaven dürften jetzt schon alle verfügbaren Zimmer und Ferienwohnungen bis zum Anschlag ausgebucht sein.«

»Vielleicht auch nicht.« Chloe erhob sich und zog Isalie mit sich auf die Füße. »Es muss sich ja nicht um das Ritz handeln, und so ein bisschen Nordseeluft soll ja ganz gesund sein und dabei helfen, den Kopf freizubekommen. An deiner Stelle würde ich mich gleich mal umhören, ob es nicht doch noch irgendwo ein freies Zimmer für dich gibt. Vielleicht weiß auch diese Familie auf dem Bauernhof etwas – oder sie vermieten dir das Zimmer, in dem du untergebracht bist, einfach noch für ein paar weitere Tage.«

»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist«, wehrte Isalie rasch ab. »Man soll ja bekanntlich Berufliches und Privates nicht miteinander vermischen. Da verschwimmen die Grenzen viel zu schnell. Aber ich überlege es mir und werde später mal schauen, ob ich über die Webseite der Stadt Lichterhaven und deren Tourismus-Info etwas finde. Jetzt muss ich aber wirklich fertig packen, denn morgen früh werde ich nicht dazu kommen. Ich muss noch zwei Kurzvideos produzieren und hochladen, bevor mein Zug geht.«

»Also gut, dann lass ich dich jetzt mal in Ruhe wirken.« Chloe umarmte sie kurz und küsste sie auf beide Wangen. »Ich muss jetzt sowieso auch wieder los. Heute Abend sind Abel und ich bei seinen Eltern eingeladen. Sie wollen unbedingt noch einmal in kleiner Runde unsere Verlobung feiern. Wir haben zwar gesagt, dass sie es nicht so übertreiben sollen, denn Leute heiraten ja alle Tage, aber was soll ich sagen, sie sind total aus dem Häuschen.« Chloes Augen strahlten vor Glück, was Isalie dazu veranlasste, sie noch einmal fest an sich zu ziehen.

»Das dürfen sie auch ruhig sein. Immerhin bekommen sie dich als Schwiegertochter. Etwas Besseres hätte ihnen gar nicht passieren können.«

»Du bist lieb.« Noch einmal küsste Chloe sie auf die Wange, dann löste sie sich energisch von ihr. »Jetzt aber genug der Gefühlsduselei! Man könnte ja fast meinen, ich wäre so ein Rührseelchen wie du.« Sie kicherte. »Gott bewahre!«

Auch Isalie brach in Kichern aus. »Na, das wollen wir nun wirklich nicht riskieren, sonst schaden wir am Ende deinem guten Ruf.« Sie zwinkerte ihrer Zwillingsschwester noch einmal fröhlich zu und wartete, bis diese die Wohnung verlassen hatte und die Tür mit einem leisen Klappen hinter ihr zufiel. Dann wandte sie sich ihrem Koffer zu und musterte ihn kritisch. Sie hatte natürlich viel zu viele Sachen eingepackt. Das war noch so etwas, was ihr das Unterwegssein immer wieder so beschwerlich erscheinen ließ. Sie brachte es einfach nicht fertig, mit leichtem Gepäck zu reisen. Denn natürlich musste sie, wenn sie sich zu einem Beratungsgespräch bei ihrer Kundschaft begab, nicht nur Kleidung zum Wechseln mitnehmen, sondern auch eine weitere Reisetasche voll mit dem Equipment, das sie benötigte, um auch von unterwegs aus professionelle Videos aufzuzeichnen.

Wie oft hatte sie sich schon mit schwerem, unhandlichem Gepäck abgeschleppt, während sie vom Zug zum Bus oder zum Flugzeug gehastet war. Zum Glück gab es von Hamburg aus eine ganz passable Zugverbindung nach Cuxhaven und von dort aus ohne weiteren Zwischenstopp nach Lichterhaven. Der Bahnhof dort lag, wie sie bereits herausgefunden hatte, zentrumsnah, was bedeutete, dass sie die letzten knapp zwei Kilometer mit einem Taxi zurücklegen würde. Das war einigermaßen hinnehmbar und wesentlich einfacher und bequemer als vieles, was sie in den letzten Wochen und Monaten erlebt hatte.

Im Grunde hatte Chloe recht, sie konnte sich nun wirklich nicht beschweren. Sie war gerade sechsundzwanzig Jahre alt und hatte schon eine Karriere hingelegt, von der viele andere Frauen selbst zehn Jahre später noch nur träumen konnten. Schon früh hatte sie gewusst, dass sie sich einmal selbstständig machen würde – als was, hatte sie allerdings erst im Laufe ihres Studiums herausgefunden. Ihre Studienfächer waren Betriebswirtschaft und neue Medien gewesen sowie ein ganz klein wenig Psychologie. Das hatte sie jedoch bald wieder aufgegeben, weil es sie mehr zu anderen Themen hingezogen hatte.

Schon während ihres zweiten und dritten Semesters hatte sie begonnen, hier und da Videos zu ihrem Lieblingsthema Marketing aufzuzeichnen. Diesen Studiengang hatte sie dann auch im Nebenfach hinzugenommen und sich gleichzeitig einen kleinen, aber feinen Kundenstamm aufgebaut. Die kleinen Unternehmen, die sie damals engagiert hatten, hatten oftmals nur aus einer oder zwei Personen bestanden und konnten dementsprechend auch bei Weitem nicht so viel bezahlen, wie es den Firmen möglich war, mit denen sie inzwischen zu tun hatte.

Parallel hatte sie ihre Auftritte in den sozialen Netzwerken immer weiter ausgebaut, hatte neue Themen und Formate für sich ausprobiert, manches verworfen, vieles aber auch intensiv weiterverfolgt. Mittlerweile erzielte sie allein mit den Monetarisierungstools in den sozialen Netzwerken ein erkleckliches monatliches Einkommen. Hinzu kamen noch Werbeerträge, wenn sie entsprechende Verträge mit ihrer Kundschaft schloss und ihre Arbeit dort in Wort und Bild begleiten durfte.

Die meisten Firmen waren sehr angetan davon, auf diese Weise einen Blick hinter ihre Kulissen zu gewähren und gleichzeitig damit Werbung für sich zu machen. So etwas ließ sich Isalie mittlerweile sehr gut bezahlen. Es war eine Art Geben und Nehmen, von dem beide Seiten profitierten. Ihre Followerzahlen wuchsen täglich; damals, als sie klein und hoffnungsvoll angefangen hatte, hätte sie sich nicht träumen lassen, wie groß ihr Erfolg in der relativ kurzen Zeit, die seither vergangen war, werden würde.

Dass sie sich im Augenblick ein wenig unwohl mit den Nebenwirkungen dieses Jobs fühlte – hauptsächlich dem vielen Reisen –, war möglicherweise tatsächlich darauf zurückzuführen, dass sie sich in letzter Zeit zu viel zugemutet hatte. Ein lukrativer Auftrag hatte den nächsten gejagt, und sie hatte sich schlichtweg nicht getraut, einen davon abzulehnen. Denn wer war sie, das Schicksal herauszufordern? Sie schwamm gerade auf der Welle des Erfolgs und hatte eine Weile geglaubt, sie würde diese brechen, wenn sie einmal nur an sich dachte.

Sinnierend blickte sie sich in ihrer schicken Etagenwohnung um. Sie hätte sie kaufen können, als sie hier vor einem knappen Jahr eingezogen war. Ihre Eltern, Geschwister und Freunde hatten ihr alle dazu geraten, weil es eine einmalige Investition gewesen wäre. Doch so schön, hell und geräumig diese Wohnung auch war, sie fühlte sich nicht wie ein Zuhause an, sondern mehr wie eine Mischung aus Zwischenstation und Arbeitsraum. Zwei der vier Zimmer benutzte sie ausschließlich für berufliche Zwecke. Die zugige Altbauwohnung mit den hohen Decken und schäbigen Möbeln, die sie seit ihrem Studium bewohnt hatte, hatte sich für sie wesentlich heimeliger angefühlt, doch dort hatte sie leider nicht bleiben können, denn der Vermieter hatte das Gebäude verkauft, und inzwischen war es abgerissen worden, um einem modernen Hotel Platz zu machen.

Schon bei ihrem Auszug dort und dem Einzug in die neue Wohnung hatte sie gespürt, dass dies hier nicht für die Ewigkeit sein würde. Natürlich hätte sie die Wohnung trotzdem kaufen können, denn Wohneigentum ließ sich ja durchaus auch weitervermieten, wenn man selbst nicht mehr darin wohnen wollte. Doch das war ihr dann doch ein bisschen zu viel der Verantwortung gewesen. Deshalb hatte sie ihr Geld lieber in lukrativen Investmentfonds angelegt und zahlte nun eine schmerzhaft hohe, jedoch für die Größe und Lage der Wohnung angemessene Miete. Dabei hielt sie sich mittlerweile nur noch etwa die Hälfte des Monats hier auf. Die restliche Zeit war sie unterwegs.

»Urlaub ist bestimmt eine gute Idee«, sagte sie laut vor sich hin und grinste sich schief in dem großen Spiegel zu, aus dem eine der Schiebetüren ihres Kleiderschranks bestand. Sie hatte schon immer gern Selbstgespräche geführt, bereits als Kind. Und warum auch nicht? Sie fand nicht, dass das seltsam oder verrückt war; vielmehr konnte sie einfach deutlich besser denken und all ihre kreativen Ideen sortieren, wenn sie sie laut aussprach. Da sich nicht ständig jemand fand, dem sie dieses Gedankenkauderwelsch anvertrauen konnte, blieb ihr letztlich nur, sich selbst davon zu berichten.

Ihre Familie wusste natürlich um diese Eigenart und hatte sich längst damit abgefunden. Wenn Fremde sie bemerkten, erntete sie hin und wieder mal einen schrägen Blick, aber das störte sie nicht weiter. Sie besaß ein gesundes Maß an Selbstbewusstsein, anderenfalls hätte sie sich wohl auch in ihrer Branche nicht lange behaupten können.

Sie hatte ihren eigenen Stil entwickelt – jung, frisch, sogar flippig, aber dennoch stets professionell. Sie legte großen Wert darauf, bei allem, was sie in ihren Videos preisgab oder womit sie ihre Kundschaft motivierte, neue Wege zu gehen, persönlich zu recherchieren und fundierte Belege für die Wirksamkeit der von ihr erarbeiteten Strategien zur Verfügung zu stellen. Genau das war wohl auch der Grund, weshalb sie in kurzer Zeit so große Erfolge hatte einheimsen können. Sie gab keine heiße Luft von sich, blähte die Informationen, die sie lieferte, nicht mit überflüssigem Filmmaterial auf und versprach ihrer Kundschaft auch niemals das Blaue vom Himmel herunter, wie sie es bei manchen ihrer Kolleginnen und Kollegen leider bereits erlebt hatte. Sie stellte sich immer wieder sehr gezielt und intensiv auf die Bedürfnisse der Unternehmen und Menschen ein, mit denen sie gerade arbeitete. Bei ihr gab es nur maßgeschneiderte Lösungen, nichts von der Stange.

Was sie allerdings geritten hatte, die Anfrage einer gewissen Inette Paulsen aus Lichterhaven anzunehmen, die ihrem Sohn helfen wollte, den familieneigenen Bauernhof vor dem Bankrott zu retten, wusste sie wirklich nicht. Sie begriff nur zu gut, weshalb Chloe gleichermaßen überrascht wie skeptisch darauf reagiert hatte. Auch ihre Eltern hatten, als sie ihnen gestern am Telefon davon erzählt hatte, so einige Bedenken geäußert. Aber war es wirklich so ungewöhnlich und weit hergeholt, dass sie nach all den renommierten Firmen und Konzernen auch einmal wieder einem kleinen Unternehmen helfen wollte?

Vielleicht war sie wirklich ein kleines bisschen ausgebrannt und benötigte ein wenig Zeit für sich selbst, um zur Ruhe zu kommen, sich neu zu sortieren und ihre teilweise abhandengekommene Motivation wiederzufinden. Was war da naheliegender, als einen oder zwei Gänge herunterzuschalten und sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, die ganz sicher weniger komplex sein würde als das Erarbeiten einer neuen Unternehmensstrategie für einen Konzern mit weltweit fast zehntausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern?

Wenn sie so darüber nachdachte, war die Zusage ihres Besuchs auf dem Bauernhof in Lichterhaven so etwas wie eine Affekthandlung gewesen. Natürlich war sie nicht verpflichtet, den Auftrag dann auch wirklich anzunehmen. Wenn sie vor Ort feststellte, dass ihre Expertise nicht ausreichte, um die Erwartungen zu erfüllen, die in sie gesetzt wurden, dann konnte sie immer noch ablehnen. Das hatte sie tatsächlich hin und wieder auch schon getan, wenn sie den Eindruck gewonnen hatte, dass sie nicht die richtige Ansprechpartnerin für ein Problem war, das an sie herangetragen wurde.

Ein Bauernhof in finanziellen Nöten war natürlich eine geradezu krasse Änderung der Szenerie für sie, nicht nur in beruflicher Hinsicht. Sie war am Stadtrand von Hamburg aufgewachsen und hatte sich immer als Stadtpflanze gesehen. Dabei fühlte sie sich auch durchaus wohl, wenn sie von viel Grün, Landschaft und frischer Luft umgeben war. Als Kind hatte sie Ausflüge in die Natur geliebt, und wenn sie sich schon einmal einen Urlaub gönnte, dann suchte sie sich regelmäßig Orte aus, die nicht vom Tourismus überlaufen waren und nur aus Partys und Highlife bestanden, sondern wo sie auch etwas von Land und Leuten, der Natur und Kultur mitbekam.

Kulturelle Highlights würde es in Lichterhaven ziemlich wahrscheinlich nicht geben, dazu war dieses Nest dann doch zu verschlafen, Touristenziel hin oder her, aber je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer war sie sich, dass Chloe vollkommen recht hatte. Sie würde einfach ein paar Tage freinehmen, sich den Küstenwind um die Nase wehen lassen und hinterher erholt und mit neuem Mut an alles herangehen, was die Zukunft ihr bringen würde.

Zufrieden mit dieser Einsicht schloss sie den Deckel des Koffers und stellte ihn mit einem Schwung auf den Boden.

3. Kapitel

Max war gerade dabei, den schon etwas in die Jahre gekommenen Kartoffelroder mit dem Trecker aus der Scheune zu ziehen, um ihn bei Tageslicht zu inspizieren, als der SUV seines älteren Bruders Jörn auf den Hof einbog und vor dem Wohnhaus hielt. Nur einen Augenblick später stieg Jörn aus, reckte sich und kam sichtlich gut gelaunt auf ihn zu.

Rasch hielt Max den Traktor an und sprang aus der Kabine. »Moin, Jörn, was führt dich denn um diese Tageszeit hierher?« Demonstrativ blickte er auf seine Armbanduhr. Es war gerade halb drei am Nachmittag, und um diese Uhrzeit war Jörn eigentlich mit der Fischerin, einem der beiden familieneigenen Ausflugskutter, unterwegs. Zumindest, wenn Ebbe und Flut es zuließen. »Musst du nicht arbeiten?«

»Moin, Max. Nein, heute ausnahmsweise nicht. Es ist zu starker Wellengang gemeldet. Im Augenblick haben wir zwar nur eine normale steife Brise, aber bis heute Abend soll sie sich noch ganz schön verstärken. Für heute Nacht ist Sturm angesagt, der aber morgen schon wieder abflauen soll. Da wir nicht lauter seekranke Touristen über die Nordsee schippern wollen, haben wir für heute alle Fahrten abgesagt.« Wie zum Beweis seiner Worte fuhr eine kräftige Windbö sie beide an und zerrte an ihren Windjacken. Die von Jörn war dunkelblau und trug das Emblem seines Fischerei- und Ausflugsbetriebs. Sein blondes Haar flatterte in der besagten steifen Brise. »Bei dir alles klar?«, wollte er wissen und musterte Max aufmerksam.

»Klar.« Max sah keinen Sinn darin, seinen Gemütszustand weiter vor seinem älteren Bruder auszubreiten. Jörn wusste genau, welche Probleme ihn beschäftigten. »Ich muss allmählich alles für die Frühkartoffelernte vorbereiten.« Er klopfte gegen das Seitenteil des Kartoffelroders. »Ich hoffe, der hier lässt mich dieses Jahr nicht im Stich. Er hat vergangenes Jahr schon hin und wieder aufgemuckt, aber eine Reparatur kann ich mir momentan nicht leisten. Drück also die Daumen, dass er noch ein weiteres Jahr durchhält.«

»Sind gedrückt.« Jörn blickte zwischen Max und dem Gerät für die Kartoffelernte hin und her. Dabei grinste er seltsamerweise von einem Ohr zum anderen. »Weshalb ich hier bin …«

»Was, du bist nicht einfach nur hergekommen, um deinem Lieblingsbruder einen Besuch abzustatten, so ganz ohne Hintergedanken?« Max tat entsetzt.

»Nicht ganz.« Das Grinsen wurde sogar noch breiter.

Max schmunzelte. »Lass mich raten, in wenigen Wochen ist das Stadtfest, und die Feuerwehr sucht mal wieder nach einem passenden Ort, um ihren Festwagen aufzumotzen.«

»Umzubauen, um genau zu sein«, korrigierte Jörn. »Wie du wahrscheinlich schon weißt, hat der Stadtrat sich entschieden, das diesjährige Stadtfest nach langer Zeit mal wieder unter das Motto Lichterhaven im Mittelalter zu stellen. Dreimal darfst du raten, was sich daraufhin die Jugendfeuerwehr für ihren Festwagen als Thema ausgesucht hat.«

»Piraten?«

Nun verzog Jörn doch ganz kurz schmerzhaft das Gesicht. »Exakt.« Er seufzte. »So, als gäbe es nichts Schöneres. Jetzt müssen wir aus der fahrenden Disco des vergangenen Jahres irgendwie ein Piratenschiff basteln. Frag mich nicht, wie das gehen soll, aber Lars Verhoigen ist bereits darauf angesetzt. Wenn einer die Baupläne für solch ein Unterfangen hinbekommt, dann er.«

»Und was habt ihr euch für den Wagen der Erwachsenen-Feuerwehr überlegt?« Max feixte. »Noch mehr Piraten?«

»Gott bewahre!« Rigoros schüttelte Jörn den Kopf. Dann lachte er. »Caroline und Henning hatten zwar schon mal die Idee, Störtebeker als Thema in Erwägung zu ziehen, aber das hatten wir in der Vergangenheit schon so oft, dass es allmählich langweilig wird. Ich dachte mir, dass wir diesmal eine fahrende Burg bauen und sich alle Feuerwehrmänner als Ritter und die Frauen als Burgfräulein herausputzen könnten. Was die Kostüme angeht, habe ich bereits in einigen umliegenden Theatern nachgefragt. Vielleicht haben wir ja Glück, anderenfalls müssen wir entweder Leute finden, die gut nähen können, oder wir müssen uns mit Ausstattern für Mittelalterfeste in Verbindung setzen. Ella hat bereits eine ganze Liste mit Namen und Adressen zusammengestellt.« Als er von seiner Frau sprach, begannen seine Augen prompt wieder zu leuchten. »Sie hat schon mindestens tausend Ideen und drei Viertel davon bereits generalstabsmäßig ausgearbeitet. Ich weiß gar nicht, wie sie das noch hinbekommt, wo sie doch zusammen mit Hannah und Caroline im Eventhaus alle Hände voll zu tun hat. Ganz abgesehen von …« Nun erreichte sein Grinsen beinahe seine Ohren, doch ehe Max auch nur Luft holen konnte, um nachzufragen, wovon abzusehen war, wandte Jörn sich ein wenig zur Seite und ging in die Hocke. Im nächsten Moment rannte Lilly wie ein Wirbelwind auf ihn zu und warf sich ihm mit einem Freudenschrei in die Arme.

»Onkel Jörn, Onkel Jörn! Wo kommst du denn her? Besuchst du uns?«

»Ja, was denn sonst?« Mit Schwung hob Jörn die Siebenjährige in die Luft und wirbelte sie einmal im Kreis herum, bevor er sie auf seiner Hüfte absetzte. »Hallo Prinzessin. Kommst du gerade aus der Schule?«

Er deutete auf den rosa und violett gemusterten Schulranzen, den sie einfach mitten auf dem Hof zurückgelassen hatte, als sie ihn erkannt hatte. »Wo hast du denn deinen Bruder gelassen?«

»Der kommt gleich. Er war nämlich eben noch vorne im Schuppen bei Tinka und ihren Jungen. Hast du die schon gesehen? Vier kleine Kätzchen, und die sehen alle gleich aus, alle grau getigert.« Lilly kicherte. »Oma sagt, die wird keiner auseinanderhalten können. Aber sie sind so süß! Ich will nachher auch mal gucken gehen, aber erst habe ich Hunger. Lässt du mich runter? Ich will rein und gucken, ob Opa was zu essen gemacht hat.«

»Opa hat nichts zu essen gemacht«, warf Max ein. »Er ist nämlich gar nicht da. Du weißt doch, dass er heute auf den Salatfeldern hilft.«

»Und was essen wir jetzt?« Mit großen Augen sah Lilly zu ihm auf.

Max lächelte. »Ich habe vorhin einen ganzen Topf Milchreis gekocht, und dazu gibt es frische Erdbeeren.«

»Yeah, Milchreis ist mein Lieblingsreis!«, rief Jonathan, der in diesem Moment den Schuppen verlassen hatte.

Der Junge rannte auf Jörn zu und wurde, wie zuvor seine Schwester, einmal hoch durch die Luft geschwungen.

»Hallo, Kumpel.« Jörn wuschelte Jonathan durch den dunkelblonden Haarschopf. »Na, wie geht es den kleinen Kätzchen?«

»Die schlafen.« Bedeutungsvoll legte Jonathan seinen Zeigefinger an die Lippen. »Ich hab nur Tinka kurz gestreichelt. Jetzt habe ich...

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