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Was die Gezeiten versprechen. Die St.-Peter-Ording-Saga

Als Buch hier erhältlich:

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Träume von Ruhm und Freiheit – Das Finale der St.-Peter-Ording-Saga von Bestsellerautorin Tanja Janz!

St. Peter-Ording, 1997: Caro hat große Pläne nach dem Abitur, sie möchte Schauspielerin werden. Erst recht seit am Strand eine beliebte TV-Serie gedreht wird und in St. Peter-Ording ein Hauch von Hollywood in der Luft liegt. In den Ferien hilft sie ihrer Mutter im Strandcafé und fährt immer wieder zu Castings nach Hamburg. Als Caro bei einem Vorsprechen dem attraktiven Nachwuchsschauspieler Nick begegnet und er sie fragt, ob sie mit ihm zu einem Casting nach L.A. reisen will, scheint Caros große Chance gekommen. Ihr Freund Jonas ist jedoch gegen die Reise, und ihre Familie möchte sie ohnehin am liebsten an der nordfriesischen Küste halten. Caro ist hin- und hergerissen und muss sich bald der Frage stellen, was im Leben wirklich wichtig ist.

Eine berührende Liebesgeschichte, angesiedelt an der nordfriesischen Küste der 90er-Jahre


  • Erscheinungstag: 25.06.2024
  • Aus der Serie: St. Peter Ording Saga
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905836
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Kathleen Müller-Gropengießer,
weil auch für dich St. Peter-Ording eine ganz besondere Bedeutung hat.

KAPITEL 1

Juni 1997, auf dem Deich in Fahrtrichtung St. Peter-Böhl

Am Wegesrand wiegte sich roter Klatschmohn in der leichten Brise, und aus den saftigen Gräsern der Salzwiesen flogen Vögel empor. Hinter der Kurve auf dem Seedamm erhob sich in der Ferne der kleine mit Backsteinen gemauerte Leuchtturm. Doch all das nahm Carolina nicht wahr.

Sie war gänzlich abgetaucht in eine andere Welt. »People get ready, get ready to flow!«, forderte eine Frauenstimme zu balearischen Trancebeats, die stimmungsvoll mit Meeresrauschen und vereinzelten Möwenschreien untermalt waren. Der Sound des brandneuen Trancetracks Beachball dröhnte in Dauerschleife durch die Kopfhörer des CD-Players und ließ Carolina sich fast schwerelos fühlen. Der Klangteppich umhüllte sie und strich über ihre Seele wie der warme Fahrtwind über ihr Gesicht und die Arme.

Sie spürte, wie Adrenalin durch ihren Körper wogte, während sie energiegeladen in die Pedale trat und langsam das Tempo erhöhte. Die Augen hatte sie hinter den getönten Gläsern ihrer Sonnenbrille bloß halb geöffnet.

Mit der Trancemelodie träumte sie sich weit weg von der nordfriesischen Küste ins berühmte Café del Mar auf die spanische Insel Ibiza, von dessen Terrasse und den Felsen aus der legendäre Ibiza sunset bestaunt werden konnte. Nächstes Jahr, da war sie sich sicher, würde sie genau das tun: auf Ibiza den Sonnenuntergang sehen. Vielleicht zusammen mit Jonas.

Beim Gedanken an ihn musste sie lächeln. Eines Tages würde sie vielleicht sogar eine eigene Finca unweit der Bucht von San Antonio besitzen und neben ihrer Schauspielkarriere eine Strandbar betreiben, in der die berühmtesten DJs auflegen würden. Na ja … Carolina musste über sich selbst lachen. Ihre Fantasie und ihre Wünsche kannten wirklich keine Grenzen; das hörte sie öfter, und manchmal überforderte sie damit ihre Mitmenschen. Aber ihre Oma Sabine sagte immer: »Luftschlösser bauen gehört in deinem Alter dazu. Sei nur vorsichtig, am Ende könnten sogar manche wahr werden.«

Als der letzte Beat verklungen war, bremste Carolina scharf und stieg von ihrem Fahrrad. Mit einer Hand hielt sie das Lenkrad, mit der anderen schob sie sich erst die Sonnenbrille in die Haare, zog dann die Stöpsel ihrer Kopfhörer aus den Ohren und ließ sie in die Strandtasche in ihrem Fahrradkorb fallen. Sie blinzelte.

Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an das leuchtende Blau des Himmels und die Helligkeit der Sonne zu gewöhnen. Vor sich die Weite der Landschaft, blickte sie an einem entfernten Pfahlbau vorbei und bis zum Horizont, wo das Blau des Meeres mit dem des Himmels verschmolz. Sie lauschte dem Seewind, der über die Gräser strich. Und ihre Gedanken wanderten zurück zu jenen Tagen, an denen sie hier mit ihren Eltern über den Deich spaziert war.

Damals war sie ein kleines Mädchen gewesen, das ihren Puppenwagen vor sich hergeschoben hatte; später war sie auf bunten Rollschuhen mit pinken Stoppern neben ihren Eltern hergerollt. Das alles war so lange her. Inzwischen war sie volljährig, hatte den Führerschein bestanden und konnte sogar ein Auto ihr Eigen nennen, worauf sie mächtig stolz war. Den roten Toyota hatte sie vollständig mit dem Geld bezahlt, das sie im Strandcafé ihrer Mutter verdient hatte.

Ohne dass sie sich dessen sofort bewusst gewesen wäre, war aus ihr eine junge Frau geworden, und nun war sie sogar zum ersten Mal so richtig verliebt. In Jonas. Den coolsten und tollsten Typen von ganz Nordfriesland. Vor zwei Jahren war er mit seinen Eltern aus Berlin nach St. Peter-Ording gezogen, weil sein Vater den Chefarztposten in der Kardiologie der Rehaklinik Goldene Schlüssel übernommen hatte.

Sie verstand gar nicht, warum, aber als er neu in ihre Klasse am Nordseegymnasium gekommen war, hatte sie kaum Notiz von Jonas genommen. Das hatte sich in den letzten Monaten allerdings schlagartig geändert, seit sie in einer Bioprojektgruppe zusammengearbeitet hatten. Das Leben bot für sie Überraschungen, das mochte sie. Und gleichzeitig gefiel ihr die Zuverlässigkeit der Dinge, die gleich blieben. Zum Beispiel der Ausblick über die Salzwiesen. Er schien für die Ewigkeit gemacht zu sein; bestimmt würde sie an dieser Stelle noch in siebzig Jahren das Gleiche sehen. Dabei konnte sie sich selbst nicht als betagte Dame vorstellen … Das plötzliche Quietschen von Bremsen riss sie aus den Gedanken. Sie sah zur Seite und blickte ihrer Freundin Antonia entgegen.

»Hey, Caro!« Antonia kam mit ihrem Mountainbike nur wenige Zentimeter neben ihr zum Stehen.

»Hi, Toni! Mensch, ich habe gar nicht mitgekriegt, dass du so dicht hinter mir warst.«

Antonia grinste sie an. Mit ihrem sommersprossigen Gesicht und den roten störrischen Locken hatte ihr Aussehen etwas Wildes. »Das habe ich gemerkt. Dein Gesichtsausdruck hatte etwas von Die alte Frau und das Meer.« Sie machte eine einen Halbkreis beschreibende Handbewegung und blickte dabei in die Ferne.

»Da ist was dran. Tatsächlich war ich gerade dabei, mir tiefschürfende Gedanken über das Leben zu machen«, gab Carolina zu und grinste dabei.

»Ein Glück, dass ich gekommen bin. Du hörst dich an wie meine Tante Hanni – und die ist dreiundsechzig.« Antonia rollte mit den Augen. »Was hörst du denn?« Sie griff in die Strandtasche nach einem der Stöpsel und steckte ihn ins Ohr.

Carolina schaltete den CD-Player wieder ein.

»Cooler Sound! Ist das neu?«

»Total neu. Die CD hat Jonas mir geliehen.« Carolina strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Soso.« Antonia nickte wissend und zog sich den Stöpsel wieder aus dem Ohr. »Das scheint bei euch wahre Liebe zu sein.«

Sie lächelte. »Das hoffe ich doch.«

»Wie weit seid ihr denn inzwischen? Ist das jetzt offiziell mit euch?«, fragte Antonia interessiert.

Carolina zuckte die Schultern, bevor sie aus der Vordertasche ihrer Jeans ein Haargummi hervorzog und sich das lange braune Haar zusammenband. »Keine Ahnung. Wir haben uns dreimal geküsst, aber noch nicht darüber gesprochen, was wir jetzt sind – oder eben nicht.«

»Warum denn nicht?«

»Hat sich noch nicht ergeben. Außerdem will ich auch nicht wie eine Klette wirken. Wir müssen ja nicht gleich heiraten«, sagte sie leichthin, obwohl sie sich insgeheim durchaus nach etwas Klarheit sehnte. Allerdings fürchtete sie, Jonas zu verschrecken, wenn sie das Beziehungsthema anschnitt. Nein, lieber wollte sie abwarten, bis sich ein passender Augenblick ergab. »Vielleicht spricht Jonas mich ja demnächst selbst darauf an.«

»Das rate ich ihm!«, sagte Antonia mit erhobenem Zeigefinger und zwinkerte ihr zu.

»Du hast gut reden. Du und Sven, ihr seid ja schon seit Ewigkeiten zusammen.«

»Ewigkeiten?« Antonia schüttelte lachend den Kopf. »Es ist nicht mal ein Jahr, und für dich ist das also schon eine Ewigkeit.«

»Kam mir länger vor.«

»Ja, geht mir manchmal ähnlich«, stimmte Antonia zu. »Aber komm, lass uns jetzt lieber Gas geben, sonst kommen wir zu spät zur Probe.«

»Sagte die Tochter vom Direx.« Carolina warf ihren Pferdeschwanz nach hinten und setzte wieder die Sonnenbrille auf. »Wetten, dass ich schneller bin?«

Ehe Antonia antworten konnte, sauste sie schon auf ihrem Rad den Deich entlang.

»Bravo! Das war sehr gut!« Die Deutschlehrerin Frau Niesner klatschte nach der Theaterprobe begeistert in die Hände. Sie wirkte zufrieden mit der Theater-AG, die für den Tag der offenen Tür ein Stück einstudierte, um es vorwiegend zukünftigen Sextanern vorzuführen. »Nächste Woche ist schon die Generalprobe von Alice im Wunderland. Bitte lernt bis dahin noch mal intensiv eure Texte.«

»Puh!« Carolina zog sich die blonde Perücke vom Kopf und wischte mit dem Handrücken über ihre Stirn. Sie spielte die Hauptrolle in dem Theaterstück. »Darunter ölt man bei dem Sommerwetter wie unter einer Wollmütze.«

»Wem sagst du das?« Antonia befreite sich von ihrer weißen Plüschkopfbedeckung und wedelte mit den langen Hasenohren daran. »Als weißes Kaninchen schwitze ich mindestens genauso wie du.«

»Euer Schwitzen hat sich aber gelohnt. Eine bessere Besetzung für die Alice und das weiße Kaninchen könnte ich mir nicht vorstellen.« Frau Niesner trat zu ihnen und lächelte sie wohlwollend an. »Schauspielerisches Talent habt ihr beide, daran besteht kein Zweifel. Vielleicht macht ihr nach dem Abitur was draus? Der Speeldeel-Verein führt doch Theaterstücke auf Plattdeutsch auf.«

Antonia lachte. »Ich glaube, meine Eltern würden mir die Ohren so lang ziehen wie die Löffel meines Kostüms. Lieber konzentriere ich mich auf meine Ausbildung bei der Tourismuszentrale, das ist handfester. Meine Mutter hat mich schon bei ihrem Chef vormerken lassen. Und Plattdeutsch kann ich nicht wirklich. Das können nur meine Großeltern.«

»Ich kann dich verstehen«, stimmte die Lehrerin ihr zu. »Und was ist mit dir, Caro? Bestimmt rechnet deine Familie im Hotel schon fest mit dir.«

Carolina nickte. »Das tut sie. Aber ich möchte nach dem Abitur tatsächlich schauen, ob ich nicht vielleicht doch eine Karriere als Schauspielerin machen kann. Nur nicht unbedingt mit Plattdeutsch …«

Frau Niesner hob die Augenbrauen. »Wirklich?«, fragte sie überrascht. »Das ist aber mutig von dir.«

Sie hielt dem forschenden Blick der Lehrerin stand. »Es ist mein drittes Theaterstück und meine erste Hauptrolle. Ich meine, andere gehen nach dem Abitur für ein oder zwei Jahre ins Ausland, bevor sie eine Ausbildung beginnen. Ich möchte schauen, ob ich das Zeug zu einer professionellen Schauspielkarriere habe. Das klingt bestimmt merkwürdig, aber davon habe ich schon als kleines Mädchen geträumt.«

Frau Niesner schüttelte den Kopf. »Das klingt überhaupt nicht merkwürdig. Weißt du, viele Schüler gehen nach dem Abitur in die Lehre oder fangen ein Studium an. Es passiert nicht selten, dass sie nach einem Jahr oder zwei plötzlich feststellen, den falschen Beruf gewählt zu haben. Oft hat dann die Schule bloß Theorie vermittelt, und die Praxis stellt sich häufig ganz anders dar. Deswegen finde ich es vernünftig, wenn du dich erst einmal ausprobieren möchtest, bevor du dich festlegst. Besser so, als wenn du später etwas bereust.« Sie nickte Carolina verständnisvoll zu und ging dann weiter zu zwei Schülern, die die Zwillinge Tweedledee und Tweedledum in dem Theaterstück spielten.

»Echt jetzt? Willst du das wirklich durchziehen?«, fragte Antonia, als niemand anders in Hörweite war.

Carolina verstaute die Perücke in ihrer Strandtasche. »Na klar! Hast du geglaubt, ich mache Witze?«

»Nicht unbedingt, aber ich habe nicht gedacht, dass du so wild entschlossen bist.«

»Na ja, wenn nicht nach dem Abi, wann dann? Kannst du mir bitte mal helfen?« Carolina drehte sich um, damit Antonia ihr den Reißverschluss des Kleides herunterziehen konnte, das sie über ihre kurze Jeans und das grüne Spaghettiträgertop gezogen hatte.

Antonia tat ihr den Gefallen. »Dich scheinen die Dreharbeiten zu der Surfserie ja mächtig angesteckt zu haben.«

»Danke.« Carolina zog das Kleid aus und drehte sich dann wieder um, um Antonia anzusehen. »Es ist doch superspannend, dass ausgerechnet im verschlafenen St. Peter eine Serie gedreht wird. Endlich passiert hier mal was! Ein paar der Schauspieler sind sogar seit gestern in unserem Hotel untergebracht.«

Antonias Augen glänzten. »Das ist ja abgefahren!«

»Finde ich auch!«

»Hast du dich schon mit ihnen unterhalten?«

Carolina schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Bis jetzt ist mir noch keiner über den Weg gelaufen.«

Antonia nickte. »Sag Bescheid, wenn du einen triffst! … Und wenn du dann selbst berühmt wirst … Was wird denn dann aus dir und Jonas?«

Carolina winkte ab. »Bis zum Abi dauert es doch noch ein Jahr. Ich hoffe, dass wir bis dahin richtig fest zusammen sind und es auch bleiben. Wenn ich auf eine Hamburger Schauspielschule gehe, kann ich bequem mit dem Auto hin- und herfahren. Oder notfalls mit dem Zug. Und Jonas würde gar nicht merken, dass ich in Hamburg bin. Er verbringt doch eh jede freie Minute mit seinem Surfbrett auf dem Wasser.«

»Na, Hauptsache, du haust nicht noch weiter ab. Nach Berlin oder Köln …« Antonia hatte sich inzwischen ihres Hasenkostüms entledigt und legte es sich über den Unterarm.

»Du meinst zu VIVA nach Köln als VJane?« Sie zog die Augenbrauen hoch.

»Zuzutrauen wäre es dir.«

»Keine Sorge, Moderation interessiert mich nicht. Ich bleibe dir und St. Peter also fürs Erste erhalten. Aber jetzt hau ich ab zum Strandcafé. Habe versprochen, zwei oder drei Stunden zu kellnern. Kommst du mit?«

Antonia seufzte. »Würde ich wirklich unheimlich gerne, ein bisschen Geld könnte ich gut gebrauchen. Aber meine Oma Imme hat doch heute Geburtstag, und ich muss zum Kaffee vorbeikommen.«

»Wie alt wird sie denn?«

»Einundsiebzig.«

Carolina nickte ihr lächelnd zu. »Dann richte ihr mal die besten Geburtstagsgrüße von mir aus.«

»Werde ich. Und morgen bin ich gerne wieder im Strandcafé am Start. Falls du Sven am Strand triffst, grüß ihn bitte. Er hat versprochen, heute noch mein Referat zu formatieren. Mit Word stehe ich auf dem Kriegsfuß.«

Carolina hob beide Hände. »Mich brauchst du deswegen nicht zu fragen. Ich habe mit Computern überhaupt nichts am Hut. Mir reicht meine Schreibmaschine.« Sie schulterte ihre Strandtasche. »Aber gut zu wissen, dass Sven Computerfachmann ist. Man weiß ja nie, was noch kommt.«

Von Weitem sah Carolina schon einige bunte Segel, die über die Wellen tanzten. Das grün-weiße Segel gehörte Jonas. Weiter hinten machte sie ein blau-rotes aus, das zu Svens Board gehörte. Die anderen Segel waren ihr zum größten Teil unbekannt. Das sommerliche Wetter hatte offenbar zahlreiche Surfer und Badegäste an den Ordinger Strand gelockt.

Carolina schob ihr Rad zum Abstellplatz, wo bereits zahlreiche Räder in der Sonne glänzten. An einer freien Stelle kettete sie ihr Mountainbike an einem der Holzbalken fest. Danach zog sie ihre Stoffturnschuhe aus und legte sie unter ihr Kostüm und die Schürze in die Tasche.

Langsam schlenderte sie mit der Strandtasche über der Schulter durch den warmen weißen Sand Richtung Meer.

Eltern liefen mit ihren Kindern an ihr vorbei. Einige der Kleinen hielten ein Eis am Stiel in der Hand, andere trugen Kescher und bunte Plastikeimer oder kickten einen Ball über den Strand. In den aufgestellten Strandkörben dösten Urlauber und genossen die warmen Sonnenstrahlen. Dabei lasen einige von ihnen in einem Buch oder einer Illustrierten. Wieder andere genossen einfach nur den Blick auf die Nordsee und schienen ganz im Hier und Jetzt zu verweilen.

Carolina mochte die besondere Sommerstimmung am Strand, die sogar sie jedes Mal in Urlaubslaune versetzte, obwohl sie in St. Peter-Ording zu Hause war. Als sie der Wasserkante näher kam, fiel ihr ein Kamerateam auf, das seinen Fokus offenkundig auf Jonas und Sven gelegt hatte. Carolina blickte sich interessiert um, doch sie konnte keine Schauspieler entdecken. Unschlüssig blieb sie ein wenig abseits stehen und beobachtete die Szene, die sich ihr bot.

Am Abend zuvor war die Tochter der besten Freundin ihrer Oma Sabine im Strandhotel eingetroffen. Meike war bloß ein Jahr älter als sie, hatte aber schon eine Ausbildung als Friseurin im Salon ihrer Eltern absolviert und sich parallel als Visagistin fortgebildet. Den Job in der Maske bei der Surfserie hatte sie auf Empfehlung eines Regisseurs bekommen, den sie bei einem Theaterprojekt kennengelernt hatte. Für Oma Sabine war es Ehrensache, für Ritas Tochter im Strandhotel sofort ein Zimmer herzurichten. Carolina hatte sich fest vorgenommen, sie wegen einer möglichen Statistenrolle anzusprechen. Bestimmt war sie nicht neidisch, aber es wurmte sie schon ein wenig, dass anscheinend jeder außer ihr im Ort irgendwie in die Dreharbeiten der TV-Serie mit eingebunden war. Dabei brannte es ihr förmlich unter den Nägeln, etwas Filmluft zu schnuppern – und sei es bloß als Laiendarstellerin.

Endlich senkte der Kameramann das Aufnahmegerät, und der Mann neben ihm winkte mit beiden Armen in Jonas’ und Svens Richtung. Die Aufnahmen schienen für den Moment beendet zu sein.

Nach einer Weile registrierten die Jungs die Armbewegungen des Mannes. Sie nahmen mit ihren Boards Kurs auf den Strand und standen bald mit den Männern zusammen. Nach einem kurzen Wortwechsel schulterten die Filmleute ihr Equipment und schlugen den Rückweg Richtung Köhlbrand ein.

Carolina ging auf die Jungs zu, die damit beschäftigt waren, ihre Surfbretter und Segel zur Baracke auf den Strand zu schleppen.

»Moin!«, rief sie ihnen zu.

Jonas blieb sofort stehen und wandte sich ihr erfreut zu. »Hey, Caro! Was machst du denn hier?«

»Hi! Hast du Toni auch mitgebracht?«, fragte Sven und blickte sich suchend um.

»Nein! Ihre Oma hat doch heute Geburtstag«, erinnerte Carolina ihn und warf Jonas ein liebevolles Lächeln zu.

»Ach, ja. Hab ich ganz vergessen.«

»Hauptsache, du vergisst nicht, dass du ihr heute Abend noch mit Word helfen wolltest.« Sie stellte ihre Tasche auf dem Sand ab und ergriff Jonas’ Hand, als er sie ausstreckte.

Sven hob einen Finger. »Stimmt! Dann lege ich mal besser einen Zahn zu.« Er schleppte sein Surfboard weiter.

Jonas war neben ihr stehen geblieben, strich sanft über ihre Hand, grinste schief und packte das Segel wieder. »Hattest du Sehnsucht nach mir?«

»Das hättest du wohl gerne.« Carolina grinste zurück und blickte dann zum Pfahlbau, der weiter entfernt von der Brandung der Nordsee umspült wurde. »Bei dem schönen Wetter kellnere ich gleich noch ein paar Stunden im Strandcafé.«

»Mir wäre lieber, du wärst wegen mir hier.«

Herausfordernd funkelte sie ihn an. »Man kann nicht alles haben im Leben. Trotzdem könntest du mich mal anständig begrüßen«, fand Carolina.

Er lachte. »Ich würde dich ja küssen, aber dann bist du hinterher ganz nass.« Von seinen blonden Haarsträhnen tropfte Meerwasser.

Amüsiert hielt sie ihm die Wange hin. »Kein Problem!«

Ohne zu zögern, legte Jonas sein Bord auf dem Sand ab und drückte ihr einen Kuss auf. Zuerst auf die Wange, dann drehte er ihr Gesicht zu sich und umarmte sie schwungvoll. Er küsste sie auf den Mund.

»Huch!« Als sie seine Lippen auf ihren spürte, durchrieselte sie eine Woge purer Glückseligkeit. Ohne weiter nachzudenken, schlang sie ihre Hände um seinen Hals und vergaß einen Moment alles um sich herum.

»Das wollte ich schon den ganzen Tag machen«, sagte er, nachdem er sich wieder von ihr gelöst und nach ihrer Hand gegriffen hatte.

Carolina lächelte ihn an. »Sag mal, habe ich das vorhin richtig gesehen, dass das Kamerateam euch gefilmt hat?«

»Ja! Stell dir vor, die haben mich und Sven angequatscht, ob sie ein paar Szenen mit uns drehen dürften. Wir haben natürlich Ja gesagt; und gerade eben haben sie gefragt, ob sie uns für weitere Takes anheuern dürfen. Stell dir vor, wir bekommen sogar Geld dafür.«

»Wow! Das ist echt cool! Mit euren Surfkünsten werdet ihr ganz sicher problemlos für das nötige Beachflair sorgen. Vielleicht sollte ich mich wirklich um eine Statistenrolle bewerben.«

Er nickte begeistert. »Mach mal!«

»Meinst du?«

»Klar! Immerhin hast du die Hauptrolle als Alice ergattert. Wahrscheinlich bist du damit sogar überqualifiziert, um bloß durchs Bild zu laufen. Wie wär’s gleich mit einer Nebenrolle?« Seine blauen Augen strahlten sie an.

»Hör auf, mich zu veralbern.« Sie knuffte ihn in die Seite.

»Wieso denn? Ich meine das ernst. Wenn die Filmtypis Sven und mich schon einfach so gefragt haben, ob wir Lust haben, uns filmen zu lassen …«

»Na ja, stimmt schon. Ich habe wohl bloß Angst vor einer Enttäuschung.« Sie seufzte. »Für mich würde sich wirklich ein kleiner Traum erfüllen, wenn ich in der Serie mitwirken könnte.«

»Zur Not nehme ich dich mit auf mein Surfbrett. Für dich mache ich doch alles.« Jonas gab ihr wieder einen Kuss auf die Wange.

Carolina lächelte abermals. Jonas war wirklich ihr absoluter Traumtyp. Für ihn würde sie auch alles tun. Vielleicht musste sie ihn auch gar nicht mehr auf ihren Beziehungsstatus ansprechen. Anscheinend war für ihn längst geklärt, dass sie zusammen waren – dann war es das auch für sie. Sie blickte wieder zum Pfahlbau. »Sorry, ich muss jetzt weiter zum Café.«

»Wann bist du fertig?«

»Schätzungsweise gegen halb acht. Wieso?«

Jonas nickte und hob sein Board samt Segel wieder hoch. »Ich hole dich dann ab«, verkündete er und zwinkerte ihr zu.

»Ist gut«, erwiderte Carolina erfreut und blickte ihm nach, als er zur Baracke ging. Wie sehr sie ihn doch liebte!

Geräuschvoll stellte Carolina das Tablett mit benutzten Gläsern, Tassen, Tellern und Besteck auf dem Tresen ab. »Puh! Wenn das so weitergeht, haben wir bald keine sauberen Gläser mehr.«

»Das hättest du wohl gern«, entgegnete ihre Mutter und warf ihr einen belustigten Blick zu. »Elli spült so schnell, da kommt keine Maschine mit.«

Wie zur Bestätigung kam in diesem Moment besagte Mitarbeiterin mit frisch gespültem Geschirr aus der Küche und begann sofort, es in die Regale und Schränke einzuräumen.

»Kommt es mir nur so vor, oder haben wir in diesem Jahr extrem viele Gäste?«

»Mir soll es recht sein.« Ihre Mutter zapfte eine Cola. »Die Fernsehserie zeigt schon jetzt ihre Wirkung. Vorhin habe ich mit zwei Frauen gesprochen, die zum ersten Mal in St. Peter sind.«

»Kurgäste?«

»Nein.« Sie stellte das Glas Cola und eine Tasse Kaffee auf ein Tablett. »Die Frauen sind durch die Serie magisch von St. Peter angezogen worden. Es stand wohl in einigen Zeitschriften, dass bei uns gedreht wird. Da waren sie neugierig und sind spontan hergefahren.«

»Oh! Ich bin gespannt, was passiert, wenn die Serie erst im Fernsehen läuft – bisher finden ja nur Dreharbeiten statt. Wahrscheinlich stehen die Leute dann im Wasser vor unserem Café Schlange.« Carolina nahm zwei Teller mit Apfelkuchen an und stellte sie auf das Tablett.

»Na und? Zur Not bauen wir eben an.« Ihre Mutter lächelte. »Das geht an Tisch acht.«

Carolina schüttelte lachend den Kopf und trug das Tablett mit den Bestellungen nach draußen auf die Veranda des Pfahlbaus. Nachdem sie den Kuchen und die Getränke serviert hatte, kassierte sie bei anderen Gästen, die die Rechnung bezahlen wollten.

Als sie sich umdrehte, stand plötzlich Ritas Tochter vor ihr. Sie hatte eine junge Frau mit schulterlangen blonden Haaren und blauen Strähnen im Schlepptau. »Oh, hallo, Meike! Sucht ihr einen Platz?«

»Könnte man so sagen.« Meike blickte sich um. Wie immer war sie perfekt gestylt. Sie trug ein grünes Minikleid und dazu knallrote Plateausandalen. Ihre kinnlangen Locken hatte sie mit einem modischen Tuch gebändigt, an ihrem Handgelenk leuchtete eine himmelblaue Baby-G – ähnlich Carolinas eigener.

»Sieht ziemlich voll aus«, merkte ihre Begleitung an, die mit schwarzen Hotpants und einer Flower-Power-Bluse ebenfalls sehr modisch gekleidet war.

»Kommt mit! Da hinten ist etwas frei geworden.« Carolina zeigte auf einen Tisch auf der anderen Seite der Veranda. »Ich muss nur das Geschirr abräumen und einmal die Platte abwischen.« Hastig stellte sie die Gläser und Teller auf das Tablett und wischte mit einem feuchten Lappen über die Tischoberfläche. »Es scheinen einige Gäste wegen der Serie nach St. Peter-Ording gekommen zu sein.«

Meike und die junge Frau setzten sich. »Das ist verständlich. Es sind ja auch ein paar bekannte Schauspieler in der Besetzung.«

»Autogrammjäger haben wir auch schon vor dem Ambassador entdeckt«, meldete sich die andere Frau zu Wort.

»Sei froh, dass du erst durch deine Rolle in der Serie bekannt werden wirst. Sonst könnten wir hier nicht so ungestört sitzen«, merkte Meike amüsiert an.

»Oh, sind Sie Schauspielerin?«, fragte Carolina überrascht. Sie hatte angenommen, dass die Frau eine Kollegin von Meike war.

Sie nickte. »Aber du brauchst nicht Sie zu sagen. Ich bin Nicole.« Sie streckte Carolina die Hand entgegen.

»Freut mich, Nicole. Ich bin Caro.« Sie schüttelten einander die Hände. »Ich habe auch schon überlegt, ob ich mal jemanden vom Filmteam nach einer Statistenrolle fragen soll. Zwar bin ich keine richtige Schauspielerin, aber zurzeit spiele ich die Hauptrolle der Alice in einem Schultheaterstück«, sprudelte es aus ihr heraus.

»Wow! Herzlichen Glückwunsch!«, sagte Meike. »Damit hast du bestimmt gute Chancen auf eine Statistenrolle.«

»Meinst du wirklich?« Carolina wusste nicht genau, ob Meike es ernst meinte.

»In der Schauspielerei ist Talent das Wichtigste«, schaltete sich Nicole ein. »Ich bin durch ein Casting an die Rolle gekommen. Ich habe noch nie eine Schauspielschule von innen gesehen, bloß während meiner Schulzeit in ein paar Theaterstücken mitgespielt. Nach der Mittleren Reife habe ich zwei Wochen in einer Boutique gejobbt, und danach hatte ich schon meine erste Nebenrolle in einem Film.«

»Das geht wirklich?«, wunderte sich Carolina. »Ich dachte immer, bei einem Casting muss man eine richtige Schauspielausbildung vorweisen.«

Meike schüttelte den Kopf. »Es gibt sicherlich viele Schauspieler, die eine klassische Ausbildung gemacht haben, aber ebenso auch welche wie Nicole, die allein durch Talent im Casting an eine Rolle kommen.«

»Könnte ich denn auch einfach zu einem Casting gehen?« Carolina war nicht sicher, ob sie wirklich glauben konnte, dass der Weg ins Filmgeschäft so leicht war.

»Aber sicher! Jeder kann bei einem Casting sein Glück probieren«, bestätigte Nicole. »Hast du etwas zu schreiben? Dann gebe ich dir die Kontaktdaten meiner Castingagentur. Dort kannst du nach offenen Auditions fragen, bei denen jeder vorsprechen kann.«

»Ja, gerne.« Sie gab Nicole ihren Stift und einen Block.

Mit Herzklopfen beobachtete sie, wie die junge Schauspielerin eine Adresse und Telefonnummer aus Hamburg auf dem Papier notierte. Sie gab Carolina den Block samt Stift zurück.

Carolina konnte kaum glauben, dass sie nun tatsächlich die Telefonnummer einer Agentur hatte. Aber würde sie sich auch trauen, dort anzurufen?

»Melde dich ruhig bei der Agentur, sie beißen nicht«, sagte Nicole, als hätte sie Carolinas Gedanken erraten.

»Vielen Dank!« Sie steckte den Zettel mit den Kontaktdaten in die Hosentasche und lächelte die jungen Frauen an. »Wollt ihr eigentlich jetzt was trinken? Die erste Runde geht auf mich.«

KAPITEL 2

Juni 1997, in der Privatwohnung der Hansens im Strandhotel von St. Peter-Ording

Sabine hatte länger geschlafen als sonst. Als sie aufwachte, schien die Sonne bereits hell durch die schweren Verdunklungsvorhänge. Der Platz im Bett neben ihr war leer, Tom war natürlich längst aufgestanden und brütete wahrscheinlich in seinem Arbeitszimmer über Geschäftspapieren. Sein Tag begann bereits um fünf Uhr, wenn die Mitarbeiter in der Küche das große Frühstücksbüfett für die Gäste vorbereiteten.

Sabine tastete nach ihrer Brille, die auf dem Nachttischchen neben ihrem Bett lag. Danach griff sie nach dem kleinen silbernen Wecker. Schon nach acht! Ruckartig setzte sie sich auf. Um neun war sie mit ihrer Patentochter Meike verabredet. Nun musste sie sich sputen, wenn sie vorher noch frühstücken wollte. Schnell schlug sie die Bettdecke zur Seite, stellte den Wecker zurück an seinen Platz und schwang die Beine aus dem Bett.

Aus einer Schublade entnahm sie frische Wäsche und ging ins Bad. Nachdem sie sich gewaschen hatte, ging sie zum Kleiderschrank und öffnete die Türen.

Dem blauen Himmel nach zu urteilen, lag ein warmer Sonnentag vor ihr. Und so entschied sie sich für eine luftige Kombination. Sie schlüpfte in einen wadenlangen Rock und nahm dann eine helle Leinenbluse vom Bügel. Auf dem Weg zurück ins Badezimmer zog sie sich das Oberteil über den Kopf.

Vor dem großen Spiegel über dem Waschbecken knöpfte sie die Bluse bis auf den vorletzten Knopf zu und frisierte sich danach mit einer Bürste ihr Haar, das sie praktisch als kinnlangen Bob trug. Plötzlich hielt sie inne und drehte den Kopf zum Licht, das durch ein Fenster fiel. Sie blickte angestrengt in den Spiegel, dann nahm sie mit spitzen Fingern eine Strähne und begutachtete sie argwöhnisch. Es war eindeutig, die Silberhaare wurden immer mehr.

Kopfschüttelnd überlegte sie, wie viele graue Haare ihre Mutter mit Mitte fünfzig bereits hatte, konnte sich jedoch nicht erinnern. Ihr Vater hingegen, das wusste sie noch ganz genau, war schon in seinen Vierzigern komplett ergraut gewesen. Damals hatte ihre Mutter die anstrengende Arbeit unter Tage dafür verantwortlich gemacht. Nicht zu vergessen den schlimmen Zechenunfall, bei dem er verschüttet worden war und der dazu geführt hatte, dass er körperlich nicht mehr in der Lage war, ins Bergwerk einzufahren.

Sabine verzog missmutig den Mund und bürstete noch einmal ihr Haar. Übermäßig eitel war sie zwar nicht, trotzdem störten die grauen Haare sie. Wäre ihre Freundin Rita hier, würde sie sich von ihr die Haare in ihrer Naturfarbe färben lassen – wenn es um Haare ging, vertraute sie ihrer Freundin am meisten.

Viele Frauen blühten doch in der zweiten Lebenshälfte richtig auf. Sie beugte sich vor und blickte ein letztes Mal kritisch in den Spiegel, um sich davon zu überzeugen, dass keine neuen Falten hinzugekommen waren. Erleichtert lächelte sie dann ihr Spiegelbild an und knotete locker ein seidenes Hermès-Tuch um ihren Hals, das sie aus dem Korb im Regal gezogen hatte. Als Senior-Hotel- und Caféinhaberin achtete sie stets darauf, einen tadellosen Eindruck bei den Gästen zu hinterlassen. Das gehörte dazu. Professionalität und Seriosität waren das A und O im Hotel- und Gastrogewerbe, das hatte sie von ihren Schwiegereltern gelernt.

Schließlich zog sie noch schnell ihren Ehering und die kleine goldene Armbanduhr an, die ihr Tom zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Dann eilte sie zurück ins Schlafzimmer. Als sie vor der Kommode stand, fühlte Sabine plötzlich eine heftige Übelkeit in sich aufsteigen. Dann sackten ihr mit einem Mal die Beine weg. Dumpf spürte sie, wie sie auf den Teppichboden fiel, bevor ihr schwarz vor den Augen wurde.

Als sie wieder zu sich kam, brauchte sie einen Augenblick, um zu begreifen, wo sie war. Sie lag vor ihrem Bett auf dem Fußboden.

Langsam richtete sie den Oberkörper auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Bettgestell. Die Beine hatte sie lang nach vorne ausgestreckt. Ihre Glieder schmerzten, besonders die rechte Schulter, auf die sie gefallen war. Sie versuchte, bewusst langsam zu atmen und sich daran zu erinnern, was eigentlich geschehen war.

Sie blickte auf ihre Hände und drehte dann den Kopf in Richtung des Frisiertischs, auf dem ihr Ehering und die kleine goldene Armbanduhr lagen. Hatte sie einen Kreislaufkollaps gehabt? Sie konnte sich nicht entsinnen, jemals mit derartigen Problemen zu tun gehabt zu haben.

Mühsam winkelte sie die Knie an und griff mit einer Hand ans Bettgestell. Anschließend kniete sie sich umständlich über eine Seite hin und zog sich dann am Gestell hoch, bis sie auf der Matratze zum Sitzen kam. Das Zimmer schien sich trotzdem zu drehen.

Sabine schloss die Lider, öffnete sie jedoch sofort wieder. Mit geschlossenen Augen schien sich alles nur noch schneller zu drehen. Vorsichtig massierte sie mit einer Hand ihre Schläfe.

Nun galt es, Ruhe zu bewahren. Bestimmt würde es gleich besser werden. Sie schaute zum Telefon, das auf dem Nachttisch ihres Ehemannes stand. Tom würde sie in seinem Arbeitszimmer erreichen und wenn nicht, dann würde jemand an der Rezeption abheben. Aber nein. Sie wollte nicht die Pferde scheu machen. In ein paar Minuten würde es ihr bestimmt wieder besser gehen.

Als das Schwindelgefühl verschwunden war, ging Sabine zu einem der großen Fenster, die zur Seeseite zeigten, zog den Vorhang beiseite und öffnete es sperrangelweit. Eine angenehm kühle Brise schlug ihr entgegen, die sogleich ihre Sinne belebte.

Tief atmete sie die klare Morgenluft ein. Es roch nach Heimat, nach Meer, frischen Gräsern und Sonnenstrahlen. Ihr Blick wanderte in die Ferne, wo die noch leere Seebrücke über die Salzwiesen, die teilweise im Schatten lagen, bis zum Strand führte. Unwillkürlich fasste sie sich mit einer Hand an den Brustkorb und schloss abermals einen Moment die Augen. Sie konnte förmlich die heilsame Wirkung der Nordseeluft spüren.

Um kurz nach neun trat Meike von der Außenterrasse in die Hotellobby. In ihrem Haar saß eine Sonnenbrille, und um die Hüften hatte sie sich eine leichte Sweatshirtjacke geknotet.

»Guten Morgen, Tante Sabine«, begrüßte die junge Frau sie. »Entschuldige bitte meine Unpünktlichkeit, ich war schon eine Runde am Strand spazieren und habe dort die Zeit vergessen. Es ist einfach herrlich, so früh am Meer zu sein, wenn die Urlauber noch schlafen. Außer ein paar Möwen ist so früh kaum jemand dort.«

»Ach, das macht überhaupt nichts«, sagte Sabine und winkte ab. Ihr kam die Verspätung von Ritas Tochter nur gelegen, war sie aufgrund des Schwindelanfalls doch selbst ein wenig später dran als geplant. »Hast du denn in der letzten Nacht gut geschlafen?«

Meike nickte. »Sehr gut sogar. Mir sind gestern Abend direkt die Augen zugefallen, als hätte ich den ganzen Tag schwer körperlich gearbeitet.«

Sabine lachte. »Jaja, die gute Nordseeluft macht müde, das ist allgemein bekannt. Ich merke das auch jedes Mal, wenn ich aus Gelsenkirchen wieder zurück nach St. Peter komme. Die ersten Nächte bin ich meistens wie erschlagen. Aber nun bist du hoffentlich munter. Hast du denn schon gefrühstückt?«

Meike nickte. »Bevor ich mich auf den Weg zum Strand gemacht habe. Und das nicht zu knapp. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal morgens Rührei gegessen habe.«

»Na fein. Dann bist du ja ausreichend gestärkt für unseren Besuch in Brösum. Soll ich uns ein Taxi rufen?« Sabine fühlte sich zwar wieder gut, wollte jedoch nicht das Risiko eingehen, dass sie am Steuer erneut Kreislaufprobleme bekam.

»Ach was! Ich fahre die kurze Strecke. Mein Polo steht auf dem Hotelparkplatz.«

»Also gut«, stimmte Sabine zu. »Von mir aus können wir aufbrechen.«

»Dann los zu Oma und Opa Farmsen.«

Der Farmsenhof war lediglich drei Kilometer vom Strandhotel entfernt. Brösum lag nordwestlich von St. Peter-Ording, eingebettet zwischen Seedeich und Marschen. Das alte, reetgedeckte Bauernhaus war von saftigen Wiesen umgeben, auf denen Schafe und Kühe grasten. Auf dem hinteren Teil des Grundstücks stand ein Fahnenmast, an dem eine Flagge mit dem Wappen von St. Peter-Ording im Wind knatterte.

In der Auffahrt stand bereits ein großer Möbelwagen. Zwei muskulöse Männer hievten gerade einen schweren Holzschrank in den Transporter, als Sabine und Meike auf das Grundstück fuhren. Meikes Oma stand vor der grün-weißen Klöntür, die von Rosen umrankt war. Sie trug eine dunkelblaue Hose und dazu ein fliederfarbenes Oberteil. Ihr war der Umzugstress buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Wild gestikulierte sie mit Händen und Armen und rief den Männern Anweisungen zu.

Meike parkte ihren Wagen mit ausreichend Abstand zum Möbeltransporter. »Oje, meiner Oma scheint der Umzug gehörig an die Nerven zu gehen.«

Sabine löste den Gurt. »Wundert dich das? Es ist bestimmt für sie und deinen Großvater nicht leicht, den Familienhof in ihrem Alter zu verlassen.«

Meike zog den Zündschlüssel aus dem Schloss. »Das stimmt wohl. Dann gehen wir mal besser zu ihr, bevor sie einem der beiden Typen noch die Ohren langzieht.«

Sie stiegen aus und gingen auf den Hauseingang zu.

Die zierliche Frau Farmsen schlug gerade die Hände über dem Kopf zusammen. »So passen Sie doch gefälligst ein bisschen auf! Der Tisch soll in unserer neuen Wohnung in der Stube stehen und nicht auf dem Sperrmüll landen!«

»Hallo, Oma!« Meike winkte ihr zu.

»Moin!« Frau Farmsen stemmte beide Hände in die Hüften und blickte ihnen nun mit freundlicherer Miene entgegen.

»Guten Morgen.« Sabine streckte zur Begrüßung die Hand aus, als sie bei ihr angekommen waren. Im selben Moment wollte aber ein Möbelpacker mit einer Standlampe an ihr vorbei, sodass Sabine einen Schritt zurückweichen musste. »Hier ist ja ganz schön was los. Sind sie schon lange dran?«

»Seit acht Uhr werden unsere Möbel verladen«, bestätigte Frau Farmsen seufzend. »Ich wusste gar nicht, dass wir so viel Zeug haben.«

»Nehmt ihr denn alles mit?«, wollte Meike wissen.

»I wo! Unser Haus hat fast zweihundert Quadratmeter und die neue Wohnung fünfundsiebzig. Da müssten wir schon gewaltig drücken und schieben, wenn wir alles mitnehmen wollten. Ende letzten Jahres haben wir angefangen auszumisten. Das war gar nicht so leicht.« Sie seufzte. »Besonders dein Opa hatte seine liebe Not, sich von Dingen zu trennen. Du kennst ihn ja, er kann alles gebrauchen – und selbst wenn es auseinanderfällt, ist es noch zu schade zum Wegwerfen. Aber jetzt denke ich, wir hätten noch viel mehr aussortieren sollen.«

Meike lachte. »Wo ist Opa eigentlich?«

»Vorhin war er draußen im Schuppen, um noch Werkzeug einzupacken, das er dringend braucht.« Frau Farmsen verdrehte vielsagend die Augen.

»Ich gehe mal nach ihm sehen. Oder brauchst du mich hier?« Meike machte einen Schritt zur Seite, als das geblümte Sofa ihrer Großeltern von Möbelpackern nun an ihr vorbeigetragen wurde.

»Nein, geh nur. Vielleicht hat dein Opa Kleinkram, den du schleppen kannst.«

Als Meike im Haus verschwunden war, stellte Sabine sich an Frau Farmsens Seite. »Es ist bestimmt aufregend für Sie, so einen großen Umzug zu machen.«

»Aufregend allemal, aber auch irgendwie traurig. Der Hof hat von Anbeginn der Familie gehört. Ein Vorfahre meines Mannes hat ihn 1771 erbaut; und seitdem ist das Bauernhaus über Generationen immer das Heim der Farmsens gewesen. Durch den Verkauf endet nun gewissermaßen unsere Familiengeschichte.«

Sie senkte kurz den Blick. »Ich wohne hier, seit ich mit meinem Mann verheiratet bin, und das bin ich nun schon seit fast sechzig Jahren. Damals haben noch die Schwiegereltern mit auf dem Hof gelebt.«

Beeindruckt hob Sabine die Augenbrauen. »Eine wirklich lange Zeit. Hätte es denn keine Möglichkeit gegeben, dass sie auf dem Hof bleiben können?«, wollte sie wissen.

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