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Tödliches Treibgut

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Zerklüftete Felsen reichen bis in die Brandung hinein, ein entstellter Körper liegt verdreht dazwischen im Sand. Dieser Anblick bietet sich DCI Jim Daley, den es von den rauen Straßen Glasgows an die sonst beschaulichen Strände der Kintyre-Halbinsel verschlägt: Mit seinem Partner DC Scott wird er in das Fischerdorf Kinloch beordert, da sich die örtliche Polizei mit der dort angespülten Frauenleiche überfordert zeigt. Während sie innerhalb der verschworenen Dorfgemeinschaft ermitteln, müssen die beiden feststellen, dass jemand bereit ist, dafür zu töten, dass bestimmte Fragen ungestellt bleiben …

"Breit angelegte Kriminalgeschichte, spannend und unterhaltsam zugleich." Buchkultur

"‚Tödliches Treibgut‘ von Denzil Meyrick überzeugt vor allem durch die Figuren und ihre Beziehungen zueinander. Beides nimmt breiten Raum ein. Die raue Schönheit der westschottischen Küste zieht rasch in ihren Bann. Man wandert zwischen Klippen umher und wird ordentlich durchgepustet, um sich hinterher im örtlichen Pub ein wärmendes Getränk zu gönnen." Aachener Nachrichten

"Fesselnd und mitreißend …" The Wall Street Journal

"Die richtige Prise Authenzität … ein packender Stil … höchst beachtlich." The Herald

"Meyrick versteht es, eine gute Geschichte zu erzählen und noch der unwichtigsten Nebenfigur Leben einzuhauchen." Scots Magazine

"Denzil Meyrick wird bald in einem Atemzug mit Alex Gray, Denise Mina und Stuart MacBride genannt. Sehr beeindruckend." Lennox Herald


  • Erscheinungstag: 08.05.2017
  • Aus der Serie: Dci Jim Daley
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676649
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Fiona, Rachel und Sian

PROLOG

Blitzende Lichter tanzten vor ihren Augen. Ihre Glieder erschlafften allmählich, als besäßen sie einen eigenen Willen. Der Schmerz war nur noch dumpf zu spüren, und die Panik verebbte. Sie wusste, dass ihre Gedärme sich entleert hatten. Inzwischen war es ihr egal. Ihre letzten Emotionen bestanden aus einer verblassenden Mischung aus Zorn über die Ungerechtigkeit und einer überwältigenden Traurigkeit, an deren Ursache sie sich nicht mehr richtig erinnern konnte.

Ihr ganzes Ich, alles, was sie je gewesen war, sickerte langsam aus ihr heraus: ihre Liebe, ihre Sehnsüchte, ihre Vorlieben und Abneigungen. Die Dinge, die sie wütend machten, die sie deprimierten, zum Lachen oder zum Weinen brachten, schrumpften dahin. Ihre allerletzten Augenblicke versanken in einem immer dunkler werdenden Abgrund – in der unwirklichen Distanziertheit eines Verstandes, der sich den Weg ins Vergessen zu erleichtern versuchte.

Plötzlich, während das Licht nachzulassen begann, erfüllte das Gesicht eines kleinen, blonden und blauäugigen Kindes ihre Gedanken. Nur für einen kurzen Moment flammte die furchtbare, erstickende Pein noch einmal auf, dieses Ringen nach Atem, der Kampf darum, am Leben zu bleiben und zurückzukehren.

ERSTER TEIL

1

Die Leiche bewegte sich im selben Rhythmus wie der Seetang und das Treibgut, die sich in der Biegung der niedrigen felsigen Bucht wiegten. Da trieben Styroporbecher, ein Fischerhandschuh mit drei fehlenden Fingern und eine Getränkeflasche, deren Etikett von Meer und Sonne so ausgebleicht war, dass man den ehemaligen Inhalt nur erahnen konnte. In den orangefarbenen Fetzen eines Plastiknetzes, das immer noch seinen ursprünglichen Zweck erfüllte, hatte sich eine kleine Krabbe verheddert und hob und senkte sich im Einklang mit der Leiche.

Es handelte sich um den nackten Körper einer Frau, die mit dem Gesicht nach unten im Wasser lag, die Gliedmaßen zu einem trägen „X“ ausgebreitet. Ihre Haut erschien wächsern – eine schauerliche Mischung aus Gelb und Grau, die an den Füßen, den Händen und im Genick in Schwarz überging. Ihre sterblichen Überreste waren nach der Zeit, die sie im Meer verbracht hatten, entsprechend aufgetrieben. Einzelne Bereiche am unteren Rücken und an den Oberschenkeln sahen angenagt aus, höchstwahrscheinlich von Krabben, was darauf hindeutete, dass die Leiche zumindest eine Weile weiter draußen getrieben war.

Auffallend und beinahe unheimlich wirkten die beiden knallroten Bänder, mit denen die Haare zu zwei Zöpfen an den Seiten zusammengebunden waren. Die Frisur erinnerte an glückliche Kindertage und stand in krassem Gegensatz zu der verwesenden Leiche, deren Gestank die salzige Meeresluft des lauen Frühlingstages verpestete.

Detective Constable Archie Fraser hatte zwar sechs Jahre in Uniform hinter sich, war bei der Kriminalpolizei aber noch ein Neuling. So neu, dass er nur hoffen konnte, die Szene am Strand mit angemessener professioneller Distanz zu betrachten. Eine junge weibliche Police Constable von der uniformierten Polizei sah mit jener Mischung aus Entsetzen und Faszination zu, die dem Menschen angesichts eines Todesfalls eigen ist, vor allem bei der grausigeren Variante. Ebenso erging es der kreidebleichen Spaziergängerin mit ihrem Hund, die die Polizei gerufen hatte. Ihr großer schwarzer Labrador schnüffelte herum und scharrte unbeeindruckt von der Leiche im Sand.

„Könnten Sie Ihren Hund bitte anleinen, Mrs. MacPherson?“ Fraser sprach mit einer Selbstsicherheit, die er nicht fühlte. Es war durchaus zu befürchten, dass der Hund den ungewöhnlichen Geruch aufschnappte und ins Wasser sprang, um seine Quelle zu untersuchen.

Fraser hatte es in Kinloch von Anfang an nicht leicht gehabt. Erst vergangenen Monat hatte sich sein oberster Vorgesetzter – ein gewisser Inspector MacLeod, der Leiter der Dienststelle – bemüßigt gesehen, ihm einen strengen Verweis zu erteilen. Er hatte eine junge Ladendiebin mit Handschellen an einen sehr heißen Heizkörper gefesselt vorgefunden, während Fraser, der Beamte, der sie festgenommen hatte, einem dringenden Ruf der Natur folgte.

„Jetzt reißen Sie sich mal zusammen, Junge, reißen Sie sich zusammen!“, hatte MacLeod mit seinem unverkennbaren Highland-Akzent gebrüllt. „Das Letzte, was ich hier brauchen kann, ist die Dienstaufsicht, bloß weil Sie so ein bescheuertes Weibsbild halb durchgebraten haben. Sie haben verdammtes Glück, dass sie sogar zu blöde war, um Anzeige zu erstatten.“

Fraser war aufgefallen, dass sein Chef ihn wie einen Fremden behandelte. Sicher, Touristen verwechselten ihn oft mit einem Deutschen oder Skandinavier, wobei er doch tatsächlich von der Isle of Harris stammte. Er hatte sich eine lange Strafpredigt anhören müssen und beschlossen, sich in jeder Hinsicht zu bessern und viel seltener ins Restaurant „Taste of India“ zu gehen.

„Karen, könnten Sie bitte mal herkommen?“, rief Fraser der Police Constable zu.

Sie ging langsam zu ihm, ohne die Tote aus den Augen zu lassen, wie ein Kind, von dem man verlangt hat, eine Schlange zu streicheln.

„Was ist los?“, fragte er. „Das ist doch bestimmt nicht Ihre erste Leiche?“ Ihr großäugiges Nicken war kaum wahrnehmbar. Fraser hatte seine Probezeit in Glasgow abgeleistet und war es gewohnt, tote Menschen zu sehen: Mordopfer, Ertrunkene, Selbstmörder, Unfalltote – gelegentlich sogar solche, die eines natürlichen Todes gestorben waren. So etwas gehörte in der Großstadt zum Alltag eines Ordnungshüters. Doch im Unterschied zu damals fiel der Tatort hier jedenfalls vorerst in seine Zuständigkeit. Kein Mannschaftswagen voller Kollegen würde ihn ablösen. Das nächste Dezernat für Schwerverbrechen lag fast hundertfünfzig Kilometer entfernt. Selbst sein vorgesetzter Detective Sergeant hatte sich krankgemeldet. Seine hartnäckigen Rückenbeschwerden deuteten stark auf vorzeitige Pensionierung hin … Fraser war definitiv der ranghöchste Kripobeamte vor Ort, genau genommen der einzige diensthabende Kripobeamte hier.

„Es iss nich bloß das, Archie.“ Die Polizeibeamtin sprach mit dem starkem Akzent der Region. „Ich meine, das ist Kinloch – wahrscheinlich kenn ich sie.“

Wie hatte er das nur vergessen können? Der Schauplatz des Verbrechens lag nur knapp fünf Kilometer weit weg von einem der einzigartigsten Orte, die er je kennengelernt hatte, ganz zu schweigen davon, dort zu leben und zu arbeiten. Kinloch. Das Städtchen befand sich auf einer Halbinsel zweihundert Kilometer von Glasgow entfernt an Schottlands zerklüfteter Westküste. Oder anders ausgedrückt: am Arsch der Welt, wie Fraser inzwischen befunden hatte. Ungefähr zehntausend Menschen lebten hier auf eine Art zusammen, die sich am besten als moderne Version der 1950er-Jahre beschreiben ließ. Jeder kannte jeden und wusste bis ins kleinste Detail Bescheid über dessen intimste Angelegenheiten. Manchmal, wenn der junge Polizist an einem Fall arbeitete, hatte er eindeutig den Eindruck, dass allen ganz klar war, was er herauszufinden versuchte, sie es ihm aber niemals verraten würden.

Ein Symptom solcher in sich geschlossenen Gemeinschaften war das angeborene Misstrauen gegenüber Fremden und Polizisten. Frasers Onkel, selbst ein pensionierter Polizeibeamter, hatte ihm geraten, sich immer Freunde außerhalb des „Jobs“ zu suchen. Er fand, dass viele Polizisten isoliert, introvertiert und abgehoben wurden, weil sie auch neben der Arbeit nur untereinander Umgang pflegten. „Du musst die Ohren weit aufsperren, mein Sohn, vor allem an einem winzigen Ort wie Kinloch“, hatte Onkel Davie in seiner Weisheit erklärt. „Ich meine, du wirst nie was über diese Leute rausfinden, wenn du nicht rausgehst und mit ihnen sprichst. Geh was trinken, lass ein bisschen Geld liegen, gib ein paar Runden aus, dann siehst du schon, wie sie aufmachen.“

Archie betrachtete diesen strategischen Ratschlag mit gemischten Gefühlen. Zum einen hatte Onkel Davie immer so sehr die Ohren aufgesperrt und so viele Runden ausgegeben, dass er jetzt auf eine Lebertransplantation wartete. Außerdem war das hier Kinloch, ein definitiv ganz spezieller Ort. Immerhin fand er einige von Davies Ratschlägen recht brauchbar. Und da dies sein erster Posten als Detective Constable war, hatte er sich entschlossen, sich in die Gemeinschaft zu integrieren. Er hatte sich bemüht, dem örtlichen Golfclub beizutreten, doch der hatte leider gerade Aufnahmestopp. Unbeirrt hatte er es mit dem Tennis- und dem Cricketclub probiert, beide Male mit dem gleichen Ergebnis. Kurzzeitig hatte er wieder Hoffnung geschöpft, als der gälische Chor ihn ansprach, um etwas gegen seine schwindende Mitgliederzahl zu unternehmen. Bedauerlicherweise war Fraser so unmusikalisch, wie man nur sein konnte.

Er hatte versucht, in seiner Freizeit die örtlichen Pubs zu besuchen. Davon gab es eine ganze Menge in Kinloch – viel zu viele in den Augen einiger der eher maßvollen Einwohner der Stadt. Sie bedienten kleine, in sich geschlossene Gruppen der Gemeinschaft. Den Stammgästen der Shore Bar beispielsweise wäre es nie in den Sinn gekommen, die Schwelle des Royal Borough auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu überqueren. Auf subtile Weise zog jedes Etablissement eine leicht unterschiedliche Klientel an. Streitlustige Jugendliche besuchten das Pulse, eine laute Clubbar in der Main Street, während ihre intellektuelleren Altersgenossen das Old Bothy am Marktplatz frequentierten. Römisch-katholische Bürger bevorzugten das Douglas Arms, und die sogenannten „Blaunasen“, die Freunde der Cops, das Royal. Es gab ein Pub für Anwälte, Ärzte und Geschäftsleute. Eines für Vertreter und Fabrikarbeiter. Und ein bestimmtes Lokal, das passenderweise direkt neben dem Buchmacher in der High Street lag, widmete sich ausschließlich Pferderennen. Hier lief der „Sport der Könige“ rund um die Uhr auf großen Bildschirmen. Jenny’s, das versteckt in einer kleinen Seitengasse lag, war die absolute Endstation. Wer sich in allen anderen Lokalen so schlecht benommen hatte, dass er rausgeflogen war – und das waren viele –, der landete hier. Das „Schuldbuch“ für diejenigen, die hier anschreiben lassen mussten, war legendär, ebenso wie die Kneipenschlägereien. Einheimische bezeichneten das Jenny’s aus offensichtlichen Gründen als die „Star Wars Cantina“.

Fraser kannte sie inzwischen alle. Der typische Verlauf war so, dass bei seinem Eintreten jede Unterhaltung verstummte, um dann Augenblicke später etwas gedämpfter wieder einzusetzen. Anschließend gingen die Gäste einer nach dem anderen nach Hause, bis der junge Detective alleine mit einem aus Kinlochs kleiner Armada von Säufern zurückblieb, die kaum noch merkten, was sie tranken, und denen das auch ziemlich egal war. Und natürlich mit dem aufgebrachten Gastwirt, der seine Verluste überschlug.

„Darf ich etwas sagen?“, fragte Mrs. MacPherson schüchtern. „Die Flut dreht gerade, und … na ja, könnte es … könnte sie … nicht wieder hinausgeschwemmt werden?“

Das hatte der junge Beamte nicht bedacht. „Richtig. Karen, es ist Zeit, uns die Füße nass zu machen. Wir müssen sie über die Wasserlinie schaffen. Sogar wenn wir damit Beweise zerstören, ist es allemal besser, als dass sie bis nach Islay gespült wird.“

„Können Sie das nicht selber machen, Archie? Mir ist jetzt schon ganz schlecht.“ Fraser erinnerte sie nachsichtig daran, wofür sie bezahlt wurde, und nachdem sie sich der Schuhe und Socken und in ihrem Fall der Strumpfhose entledigt hatten, wateten sie ins seichte Wasser.

„Okay, nehmen Sie den anderen Arm, Karen, und aufgepasst! Aber vorsichtig – wir wollen hier so wenig wie möglich kaputt machen.“ Die Polizistin betrachtete zweifelnd die Leiche, gehorchte aber. Sie wandte den Blick ab, während sie das linke Handgelenk ergriff und angewidert den Mund verzog. „Auf drei. Eins, zwei, drei …“ Sie begannen zu ziehen.

Zum Entsetzen aller drei am Strand ging die Leiche unter Absonderung einer Menge dunkler Flüssigkeit und einiger festerer Bestandteile in der Mitte entzwei. Es klang wie das dumpfe, saugende Geräusch, mit dem der Klempner einen verstopften Abfluss frei macht. Die beiden Beamten, die mehr Kraft als nötig in die Aufgabe investiert hatten, plumpsten rücklings ans Ufer, und die obere Hälfte der Verstorbenen landete einen halben Meter entfernt von den sonstigen Überresten.

In Sekundenbruchteilen verbreitete sich ein übler Gestank aus dem frisch geteilten Körper. Der Hund richtete sich steif auf allen vier Beinen auf und stieß ein klagendes Geheul aus, während Karen sich im Kies sitzend ausgiebig auf ihre Uniform übergab. Das hatte man davon, wenn man die Kripo unterstützte. Dunkle Körperflüssigkeiten versickerten im Sand, und selbst die örtliche Möwenkolonie war aufmerksam geworden und wirbelte in einem kreischenden Schwarm über die Bucht.

„Scheiße!“ Fraser hatte vorübergehend die Anwesenheit von Mrs. MacPherson vergessen und fluchte. Sie starrte ungläubig auf die Szene, als würde sie damit rechnen, dass gleich jemand hinter einem Felsblock hervorsprang und rief: „Vorsicht Kamera!“, womit sich die ganze grauenhafte Episode als schlechter Scherz entpuppte.

Fraser bemerkte aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu seiner Rechten. Drei Silhouetten kamen zielstrebig den Strand entlang auf ihn zugestrebt.

Die dünne, straffe Gestalt von Inspector MacLeod an ihrer Spitze war unverkennbar. Der Mann verstand nicht gleich, was da vor seinen Augen vor sich ging. Einer seiner Detective Constables erhob sich gerade aus dem Sand, auf dem der Oberkörper einer toten Frau lag, während eine Polizistin ihm vor die Füße kotzte. Eine Frau, die er nicht kannte, wurde von Weinkrämpfen geschüttelt, und ein großer schwarzer Hund wedelte bei seiner Ankunft freudig mit dem Schwanz. Nur ein, zwei Meter entfernt war die untere Hälfte der Leiche in dem stark verfärbten Wasser kaum noch zu erkennen. Ein überwältigender Gestank lag in der Luft.

„Was zum Teufel treiben Sie da, Junge?“ Zornesadern pochten an MacLeods Schläfen. „In all meinen Jahren bei der Polizei habe ich so etwas noch nicht erlebt!“

„Ich habe nur versucht …“

„Sie haben nur versucht, alles zu vermasseln, wie üblich.“ Der Inspector glühte vor Zorn. „Aye, da gehen unsere Karrieren dahin. Weiß der Himmel, was man Ihnen in der Ausbildung beigebracht hat. Zu meiner Zeit lernte man noch, einen Tatort zu bewahren, und nicht, das Opfer in Stücke zu reißen!“ Als würde er erst jetzt bemerken, dass sie nicht allein waren, nahm sich MacLeod sichtlich zusammen und befahl dem Polizisten neben ihm: „Sergeant Shaw, bitte tun Sie Ihr Bestes, die kläglichen Überreste an diesem Tatort zu sichern.“ Anschließend wandte er sich einem untersetzten Mann zu, der ein abgetragenes Sportjackett mit Flicken auf den Ellbogen trug, und fragte: „Sandy, sind Sie unter diesen Umständen in der Lage, eine Untersuchung durchzuführen?“ Gleichzeitig warf er Fraser einen tödlichen Blick zu.

Sandy, in dem Fraser einen der hiesigen Ärzte erkannte, fuhr sich durch die ergrauenden lockigen Haare, während er die Szene begutachtete. „Nun, Charles, ich kann mich Ihrer präzisen Beurteilung der Lage nur anschließen.“ Sein Akzent war reinste schottische Privatschule. „Einen solchen Vorfall habe auch ich in dreißig Jahren als Mediziner nicht erlebt.“ Er musterte den jungen Detective Constable mit geschürzten Lippen, die pure Verachtung ausdrückten. Dann beugte er sich über die an Land beförderte Leichenhälfte und rieb sich das Kinn.

MacLeod entfernte sich ein paar Schritte und bedeutete Fraser, ihm zu folgen. Sobald sie außer Hörweite waren, packte er den Jüngeren am Arm, richtete sich auf die Zehenspitzen auf und zischte dem Detective Constable boshaft ins rechte Ohr: „Hören Sie mir gut zu, Constable. Seit Sie in meiner Dienststelle eingetroffen sind, stolpern Sie von einer Krise in die nächste.“ Fraser spürte, wie er rot wurde. „Wenn dieser elende Schlamassel vorbei ist, werde ich dem Hauptquartier mitteilen, dass Sie nicht nur ungeeignet für die Kripo, sondern überhaupt zu jeder Art von Polizeiarbeit unfähig sind. Verlassen Sie sich drauf, diese Kacke wird auf Ihrem Kopf landen, nicht auf meinem. Mann, wir werden noch die Lachnummer der ganzen Truppe, wenn das so weitergeht!“

Fraser widerstand der Versuchung, seinen Vorgesetzten zu packen und zu Boden zu schmettern. Er dachte noch darüber nach, wie er sich verteidigen sollte, als ein Ausruf des Arztes sie beide zu ihm herumfahren ließ.

„Charles, ich fürchte, das ist was für die großen Jungs.“ Der Doktor klopfte sich Sand von der Hose, während die Polizisten zum Schauplatz zurückkehrten. „Es war Mord. Ganz üble Sache.“

„Wie können Sie da so sicher sein, Sandy?“ Der Inspector beäugte den Mediziner zweifelnd.

„Oh, ganz einfach, Inspector MacLeod. Sie hat Würgemale am Hals.“

2

Detective Inspector Jim Daley reichte dem Verkäufer des eleganten Herrenausstatters seine Kreditkarte und dachte darüber nach, was für ein niederschmetterndes Erlebnis es inzwischen für ihn war, sich neue Hosen zu kaufen. In seinen Zwanzigern – sogar noch in den Dreißigern – hatte er sich eine ganz passable Taille erhalten können, ohne zu hungern oder drastische Fitnessprogramme absolvieren zu müssen. Jetzt, mit Anfang vierzig – wie er seine dreiundvierzig Lenze gerne nannte –, und besonders, nachdem er das Rauchen aufgegeben hatte, schien sein Bauch über Nacht mehrere Zentimeter zulegen zu können. Wenn er einen Anzug oder eine Jeans wählte, die er ein paar Wochen nicht getragen hatte, geschah das nicht ohne eine gewisse Besorgnis. Oft musste er dann mit widerspenstigen Reißverschlüssen oder bockigen Hosenknöpfen kämpfen. Da half nur Luft anhalten und Bauch einziehen, bis das Kleidungsstück so saß, dass er sich halbwegs bewegen und hinsetzen konnte, ohne dass ein abplatzender Knopf wie eine verirrte Kugel durch die Luft schoss. Im schlimmsten Fall hörte er das unerfreuliche Reißen von Stoff über seinem ausladenden Hintern.

Daher hatte er sich, was Hosen anging, zu einem Neubeginn entschlossen. Er kaufte einfach ein Paar, das zu seiner auseinandergehenden Figur passte, egal, wie unangenehm der Gedanke war, eine mit dem Alter identische Hosengröße zu tragen. Aber immerhin wurde er ja älter und hatte vor, Diät zu halten und ins Fitnessstudio zu gehen, bis die Zahlen in Zukunft wieder auf annehmbare Weise auseinanderdrifteten.

Während er den Laden verließ, erhaschte er einen Blick auf sich selbst in einem bodenlangen Spiegel. War das wirklich er, dieser übergewichtige, nicht mehr junge Mann? Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass er immerhin einen Meter neunzig groß war und noch alle Haare und Zähne besaß. Frauen fanden ihn durchaus attraktiv – nur eben nicht die eine, von der er es sich am meisten wünschte, jedenfalls kam es ihm so vor. Groß, dunkel, fetter und älter werdend, aber noch recht gut aussehend – das beschrieb Jim Daley ganz zutreffend.

Die Titelmelodie von Die Sopranos riss ihn aus seinen kleidungstechnischen Überlegungen und lenkte seine Gedanken auf ein Thema, das ihn ähnlich stark verunsicherte: seine Frau Liz. Sie rief ihn gelegentlich bei der Arbeit an, und er war inzwischen darauf gefasst, dass diese Telefonate ein gewisses Maß an schlechten oder unangenehmen Nachrichten brachten.

„Hi, Liz. Alles in Ordnung?“ Er klang immer so einfallslos, wenn er unerwartet mit ihr sprechen musste. Unwillkürlich überlief ihn ein leichter Schauer der Erregung, als er ihre redegewandte, rauchige Stimme hörte.

„Hi, Darling. Das ging ja schnell. Können wir reden?“

„Ja, kein Problem. Eigentlich bin ich …“

Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Wunderbar. Ich wollte nur Bescheid sagen. Jill möchte, dass ich sie für einige Tage droben im Wohnwagen besuche. Und weil schönes Wetter ist und wir sowieso nichts Besseres vorhaben, fahre ich in ein paar Stunden los.“

Daley war es gewohnt, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Er staunte immer wieder über Liz’ Talent, mühelos ihren Willen durchzusetzen und ihm gleichzeitig Schuldgefühle einzuflößen. Er versuchte es mit einer Rückzugtaktik. „Ich bin gegen fünf zu Hause. Wir könnten auf ein paar Drinks in den kleinen Pub gehen oder ein Curry bestellen und uns einen schönen Abend machen. Du kannst doch auch noch morgen früh zu Jill.“

Liz’ Antwort kam so schnell, wie sie vorhersehbar war. „Oh, schade, dass du das nicht früher vorgeschlagen hast. Sie hat mich schon für heute Abend zum Essen eingeladen. Mark muss irgendeinen langweiligen Geschäftspartner bewirten. Ich habe schon zugesagt. Tut mir leid, Darling.“

„Ach so, okay“, würgte er heraus. Wahrscheinlich stimmte es, was die Leute sagten: Wenn ein Partner einmal untreu gewesen war, war es sehr schwer, das Vertrauen wiederherzustellen, das in jeder Beziehung so wichtig war. Und Liz hatte ihn auf ausgesprochen spektakuläre Weise betrogen. Ihre erste Affäre – die erste, von der er wusste – war die mit ihrem Fitnesstrainer gewesen. Daley war vom Polizeiarzt frühzeitig nach Hause geschickt worden, nachdem er bei einer Drogenrazzia einen Baseballschläger an den Kopf bekommen hatte. Schon als er die Treppe ihres neuen Einfamilienhauses in der Ortschaft Howwood hinaufgestiegen war, hatte er Geräusche gehört. Der anschließende Anblick von Liz in ihrem Bett, die es sich auf Händen und Knien von ihrem Liebhaber von hinten besorgen ließ, hatte sich ihm unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt. Da er nicht nur unter einem aufbrausenden Temperament, sondern damals auch noch unter akuten Kopfschmerzen gelitten hatte, hatte Daley den unerwünschten Eindringling mit einem schnellen Kinnhaken k. o. geschlagen, ihn an den Haaren auf den kleinen Balkon hinausgezerrt und sauber über das Geländer hinweg in den darunterliegenden Garten entsorgt.

Ein nackter Mann, der, begleitet von den gellenden Schreien einer Frau, mit einem verdächtig gebrochen aussehenden Bein aufzustehen versuchte, war für die guten Leute von Howwood Grund genug gewesen, die Polizei zu rufen. Es bedurfte reichlichen Strippenziehens im Hintergrund und düsterer Warnungen bezüglich seiner Zukunftsaussichten, bis es zu einem Deal kam. Daley musste sich einem Anti-Aggressions-Training unterziehen und konnte zusehen, wie er die Trümmer seiner Karriere wieder zusammensammelte. Nachdem er mit Mitte dreißig bereits den Rang eines Detective Inspector erreicht hatte, hätte Jim Daley durchaus darauf hoffen können, als Superintendent oder höher in den Ruhestand zu gehen. Das war nun höchst unwahrscheinlich geworden. Was Liz anging, so hatte sie ihm unsterbliche Liebe geschworen und tränenreich Langeweile und Einsamkeit als Entschuldigung für ihr Verhalten angeführt. Daley war klar, dass er einen Fehler beging, doch ließ ihn seine beinahe blinde Liebe zu ihr den einzigen Kurs einschlagen, der ihm erträglich schien: ihr zu verzeihen. Seitdem hatte er sogar die Andeutungen von engsten Freunden und Kollegen ignoriert, wenn es wieder um irgendwelche Techtelmechtel ging. Er besaß weder die Kraft noch den Willen, das einzig Vernünftige zu tun und sie zu verlassen. Obwohl er es zu verbergen versuchte, war er immer noch bis über beide Ohren in sie verliebt. Und zu seinem eigenen Erstaunen war er bereit, fast alles hinzunehmen, um das Scheitern ihrer Beziehung zu verhindern.

Liz sagte die richtigen Dinge und machte alles richtig. Sie zeigte großes Interesse an ihm, ihr Liebesleben war leidenschaftlich, sie erklärte sich glücklich und zufrieden, bekundete unerschütterliche Loyalität, aber es half nichts. Jetzt, da das Vertrauen zerstört war, blieb nur das Joch der Besessenheit. Daley musste ständig das anzügliche Nicken und Zwinkern seiner Kollegen ertragen. Die Polizei war eine kleine, in sich geschlossene Gemeinschaft, in der Klatsch und Tratsch blühten. Wenn Liz weniger attraktiv gewesen wäre, wären ihre Indiskretionen vielleicht unbemerkt geblieben. So sorgten die Gerüchte über ihr schamloses Benehmen dafür, dass jeder männliche Kollege sich einbildete, bei ihr Chancen zu haben.

„Außerdem weißt du ja, wie der Verkehr am Morgen ist.“ Liz sprach „Morgen“ mit jenem unwilligen Anklang aus, der sich mit den australischen Sitcoms eingebürgert hatte. Als wäre der Begriff des Morgens dem Zuhörer etwas vollkommen Fremdes.

Es war eine Marotte, die Daley störte, und er antwortete vernehmlich kälter. „Ja, wie immer du willst, Liz. Wann bist du zurück?“

„Ach, du kennst mich doch. Ich schwimme mit dem Strom.“ Oh ja, er kannte sie gut. „Egal, ich muss mich sputen. Ich habe ein Curry für die Mikrowelle für dich hingestellt. Rufe dich später wieder an. Tschüss, Darling.“ Die liebevolle Bezeichnung klang wie ein Abgesang.

Daley stand noch ein paar Sekunden mit dem Handy am Ohr da. So wenig gesagt, so viel unausgesprochen gelassen. Das war ihre Ehe. Er ging zum Parkplatz, machte sich im Geiste eine Notiz, den Wagen waschen zu lassen, und fuhr zum Revier.

Jim kehrte auf dem Umweg über die Kaffeemaschine in sein Büro zurück. Als er die zweite Etage und das gemeinsame Büro erreichte, hörte er bereits seinen Detective Sergeant lautstark am Computer fluchen. „Scheiße, ich kapier nicht, wie die auf die Idee kommen, dass es kosteneffizienter ist, wenn wir die ganze Tippserei selber machen!“ Detective Sergeant Brian Scott klang ungehaltener als gewöhnlich, und das wollte etwas heißen. „Früher musste man bloß was hinkritzeln und drauf warten, dass ein Mädel im Schreibbüro die Geschichte abtippte. Und jetzt, Herrgott noch mal, ganz Paisley geht zum Teufel, während ich hier rumhänge und zu tippen übe wie ’ne blöde Sekretärin.“

„Ach, DS Scott.“ Daley imitierte den knappen Kelvinside-Akzent ihres Chefs. „Uns allen obliegt es, uns neue Polizeiverfahren zu eigen zu machen.“ Er lächelte über Scotts entgeisterte Miene.

„Aye, scheiß drauf. Irgendwann braucht man noch ’nen Studienabschluss, um unseren Job zu machen.“ Aber Scott sagte es mit einem Grinsen. Ein IT-Spezialist war er gewiss nicht, jedoch ein höchst effektiver und manchmal brillanter Polizeibeamter. Seine brüske Art und die Neigung, die Vorschriften zu ignorieren, hatten seinen Aufstieg auf der Karriereleiter behindert, sodass er seine Laufbahn sicher als Detective Sergeant beenden würde. Daley hatte das Gefühl, dass diese Rolle wie maßgeschneidert war für seine verbissene Entschlossenheit, und er schätzte seine Mitarbeit mehr, als er jemals zugegeben hätte. Sie waren ein gutes Team.

Daley ging zu seinem großen, mit Papieren übersäten Schreibtisch. Eine gelbe Haftnotiz auf einem Berg von Akten teilte ihm in Scotts schwungvoller, schlampiger Handschrift mit: Der Simpel will dich sehen!

„Wann hat Seine Herrlichkeit denn nach mir verlangt?“, erkundigte sich Daley. Er blickte gerade rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Scotts Computerbildschirm zu einem leuchtenden Blau wurde.

„Och, gleich nachdem du weg warst. Ist ganz schön abgedreht wegen irgendwas. Er hat mich nicht mal zusammengestaucht wegen dem Saustall hier.“ Er schwang den Stuhl zu Daley herum und streckte die linke Hand in einer ungläubigen Geste zum Bildschirm aus. „Was soll jetzt die Scheiße hier?“

Daley trank seinen Kaffee aus und trat an Scotts Tisch, wo er geschickt ein paar Tasten drückte und den Bericht wiederherstellte, an dem der Detective Sergeant gearbeitet hatte. „Wie viele Computerkurse hast du eigentlich inzwischen belegt? Muss doch in die Dutzende gehen.“

Scotts Gesicht nahm einen Ausdruck reuevoller Resignation an. „Aye, schon ein paar, aber du musst auch bedenken, Jim, jedes Mal, sobald ich zur Uni gehe, komm ich auch von meiner liebsten aller Ehefrauen weg. Und die haben da eine klasse kleine Bar in der Nähe! Wenn man dann am Morgen wieder nüchtern ist, hat man den Faden verloren und keine Ahnung, von was überhaupt die Rede war.“

Daley lachte in sich hinein, während er mit dem Aufzug in den obersten Stock hinauffuhr. Als die Türen zischend aufglitten, staunte er zum wiederholten Mal über die wachsende Prachtentfaltung, je höher man in diesem Gebäude gelangte. Hier war nichts mehr zu sehen von der nackten Funktionalität der unteren drei Etagen. Stattdessen gab es dunkel getäfelte Holzwände, geschmackvolle Gemälde, weiches Licht, dicken Teppichboden und üppige grüne Topfpflanzen. Selbst das zivile Personal war von der ästhetisch anspruchsvolleren Variante. Eine Frau im engen Rock schwebte in einer Wolke teuren Parfüms, das ihn an Liz erinnerte, an ihm vorbei.

Hinter der geschlossenen Tür hörte man ganz deutlich das Kichern einer Frau. Auf dem Namensschild stand einfach: Superintendent John Donald – Leiter Kriminalpolizei. Daley klopfte dreimal laut an. Erst erklang gedämpftes Gemurmel, dann das vertraute „Rein“. Er öffnete die Tür und trat in zuversichtlicher, aufrechter Haltung ein.

Donald saß an einem übertrieben großen Tisch, der den Rest des Büros zwergenhaft wirken ließ. Eine attraktive Frau stand neben ihm, hielt eine Akte umklammert und sah unverwandt zu, wie der Superintendent energisch seine Unterschrift unter ein Dokument setzte.

„Ah, Jim.“ Donalds Blick glitt kurz zu Daley, bevor er sich wieder den Papieren widmete. Er wedelte flüchtig mit der linken Hand. „Machen Sie es sich bequem, während ich den unersättlichen Appetit dieser jungen Dame auf meine kostbare Zeit befriedige.“

Immer dasselbe. Jim war die Spleens seines Chefs gewohnt. Manchmal kam es ihm so vor, als hätte er seine ganze Laufbahn für diesen Mann gearbeitet. In der Probezeit war Donald Daleys vorgesetzter Sergeant gewesen. Auf seinem ersten Posten bei der Kripo in Paisley als frischgebackener Detective Constable war Donald ebenfalls der Sergeant gewesen. Bald nach Daleys Beförderung zum Detective Sergeant bei der A-Division in Glasgow war Donald als allmächtiger Chief Inspector wieder dazugestoßen. Jemand hatte mal gesagt, ihre Arbeitsbeziehung stünde unter einem schlechten Stern. Leider hatte derjenige recht.

Der Mann, den er jetzt vor sich sah, hatte kaum noch etwas gemein mit dem ungeschliffenen, übergewichtigen Spießer aus einer scheinbar lange zurückliegenden Vergangenheit. Ruhig und unbeirrbar hatte Donald an seinen Fehlern gearbeitet. Er hatte aufgehört zu trinken, mit Joggen, Golf und Squash angefangen und in der Folge gehörig abgespeckt. Er verbrachte viel Zeit im Süden oder auf der Sonnenbank, damit seine Sonnenbräune dauerhaft und echt war. Auch seine Frisur hatte sich verändert. Nichts mehr war zu sehen von den dichten, schwarzen und kurz geschnittenen Locken – mit seinen schütter werdenden, gegelten Haaren wirkte er wie das Abziehbild eines East-End-Gangsters.

Entsprechend hatten sich auch seine Manieren gewandelt. Der schwere Akzent aus Glasgows East End hatte sich abgeschwächt zu dem präzisen Tonfall der Mittelklasse von Bearsden, womit er auf der sozialen Leiter weitergekommen war als in geografischer Hinsicht. Sein aufbrausendes Temperament hielt er in Schach, indem er sich bei Vorgesetzten anbiederte und Untergebenen mit distanzierter Arroganz begegnete. Doch Daley war sich immer darüber klar gewesen, wie dünn diese Fassade war. Donald blieb berüchtigt für seine eigennützige Skrupellosigkeit, wurde aber respektiert als mittelmäßiger Polizist, der sich in einen wirklich talentierten Verwaltungsbeamten und Politiker verwandelt hatte. Eine zusätzliche juristische Ausbildung legte Zeugnis ab von der harten Arbeit und Entschlossenheit, die er investiert hatte, um aus einem bettelarmen Elternhaus zu seinem gegenwärtigen Mittelschichtkomfort aufzusteigen.

Donald unterzeichnete schwungvoll das letzte Dokument und wedelte dann demonstrativ damit in der Luft herum, um die Tinte des Füllhalters zu trocknen, den er benutzte. „Nun, Di, scheuen Sie sich nicht, mir so viele Papiere zur Unterschrift zu bringen, wie Sie wollen. Meine Tür steht immer offen, wissen Sie?“ Er warf der jungen Frau einen anzüglichen Blick zu. Sie nickte gehorsam und ging hinaus. „Sie müssen entschuldigen, Jim. Reite gerade das neue Mädel ein, sozusagen. Der ewige Papierkram. Also, wo habe ich denn … Ah, hier.“ Er griff nach einem schwarzen Aktenordner und nahm etwas heraus, bei dem es sich anscheinend um ausgedruckte E-Mails handelte. „Leichte Probleme in den neuen Herrschaftsgebieten. Kinloch, genauer gesagt. Aber was soll ich viel sagen, sehen Sie sich das hier durch, und dann reden wir weiter.“

Daley fiel auf, dass sein geschliffener Tonfall seit dem Verschwinden der Sekretärin etwas abgefallen war. Manch einem wäre das vielleicht als ein Zugeständnis an ihre gemeinsame Vergangenheit erschienen, doch Daley wusste es besser. Es war ein Anhaltspunkt dafür, wie weit unten er in der Hackordnung stand. Donald sah einfach keinen Nutzen darin, für seinen dienstältesten Inspector den Charme einzuschalten. Daley schlug die Akte auf und überflog ihren Inhalt. Nach ein paar Minuten blickte er auf und räusperte sich, um seinen Vorgesetzten von dem Magazin über Wohndesign loszureißen, in das er sich vertieft hatte.

„Ah, also gut, Jim. Da haben Sie es. Mittelprächtige Krise da unten bezüglich Personalstärke und auch Erfahrung, ja. Die Dienststelle wird geleitet von einem Highlander namens Charles MacLeod, ein richtiger kleiner Scheißer und übler Emporkömmling. Sie haben einen Detective Sergeant, der bestenfalls Verzierung ist, und ein paar eifrige junge Constables. Erinnern Sie sich noch an Davie Fraser von der A-Division? Sein Neffe Archie tut dort Dienst.“

„Wenn er seinem Onkel auch nur im Geringsten ähnelt, machen die Pubs im Ort sicher guten Umsatz.“ Daley spürte ein hohles Gefühl im Magen. Im Zuge einer Reorganisierung der Polizei von Strathclyde war seine Abteilung, um Mittel einzusparen, mit der Polizei von Argyll zusammengelegt worden. Das Hauptquartier in Paisley war dadurch nun auch für einige Teile der schottischen Westküste zuständig, deren Namen kaum jemand aussprechen, geschweige denn auf einer Landkarte finden konnte.

„So ist es, Jim, so ist es. Armer Bursche. Ich fürchte, seine Leber macht nicht mehr lange mit. Bin nie wieder einem Mann begegnet, der so gerne getrunken hat.“ Donald blickte bedauernd drein. „Wie dem auch sei, ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass sein Neffe aus ganz anderem Holz geschnitzt ist.“

Das hoffte Daley. Als junger Cop hatte er keine guten Erfahrungen mit Davie Fraser gemacht. Er hatte ihm von Pub zu Pub nachlaufen müssen, während der Mann, der ihn eigentlich in seine dienstlichen Aufgaben einführen sollte, von Mal zu Mal betrunkener und unangenehmer geworden war.

„Darf ich fragen, was das mit mir zu tun hat?“ Er kannte die Antwort bereits, aber durch seine Direktheit machte er es Donald unmöglich, einen unerfreulichen Auftrag mit ein bisschen Zuckerguss zu versüßen, wie er es gerne tat.

„Immer gleich zur Sache, Inspector Daley, was? Das gefällt mir.“

Daley hatte den bestimmten Eindruck, dass Donald enttäuscht war und lieber Sprüche über „Pflichterfüllung“ und „Aufstiegschancen“ gemacht hätte, die übliche Vorrede für einen Scheißjob. „Ich brauche jemanden mit Erfahrung vor Ort, um den Fall schnell zu lösen und diesen Bauerntölpeln zu zeigen, was Sache ist. Verdammt, irgendwie müssen wir sie sowieso auf Trab bringen, und das liefert uns den perfekten Vorwand.“

„Dann wollen Sie, dass ich dort runterfahre, Sir?“ Daley wollte das Thema von einem Vortrag über die unterschiedlichen Methoden der Polizeiarbeit in der Stadt und auf dem Land wegbringen.

„Ja, Jim. Und zwar gleich morgen früh. Die Leiche ist unterwegs zur Autopsie in Glasgow. Crichton, dieser Esel, wird um sieben Uhr die nötigen Untersuchungen vornehmen, und ich hätte gerne, dass Sie dabei sind.“

Daley verstummte kurz. Das musste er erst einmal verdauen. Da wurde er in einen entlegenen Außenposten des Britischen Empire entsandt, während die leichtlebige Liz sich am anderen Ende des Landes mit Gott weiß wem verlustierte. „Ich verstehe, Sir. Was ist mit Personal?“ Das war alles, was ihm auf Anhieb einfiel.

„Ich habe Ihnen den ersten Flug morgen gebucht. Natürlich werden Sie nach der Obduktion schon mehr wissen. Verschaffen Sie sich vor Ort ein Bild von der Lage, und dann entscheiden wir, wen wir zu Ihrer Unterstützung entbehren können. Nehmen Sie die Akte mit, und ich schicke Ihnen alles, was wir sonst noch haben. Zweifellos können wir auf Tweedledum und ein paar andere verzichten, sollte die Situation es erfordern.“ Damit war Scott gemeint, dessen Verhältnis zu Donald man bestenfalls als angespannt beschreiben konnte.

Daleys Gedanken kehrten zu den E-Mails zurück, die er gerade gelesen hatte. Eine junge Frau, Fesselungsmale, die Leiche ins Meer geworfen an einem Schauplatz, der weit ab vom Schuss lag. Das würde keine leichte Ermittlung werden. „Ist die Supporteinheit bereits informiert worden, Sir?“ Er meinte die Gruppe von Elitebeamten, die auf die verschiedenen Spezialgebiete einer modernen Polizeitruppe trainiert waren: Sondereinsätze mit Schusswaffengebrauch, Hundestaffel, Kontrolle von Menschenmengen, Taucher und so weiter. Daley vermutete, dass die Tauchereinheit sich angesichts der Todesumstände als nützlich erweisen konnte.

„Bis jetzt noch nicht, Jim. Ich denke, wir sollten erst das Ergebnis der Obduktion abwarten, auch wenn es nur vorläufig sein mag. Es ist Ihnen ja sicher klar, dass die Angelegenheit vom Aufwand her ein echter Killer ist. Wir haben bereits ein komplettes Spurensicherungsteam vor Ort. Die Kosten gehen zu unseren Lasten, weil wir die ermittelnde Behörde sind. Ich hoffe, Sie behalten das im Blick.“

„Wie Sie wissen, Sir, sind die Kosten einer Ermittlung immer mein vordringlichstes Anliegen.“ Daley lächelte. Sein Chef kannte seine Einstellung gegenüber der Erbsenzählerei, zu der viele höhere Beamte gezwungen waren.

„Zum Glück“, meinte Donald, indem er die Ironie der letzten Bemerkung geflissentlich überging, „bewegen wir uns hier auf Neuland, sozusagen, sodass wir unsere Ausgaben in gewissem Maß flexibel gestalten können. Aber das heißt nicht, dass Sie ein Fass ohne Boden aufmachen könnten. Bitte behalten Sie das im Hinterkopf.“

Daley wollte gerade zu einer sarkastischen Entgegnung ansetzen, als Donald, ohne Luft zu holen, zu einem völlig anderen Thema wechselte. Anscheinend hatte er sich wirklich alle Fähigkeiten des perfekten Politikers angeeignet. „Und wie geht es Liz? Alles wieder beim Alten?“

Daley stellte die Stacheln auf, als ein spöttisches Grinsen über Donalds Gesicht glitt. Erst vor ein paar Wochen hatte Liz bei einer Pensionierungsfeier schamlos mit dem Superintendent geflirtet. Als sie wieder zu Hause waren, hatten sie sich bis tief in die Nacht gestritten, weil Liz behauptete, doch nur seine Karriere mit ein klein wenig „Networking“ fördern zu wollen – so ein Modewort, das er nicht ausstehen konnte. Der stets loyale Sergeant Scott hatte einem Kollegen einen linken Haken verpasst, als dieser andeutete, dass etwas Ungehöriges vor sich ging.

„Mrs. Donald drängt mich schon lange, Sie mal zum Abendessen einzuladen.“

Mrs. Daley wird dich eher zum Frühstück vernaschen, dachte Daley ungnädig.

„Aber ich will Sie nicht länger aufhalten, es gibt viel zu tun.“ Der Superintendent erhob sich und streckte Daley die Hand hin. Dieser ergriff sie und akzeptierte damit, dass er gehen durfte. „Holen Sie sich Ihre Tickets nebenan bei Kristy ab – und vergessen Sie nicht, mich auf dem Laufenden zu halten. Lassen Sie sich von dem kleinen Scheißer MacLeod nichts gefallen. Sollten Sie auf Schwierigkeiten stoßen, habe ich noch ein Ass im Ärmel. Gute Jagd, Jim.“

3

Egal, wie lange Daleys letzter Besuch in der Leichenhalle von Glasgow zurücklag – es war niemals lange genug. Früher hatte es zur Ausbildung jedes Police Constables gehört, zumindest einmal einer Obduktion beigewohnt zu haben. Dabei standen etwa ein Dutzend Beamte bleich um einen derben Pathologen herum, der hackte, schnitt, öffnete und entleerte und ganz allgemein seine Talente so präsentierte, dass es nur ein starker Magen aushielt. Daley hatte es geschafft, nicht ohnmächtig zu werden oder sich zu übergeben, sich damit jedoch in der Minderheit befunden. Es kam so oft vor, dass jeder „Muppet“, wie die Cops in Ausbildung liebevoll genannt wurden, eine Spucktüte bekam und ihm eingeschärft wurde, jeden aufzufangen, der umkippte. Die junge Polizistin, die beim ersten Mal neben Daley gestanden hatte, war danach so traumatisiert gewesen, dass sie noch am selben Tag das College verließ und nie zurückkehrte.

Die Dinge hatten sich geändert. Gebürstete Aluminiumtafeln ersetzten die dick verfugten viktorianischen Kacheln als Wandverkleidung. Industrieteppichboden dämpfte das unheimliche Hallen der Schritte auf dem bröckelnden Linoleumfußboden. Weiche Beleuchtung herrschte dort, wo einst summende Leuchtstoffröhren die blutigen Szenarien aus Eingeweiden und Körperflüssigkeiten in grellem Licht herausgehoben hatten.

Eines jedoch hatte sich ganz und gar nicht verändert – der Gestank. Und wie es bei Geruchserinnerungen so war, fühlte sich Daley augenblicklich wieder zu seinem ersten Besuch zurückversetzt. Es handelte sich um eine klebrige, übelkeitserregende Mischung aus Tod, Verwesung, Desinfektionsmittel und Kühlung. Ein Geruch, den man noch tagelang mit sich herumschleppte, nachdem man diese faustische Version der Hölle auf Erden verlassen hatte. Man wurde ihn trotz aller Mühen ebenso schlecht los wie einen unerwünschten Begleiter oder einen ungeladenen Gast.

Nicht jeder reagierte auf dieselbe Art darauf. Scott zum Beispiel latschte gerade unbeeindruckt von irgendwelchen Ängsten oder dem seltsamen Geruch durch die Gänge. „Aye, die brauchen einen neuen Innenverteidiger, sonst ist die Sache gelaufen.“ Der Detective Sergeant schwadronierte über sein Lieblingsthema, die Glasgow Rangers. „Der Scheiß-Keeper taugt doch nix.“ Von unterschiedlichen Seiten der schottischen Konfessionsgrenze aus hielten der Inspector und sein Sergeant normalerweise ein munteres Wortgeplänkel zum Thema Fußball am Laufen. Im Augenblick jedoch fand Scott seinen Gesprächspartner ungewöhnlich schweigsam. „Kannst du mir folgen, Jim?“

Irgendwo schlug eine schwere Feuertür zu und ließ die beiden Männer zusammenschrecken, was Daley einer Antwort enthob.

„Na, wenn das nicht unser Dream-Team ist.“ Sarkasmus schwang beinahe greifbar in der Luft. Das war noch etwas, das sich seit Jim Daleys erstem Besuch in der Leichenhalle nicht geändert hatte: der Mann, der jetzt mit einer Hand die Feuertür zu sichern versuchte, während er mit der anderen eine schwarze Pfeife in die Tasche seines kurzen weißen Laborkittels schob. Sein Name war Andrew Crichton, Chef der Pathologie.

„Immer noch mit Pfeife, Andy? Ich wage mir gar nicht vorzustellen, in welchem Zustand Ihre Lungen sind.“ Daley versetzte Crichton einen Klaps auf den Rücken. „Wie steht’s? Sie müssen doch längst das Pensionsalter überschritten haben.“ Er lächelte den älteren Mann voll Sympathie an.

„Das ist der Vorteil einer vernünftigen Karriere, Inspector Daley. Man muss nicht in den Vierzigern in den Ruhestand gehen und dann Zeitungen austragen oder Hilfsarbeiten annehmen, damit’s zum Leben reicht.“ Crichton bezog sich darauf, dass die meisten uniformierten Polizeibeamten in den unteren Diensträngen nach dreißig Dienstjahren pensioniert wurden. Viele fanden sich in ziemlich niederen Tätigkeiten wieder, entweder um der Langeweile zu begegnen oder der Notwendigkeit, eine zu geringe Pension aufzubessern. Bei der Kripo und vom Rang eines Inspectors aufwärts war die Situation anders: Die höheren Dienstgrade blieben meist wesentlich länger als dreißig Jahre bei der „Truppe“. Allerdings wurden inzwischen auch gewöhnliche Cops gedrängt, sich auf lange Zeit zu verpflichten, weil man erkannt hatte, dass es keinen echten Ersatz für Erfahrung gab.

„Aye, man höre sich das an.“ Scott setzte eine Miene gespielter Empörung auf. „Sie kriegen doch jederzeit ’nen kleinen Nebenjob. Der Metzger in Kilmacolm sucht ständig Aushilfen, und stellen Sie sich mal vor, nicht mal Berichte müssten Sie da schreiben.“

„Ich bin ja so froh, dass diese Rhetorikkurse bei Ihnen endlich angeschlagen haben, Brian. Ihre Wortgewandtheit verblüfft mich immer wieder.“ Crichton musterte den Detective Sergeant mit kritischem Blick. „Oh je, der viele Alkohol tut Ihrem Aussehen nicht gerade gut. Meine Güte, Mann, Sie sehen ja aus, als wären Sie in den letzten zwei Jahren um zehn gealtert.“

„Also so eine Dreistigkeit!“ Scott lachte leise. „Aber egal, ich und der Boss, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Er wird morgen in die Pampa geschickt.“

„Tja, Gentlemen, wie Sie zweifellos mit Ihren legendären detektivischen Fähigkeiten dem Tabakduft entnehmen können, war ich gerade eine Pfeife rauchen. Ehrlich, heute ist nichts mehr heilig. Mein alter Professor hat bei einer Autopsie nie die Zigarre aus dem Mund genommen. Und heute, wenn man sich nur innerhalb von drei Metern Umkreis um das Gebäude eine ansteckt, wandert man glatt für zehn Jahre in den Knast.“

„Aye, und Sie haben ja schon immer pedantisch am Regelbuch geklebt, Andy.“

Gelächter hallte durch den Korridor, während sie zum Obduktionssaal weitergingen. Zwei Techniker arbeiteten an einer Leiche, die auf einem stählernen Autopsietisch lag. Der Raum selbst war schwach beleuchtet, doch eine große Batterie von Lampen in einem Metallrahmen über dem Tisch erhellte die Szene mit kalter, weißer Präzision.

„Seien Sie so gut und ziehen Sie die hier an.“ Ein Assistent reichte ihnen grüne Overalls, Gesichtsmasken und Gummiüberschuhe. Crichton zog seinen weißen Kittel aus und ging zu einem tiefen Stahlhandwaschbecken, wo er sich die Ärmel bis zum Ellbogen hochkrempelte und Hände und Unterarme einseifte. Als er fertig war, schlüpfte er mit wesentlich mehr Geschick als die beiden Polizisten, die dazu Hilfe gebraucht hatten, in seinen grünen Plastikoverall.

Solchermaßen ausgestattet, begab sich das Trio zum Obduktionstisch. Daley erkannte die schwärzlichen, aufgedunsenen Züge der Toten aus den E-Mails in Donalds Büro. Die Bauchhöhle war geöffnet, und beide Seiten des Brustkastens und die Hautlappen wurden von großen Stahlklammern zurückgehalten. Wie immer musste Daley einen automatischen Würgereflex unterdrücken. Scott dagegen betrachtete die Szene aufmerksam. Nur seine Augen waren sichtbar, und die Operationsmaske darunter flatterte nicht gerade appetitlich, während er auf seinem ewigen Kaugummi herumkaute.

„Aye, das ist ja schon mal ein guter Anfang, Andy.“ Scotts Blick schnellte von dem ausgeweideten Körper zu dem Pathologen.

„Als ich hörte, wer die Ermittlungen leitet, dachte ich, dass ich die Sägerei lieber hinter mich bringe, bevor Sie ankommen.“

Daley konnte sich gut das breite Grinsen vorstellen, das sich hinter der Maske des Älteren verbarg. „Gut, meine Herren. Also Folgendes … Wie Sie sehen, haben wir eine ziemlich umfassende Untersuchung des Opfers vorgenommen.“ Crichton sprach jetzt in geschäftsmäßigerem Ton, eher wie ein Zahnarzt, der seiner Helferin mitteilt, welche Zähne gefüllt werden sollen. Ein großes Mikrofon hing über dem Tisch herab und sorgte dafür, dass auch die kleinste Äußerung aufgezeichnet wurde. „Auf den ersten Blick handelt es sich – bis auf ein oder zwei Besonderheiten, auf die ich später noch komme – um eine einfache Strangulation. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit jedoch auf das hier lenken.“ Crichton trat einen Schritt zur Seite und zeigte auf das entblößte rechte Bein der Leiche. „Diese Male am Fußgelenk deuten auf eine Fesselung hin.“ Er meinte ein etwa fünf Zentimeter breites Band, das sich um das Fußgelenk zog. Die Haut hatte hier einen helleren Farbton als der Rest des Körpers, der sich im fortschreitenden Prozess der Verwesung schwarz zu verfärben begann. „Allerdings wurden ihr diese Male post mortem zugefügt, und das bedeutet, jemand sah die Notwendigkeit, sie zu fesseln, obwohl sie bereits tot war.“ Ohne den Beamten Zeit zu lassen, das zu verarbeiten oder Fragen zu stellen, zog er das grüne Tuch weg, das bis dahin den Unterleib der toten Frau verhüllt hatte. Ein tiefer dunkler Spalt wurde sichtbar, der die obere und untere Hälfte der Überreste trennte.

Daley schmeckte Galle.

„Nach dem Tod erlitt der Körper ein massives Trauma. Wie ich hörte, wurde es von Ihren Kollegen in Kinloch komplettiert, die es aus irgendwelchen Gründen für angebracht hielten, die Leiche wie ein Knallbonbon auseinanderzureißen.“ Crichton sah Daley an, und Lachfältchen bildeten sich über seiner Maske. „Falls Sie einen Stuhl brauchen, Jim, fragen Sie einfach.“

„Sehr gut, Andy.“ Der Inspector wechselte rasch das Thema. „Wie – und wann – kam es dazu?“

„Wenn Sie eine wilde Vermutung hören wollen, würde ich sagen, dass sie von einem großen und scharfen metallischen Objekt beinahe in zwei Hälften geschnitten wurde – zum Beispiel von einer Schiffsschraube. Die Wunde ist sauber und glatt, was für mich eher nach einem schnellen Schnitt aussieht, kein Sägen und Schneiden von Menschenhand mit einem Werkzeug. Um das zu klären, muss ich allerdings noch weitere Tests an den Partien durchführen, die die Verletzung umgeben. Das dauert ein paar Tage.“

„Scheiße, Jim, was für ein Schlamassel. Am besten nimmst du Sherlock Holmes mit, wenn ich das so sagen darf.“ Er demonstrierte wieder einmal sein unfehlbares Talent, auch die komplizierteste Situation auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren.

„Ich muss zugeben, dass ich in all den Jahren als forensischer Pathologe noch nie auf so seltsame Umstände gestoßen bin. Nur, wie gesagt, wir müssen noch eine Anzahl von Laboruntersuchungen durchführen. Mageninhalt, weitere Körperflüssigkeiten und so weiter. Sie hatte definitiv innerhalb der letzten achtundvierzig Stunden Sex, aber Genaueres weiß ich erst, wenn die Laborergebnisse da sind.“

„Was wollen Sie damit sagen, Andy?“, fragte Daley neugierig. Er kannte Crichton jetzt seit so vielen Jahren, dass er die Nuancen in seiner Stimme und seinem Vortrag interpretieren konnte. Vermutlich hatte der Pathologe etwas Wichtiges herausgefunden.

„Ach, nur so eine Theorie, nichts weiter. Wenn Sie morgen in Kinloch zu Mittag gegessen haben, habe ich vielleicht ein paar Antworten für Sie.“ Plötzlich hob Crichton den Kopf und sah die Polizeibeamten an. „Ein herrlicher Ort, dieses Kinloch. Ein alter Freund von mir wohnt da. Ideal zum Fischen und Golfspielen, eine fantastische Landschaft.“ Sein Blick richtete sich in die Ferne. „Nur die Leute sind komplett verrückt.“

„Was denn, arbeiten Sie jetzt auch noch für den Tourismusverband?“ Typisch Detective Sergeant Scott, immer gleich zum Kernpunkt. „Wenn Sie mit der Führung fertig sind, wären Sie so freundlich, uns mitzuteilen, wie lang sie schon tot ist?“

„Nun, das ist durch den Aufenthalt im Wasser nicht so leicht zu sagen, aber ich meine, nicht länger als sechzig und nicht weniger als achtundzwanzig Stunden. In ein oder zwei Tagen kann ich Ihnen präzisere Angaben machen.“

„Und ihr Alter, Andy? Irgendwelche charakteristischen Merkmale?“ Trotz der makabren Umgebung hatte die Autopsie Daley Lust auf die Ermittlungen gemacht. Jetzt war er fasziniert.

„Darauf wollte ich gerade kommen. Ich denke, sie war zwischen fünfundzwanzig und dreißig. Sie hat innerhalb der letzten drei Jahre ein Kind geboren. Ach ja, und sehen Sie sich das an.“ Er verlagerte das rechte Bein der Leiche. An der Innenseite des Oberschenkels waren die Buchstaben „IS“ eintätowiert. „Wie Sie sehen können, keine professionelle Arbeit – Tinte und Messerspitze, wenn Sie mich fragen. Und es ist sehr ungewöhnlich, dass eine Frau sich so entstellen lässt, meinen Sie nicht auch, Gentlemen?“

Ausnahmsweise fehlten Detective Sergeant Scott die Worte.

4

Daley hasste das Warten. Er war überzeugt, dass er auf dem Totenbett einmal die Stunden, Tage und Wochen bereuen würde, die er untätig mit Warterei verschwendet hatte. Scott hatte sich bereits um fünfzehn Minuten verspätet, und obwohl er das Flugzeug leicht noch erreichen konnte, schwand der Puffer dahin, den er für mögliche Verzögerungen eingeplant hatte. Er blickte sich im Wohnzimmer um und registrierte wieder einmal, dass das Dekor, die Ausstattung, die Möbel, selbst die Fotos und Bilder an der Wand allesamt die Wahl seiner Frau waren. Oft fühlte er sich in seinem eigenen Haus wie ein Eindringling. Es war eine fremde Umgebung, die Zeugnis von Geschmack und Stil eines anderen Menschen ablegte.

Er erinnerte sich an sein Zimmer als Teenager, die Poster an den Wänden, die schwarze Farbe vom Fußboden bis zu Decke, die seine Mutter so wütend gemacht hatte, als sie sie entdeckte. Die Möbel hatte er weiß gestrichen: Schwarz und Weiß repräsentierten seine Vorliebe für Ska-Musik. Die Musikanlage, auf die er so lange gespart hatte, ruhte auf einer alten Kommode, die sein Vater „besorgt“ hatte, und ein Roberts-Transistorradio stand auf dem Nachttisch. Den Rest des beengten Raums nahmen eine uralte Gelenklampe und das Buch ein, das er gerade las. In einem niedrigen, selbst zusammengezimmerten Schränkchen bewahrte er Schallplatten und Tonbänder alphabetisch sortiert auf. Er hatte eigene Kassetten zusammengestellt, die er seinem Vater dann fürs Autoradio gab, wenn sie eine jener epischen Reisen antraten, die immer bei irgendwelchen uralten Verwandten endeten. Sein Zimmer war sein ganzer Stolz und seine ganze Freude. Jeder, der sich dafür interessierte, hätte daraus auf seine Vorlieben und Abneigungen als Erwachsener schließen können – seine ganze Persönlichkeit in ein paar abgewohnten Möbelstücken, schlecht aufgetragener Farbe und einer billigen Hi-Fi-Anlage. Nichts Besonderes, aber ganz er selbst. Sogar die Laufbahn, die er eingeschlagen hatte, spiegelte letztlich seine Leidenschaft für Schwarz und Weiß wider.

Als er nun in seinem teuren Heim stand, in einem dieser geschmackvoll eingerichteten „Empfangs“-Zimmer mit edlen Möbeln und zeitgenössischer Kunst, dämmerte ihm, dass er seine Persönlichkeit Liz’ Geschmack und Launen untergeordnet hatte. Dieser Raum – tatsächlich das gesamte Haus – war nicht seine Bühne, und er spielte auf ihr nur die Rolle eines unbedeutenden und ungenannten Nebendarstellers. Er schreckte zurück vor der Erkenntnis, dass diese Beziehung seine Seele auffraß. Sein Leben wurde ausgefüllt von einem Menschen, dem er sich jeden Tag ferner fühlte.

Scott drückte unnötigerweise auf die Hupe, während er die kurze, geschotterte Auffahrt entlangfuhr und brüllte: „He, du! Beeil dich! Du verpasst noch deinen verdammten Flug, wenn wir nicht schnell machen.“

Daley rüttelte zweimal an der Haustür, um sich zu vergewissern, dass sie richtig geschlossen war, bevor er die drei Treppenstufen hinunterging und die Tür von Scotts Wagen öffnete. Der beißende Geruch nach Zigarettenrauch schlug ihm entgegen wie ein Anfall von Übelkeit, während er sich auf den Beifahrersitz sinken ließ. „Also ehrlich, Brian, dieses Auto ist ein einziges Gesundheitsrisiko.“

„Scheiße, ich bin zwar gut genug, um dich zum Flugplatz zu fahren, aber alles, was dir einfällt, ist, mich anzublaffen. Du bist eine echte Landplage, seit du nicht mehr rauchst, weißt du?“ Scott drückte die Zigarette mit übertriebenem Nachdruck in einem überquellenden Aschenbecher aus und stieß dabei unwillkürlich das tiefe, rasselnde Husten eines eingefleischten Rauchers aus.

„Siehst du? Wenn du erst mal im Sauerstoffzelt liegst, wirst du dir wünschen, du hättest es wie ich gemacht und aufgehört. Was glaubst du denn, wie ich mir den großen Plasmafernseher leisten konnte, der dir so gefällt?“

Scott stieß eine Schimpftirade aus, während sie zur Main Street fuhren. Daley sah selbst ein, dass der Umgang mit ihm schwierig geworden war, seit er nicht mehr rauchte. Er war froh, dass er den Raucherhusten los war, den schlechten Atem und die gewaltigen Kosten, die sich im Lauf eines Jahres ansammelten. Er hatte nicht einmal unter Entzugserscheinungen gelitten. Nein, sein Nichtraucher-Ich hatte lediglich eine körperliche Abneigung gegen Zigaretten entwickelt. Vermutlich wahrte sein Körper so seine nikotinfreie Existenz.

Scott kriegte sich schließlich wieder ein. „Du kennst doch meinen Bruder Willie, vom Fußball?“, fragte er. Daley grunzte zustimmend. „Aye, der hat vor drei Jahren mal unten in Kinloch gearbeitet. Als Elektriker.“

„Ich erinnere mich nur, dass er noch mehr flucht als du. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Und, wie hat es ihm in Kinloch gefallen?“

„Scheiße, wir mussten seine Leber mit ’ner Mangel auswringen, als er zurückkam. Er sagt, die sind total bekloppt da unten. Mein Frauchen hat mich gestern Nacht wieder dran erinnert, weißte, als ich ihr sagte, dass ich vielleicht für ’ne Weile hinmuss. Lauter Säufer, die sich mit ihrem eigenen Schatten kloppen und Fremden gegenüber total zugeknöpft sind. Ich glaube, du wirst dich schwertun mit der Bande, kannste drauf wetten.“

Daley betrachtete den bleiernen Himmel, während er über Scotts soziologische Theorien bezüglich Kinloch nachdachte. In kleinen, dörflichen Gemeinden zu ermitteln war immer schwierig. Andererseits fanden eigentlich alle Untersuchungen innerhalb kleiner Gruppen statt, ob es nun eine Wohnsiedlung, ein Hochhaus, ein Büro oder eine ethnische Enklave war. Besonders schwer zu durchdringen waren Glasgows asiatische und chinesische Bevölkerungskreise und deren Winkelzüge – er glaubte eigentlich nicht, dass Kinloch schlimmer sein konnte.

Je näher sie dem Flughafen kamen, desto häufiger sahen sie Hinweistafeln, die auf das geänderte Parksystem an den Terminalgebäuden hinwiesen. Genau genommen war es inzwischen unmöglich, sich ihnen zu nähern. Dafür hatte ein Terroranschlag auf den Flugplatz mit einem Wagen voller Gasflaschen gesorgt. Als junger Cop hatte Daley fast sechs Monate am Glasgow Airport gearbeitet. Es waren sorglose Tage gewesen. Man musste sich hauptsächlich darum Sorgen machen, wo man kostenlos Kaffee herbekam und von wo aus man am besten die hübschen, knapp bekleideten Touristinnen vor dem Abflug im Terminal beobachten konnte. Tja, jetzt war es anders. Selbst hier in Paisley bemerkte er eine veränderte Haltung. Die Menschen betrachteten jeden, der auch nur entfernt asiatisch oder arabisch aussah, als potenzielle Bedrohung. Der Wirt seines Lokals in Howwood hatte ihm eingeschärft, sich die Schuhsohlen aller verdächtig wirkenden Passagiere genau anzusehen. „Denken Sie mal nach“, hatte er gesagt, „wann hat sich zum letzten Mal einer beim Einchecken Ihre Schuhe vorgenommen? Ist doch offensichtlich, Jim.“ Seitdem hatte Daley Mühe, die Fußbekleidung seiner Mitreisenden nicht zu offensichtlich anzustarren. Vielleicht hatten die Leute ja recht mit ihrem Misstrauen. Vielleicht war die Gefahr allgegenwärtig. Die Welt hatte sich unwiderruflich verändert, das war nicht zu leugnen.

Scott setzte ihn so nah wie möglich am Terminal ab, und Daley machte sich auf den Weg. Die Zugänge waren verstopft von blassen Touristen, die auf dem Weg zum Flughafen aufgeregt miteinander plauderten, und den eher gedämpften, sonnengebräunten Rückkehrern, die das Urlaubsidyll wieder mit dem grauen Alltag vertauschten. Der Duft von kühlem Regen auf warmem Asphalt mischte sich mit dem schweren Geruch von Flugzeugtreibstoff und Autoabgasen. Daley hatte Terminalgebäude nie gemocht, egal, ob es sich um Bahnhöfe oder Flughäfen handelte. Es lag nicht an ihrer Größe, dem Gedränge oder der Unpersönlichkeit. Nein, es war die Melancholie, die ihnen innewohnte. Für Daley rochen sie zu sehr nach Abschied und Trauer, nach Menschen, die einander Lebewohl sagten. Der Gedanke, dass hier auch eine Mutter ihr lange verloren geglaubtes Kind in die Arme schließen könnte oder Liebende sich wiedersahen, kam ihm gar nicht. Diese Gebäude hallten von etwas wider, das zu Ende ging. Unwillkürlich musste er an Liz denken.

Er ging zum Check-in, gab das Gepäck auf und nahm seinen Bordpass entgegen. Das Mädchen am Schalter erinnerte ihn an die duftenden Sekretärinnen, die Donalds Etage der Dienststelle bevölkerten. Er fragte sich, wie viele Frauen wohl keinen Job bekamen, weil sie nicht über das verlangte Äußere verfügten. Das Leben war ebenso unfair wie jämmerlich.

Er legte einen Zwischenstopp ein, um eine Zeitung zu kaufen, und schlenderte dann weiter zum Abflug-Gate. Schon ein schneller Blick auf die Titelseite zeigte ihm, dass die Presse Wind von dem Mord in Kinloch bekommen hatte. Zweifellos würde er sich irgendwann einer Pressekonferenz stellen müssen – er hasste das. Er wünschte, er hätte sich für eine andere Krawatte entschieden, und beschloss, sie bei der ersten Gelegenheit zu wechseln.

Daley versuchte vergeblich, ein Grinsen zu unterdrücken, als er feststellte, dass dasselbe Mädchen, das ihm den Bordpass ausgestellt hatte, ihn jetzt wieder einsammelte. Sie bemerkte seine Belustigung. „Wir sind ein kleines Unternehmen, Sir. Da muss man überall mit anpacken.“ Er entdeckte ein ungewöhnliches Tremolo in ihrem Tonfall. Es war nicht der Singsang der Highlands, aber auch nicht die Intonation des zentralen schottischen Gürtels zwischen Glasgow und Edinburgh – eher lang gezogene Vokale und eine lakonische Klangfarbe.

Ein Bus fuhr sie aufs Vorfeld. Erst dachte er, sie würden an dem Miniflugzeug vorbeifahren, doch dann hielten sie genau davor an, und eine Flugbegleiterin kam zum Fahrzeug, um sie zur Maschine zu geleiten. Daley hatte normalerweise keine Flugangst, aber auf die beengte Kabine, die er jetzt betrat, war er nicht vorbereitet. Er konnte sich nur gebückt und seitlich wie ein Krebs hindurchbewegen. Die Stewardess wies ihm einen Fensterplatz rechts vom Mittelgang zu. Als er sich anschnallte, vernahm er einen Strom von Verwünschungen von den beiden Jugendlichen vor ihm. Das war keine bewusste Unhöflichkeit. Im Westen von Schottland schienen Schimpfwörter nach und nach die Interpunktion zu ersetzen. Als er unlängst mit Liz ein Wochenende in York verbracht hatte, war er überrascht gewesen, keinerlei Flüche zu hören. Selbst der kleine Pub in Marygate unweit vom Hotel hatte sie freundlich in einer fluchfreien Zone willkommen geheißen. Neben dem guten Bier war das mal eine angenehme Abwechslung zu der lärmenden, hektischen Atmosphäre gewesen, die in seinen Stammkneipen vorherrschte.

Für kurze Zeit verstummten die beiden jungen Männer, während ein kleiner, nicht mehr junger Asiate zu einem Sitz ganz vorne geleitet wurde. Ein Aufschnauben unterdrückten Gelächters zeigte, dass die Burschen seine Anwesenheit zur Kenntnis genommen hatten. „Scheiße, Bobby, fang schon mal an zu beten. Der Hund hat sich wahrscheinlich ’ne Bombe in den Arsch geschoben.“ Daley überlegte, ob er sich einmischen sollte, als ihm die Flugbegleiterin zuvorkam: „Hey, du da, Camel Johnstone! Noch ein Wort und der einzige Arsch, über den du dir Sorgen machen musst, ist dein eigener, wenn ich dich nämlich hochkant aus dem Flugzeug schmeiße. Kapiert?“

Daley grinste. Das war nicht die Art, die er vom Kabinenpersonal gewohnt war, doch sie erwies sich als wirkungsvoll, denn die beiden jungen Männer verstummten und setzten leicht betretene Mienen auf. Abermals fielen Daley die lang gezogenen Vokale auf, von den Jugendlichen ebenso wie von der Stewardess. Das musste der Kinloch-Akzent sein.

Er unterdrückte einen Anflug von Klaustrophobie, als die Maschinen ansprangen und das Flugzeug über die Startbahn zu rollen begann. Fast ohne Vorwarnung schoss es steil in den Himmel, und die Motoren dröhnten in vollem Schub, solange sie sich im Steigflug befanden. Daleys Herz setzte kurz aus, als sie die Reiseflughöhe erreicht hatten und der Lärm der Turbinen schlagartig nachließ. Ein grauer Vorhang ganz vorne im Flugzeug glitt zurück, und das Cockpit wurde sichtbar. Der Pilot saß am Steuer, während der Kopilot mit einem Mikrofon in der Hand gebückt dastand und sich an die Fluggäste wandte.

„Guten Morgen, meine Damen und Herren, aye, und auch du, Camel Johnstone … Wir werden den größten Teil des Fluges, der ungefähr fünfundzwanzig Minuten dauert, in einer Höhe von fünfhundert Metern zurücklegen. Das Wetter in Kinloch ist ziemlich genauso wie in Glasgow, deshalb nehmen wir die schöne Route über Arran und die Halbinsel Kintyre. Sollten Sie Fragen haben, richten Sie sie bitte an unsere entzückende Flugbegleiterin Morag. Mein Name ist Lieutenant Moran, und unser Pilot ist heute Captain Witherspoon. Danke, dass Sie sich für Scotia Airways entschieden haben. Morag wird Ihnen jetzt ein paar Sicherheitshinweise geben.“

Als die Stewardess aufstand, verdeckte ihre Gestalt kurz den jungen Kopiloten, der sich ins Cockpit zurückzog. Sie zuckte zusammen und ging dann oberflächlich die üblichen Anweisungen durch. Daley vermutete, dass Lieutenant Moran sie durch den Vorhang in den Hintern gezwickt hatte, obwohl ihre Miene nichts erkennen ließ. Der Inspector blickte müßig aus dem Fenster. Wattewölkchen schwebten über dem Muster aus kleinen Feldern und grauen, schlangengleichen Straßen am Boden. Grelles Sonnenlicht tanzte auf dem Flügel des silbernen Flugzeugs, und Daley wünschte sich, er hätte die Designersonnenbrille mitgenommen, die Liz ihm so stolz zu Weihnachten geschenkt hatte.

Die Felder wichen bald dem eisengrauen Meer, weiß gefleckt mit den Schaumkronen der Wellen. Daley fand, dass die See fehl am Platz wirkte, viel zu kalt für den warmen Frühlingstag. Er schauderte bei dem Gedanken daran, dass die Leiche der jungen Frau in dieser unwirtlichen Wassermasse getrieben war. Er hatte sich nie mit dem Meer anfreunden können. Obwohl er ein guter Schwimmer war, beschränkte er seine aquatischen Aktivitäten auf Hallenbäder. Die See erschien ihm zu gewaltig, zu unergründlich, getränkt mit dem Unerwarteten und Unbekannten. Er hatte gelesen, dass der Mensch mehr über die Oberfläche des Mars wusste als über die Tiefen des Ozeans, und das wunderte ihn gar nicht.

Seine Gedanken glitten zurück zu Liz. Es war ihm gelungen, sie gestern Abend auf dem Handy zu erreichen. Er hatte es zwar seit sechs Uhr versucht und ihr mehrere Nachrichten hinterlassen, trotzdem hatte sie überrascht gewirkt. Die Geräusche eines Pubs – Gläserklirren, laute Musik, überlautes Gelächter – bildeten die Kulisse. Sie nahm die Neuigkeit über seinen Einsatz in Kinloch mit den Plattitüden auf, die sie anscheinend für ihre eheliche Pflicht hielt. Ich werde dich vermissen … hoffentlich bist du nicht so lange weg … das Haus wird mir schrecklich leer vorkommen. Die ganze Zeit hörte er gedämpfte Stimmen und unterdrücktes Gelächter. Liz klang wie ein junges Mädchen, das aus einer Studentenkneipe mit ihren besorgten Eltern telefonierte, während ihre Freunde im Hintergrund drauflosstichelten.

Unter dem konspirativen Getuschel hatte er eine bekannte Stimme herausgehört: die von Mark Henderson, dem Ehemann von Liz’ Schwester Jill. Mark hatte ihn von Anfang an nicht leiden können. Ihre Freunde äußerten oft, dass die beiden Paare schlecht sortiert waren. Mark ähnelte Liz viel mehr: Er war stolz, herablassend, hemmungslos, verschlagen, nachtragend, oberflächlich, gut aussehend und außerordentlich intelligent. Viele hatten den Eindruck, dass die Schwestern die falschen Männer gewählt hatten. Jill ähnelte Liz zwar auf ihre langgliedrige, lässige Art fast zum Verwechseln, war aber wesentlich zurückhaltender. Sie war zwei Jahre jünger als Liz und ersetzte deren überlegenes Selbstbewusstsein durch Empathie und Einfühlungsvermögen. Die Rollen, die sie und Daley in ihren jeweiligen Ehen spielten, glichen sich fast wie ein Spiegelbild. Mark war ein notorischer Frauenheld und hatte eine ganze Anzahl von Affären hinter sich. Er arbeitete als Anwalt für eine internationale Wirtschaftsprüfungsgesellschaft – zwei der anrüchigsten Berufe unter einem Dach. Wer war weniger vertrauenswürdig? Der Buchhalter, der ständig nach Schlupflöchern und Winkelzügen suchte, oder der Anwalt, der ihm den Rücken freihielt?

Daley mochte Jill. Er erkannte an der Art, wie sie Mark ansah, dass sie ihm völlig ergeben war, und er spürte den Schmerz und die Verzweiflung, die seine Untreue ihr bereitete. Einmal, an einem abgeschiedenen Strand in Portugal, hatten sie darüber gesprochen, während Mark und Liz im Wasser herumtollten. „Glaubst du, sie haben miteinander geschlafen?“ Die unerwartete Frage hatte Daley schockiert. Er musste sich eingestehen, dass er sich das auch schon oft überlegt hatte, doch wie bei allen unangenehmen Gedanken über seine Frau hatte er sie verdrängt. „Nein, sie sind sich zu ähnlich, um sich voneinander angezogen zu fühlen“, hatte er gelogen. Er erinnerte sich noch gut an das zweifelnde Lächeln, das über Jills Gesicht geglitten war. Danach hatten sie ihre Gefühle für sich behalten. Sie waren sich beide der bitteren, unausgesprochenen Wahrheit bewusst und wollten sie nicht Realität werden lassen, indem sie sie aussprachen.

Jill und Mark hatten allerdings etwas gemeinsam, das er und Liz anscheinend nie haben würden: ein Kind. Beth war ihr ganzer Stolz. Sie hatte die langen Beine und die Eleganz ihrer Mutter geerbt, das runde, intelligente Gesicht ihres Vaters und tiefe blaue Augen, deren Winkel sich leicht nach unten zogen. Ein Nest aus krausen Haaren krönte ihren drei Jahre alten Kopf und fiel ihr in wirren Ringellocken auf die Schultern, wenn ihre Mutter es wachsen ließ. Sie war, wie Daleys Mutter zu sagen pflegte, eine „alte Seele“. Sie hatte sprechen können, bevor sie zwei war, und verband unermüdliche Streiche mit einem raschen Verstand und einer unvergleichlichen Imitationsgabe. Sobald Daley zu Besuch kam, nahm sie ihr Lieblings-Noddy-Buch, kletterte auf seine Knie und wollte, dass er ihr vorlas. Sie kicherte die ganze Zeit und machte die Stimmen nach, die er den verschiedenen Figuren verlieh. Er neidete Mark Henderson weder sein Geld noch seine Karriere in den Vorstandsetagen, nicht das elegante Haus, den schicken Wagen, nicht einmal, dass er vermutlich mit seiner Frau im Bett gewesen war. Nein, er liebte seine Tochter und wünschte sich nichts mehr, als dass das hübsche kleine Mädchen ihm gehören könnte.

Liz schien nicht vorzuhaben, jemals ein Kind zu bekommen. Sie sprach von den „fünf großen S“: Schreien, Scheiße, Schlaflosigkeit, Schlechtsein und Schwangerschaftsstreifen. „So ein Quatsch. Welcher Mensch, der bei Verstand ist, würde sich ein Baby wünschen?“ Diese schlichten Worte beinhalteten ihre ganze Einstellung gegenüber Kindern.

„Meine Damen und Herren, wir haben soeben eine leichte Wolkendecke durchstoßen. Unter sich sehen Sie jetzt die Ostküste der Halbinsel Kintyre.“ Die abweisende graue See war von einer flachen Felsenküste abgelöst worden, an einzelnen Stellen aufgelockert durch sandige Strände. Für Daleys ungeübtes Auge wirkte die Landschaft grüner als noch vor zwanzig Minuten, als wäre die Jahreszeit hier schon fortgeschrittener.

„Alles in Ordnung?“ Morag arbeitete sich durch den Mittelgang und verteilte aus einem kleinen Korb bunte Süßigkeiten an ihre Schutzbefohlenen. Daley hatte, seit er nicht mehr rauchte, eine Vorliebe für Süßes entwickelt. Er nahm zwei Stück Konfekt, die sie ihm unter die Nase hielt, mied aber die in Goldpapier eingewickelten Toffees, die ihn an Weihnachten eine Plombe gekostet hatten.

In der Ferne konnte man die Kamine und Dächer einer kleinen Stadt erkennen. Daley vermutete, dass es sich um das berühmte Kinloch handelte. Als Bestätigung begann der Lautsprecher wieder zu knistern: „Meine Damen und Herren, wie Sie sehen, nähern wir uns unserem Zielort Kinloch. Wir werden in etwa fünf Minuten landen. Bitte verlassen Sie Ihre Plätze nicht und bleiben Sie angeschnallt.“ Die Umrisse der Gebäude am Boden schälten sich immer deutlicher heraus. Unerwartet grau, fand Daley. Das Straßenmuster mit Wohnblöcken erinnerte ihn an Paisley. Im Unterschied zu den meisten Küstenstädten schienen Kinlochs Hauptstraßen nicht parallel zum Ufer des Loch zu verlaufen, an dem sich der Ort entlangzog, sondern im rechten Winkel dazu.

Der Klang der Motoren veränderte sich, als die Maschine zum Landeanflug auf einen Flugplatz ansetzte, der nur ein paar Felder von der Ortschaft entfernt zu liegen schien. Die Hangars und anderen Gebäude erweckten einen definitiv militärischen Eindruck, auch wenn Daley keine entsprechenden Flugzeuge sehen konnte. Aus der Entfernung erkannte man ein rotes Feuerwehrauto, das entlang der Rollbahn auf ihren vermutlichen Landepunkt zubrauste. „Meine Damen und Herren, wir beginnen nun den Landeanflug auf Kinloch Airport. Bitte bleiben Sie auf Ihren Plätzen und lassen Sie die Gurte geschlossen. Gestatten Sie mir, Ihnen nochmals dafür zu danken, dass Sie mit Scotia Airways geflogen sind. Ich hoffe, dass Sie Ihren Aufenthalt bei dem bunten Völkchen in dieser Gegend genießen werden.“ Das sagte er ausgesprochen augenzwinkernd, und Daley fragte sich, wie „bunt“ dieser Ort und seine Einwohner wohl sein mochten. Nun, das würde er bald herausfinden.

Das Flugzeug setzte mit einem Bums auf. Die Reifen kreischten kurz, und dann rollte die Maschine mit knarrendem und ächzendem Fahrwerk die kurze Strecke zu einem kleinen Terminalgebäude weiter. Ein grünes Licht leuchtete auf, begleitet von einem Klingelton aus dem Lautsprecher, und informierte die Passagiere, dass sie jetzt die Gurte öffnen und das Flugzeug in gebücktem Krebsgang verlassen konnten.

Morag stand leicht gebeugt am Ausgang und half den Passagieren vorsichtig auf die Treppe, an deren Fuß sie von einer identisch gekleideten Kollegin in Empfang genommen wurden. Die beiden riefen sich etwas in diesem Tonfall mit lang gezogenen Vokalen zu, der offensichtlich typisch für die Einwohner von Kinloch war. Daley duckte sich durch die Tür und kletterte die paar Stufen zum Vorfeld hinunter. Es roch kräftig nach Meer. Hier schien es wärmer zu sein als in Glasgow, und die Luft war frisch. Daley atmete tief durch und war froh, der erstickenden Atmosphäre der Stadt entkommen zu sein.

Ein hagerer Mann Ende fünfzig stand in der Tür des Terminalgebäudes und überprüfte die Papiere der Passagiere. Als Daley die Spitze der kleinen Schlange erreichte und seinen Dienstausweis zücken wollte, hob der Mann die Hand und bedeutete ihm, dass das nicht nötig war.

„Willkommen, Inspector Daley“, sagte er im musikalischen Singsang der Hebriden. „Vorne wartet einer der Bubis, um Sie abzuholen.“ Jüngere Beamte wurden von erfahrenen Cops öfter als Bubis bezeichnet. Das und die straffe Haltung des Mannes verleitete Daley zu der Frage: „Wie bekommt Ihnen der Ruhestand?“ Er lächelte und warf dem Mann einen wissenden Blick zu.

„Aye, gut, sehr gut, Inspector. Lachie Bain ist mein Name, dreißig Dienstjahre auf dem Buckel und froh, es hinter mir zu haben.“ Er streckte Daley seine große Hand hin, und dieser schüttelte sie.

„Jim Daley, aber das wissen Sie ja schon.“

Jetzt lächelte der ältere Mann. Es war ein breites, ansteckendes Grinsen, auch wenn es so aussah, als würde er es nicht oft zeigen. „Aye, alte Gewohnheiten sterben langsam, wie Sie selbst noch feststellen werden. Ich habe Ihren Namen auf der Passagierliste gesehen, und außerdem ist das hier Kinloch. Die halbe Stadt weiß inzwischen, dass Sie unterwegs sind, aye, und auch, warum.“

„So ist das also? Der Ort wirkt gar nicht so klein. Ich hätte nicht erwartet, dass Gerüchte sich so schnell verbreiten.“

Bain warf den Kopf in den Nacken und lachte vergnügt. „Hier gibt es die schlimmsten Klatschmäuler diesseits von Benbecula, aye, und ziemlich boshafte dazu. Wenn Sie je ein freundliches Ohr brauchen, ich bin meistens gegen halb fünf in der Bar des County Hotels – nach dem letzten Flug. Nur für eine Stunde oder so, Sie verstehen“, fügte er ernsthaft hinzu.

„Danke, ich werde daran denken, ich fürchte nur, erst einmal habe ich alle Hände voll zu tun. Aber Sie kennen das ja …“

Bain hob wieder die Hand. „Och, klar, den Problemen müssen Sie sicher nicht hinterherlaufen. Nur sind Sie sowieso im County untergebracht. Tja, nichts als Arbeit und kein Vergnügen …“

Daley betrat grinsend das Terminalgebäude, um sein Gepäck abzuholen. Eines war jetzt schon klar: In Kinloch gab es nur wenige Geheimnisse.

5

Ein großer, rothaariger und athletischer junger Mann lehnte an der Motorhaube eines Wagens, den Daley sofort als Kripofahrzeug erkannte.

„Inspector Daley, ich bin Detective Constable Fraser.“ Der Mann reichte dem ranghöheren Beamten die Hand. „Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug. Kann in der kleinen Kiste ein bisschen haarig sein, wenn es windig ist. Aber heute geht’s.“

Daley fielen die Ähnlichkeiten zwischen Fraser und seinem berüchtigten Onkel sofort auf: Beide waren groß, kräftig und rothaarig. Natürlich fehlten im Gesicht des jungen Beamten die Spuren, die das ausschweifende Leben bei seinem Verwandten hinterlassen hatte. Er sah genauso aus wie die Art von Cop, die man gerne an seiner Seite hatte, wenn es in Paisley eine Kneipenschlägerei zu beenden galt: nicht wie die mickrigen Schulabgänger, die heutzutage anscheinend von den Personalstellen bevorzugt wurden. „Hallo, DC Fraser. Ich habe früher mit Ihrem Onkel Davie gearbeitet. Wie geht es ihm denn? Ich hörte, dass er gesundheitliche Probleme hat.“

„Äh, bitte kreiden Sie mir die Verwandtschaft nicht an, Sir. Er steht auf der Warteliste für eine Lebertransplantation, und ich muss Ihnen wahrscheinlich nicht sagen, warum.“ Fraser warf dem Inspector einen kläglichen Blick zu.

„Ach, nur keine Sorge, mein Sohn. Gibt viel Schlimmere als Davie“, log Daley. „Sie erarbeiten sich ja auch gerade einen gewissen Ruf im Halbieren von Mordopfern.“ Er lächelte dem Detective Constable freundlich zu. Wegen dieses Vorfalls hatte er sicher schon eine Menge Spott zu hören bekommen.

Frasers Gesicht lief tiefrot an, während er sich bückte, um die Koffer des Inspectors in den offenen Kofferraum zu legen. „Äh, möchten Sie fahren, Sir? Unser Boss will immer selbst ans Steuer.“

„Nein, nein, machen Sie nur, DC Fraser. Ist das Inspector MacLeod, von dem Sie da sprechen?“

„Ja, Sir.“ Daley bemerkte, dass sein Kollege eine Augenbraue hochzog. „Er hat seine, äh, Eigenheiten, sozusagen.“

Sie stiegen ein und gelangten von dem kleinen Parkplatz auf eine einspurige Straße. „Wie weit ist es zur Stadt?“, fragte Daley. Ihm fiel ein, dass er nach dem Flug sein Handy wieder einschalten musste, und sah mit einem Stich der Betroffenheit, dass er zwei Anrufe von Liz verpasst hatte.

„Och, nur ungefähr sechs Kilometer, Sir – wir kommen gleich auf die Main Street. Waren Sie schon einmal hier?“

Daley hatte vage Erinnerungen daran, vor Ewigkeiten zusammen mit seiner Großmutter auf einem der alten Dampfschiffe nach Kinloch gefahren zu sein. „Aye, ein Mal als kleiner Junge. Sie müssen entschuldigen, wenn ich nicht mehr viel davon weiß.“ Er steckte das Telefon wieder ein und beschloss, Liz anzurufen, sobald er Zeit dazu hatte. „Wie gehen die Ermittlungen voran? Irgendetwas Neues?“

Fraser seufzte resigniert. „Wir haben uns umgesehen, Sir. Sie wissen schon, Fischer aus der Gegend befragt, Vermisstenanzeigen überprüft, das Übliche. Niemand scheint etwas gesehen zu haben. Die Leiche war ein bisschen schwer zu erkennen, so aufgebläht, wie sie war. Was hat denn die Obduktion ergeben?“

Daley lächelte. „Falls Sie sich wegen Ihres kleinen Missgeschicks Gedanken machen, das ist nicht nötig. Die Leiche war schon vorher fast völlig durchtrennt, und jeder, der sie zu bewegen versuchte, hätte dasselbe Problem gehabt wie Sie. Ach übrigens, sie hatte die Buchstaben ‚IS‘ auf den Oberschenkel tätowiert. Klingelt da etwas?“

Fraser schüttelte den Kopf. Daley sah ihm an, dass er etwas hinzufügen wollte, aber nicht genau wusste, wie es aufgenommen werden würde. „Spucken Sie’s aus, mein Junge. Ich finde, jeder hat bei einer Untersuchung ein Recht auf eine eigene Meinung. Scheuen Sie sich nicht, frei von der Leber weg zu sprechen, wenn Sie es für wichtig halten. In unserem Job kann der geringste Anstoß eine massive Mauer des Schweigens zu Fall bringen. Ach ja, dieses kleine Juwel der Amateurphilosophie stammt übrigens von meinem – unserem – Chef, also halten Sie sich dran.“ Er zwinkerte dem Jüngeren zu.

„Nun, Sir, es ist nur … na ja, sobald man sich in Kinloch eingewöhnt hat, merkt man, dass eigentlich nichts passiert, ohne dass die ganze Gemeinde darüber Bescheid weiß … normalerweise binnen Minuten. Ich begreife nicht, warum es bisher keinerlei Spur gibt. Sollte jemand vermisst werden, nun, das würden doch Freunde und Angehörige kilometerweit gegen den Wind riechen. Wissen Sie, was ich meine, Sir?“

Das hatte Daley sich natürlich auch schon gedacht, allerdings gab es eine Reihe von offenen Fragen. Die Autopsie hatte ergeben, dass die Leiche nicht lange im Wasser gelegen hatte, obwohl sie vermutlich eine Weile auf dem offenen Meer getrieben war. Außerdem sprach bei den vorherrschenden Wetterbedingungen anscheinend alles dagegen, dass die Leiche an der Stelle wieder angespült worden war, an der man sie ins Wasser geworfen hatte. Dann war da noch das seltsame Mal am Knöchel, das möglicherweise von einer Fessel stammte. Vielleicht sollte er Scotts Rat befolgen und wirklich nach Sherlock Holmes schicken.

Sie erreichten die Außenbereiche von Kinloch. Daley stellte überrascht fest, dass es nicht nur aus der Luft betrachtet Ähnlichkeiten mit Paisley hatte – aber mit einem Paisley, wie es vor zwanzig Jahren ausgesehen hatte. Vierstöckige Mietshäuser aus rotem Sandstein säumten die Straßen. In den Erdgeschossen sah er kleine Läden von der Sorte, wie sie zu Hause schon beinahe vollständig ausgestorben waren. Früher hatte man in der Main Street jeder schottischen Stadt Metzger, Bäcker, Schuster, Pubs, Schneider, Lebensmittelhändler, Friseure, Bestattungsunternehmen und Zeitungsgeschäfte angetroffen. Mittlerweile hatten riesige Supermarktketten und außerhalb der Stadt liegende Einkaufszentren den Tante-Emma-Läden mehr oder weniger den Garaus gemacht. Nicht jedoch in Kinloch, wie es schien.

Der Ort wurde an drei Seiten von Hügeln eingerahmt, die sich deutlich vor dem klaren blauen Himmel abzeichneten. Während sie sich dem Ortskern näherten, bemerkte Daley, dass sein Kollege häufig mit einem Winken gegrüßt wurde, manche Autofahrer blendeten sogar auf oder drückten auf die Hupe. Höchst unüblich. Fraser nahm das alles sehr reserviert zur Kenntnis. Er wollte vermutlich in Gegenwart des Inspectors nichts falsch machen.

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