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Leuchtturmnächte

Als Buch hier erhältlich:

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Im idyllischen Küstenstädtchen Cedar Cove ist Olivia zu Hause. Das Wohl der kleinen Gemeinde und ihrer Familie liegen ihr am Herzen. Umso mehr schmerzen sie die Entscheidungen, die sie als Richterin manchmal vor Gericht fällen muss. Doch diesmal kann sie nicht anders: Olivia verweigert Ian und Cecilia die Scheidung. Denn sie spürt, dass die Liebe, die diese beiden verbindet, größer ist als die Probleme, die zwischen ihnen stehen. Sie glaubt fest daran, dass sie nur eine Chance brauchen, um wieder zueinander zu finden. Und wo könnte das besser gelingen, als in Cedar Cove, wo alle füreinander einstehen und niemand auf sich alleingestellt ist.


  • Erscheinungstag: 25.06.2020
  • Aus der Serie: Cedar Cove
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959674324

Leseprobe

Liebe Freundinnen und Freunde,

willkommen in Cedar Cove, Washington. Ich wünsche euch viel Spaß dabei, die Bewohner dieser Stadt kennenzulernen, und ich hoffe, dass Olivia, Grace, Charlotte, Cecilia, Jack, Ian, Seth und all die anderen euch so vertraut werden, als wären sie eure eigenen Nachbarn. Ihr müsst nämlich wissen: Sie sind meine Nachbarn. Natürlich nicht im wörtlichen Sinne, aber meine Schilderung von Cedar Cove basiert auf meiner Heimatstadt Port Orchard in Washington. Die Personen und ihre Geschichten entstammen meiner Fantasie, aber jeder, der schon mal in Port Orchard war, wird Gebäude und Veranstaltungen wiedererkennen, die ich in dieser Buchreihe beschreibe: Die Stadtbücherei, das neue Rathaus, ja, sogar den Seagull Calling Contest – ein Wettkampf darum, wer am besten das Geschrei der Möwen nachahmen kann –, all das gibt es in Port Orchard.

Nachdem ich etliche Romane geschrieben habe, die in Alaska, Texas und North Dakota spielen, haben mich Dutzende von Briefen erreicht, in denen mir Ideen für Geschichten in anderen US-Staaten unterbreitet wurden. Als ich über den Schauplatz für meine nächste Buchreihe nachdachte, wurde mir bewusst, dass es nur wenige Orte in Amerika gibt, die mir besser gefallen als der schöne Bundesstaat, in dem ich lebe, nämlich Washington. Jede Kleinstadt, die ich mir im Laufe der Jahre ausgedacht habe, sei es in Alaska oder Texas, spiegelt ein wenig von dem Leben wider, das ich kenne: dem Leben mit meiner eigenen Familie in Port Orchard. Mit der Buchreihe über Cedar Cove bekenne ich mich ganz offiziell dazu.

Also, lehnt euch zurück, genießt die Mischung aus Liebesroman, einem Schuss Krimi und ein paar eingestreuten Weisheiten. Macht euch vertraut mit einer ganzen Gemeinde neuer Freunde. Ich weiß, dass sie alle darauf brennen, sich euch vorzustellen!

Debbie Macomber

PS: Ich freue mich immer über Rückmeldungen von meinen Leserinnen und Lesern. Erreichen könnt ihr mich über P.O. Box 1458, Port Orchard, WA 98366 oder über meine Webseite unter www.debbiemacomber.com.

Zum Gedenken an
Rita Adler

26. Dezember 1950 – 12. Dezember 2000

Du wirst uns fehlen.

1. Kapitel

Cecilia Randall hatte von Leuten gehört, die sich dafür entscheiden würden, ihr Leben noch einmal genau gleich zu leben, wenn sie einen Wunsch frei hätten. Sie selbst zählte nicht dazu. Ihr hätte es schon vollkommen gereicht, zwölf Monate ihrer zweiundzwanzig Lebensjahre spurlos zu streichen.

Die letzten zwölf Monate.

Im Januar vergangenen Jahres, kurz nach dem Jahreswechsel, hatte sie Ian Jacob Randall kennengelernt, einen U-Boot-Fahrer der US-Marine. Sie hatte sich in ihn verliebt, ihr erster Fehler, und etwas schrecklich Verantwortungsloses getan: Sie war schwanger geworden, ihr zweiter Fehler. Dann hatte sie ihn obendrein geheiratet, ihr dritter Fehler, der alles nur noch schlimmer gemacht hatte.

Drei Fehler, die verheerende Konsequenzen nach sich zogen. Dabei war sie nicht etwa dumm. Nein, sie war einfach nur naiv, verliebt und hoffnungslos romantisch gewesen. Davon hatten die US-Marine und das Leben sie jedoch schnell kuriert.

Ihr Baby, ein Mädchen, kam zu früh zur Welt, während Ian auf See war, und es stellte sich sehr schnell heraus, dass die Kleine einen Herzfehler hatte. Bei Ians Heimkehr war Allison Marie bereits zu Grabe getragen worden. Cecilia hatte allein im unablässigen Regen des pazifischen Nordwestens gestanden, als der winzige Kindersarg in die kalte, durchnässte Erde hinabgelassen worden war. Hatte allein existenzielle Entscheidungen treffen müssen, ohne sich mit der Familie beraten zu können, ohne tröstenden Beistand durch ihren Mann zu erfahren.

Ihre Mutter lebte an der Ostküste und hatte wegen eines schweren Sturms nicht nach Washington kommen können. Ihr Vater war so hilfreich gewesen wie eh und je, mit anderen Worten: herzlich wenig. Seine Vorstellung davon, was es bedeutete, »für sie da zu sein«, bestand darin, ihr eine Beileidskarte mit ein paar Zeilen des Bedauerns über ihren Verlust zu schicken. Cecilia hatte unzählige Tage neben dem leeren Bettchen ihrer Tochter gesessen, abwechselnd geweint und in einer Schockstarre verharrt. Die Frauen der anderen Marinesoldaten hatten versucht, ihr Trost zu spenden, aber für Cecilia waren sie Fremde, und sie fühlte sich unter ihnen nicht wohl. Also hatte sie ihre Hilfe und ihre Freundschaft ausgeschlagen, und weil sie noch nicht lange in Cedar Cove lebte, hatte sie auch in der Stadt keine Freundinnen, die ihr beistehen konnten. Sie musste allein mit ihrer Trauer fertigwerden.

Als Ian endlich von seinem Einsatz nach Hause kam, gab er der US-Marine die Schuld daran, dass er nicht früher hatte heimkehren können. Er versuchte, alles zu erklären, aber inzwischen war Cecilia es gründlich leid. Für sie war nur noch eine Tatsache von Bedeutung: Ihre Tochter war tot. Ihr Mann wusste nicht und konnte unmöglich verstehen, was sie in seiner Abwesenheit durchgemacht hatte.

Da er auf einem Atom-U-Boot stationiert war, war ihre Kommunikation während eines Einsatzes auf »Familien-Telegramme« mit maximal fünfzig Wörtern beschränkt. Außerdem hätte er ohnehin nichts tun können; das U-Boot hatte sich damals unter der Polareiskappe befunden. Sie hatte ihm von Allisons Geburt geschrieben, dann von ihrem Tod. Sie hatte sich ihre Trauer in diesen kurzen Nachrichten vom Herzen geschrieben, ungeachtet dessen, dass Mitarbeiter der Marine jede einzelne Zeile unter die Lupe nahmen. Trotzdem hatte Ians Vorgesetzter es für richtig befunden, Ian erst nach Abschluss des zehnwöchigen Einsatzes davon in Kenntnis zu setzen.

»Ich wusste nichts davon«, hatte Ian wiederholt beteuert. Sie könne ihn doch nicht dafür verantwortlich machen. Aber sie tat es. Mochte es auch noch so unfair sein, Cecilia konnte ihm nicht vergeben.

Inzwischen wollte sie nur noch raus. Raus aus ihrer Ehe, raus aus dem emotionalen Sumpf aus Schuldgefühlen und Reue, einfach nur raus, und der einfachste Ausweg, den sie sah, bestand in der Scheidung.

Jetzt saß sie im Flur vor dem Gerichtssaal, entschlossener denn je, einen Schlussstrich unter ihre Ehe zu ziehen. Ein rascher Schlag mit dem Richterhammer, und der Albtraum des letzten Jahres wäre endlich vorbei. Irgendwann würde sie vergessen haben, dass sie Ian Randall jemals begegnet war.

Allan Harris, Cecilias Anwalt, betrat das Foyer des Gerichts von Kitsap County. Sie sah, wie er sich nach ihr umschaute. Als er sie entdeckte, hob er grüßend die Hand, kam auf die harte Holzbank zu, auf der sie saß, und ließ sich auf dem leeren Platz neben ihr nieder.

»Sagen Sie mir noch mal, was jetzt geschehen wird«, bat sie, weil sie nichts so dringend brauchte wie die Gewissheit, dass ihr Leben in Kürze wenigstens annähernd wieder so werden konnte, wie es vor einem Jahr gewesen war.

Allan stellte die Aktentasche auf seinen Schoß. »Wir warten, bis die Prozessliste verlesen wird. Die Richterin wird fragen, ob wir bereit sind. Ich werde das bestätigen, und dann bekommen wir eine Nummer.«

Cecilia nickte benommen.

»Man wird uns eine Nummer zwischen eins und fünfzig zuweisen«, fuhr ihr Anwalt fort. »Und dann warten wir, bis wir an der Reihe sind.«

Noch einmal nickte Cecilia. Sie konnte nur hoffen, nicht den ganzen Tag im Gerichtsgebäude ausharren zu müssen. Es war schon schlimm genug, überhaupt hier sein zu müssen. Noch schlimmer war, dass auch Ians Anwesenheit notwendig war. Sie hatte ihn noch nicht gesehen. Vielleicht traf er sich irgendwo mit seinem Anwalt, besprach die Vorgehensweise – auch wenn sie nicht erwartete, dass er Schwierigkeiten machen würde.

»Es wird doch keine Probleme geben, oder?« Ihre Handflächen waren feucht, auf ihrer Stirn stand kalter Schweiß. Sie wünschte sich, das Ganze bereits hinter sich zu haben, damit sie wieder normal leben konnte. Das, so glaubte sie, würde erst möglich sein, wenn die Scheidung rechtskräftig war, und dann würde auch der Schmerz allmählich nachlassen.

»Ich glaube nicht, dass einer Scheidung irgendwas im Wege steht, zumal Sie sich darauf geeinigt haben, sich die Schulden zu teilen.« Er runzelte leicht die Stirn. »Trotz des Ehevertrages, den Sie unterzeichnet haben.«

Cecilias Magen verkrampfte sich, und sie drückte ihre Handtasche fest an ihren Bauch. Schon bald, so rief sie sich in Erinnerung, schon bald würde sie durch die Tür des Gerichtsgebäudes in ein neues Leben hinausgehen können.

»Es ist ein ziemlich … ungewöhnlicher Vertrag«, murmelte Allan.

Rückblickend gehörte dieser Ehevertrag auf die Liste der vielen Fehler, die sie im letzten Jahr begangen hatte, aber ihr Anwalt hatte ihr versichert, diese Sache ließe sich leicht bereinigen.

Als sie ihre Unterschrift unter den Vertrag gesetzt hatte, war er ihr wie eine absolut sinnvolle Vereinbarung vorgekommen. Um sich gegenseitig zu beweisen, wie ernst sie es mit ihrer Ehe meinten, waren sie auf die Idee gekommen, der Partner, der sich scheiden lassen wollte, müsse nicht nur die Gerichts- und Anwaltskosten übernehmen, sondern auch alle Schulden aus ihrer Ehe. Das konnte man als Straf- oder als Abschreckungsmaßnahme betrachten, aber es hatte nicht funktioniert. In der jetzigen Situation war der Vertrag ein lästiges Hindernis, das aus dem Weg geräumt werden musste.

Cecilia gab sich selbst dafür die Schuld, schließlich hatte sie auf einer schriftlichen Vereinbarung bestanden. Sie hatte absolut sichergehen wollen, dass Ian sie nicht nur heiratete, weil er sich dazu verpflichtet fühlte. Zwar war sie ungeplant schwanger geworden, aber sie wäre auf jeden Fall dazu bereit gewesen, ihr Kind allein großzuziehen. Lieber das, als in einer unglücklichen Ehe gefangen zu sein – oder Ian in eine Beziehung zu zwingen, die er gar nicht wollte. Ian jedoch hatte nicht mit sich reden lassen und geschworen, sie zu lieben, ihr ungeborenes Kind zu lieben und sie heiraten zu wollen.

Als Cecilia zehn Jahre alt gewesen war, war für sie die Welt zusammengebrochen, als ihre Eltern sich hatten scheiden lassen. Das hatte sie ihrem eigenen Kind ersparen wollen. Ihrer Meinung nach sollte eine Ehe unverbrüchlich sein – für immer –, und es war ihr deshalb wichtig gewesen, dass sie beide sich ihrer Sache sicher waren, bevor sie eine lebenslange Bindung eingingen. Wie naiv sie doch gewesen war. Wie sentimental. Wie romantisch.

Ian hatte ebenfalls gewollt, dass ihre Ehe ihr Leben lang hielt, aber wie so vieles andere im letzten Jahr war auch dieser Wunsch eine Illusion gewesen. Cecilia hatte ihm glauben wollen und müssen, an ihn und an die Macht ihrer Liebe und daran, dass diese sie vor schwerem Herzeleid bewahren konnte.

Schließlich hatte sie sich einverstanden erklärt, Ian zu heiraten, geblendet von der Aussicht auf einen Mann, der sich ihr rückhaltlos verpflichtet fühlte, und von der Hoffnung auf immerwährendes Eheglück. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen hatte sie auf dem Ehevertrag beharrt.

Ihre Ehe hatte halten sollen, solange sie beide lebten, und deshalb hatten sie sich eine Vereinbarung überlegt, die ihnen helfen sollte, ihren Ehegelübden treu zu bleiben. So hatten sie sich das jedenfalls gedacht … Vor der Hochzeit hatten sie den Vertrag eigenhändig aufgesetzt und notariell beurkunden lassen.

Cecilia hatte gar nicht mehr daran gedacht, als ihr Anwalt sie bei ihrer ersten Besprechung bezüglich der Scheidung fragte, ob sie einen Ehevertrag unterschrieben hatte. Auch wenn dieser Vertrag alles andere als ein Standarddokument war, meinte Allan, er müsse dem Gericht zur Annullierung vorgelegt werden.

Ihre Ehe hätte niemals so enden sollen, aber nach dem Tod ihres Babys war alles schiefgelaufen. Ihre Liebe füreinander war zerbrochen. Es war einfach nicht fair, dass Kinder starben. Es war nicht richtig, nicht gerecht – in Cecilias Welt existierten Begriffe wie fair, richtig und gerecht nicht mehr. Die Ehe, die ihr Halt hatte geben sollen, war zu einer Quelle für Schuldgefühle und Trauer geworden. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass sie allein war, also konnte sie auch ihren Familienstand an die Realität anpassen.

Ihr schwirrte der Kopf, und weil sie nicht länger darüber nachdenken wollte, beschäftigte sie sich lieber mit etwas anderem.

Der Flur des Gerichtsgebäudes war voller Leute, Anwälte eilten umher, besprachen sich mit ihren Klienten, und sie hielt Ausschau nach Ian, versuchte sich für die unausweichliche Begegnung zu wappnen. Seit mehr als vier Monaten hatte sie ihn weder gesehen noch mit ihm gesprochen, obwohl ihre Anwälte regelmäßig miteinander in Kontakt standen. Sie fragte sich, ob all die Leute aus ähnlich traurigen Gründen hier waren wie sie. Vermutlich. Warum sonst sollte jemand vor Gericht ziehen? Gebrochene Schwüre, gebrochene Verträge …

»Richterin Lockhart ist für unseren Fall zuständig«, unterbrach Allan ihre Überlegungen.

»Ist das gut?«

»Sie ist fair.«

Das hatte Cecilia wissen wollen. »Das Ganze ist nur eine Formalität, richtig?«

»Richtig.« Er lächelte ihr beruhigend zu.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Die Prozessliste sollte um neun verkündet werden, und jetzt war es fünf vor. Ian war noch nicht da.

»Was ist, wenn Ian nicht kommt?«, fragte sie.

»Dann bitten wir um Aufschub.«

»Oh.« Bloß nicht noch eine Verzögerung, flehte sie in Gedanken.

»Er wird schon kommen«, meinte Allan beruhigend. »Brad hat mir gesagt, dass Ian es genauso schnell hinter sich bringen will wie Sie.«

Der Druck in ihrem Magen verstärkte sich. Das ist der leichte Teil, sagte sie sich, um ihre Nervosität zu vertreiben. Den schweren Teil hatte sie bereits hinter sich gebracht: den Schmerz, die Trauer, die Enttäuschung über eine Ehe, die nicht funktioniert hatte. Die Anhörung vor Gericht war eine reine Formalität. Das hatte Allan gesagt. Wenn erst der Ehevertrag annulliert worden war, dann war die Scheidung im gegenseitigen Einvernehmen so gut wie gelaufen, und dieser Albtraum hatte ein Ende.

Dann tauchte er endlich auf.

Cecilia spürte seine Anwesenheit, noch bevor sie ihn entdeckte. Fühlte seinen Blick auf sich, als er die Treppe heraufkam und das Foyer betrat. Sie wandte sich ihm zu, und ihre Blicke trafen sich kurz, bevor sie beide hastig wieder wegschauten.

Beinahe zeitgleich wurden die Türen des Gerichtssaals geöffnet. Alle standen auf und hatten es unerklärlich eilig, in den Saal zu gelangen. Allan durchschritt an Cecilias Seite die Mahagonitüren. Ian und sein Anwalt betraten den Saal nach ihnen und nahmen auf der anderen Seite des Gerichtssaals Platz.

Der Gerichtsdiener begann sofort mit der Verlesung einer Namensliste. Auf jeden Namen oder jede Gruppe von Namen antwortete jemand, und dem Vorgang wurde eine Nummer zugewiesen. Alles lief dermaßen schnell ab, dass Cecilia beinahe ihren eigenen Namen überhört hätte.

»Randall.«

Sowohl Allan Harris als auch Brad Dumas meldeten sich.

Cecilia bekam nicht mit, welche Nummer ihnen zugeteilt worden war. Als Allan sich wieder neben sie setzte, schrieb er die Zahl dreißig auf seinen Notizblock.

»Dreißig?«, flüsterte sie, überrascht, dass noch neunundzwanzig andere Fälle vor ihnen verhandelt werden würden.

Er nickte. »Keine Sorge, das wird schnell gehen. Wir sind vermutlich schon vor elf wieder draußen. Das hängt davon ab, über was sonst noch entschieden werden muss.«

»Muss ich die ganze Zeit hierbleiben?«

»Nicht im Gerichtssaal. Sie können draußen warten, wenn Ihnen das lieber ist.«

Es war ihr lieber. In dem Raum fühlte sie sich unerträglich eingeengt, ja, klaustrophobisch. Sie stand auf und stolperte in den leeren Flur hinaus, so eilig hatte sie es, nach draußen zu kommen.

Im Foyer wäre sie fast mit Ian zusammengestoßen.

Sie blieben beide wie angewurzelt stehen und starrten einander an. Cecilia wusste nicht, was sie sagen sollte, und Ian ging es offenbar genauso. Gut sah er aus in seiner Marine-Uniform. Das erinnerte sie daran, wie sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Er war groß, durchtrainiert und hatte die faszinierendsten blauen Augen, die sie je gesehen hatte. Wenn Allison Marie überlebt hätte, hätte sie die gleichen blauen Augen wie ihr Vater, dachte Cecilia.

»Es ist beinahe vorbei«, sagte Ian leise und tonlos.

»Ja«, erwiderte sie. »Ich bin dir nicht nach draußen gefolgt«, fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu. Das sollte er wissen.

»Habe ich mir schon gedacht.«

»Mir war, als würden die Wände immer näher rücken.«

Dazu sagte er nichts und ließ sich auf einer der Holzbänke nieder, die im Flur vor den Gerichtssälen standen. Er beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf seine Knie. Sie kauerte sich am anderen Ende der Bank auf die Kante, so weit wie möglich von ihm entfernt. Auch andere Leute verließen den vollen Gerichtssaal und verschwanden entweder oder suchten sich ein einsames Plätzchen, um sich mit ihren Anwälten zu besprechen. Ihr Flüstern hallte von den Granitwänden wider.

»Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, aber es tut mir leid, dass es so weit gekommen ist«, sagte Ian.

»Mir auch.« Und nur für den Fall, dass er jetzt glaubte, sie wolle sich mit ihm aussöhnen, fügte sie hinzu: »Aber es ist nötig.«

»Wie recht du doch hast.« Er richtete sich auf, setzte sich kerzengerade hin, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie nicht noch einmal an.

Was für eine unangenehme Situation. Aber wenn er so tun konnte, als wäre sie gar nicht da, konnte sie das umgekehrt genauso. Unauffällig setzte sie sich bequemer hin und lehnte sich an. Die Wartezeit würde ihr lang werden.

»Hallo«, grüßte Charlotte Jefferson, als sie einen Blick in das kleine Zimmer im Cedar-Cove-Rehazentrum warf. »Ich habe gehört, Sie sind neu hier.«

Der ältere weißhaarige Herr, der zusammengesunken in seinem Rollstuhl saß, starrte sie aus trüben braunen Augen an. Obwohl Krankheit und das Alter ihn gezeichnet hatten – er war Mitte neunzig, wie man ihr erzählt hatte –, konnte man immer noch erkennen, dass er früher ein gut aussehender Mann gewesen sein musste. Sein sportlicher Körperbau war unverkennbar.

»Keine Sorge, Sie müssen nicht antworten«, fuhr Charlotte fort. »Ich weiß, dass Sie einen schweren Schlaganfall hatten. Ich möchte mich Ihnen nur vorstellen. Mein Name ist Charlotte Jefferson, und ich bin hier, um zu schauen, ob ich irgendetwas für Sie tun kann.«

Er hob seinen Blick und schüttelte ganz langsam den Kopf. Das schien ihm große Mühe zu bereiten.

»Sie brauchen mir Ihren Namen nicht zu sagen. Er steht draußen an der Tür. Sie sind Thomas Harding.« Sie hielt einen Moment inne. »Janet Lester, die Leiterin des Zentrums, hat vor ein paar Tagen von Ihnen gesprochen. Mir hat der Name Thomas schon immer gefallen«, fuhr sie im Plauderton fort. »Ich schätze, Ihre Freunde nennen Sie Tom.«

Sein schwaches Lächeln bestätigte sie in ihrer Annahme.

»Das dachte ich mir.« Charlotte wollte sich nicht aufdrängen, aber sie wusste, wie einsam sich jemand fühlte, der in einer fremden Stadt landete, in der er keine Menschenseele kannte. »Eine meiner besten Freundinnen hat jahrelang hier gelebt, und ich habe sie jeden Donnerstag besucht. Das ist mir so zur Gewohnheit geworden, dass ich auch nach Barbaras Tod regelmäßig vorbeischaue. Letzte Woche hat Janet mir erzählt, dass Sie gerade eingezogen sind. Deshalb dachte ich mir, ich schaue heute vorbei und stelle mich vor.«

Er versuchte, die rechte Hand zu bewegen – erfolglos.

»Kann ich Ihnen etwas geben?«, fragte sie hilfsbereit.

Erneut schüttelte er den Kopf und deutete dann mit zittrigem Zeigefinger auf den Stuhl ihm gegenüber.

»Ah, ich verstehe. Sie fordern mich auf, mich zu setzen.«

Mit Mühe brachte er ein schiefes Grinsen zustande.

»Na, das tue ich doch gern. Mir tun nämlich die Füße weh.« Ohne zu zögern, ließ sie sich auf dem Stuhl nieder, auf den er gezeigt hatte, und zog sich den rechten Pumps aus, um sich die Zehen zu reiben und die Durchblutung wieder in Gang zu bringen.

Tom beobachtete sie mit wachem Blick.

»Ich schätze, Sie würden gern ein bisschen mehr über Cedar Cove erfahren. Das kann ich Ihnen nicht verdenken, Sie Ärmster. Gott sei Dank wurden Sie hierher verlegt. Janet hat mir erzählt, dass Sie ausdrücklich darum gebeten haben, nach Cedar Cove zu kommen, stattdessen aber in dieser Einrichtung in Seattle gelandet sind. Was dort passiert ist, habe ich gehört. Ich kann nur sagen, es ist eine furchtbare Schande.« Janet hatte ihr erzählt, dass die Einrichtung, in der Tom zunächst untergebracht gewesen war, wegen gravierender Missstände geschlossen worden war. Die Patienten, die meisten von ihnen Staatsmündel, waren auf verschiedene Pflegeeinrichtungen im gesamten Staat Washington verteilt worden.

»Ich bin so froh, Tom, dass Sie jetzt hier in Cedar Cove sind, in unserer entzückenden kleinen Stadt«, fuhr sie fort, wobei sie ihn bewusst mit Namen ansprach. Sie wollte, dass er sich gewürdigt und anerkannt fühlte. Immerhin hatte er Zeit in einer unzulänglichen Einrichtung verbringen müssen, in der man die Würde der Patienten missachtet und ihnen keinerlei Mitgefühl entgegengebracht hatte. Janet hatte betont, dass die dortigen Pflegekräfte die ihnen anvertrauten Patienten vernachlässigt hatten. Das zu hören hatte Charlotte schockiert. Sie fand ein solches Verhalten absolut unverständlich. Wie konnte man nur so grausam zu jemandem sein, der so verletzlich war wie Tom? Wie konnte man ihn nur ignorieren, ihn in seinem beschmutzten Bett liegen lassen, nie ein Wort mit ihm wechseln … »Wie ich sehe, können Sie von hier auf den Jachthafen schauen«, fuhr sie mit aller Begeisterung fort, die sie aufbringen konnte. »Wir sind sehr stolz auf unser Hafenviertel. Im Sommer gibt es dort ein wunderbares kleines Festival, und natürlich findet jeden Samstag der Bauernmarkt auf dem Parkplatz neben der Stadtbücherei statt. Regelmäßig legen Fischer am Anleger an und verkaufen ihren Fang direkt vom Boot. Ich schwöre, Tom, dass es nichts Besseres gibt als im Hood Canal gefangene Garnelen frisch vom Kutter.«

Sie hielt einen Moment inne, aber da Tom anscheinend zuhörte, redete sie weiter. »Na schön, schauen wir mal, was ich Ihnen über Cedar Cove erzählen kann.« Dabei wusste sie kaum, wo sie anfangen sollte. »Es ist eine kleine Stadt. Bei der letzten Zählung hatten wir, glaube ich, nicht ganz fünftausend Einwohner. Mein Mann Clyde und ich, wir stammen beide aus dem Yakima County im Herzen Washingtons und sind nach dem Zweiten Weltkrieg hierhergezogen. Damals hatte Cedar Cove die einzige Ampel im gesamten County. Das ist jetzt fünfzig Jahre her.« Fünfzig Jahre. So viel Zeit, die wie im Flug vergangen war.

»Cedar Cove hat sich in mancher Hinsicht verändert und ist in anderer Hinsicht immer noch dieselbe alte Kleinstadt. Viele Leute, die hier leben, arbeiten in der Werft von Bremerton, genau wie früher in den Vierzigern. Und natürlich spielt die Marine für die Wirtschaft der Stadt eine gewaltige Rolle.«

Das konnte Tom sich vermutlich denken, denn die Marinewerft von Bremerton lag gleich auf der anderen Seite der Bucht. Riesige Flugzeugträger hatten dort angelegt, ebenso ganze Reihen von dieselgetriebenen U-Booten. Die Atom-U-Boote waren im Marine-Stützpunkt in Bangor stationiert. An wolkenverhangenen Tagen gingen die graue Flotte und der schiefergraue Himmel beinahe nahtlos ineinander über.

Ruckartig legte Tom seine rechte Hand in Herzhöhe auf die Brust.

»Sie waren beim Militär?«, fragte Charlotte.

Der alte Mann nickte kaum merklich.

»Gott segne Sie«, erwiderte Charlotte. »Es wird so viel darüber geredet, dass unsere Generation, die die Depression und den Weltkrieg erlebt hat, eine ganz besondere war, und wissen Sie, was? Das stimmt. Die jungen Leute von heute haben ja keine Ahnung, was es bedeutet, Opfer zu bringen. Sie haben es viel zu leicht, aber das ist natürlich nur meine persönliche Meinung.«

Toms Augen weiteten sich, und Charlotte konnte erkennen, dass er ihr beipflichtete.

Da sie aber nicht vom Thema abschweifen wollte, schwieg sie einen Moment und biss sich leicht auf die Unterlippe. »Was kann ich Ihnen sonst noch erzählen?«, murmelte sie. »Ah ja, zum Beispiel lieben wir Sport aller Art in Cedar Cove. Im Herbst finden die Highschool-Football-Spiele statt, und die halbe Stadt schaut sie sich an. Um diese Jahreszeit steht Basketball im Mittelpunkt. Vor zwei Jahren hat unsere Mannschaft die Washingtoner Meisterschaft gewonnen. Mein ältester Enkel …« Sie verstummte, wandte den Blick ab. Wie war sie jetzt auf dieses Thema gekommen? »Jordan war ein vielversprechender Baseballspieler, aber er ist vor fünfzehn Jahren ertrunken.« Sie war sich nicht sicher, warum sie ihn erwähnt hatte, und wünschte, sie hätte es nicht getan. Die gewohnte Traurigkeit ergriff sie. »Ich glaube nicht, dass ich jemals über seinen Tod hinwegkommen werde.«

Tom neigte sich trotz seiner Schwäche zu ihr herüber, als wollte er tröstend seine Hand auf ihre legen.

Was für eine anrührende Geste. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Darüber wollte ich gar nicht reden. Meine Tochter lebt in Cedar Cove«, fuhr sie fort und zwang einen Anflug von Fröhlichkeit in ihre Stimme. »Sie ist Richterin – Richterin Olivia Lockhart –, und ich bin unglaublich stolz auf sie. Als Mädchen war sie ein dürres kleines Ding, aber heute ist sie eine hochgewachsene Frau. Sehr attraktiv. Sie ist inzwischen Anfang fünfzig und zieht immer noch die Blicke der Männer auf sich. Das liegt an ihrer Haltung. Die Leute brauchen sie nur zu sehen und wissen sofort, dass sie eine wichtige Persönlichkeit ist. Das ist meine Tochter, die Richterin, aber für mich wird sie immer mein kleines braunäugiges Mädchen sein. Ich habe große Freude daran, im Gerichtssaal zu sitzen, wenn sie den Vorsitz führt.« Sie schüttelte den Kopf. »Was tue ich eigentlich – rede über mich selbst statt über Cedar Cove.« Wenn sie einfach hätte Fragen beantworten können, wäre das einfacher gewesen, aber leider konnte Tom keine Fragen stellen.

»Uns trennt nur eine Fährüberfahrt von Seattle, aber wir sind eine ländliche Gemeinde. Ich lebe mitten in der Stadt, aber viele Leute hier halten Hühner und Pferde. Natürlich außerhalb der Stadtgrenzen.«

Tom nickte ihr zu.

»Ich soll von mir erzählen?«

Wieder verriet ihr sein Lächeln, dass sie richtig geraten hatte.

Charlotte lächelte zurück und fuhr sich mit der Hand verlegen über ihr welliges weiches Haar. In ihrem Alter von zweiundsiebzig Jahren war es mittlerweile vollkommen weiß. Die Farbe stand ihr, das wusste sie. Sie hatte auch nur wenige Falten und war schon immer stolz auf ihren Teint gewesen. Als Frau durfte sie ruhig ein bisschen eitel sein, fand sie.

»Ich bin Witwe«, begann sie. »Clyde ist seit fast zwanzig Jahren tot. Er ist viel zu jung gestorben – Krebs.« Sie senkte den Blick. »Er hat in der Marinewerft gearbeitet. Wir haben zwei Kinder, William und Olivia. Sie wissen schon, die Richterin. William arbeitet bei einem Energieversorgungsunternehmen und reist kreuz und quer durch die Welt. Olivia hat geheiratet und sich hier in Cedar Cove niedergelassen. Ihre Kinder haben dieselbe Highschool besucht wie sie. In der Schule hängen die Bilder jeder Abschlussklasse an der Wand, und es ist wirklich interessant, sich all diese jungen lächelnden Gesichter anzuschauen, wenn man weiß, was aus ihnen geworden ist.« Nachdenklichkeit machte sich in ihr breit. »Auch Justines Bild hängt dort. Sie und Jordan waren Zwillinge, und ich mache mir große Sorgen um sie. Inzwischen ist sie achtundzwanzig und ist mit einem älteren Mann liiert, dem weder ich noch ihre Mutter über den Weg trauen.« Charlotte musste sich bremsen, um nicht noch mehr zu diesem Thema zu sagen. »James ist Olivias jüngster Sohn, und er ist zurzeit bei der Marine. Es war ein Schock für uns alle, als er sich freiwillig für den Dienst gemeldet hat. William und seine Frau haben sich gegen Kinder entschieden, und ich frage mich, ob sie das inzwischen bedauern. Will möglicherweise, glaube ich, Georgia eher nicht.« Obwohl ihre Kinder beide bereits in den Fünfzigern waren, sorgte sich Charlotte immer noch um sie.

Tom fielen die Augen zu, aber er öffnete sie schnell wieder.

»Sie sind müde«, stellte Charlotte fest, und ihr wurde bewusst, dass sie vor allem von ihrer Tochter und ihren Enkeln erzählte, statt Tom Informationen über Cedar Cove zu geben.

Er schüttelte leicht den Kopf, als wollte er nicht, dass sie ging.

Dennoch stand sie auf und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. »Ich komme bald wieder, Tom. Sie sollten jetzt etwas schlafen. Außerdem wird es Zeit, dass ich zum Gericht gehe. Olivia führt heute den Vorsitz, und ich kann die Zeit nutzen, eine Babydecke zu Ende zu stricken.« Das bedurfte wohl einer zusätzlichen Erklärung, also fuhr sie fort: »Im Gerichtssaal kann ich immer am besten stricken. Vor ein paar Jahren ist im Chronicle sogar ein Artikel über mich erschienen. Mit Foto! Da saß ich im Gerichtssaal mit Stricknadeln und Wolle. Dabei fällt mir ein: Wenn Sie möchten, bringe ich das nächste Mal die Lokalzeitung mit und lese Ihnen daraus vor. Bis letzte Woche kam sie nur einmal wöchentlich heraus, immer mittwochs, aber vor Kurzem hat die Zeitung den Eigentümer gewechselt, und es wurde ein neuer Chefredakteur eingestellt. Jetzt gibt es zwei Ausgaben pro Woche. Ist das nicht schön?«

Tom lächelte.

Als sie sich der Tür zuwandte, wurde ihr bewusst, dass ihr neuer Freund gar keine Reisedecke besaß, die er sich über die Knie legen konnte. Die Damen im Seniorentreff würden schon bald Abhilfe schaffen, schließlich kühlten die Räume hier vor allem in den feuchten Wintern von Cedar Cove unangenehm aus. Wie traurig, dass dieser Mann niemanden hatte, der sich um sein Wohlergehen kümmerte und dafür sorgte, dass er es gemütlich und bequem hatte.

»Ich komme bald wieder«, versicherte sie ihm noch einmal.

Tom nickte und schenkte ihr ein verwegenes kleines Grinsen. Oh ja, in seiner Blütezeit musste er ein Charmeur gewesen sein.

Janet hielt sie auf, als sie das Heim verlassen wollte. »Hast du dich Tom Harding vorgestellt?«

»Ja, das habe ich. Was für ein netter Mann.«

»Ich dachte mir schon, dass du das so sehen würdest. Genau so jemanden wie dich braucht er.«

»Er hat also keine Angehörigen?«

»In seiner Akte sind keine Verwandten vermerkt. Sein Schlaganfall liegt etwa fünf Jahre zurück, und allem Anschein nach wurde er seitdem von niemandem besucht.« Sie hielt einen Moment inne und runzelte die Stirn. »Andererseits wissen wir natürlich nicht, inwieweit wir den Unterlagen von Senior Haven trauen können.«

»Wie lange war er dort?«

Janet zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht genau. Mindestens fünf Jahre. Nachdem er aus der stationären Pflege entlassen wurde.«

»Ach, der Ärmste. Er …«

»… braucht dringend einen Freund«, beendete Janet den Satz für sie.

»Nun, jetzt hat er einen gefunden«, erklärte Charlotte. Sie hatte sich schon immer für ihr Leben gern mit anderen unterhalten, sodass Clyde sogar behauptet hatte, sie könne mit einer Steinmauer Freundschaft schließen. Er meinte das als Kompliment, und so hatte sie es auch aufgefasst.

Bei näherer Überlegung beschloss sie, doch nicht die Damen vom Seniorentreff darum zu bitten, Tom eine Reisedecke zu stricken. Das wollte sie selbst übernehmen, sobald die Babydecke fertig war. Schon bei ihrem nächsten Besuch würde sie ihm etwas mitbringen können, das ihn wärmen würde – die Wolldecke … und natürlich ihre Freundschaft.

Scheidungsfälle bereiteten Richterin Olivia Lockhart immer Probleme, und von allen Fällen, die das Familiengericht verhandelte, mochte sie diese am allerwenigsten. Seit zwei Jahren gehörten Scheidungsprozesse zu ihren Aufgaben, und sie war der Meinung gewesen, mittlerweile alles gesehen zu haben, was dieser Bereich zu bieten hatte. Und dann kam ein Fall wie dieser.

Ian und Cecilia Randall baten um die Annullierung ihres handschriftlich verfassten und notariell beglaubigten Ehevertrages. Sobald das erledigt war, würden die beiden die Scheidung einreichen. Zusammen mit ihren Anwälten standen sie vor der Richterbank.

Olivia warf einen Blick auf die Unterlagen. Sie waren vor weniger als einem Jahr datiert und unterzeichnet worden. Es war ihr unbegreiflich, wie eine Ehe so schnell in die Brüche gehen konnte. Sie blickte auf und musterte das Paar. Beide waren noch so jung und blickten starr zu Boden. Ian Randall, Marinesoldat, machte auf sie den Eindruck eines verantwortungsbewussten jungen Mannes, der vermutlich noch nie von zu Hause fort und von seiner Familie getrennt gewesen war, bevor er geheiratet hatte. Seine Frau wirkte wie ein zerbrechliches Straßenkind, unglaublich mager und mit dunklen, traurigen Augen. Glatte braune Haare, die ihr knapp bis auf die Schultern fielen, umrahmten ihr herzförmiges Gesicht. Immer wieder strich sie sich nervös eine Strähne hinters Ohr.

»Ich muss schon sagen, das ist originell«, murmelte Olivia und las noch einmal ein paar Zeilen des Vertragstextes. Die Formulierung war eindeutig, wenn auch sehr ungewöhnlich. Der Vertrag sah vor, dass der Ehepartner, der die Scheidung einreichte, sämtliche Schulden übernahm.

Offenbar hatten die beiden es sich diesbezüglich anders überlegt, genau wie mit ihrer Ehe. Olivia schaute sich die kurze Liste angesammelter Schulden an und sah, dass sie zu gleichen Teilen auf beide Partner aufgeteilt worden waren. Hätte die Ehe länger gehalten, wäre der Schuldenberg vermutlich höher gewesen – hätte vielleicht eine Hypothek umfasst, einen Kredit für ein Auto und so weiter. Olivia schloss daraus, dass der Vertrag dem unzufriedenen Partner eine Art Ansporn hatte sein sollen, die Ehe nicht leichtfertig aufzugeben. Ian Randall übernahm alle Schulden auf den Kreditkartenkonten und Cecilia Randall die Haushaltsrechnungen, zu denen eine Telefonrechnung über dreihundert Dollar gehörte sowie seltsamerweise eine Zweihundert-Dollar-Rechnung eines Blumengeschäftes. Der größte Posten betraf Begräbniskosten, und diesen wollten die beiden zu gleichen Teilen übernehmen.

»Beide Partner haben sich bezüglich der während der Ehe angesammelten Schulden geeinigt«, erklärte Allan Harris.

Ganz offensichtlich steckte mehr hinter diesem Scheidungsbegehren, als auf Anhieb erkennbar war. »Es gab einen Todesfall in der Familie?«, fragte Olivia den Anwalt.

Allan nickte. »Ein Kind.«

Olivias Magen krampfte sich zusammen. »Verstehe.«

»Unsere Tochter wurde zu früh geboren, und sie hatte einen Herzfehler«, erklärte Cecilia Randall so leise, dass es kaum zu hören war. »Sie hieß Allison.«

»Allison Marie Randall«, setzte ihr Mann hinzu.

Olivia bemerkte, wie die beiden einen Blick wechselten. Cecilia schaute schnell wieder weg, aber der kurze Moment reichte für Olivia, um den Schmerz, den Zorn und die tiefe Trauer in den Augen der jungen Leute zu sehen. Vielleicht erkannte sie das auch nur, weil sie selbst diesen Verlust erlebt hatte und ihre eigene Ehe ebenfalls daran zerbrochen war.

Die beiden Parteien warteten auf ihre Entscheidung. Da alles in Ordnung und einvernehmlich geregelt war, gab es eigentlich keinen Grund, das Verfahren zu stoppen. Diese Anhörung war nichts weiter als eine Formalität auf dem Weg zur Scheidung.

»Siebentausend Dollar – das sind eine Menge Schulden, die sich in nur wenigen Monaten angehäuft haben«, sagte Olivia.

»Da haben Sie recht, Euer Ehren«, erwiderte Brad Dumas rasch, »aber es gab Gründe dafür.«

Olivia entdeckte ihre Mutter im Zuschauersaal. Oft saß sie dort in der ersten Reihe und hantierte eifrig mit Stricknadeln und Wolle, aber jetzt strickte Charlotte nicht. Sie hielt ihre Finger, mit denen sie die Nadeln umklammerte, still in ihrem Schoß, als wäre ihr die Bedeutung dessen, was an der Richterbank geschah, deutlich bewusst.

Entgegen ihrer sonstigen Art zögerte Olivia. Normalerweise war sie dafür bekannt, schnell und entschlossen zu urteilen. Aber dieses Paar brauchte eine sanfte, liebevolle Hand, die es durch die Trauerphase geleitete. Wenn die beiden ihre Ehe beendeten, würde damit kein einziges ihrer Probleme gelöst – das wusste Olivia aus eigener Erfahrung. Wenn die Randalls darauf bestanden, ihre Scheidung durchzuziehen, dann würde Olivia ihnen lediglich eine Einbahnstraße in Richtung Schmerz und Schuldgefühle ebnen. Es bestand jedoch kein rechtlicher Grund, den Vertrag nicht zu annullieren.

»Ich setze eine zehnminütige Pause an … um diesen Vertrag zu begutachten«, verkündete sie. Dann, noch bevor die Betroffenen zeigen konnten, wie schockiert sie waren, stand sie auf und zog sich in ihr Büro zurück. Sie hörte, wie alle im Gerichtssaal sich erhoben und eifriges Getuschel einsetzte.

Als sie an ihrem Schreibtisch saß, lehnte Olivia den Kopf an die hohe Lehne ihres lederbezogenen Stuhls und schloss die Augen. Die Parallelen zwischen Cecilia Randall und ihr selbst waren unübersehbar. Vor fünfzehn Jahren hatte Olivia ihren ältesten Sohn verloren. Obwohl so viele Jahre vergangen waren, hatte der Schmerz über Jordans Tod nie nachgelassen und würde auch nie nachlassen. In den zwölf Monaten, nachdem er ertrunken war, war ihre gesamte Welt in sich zusammengebrochen. Erst hatte sie ihren Sohn verloren, dann ihren Mann. Im Laufe der Jahre hatten sich in ihrer Ehe kleine Probleme ergeben – nichts Großes, nichts Überwältigendes oder Ungewöhnliches, einfach nur der typische Stress, dem jedes voll berufstätige Paar mit drei anstrengenden Kindern ausgesetzt war. Aber nach Jordans Tod verzehnfachte sich dieser Stress und wurde zu einem unüberwindlichen Hindernis. Bevor Olivia überhaupt begriffen hatte, was sie beide taten, hatten sie sich bereits getrennt. Nur wenig später standen sie beide vor dem Familienrichter, und die Scheidung wurde ausgesprochen.

Drei Monate darauf traf sie und alle anderen, die sie kannten, der nächste Schock: Stan heiratete ein zweites Mal. Offenbar hatte er seine Probleme schon längere Zeit mit der anderen Frau besprochen und die Beziehung vor Olivia geheim gehalten.

Es klopfte an ihrer Tür, und noch bevor Olivia reagieren konnte, trat ihre Mutter einfach ein.

Olivia richtete sich auf. Sie hätte sich denken können, dass ihre Mutter die Gelegenheit ergreifen würde, um mit ihr zu sprechen. »Hallo, Mom.«

»Ich störe dich doch nicht, oder?«

Olivia schüttelte den Kopf. Ihre Mutter wusste, dass die Tür zu ihrem Büro ihr immer offen stand.

»Ah, gut.« Charlotte kam ohne Umschweife zum Punkt – ihrem Standpunkt: »Es ist doch eine Schande, dass dieses junge Paar aus seiner Ehe ausbrechen will, obwohl die beiden noch kaum eine Chance hatten, einander kennenzulernen.«

Da pflichtete Olivia ihr bei, konnte und wollte das aber nicht zugeben.

»Mir scheint, dass beide nicht allzu erpicht auf die Scheidung sind. Ich mag mich irren, aber …«

»Mutter, du weißt, dass ich meine Fälle nicht mit dir besprechen darf.«

»Ja, ja, natürlich, aber manchmal kann ich einfach nicht anders.« Charlotte steuerte bereits wieder die Tür an, überlegte es sich dann aber offenbar anders. »Ich weiß nicht, ob ich dir das jemals erzählt habe: Dein Vater und ich kamen im ersten Jahr auch nicht miteinander zurecht.«

Das hörte sie tatsächlich zum ersten Mal.

»Clyde war ein starrköpfiger Mann, und wie du vielleicht bemerkt hast, bin ich ebenfalls eigensinnig.«

Wenn das nicht die Untertreibung des Jahrhunderts war …

»In unserem ersten Ehejahr haben wir nur gestritten«, fuhr Charlotte fort. »Und dann, bevor wir uns es versahen, war ich schwanger mit deinem Bruder, und … nun ja, wir rauften uns zusammen. Wir hatten eine Menge guter Jahre miteinander, dein Vater und ich.« Sie umfasste ihre Handtasche und die Tasche mit den Strickutensilien fester. »Er war die Liebe meines Lebens.« Und damit zog Charlotte sich aus dem Zimmer zurück und schloss leise die Tür hinter sich, als hätte sie mehr gesagt, als sie hatte sagen wollen.

Grinsend stand Olivia wieder auf. War doch klar, dass ihre Mutter genau das sagen würde, was sie hatte hören müssen. Ihre Entscheidung war gefallen, und sie kehrte in den Gerichtssaal zurück. Als sie Platz genommen hatte, traten die Randalls mit ihren Anwälten erneut vor, Cecilia Randall, die mit großen traurigen Augen ins Leere starrte, und Ian Randall, der sich mit hartem, unbewegtem Gesichtsausdruck auf das Unausweichliche vorzubereiten schien.

»Ich kann nicht außer Acht lassen«, begann Olivia, »dass die beiden Parteien diesen Vertrag geschlossen haben, um genau dem, weshalb sie jetzt vor Gericht stehen – einer Scheidung – vorzubeugen. Offensichtlich haben sie großen Wert auf die Beständigkeit ihrer Ehe gelegt, und das gab den Ausschlag für einen solchen Vertrag. Offensichtlich wollten sie genau das vermeiden, was sie jetzt anstreben: eine einfache Scheidung. Deshalb werde ich den Ehevertrag nicht annullieren. Die Angelegenheit wird vor Gericht entschieden werden müssen. Für die Zwischenzeit rate ich den Parteien dringend, sich einer Eheberatung zu unterziehen oder eine Schlichtungsstelle anzurufen, um ihre Meinungsverschiedenheiten zu klären.«

Beide Ehepartner und ihre Anwälte beugten sich leicht vor, als glaubten sie, sich verhört zu haben.

Allan Harris und Brad Dumas blätterten hastig in ihren Notizen. Es war beinahe komisch mit anzusehen, wie sie sich beeilten, den Ehevertrag noch einmal durchzulesen.

»Entschuldigen Sie, Euer Ehren.« Brad Dumas reagierte zuerst und hob die Hand.

»Beide Parteien sind sich einig«, warf Allan Harris ein. »Mr. Randall hat sich bereit erklärt, den Ehevertrag als nichtig zu betrachten, und er hat bereitwillig die Verantwortung für einen Teil der Schulden übernommen.«

»Was hat sie gesagt?«, fragte Cecilia Randall und schaute dabei ihren Anwalt an.

»Präzisieren Sie bitte, Euer Ehren«, bat Brad Dumas sichtlich verwirrt.

»Der Vertrag bleibt in Kraft, so wie er niedergelegt ist«, erklärte Olivia.

»Sie annullieren den Vertrag nicht?«, fragte Allan Harris betont langsam. Auch er wirkte verwirrt.

»Nein, das tue ich nicht – aus den bereits genannten Gründen.«

Allan Harris und Brad Dumas starrten sie sprachlos an.

»Gibt es damit ein Problem, meine Herren?«

»Äh …«

Mit einer Handbewegung gab sie ihnen zu verstehen, dass sie nun entlassen waren. »Sprechen Sie mit dem Gerichtsdiener und vereinbaren Sie einen Gerichtstermin.«

»Heißt das, dass wir nicht die Scheidung einreichen können?«, fragte Cecilia ihren Anwalt.

»Ich will die Scheidung genauso sehr wie du«, erklärte Ian Randall.

In dem Moment schlug Olivia mit dem Richterhammer auf den Tisch. »Ruhe im Saal«, forderte sie. Wenn das Paar unbedingt diskutieren wollte, dann durfte es das draußen tun, ohne ihre Zeit zu stehlen.

Wie unter Schock sammelten die beiden Anwälte ihre Unterlagen und Aktentaschen ein.

»Gibt es noch eine andere Option?«, wandte sich Cecilia Randall an Allan Harris, während sie gemeinsam zur Tür gingen.

»Wir können vielleicht Beschwerde einlegen, aber …«

»Das treibt die Kosten nur noch weiter in die Höhe«, protestierte Ian, der den beiden mit seinem eigenen Anwalt folgte. Brad war offensichtlich noch zu perplex, um irgendetwas zu sagen.

»Ich verstehe das alles nicht«, murmelte Cecilia, als sie die Tür erreicht hatte. »Können wir denn gar nichts tun?«

»Die Richterin hat gesagt, wir müssen die Angelegenheit vor Gericht bringen?« Fassungslosigkeit klang aus Ian Randalls Stimme. »Und wie teuer wird das?«

»Sehr teuer«, erwiderte Allan Harris rasch, als würde er die Rechnung des Ehemannes seiner Klientin nur zu gern in die Höhe treiben.

»Aber das will ich doch gar nicht«, jammerte Cecilia.

»Dann schlage ich vor, Sie folgen dem Rat der Richterin und suchen eine Eheberatung auf oder wenden sich an eine Schlichtungsstelle.«

»Ich breite meine Probleme nicht vor einem Haufen fremder Leute aus.« Damit stürmte Ian Randall aus dem Gerichtssaal. Brad Dumas folgte seinem Klienten, aber nicht, ohne Olivia einen verärgerten Blick zuzuwerfen.

Allan Harris stand kopfschüttelnd da, und die Ungläubigkeit war ihm ins Gesicht geschrieben.

Der Gerichtsdiener rief den nächsten Fall auf, doch Allan bewegte sich immer noch keinen Schritt.

Seine Mandantin wandte sich ab, jedoch nicht schnell genug, um zu verbergen, dass ihr Tränen in den Augen standen. Olivia brach es ein wenig das Herz – und doch war sie überzeugt davon, das Richtige getan zu haben.

»Wie konnte das passieren?«, fragte Cecilia Randall.

»Ich verstehe das nicht«, hörte Olivia Allan Harris murmeln. »Das ist völlig verrückt.«

Cecilia schüttelte den Kopf. »Sie haben recht«, murmelte sie und zog sich ihren Mantel an. »Das alles hätte nicht passieren dürfen, ist es aber.«

2. Kapitel

Olivia stöhnte, als das Telefon am Samstagmorgen zum fünften Mal klingelte. Zweifellos hatte sie diesen Anruf wie auch alle anderen zuvor Jack Griffins Zeitungsartikel zu verdanken, der heute Morgen erschienen war. Der neue Redakteur des Cedar Cove Chronicle hatte aus irgendeinem Grund einen Artikel über sie geschrieben – ein Editorial mit der fetten Überschrift »Scheidung verweigert«. Olivia seufzte. Diese unerwünschte Aufmerksamkeit ausgerechnet am Wochenende behagte ihr gar nicht.

»Hallo«, meldete sie sich bewusst unfreundlich und abweisend. Wenn auch dieser Anrufer unbedingt mit ihr über ihr Urteil diskutieren wollte, sollte er gleich wissen, dass sie dafür nicht in Stimmung war. Schon die vorherigen vier Anrufe hatte sie rasch abgewürgt.

»Hallo, Mutter.«

Justine! Welche Erleichterung. Olivia wartete schon die ganze Woche darauf, von ihrer Tochter zu hören. »Wie geht es dir?« Früher hatten sie regelmäßig telefoniert, aber das war vorbei. Justine war mit einem Mann verbandelt, der in Olivias Augen kein hohes Ansehen genoss, und das führte zu dauerhaften Spannungen zwischen Mutter und Tochter, weshalb Justine ihr aus dem Weg ging. Warren Saget war achtundvierzig Jahre alt und damit zwanzig Jahre älter als Justine. Obendrein stand der Bauunternehmer im Ruf, zwielichtige Geschäfte abzuwickeln. Der Altersunterschied zwischen den beiden störte Olivia weniger als der Mann selbst.

»Weißt du, dass du heute Morgen in der Zeitung stehst?«, fragte Justine.

Dafür hatten schon genug Leute gesorgt, und es würden mit Sicherheit noch mehr werden. Seit dem ersten Januar erschien der Cedar Cove Chronicle zweimal wöchentlich, und die heutige Ausgabe war die erste Samstagsausgabe. Vielleicht hätte Griffin es besser dabei belassen sollen, dass die Zeitung einmal wöchentlich erscheint, dachte Olivia verärgert, da er offenbar nicht genug echte Nachrichten für sein Blatt fand. Seine ganze Kolumne beschäftigte sich nur mit dem Tag, den er in ihrem Gerichtssaal damit verbracht hatte, sich ihre Urteile anzuhören. Zwar erwähnte er die Randalls nicht namentlich, aber er schrieb, dass ihr Urteil in diesem Fall weniger mit Gesetzesbüchern als mit dem Herzen zu tun hatte, und er lobte ausdrücklich ihre Entscheidung, nannte sie mutig und unkonventionell. Olivia hatte nichts dagegen, gelobt zu werden, aber sie hätte es vorgezogen, wenn diesem speziellen Fall nicht so viel Aufmerksamkeit zuteil geworden wäre. Während er ihr mehr oder weniger schmeichelte, hatte er verschiedene ihrer Berufskollegen mit weniger freundlichen Zeilen bedacht. Er schien Vorurteile gegen Anwälte und Richter zu haben und sich nicht zu scheuen, seine diesbezügliche Meinung zum Besten zu geben.

Es war reiner Zufall, dass Jack Griffin sich ausgerechnet an jenem Tag in den Gerichtssaal gesetzt hatte, in dem sie den Vorsitz führte. Ein unglücklicher Zufall, befand sie.

»Was ist geschehen?«, fragte Justine und unterbrach ihre Gedanken. »Ich meine, dass Jack Griffin nicht allzu viel Achtung vor dem Gesetz hat, ist offensichtlich, aber dich scheint er zu mögen.«

Olivia konnte die Belustigung in der Stimme ihrer Tochter hören. »Ich kenne den Mann nicht einmal«, wiegelte sie ab.

»Interessant. Ich dachte, du hättest mir etwas verschwiegen.«

»Verschwiegen? Was denn?«

»Dass du jemanden kennengelernt hast.«

»Ich bitte dich«, entgegnete Olivia stöhnend.

»Nun, er scheint sich jedenfalls zu deinem Fürsprecher aufgeschwungen zu haben. Vor allem in dieser Scheidungsangelegenheit.«

Sie war sich darüber im Klaren gewesen, dass ihre Entscheidung im Fall Randall riskant war. Ihre persönlichen Gefühle hatten am Richtertisch nichts zu suchen, aber sie war sich absolut sicher, dass diese beiden jungen Leute einen schrecklichen Fehler begingen, wenn sie ihre Scheidung durchzogen. Sie hatte ihnen nur ein Hindernis in den Weg gelegt, in der Hoffnung, sie damit zwingen zu können, sich mit ihren Problemen auseinanderzusetzen, statt davor wegzulaufen.

»Jack hat geschrieben, dass du keine Angst davor hattest, eine brisante Entscheidung zu treffen.«

»Ich habe seine Kolumne gelesen«, erklärte Olivia, um ihre Tochter davon abzuhalten, noch weiter daraus zu zitieren.

»Du weißt also Bescheid?«

»Leider ja«, sagte Olivia und seufzte. Dann versuchte sie schnell das Thema zu wechseln. »Hast du heute Nachmittag Zeit für ein gemeinsames Essen? Es ist Wochen her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben.« Justine hatte sie Weihnachten besucht, aber gleich nach dem Auspacken der Geschenke und dem Essen war sie wieder gegangen. Olivia hatte keine Ahnung, wie sie Silvester verbracht hatte. Das heißt, eigentlich wusste sie es schon, wünschte sich aber, sie wüsste es nicht. Ihre Tochter hatte die Nacht mit Warren Saget verbracht. »Deine Großmutter und ich treffen uns und würden uns freuen, wenn du ebenfalls kommen könntest.«

»Tut mir leid, Mom, aber Warren und ich haben bereits etwas anderes vor.«

»Oh.« Das hätte sie sich denken können. Warren nahm Justine ziemlich in Beschlag. Ihr blieb kaum freie Zeit für andere soziale Kontakte. Das betrübte und ärgerte Olivia, aber das Thema anzusprechen oder auch nur irgendetwas in dieser Richtung anzudeuten führte nur dazu, dass ihre Tochter auf Abwehr schaltete.

»Wir können uns bald mal treffen«, versprach Justine. »Ich muss jetzt los.«

Olivia wollte gerade vorschlagen, gleich einen Termin auszumachen, aber noch bevor sie etwas sagen konnte, hatte ihre Tochter bereits aufgelegt.

Schlecht gelaunt vervollständigte sie ihre Einkaufsliste und griff dann nach Jacke und Handtasche. Das Januarwetter war trübe und grau, dazu nieselte es leicht. Sie schloss die Haustür ab und eilte die Vordertreppe hinunter zu ihrem Auto. Olivia liebte ihr Haus in der Lighthouse Road. Von hier hatte sie einen herrlichen Ausblick aufs Wasser. Der Leuchtturm, nach dem die Straße benannt war, stand etwa drei Meilen entfernt auf einer Landzunge, in deren Schutz sich die Bucht erstreckte. Von ihrem Haus aus konnte man ihn jedoch leider nicht sehen.

Vor ihr lag ein straffes Programm. Sie musste Lebensmittel einkaufen, zur Reinigung und zur Stadtbücherei und hoffte, alles bis Mittag erledigt zu haben, denn dann wollte sie sich mit ihrer Mutter zum Essen treffen. Wie schön wäre es gewesen, wenn Justine sich zu ihnen gesellt hätte.

Sie holte ihre Sachen aus der Reinigung, brachte ihre ausgeliehenen Bücher zurück in die Stadtbücherei und fuhr dann weiter zum örtlichen Supermarkt, wo sie für gewöhnlich ihre Wocheneinkäufe erledigte. Wenigstens war sie früh genug dran, um dem üblichen Einkaufsgedränge am Samstagvormittag zu entgehen. Als Erstes wandte sie sich dem Gemüsestand zu. Ein Kopf Salat lachte sie an, aber sie fand den Preis übertrieben hoch. War er das wirklich wert?

»Richterin Lockhart. Ich habe nicht damit gerechnet, Ihnen hier zu begegnen.«

Olivia drehte sich um und sah sich ausgerechnet dem Mann gegenüber, der es geschafft hatte, ihr den Morgen zu verderben. Sie erkannte ihn aus dem Gerichtssaal wieder – das war der Mann, der in der ersten Reihe gesessen hatte, Notizblock und Stift in den Händen. »Sieh an, wenn das nicht Mr. Jack Griffin ist.«

»Ich glaube, wir sind einander noch nicht vorgestellt worden.«

»Glauben Sie mir, Mr. Griffin, nach der Zeitungslektüre von heute Morgen weiß ich, wer Sie sind.« Er war etwa in ihrem Alter, schätzte Olivia, Anfang fünfzig, und ungefähr genauso groß wie sie. Seine dunklen Haare zeigten die ersten Anzeichen grauer Strähnen. Sein Kinn war glatt rasiert und seine Gesichtszüge ebenmäßig. Sie hätte ihn nicht als übermäßig gut aussehend bezeichnet, aber er hatte etwas an sich, was sie äußerst attraktiv fand. Er lächelte gern, und sein Blick war offen und direkt. In seinem lose sitzenden Regenmantel wirkte er etwas schludrig, und ihr fiel auf, dass er darunter ein Freizeithemd trug und die obersten beiden Knöpfe nicht geschlossen hatte.

»Höre ich da leichten Tadel?«, fragte er und lächelte.

Olivia wusste nicht recht, wie sie darauf antworten sollte. Natürlich ärgerte sie sich über ihn, aber es wäre der ganzen Sache nicht gerade zuträglich, wenn sie ihn das spüren ließe. »Ich schätze, Sie haben einfach nur Ihre Arbeit gemacht«, murmelte sie und legte eine grüne Paprikaschote in ihren Einkaufswagen. Rubine kosteten weniger pro Kilo, aber sie liebte grünen Paprika und war der Meinung, sich einen Leckerbissen verdient zu haben. Erst recht nach diesem Morgen. Und grüner Paprika war allemal besser als Pekannuss-Sahne-Eis.

Sie wollte ihren Wagen weiterschieben, aber Jack hielt sie auf.

»Nebenan ist ein Café. Unterhalten wir uns ein wenig.«

Olivia schüttelte den Kopf. »Lieber nicht.«

Jack folgte ihr zu den frischen grünen Bohnen. »Vielleicht bilde ich mir das ja nur ein, aber mir scheint, Sie wollten nicht, dass dieses junge Paar die Scheidung durchzieht, oder?«

»Ich rede außerhalb des Gerichtssaals nicht über meine Fälle«, erklärte sie steif.

»Natürlich nicht«, erwiderte er verständnisvoll, ging aber weiter neben ihr her. »Das war etwas Persönliches, nicht wahr?«

Jetzt riss ihr der Geduldsfaden. Olivia drehte sich zu ihm um und funkelte ihn zornig an. Glaubte er wirklich, sie würde so etwas einem Reporter gegenüber zugeben? Damit er daraus einen Verstoß gegen die berufliche Ethik konstruieren konnte? Sie hatte nichts falsch gemacht. Sie hatte in bester Absicht entschieden und sich dabei an die Gesetze gehalten.

»Sie haben einen Sohn verloren, nicht wahr?«, fragte er weiter.

»Sammeln Sie für Ihren nächsten Artikel Informationen über mich?« Ihr Ton war kühl und abweisend.

»Nein. Und ich heiße Jack.« Er hob abwehrend beide Hände, als wollte er sie besänftigen, aber das hatte nicht die erhoffte Wirkung auf sie.

»Ich habe selbst beinahe meinen Sohn verloren«, fuhr er fort.

»Belästigen Sie generell gern Leute, die lieber in Ruhe gelassen werden möchten, oder bin ich ein besonderer Fall?«

»Sie sind ein besonderer Fall«, antwortete er, ohne zu zögern. »Ich wusste es in dem Moment, in dem Sie Ihr Urteil im Fall Randall verkündeten. Sie haben nämlich recht, wissen Sie. Jeder im Gerichtssaal konnte sehen, dass die beiden sich nicht scheiden lassen dürfen. Was Sie getan haben, war sehr mutig.«

»Wie schon gesagt, ich rede außerhalb des Gerichtssaals nicht über meine Fälle – mit niemandem.«

»Aber Sie könnten eine Tasse Kaffee mit mir trinken, oder?« Weder bettelte er, noch bedrängte er sie, aber er hatte etwas Gutmütiges an sich, das ihren Widerstand langsam schmelzen ließ. Obendrein besaß er offensichtlich Sinn für Humor und wirkte verschmitzt. Sie gab auf. Vermutlich konnte es nicht schaden, sich mit ihm zu unterhalten.

»Na schön.« Sie schaute in ihren Einkaufswagen und versuchte abzuschätzen, wie lange sie für ihre Einkäufe noch brauchen würde.

»Dreißig Minuten«, schlug er mit triumphierendem Grinsen vor. »Wir treffen uns im Café.«

Damit war alles geklärt, und er ging. Olivia konnte nicht anders, die Neugier hatte sie gepackt. Was hatte es mit diesem Mann und seiner Bemerkung, er habe fast seinen eigenen Sohn verloren, auf sich? Vielleicht hatten sie ja mehr miteinander gemein, als sie angenommen hatte.

Fünfundzwanzig Minuten später hatte sie ihre Einkäufe im Kofferraum ihres Autos verstaut und betrat das Java and Juice, das Café neben dem Supermarkt. Und richtig, Jack wartete bereits auf sie, die Hände um einen dampfenden Becher Latte Macchiato gelegt. Er saß an einem runden Tisch am Fenster und erhob sich, als sie näher kam. Es war nur eine kleine Geste, ein Hinweis auf gute Manieren und Respekt, aber sie verriet ihr mindestens genauso viel über ihn wie alles, was er bisher gesagt und getan hatte.

Sie setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber, und er winkte der Kellnerin, die sofort reagierte. Olivia bestellte sich einen Kaffee. Nur eine Minute später wurde ein dickwandiger Keramikbecher vor ihr abgestellt.

Jack wartete, bis die junge Kellnerin wieder gegangen war, bevor er etwas sagte. »Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass ich meine, was ich gesagt habe: Ich bewundere, was Sie letzte Woche getan haben. Das kann nicht leicht gewesen sein.« Olivia wollte ihn gerade noch einmal daran erinnern, dass sie mit niemandem über ihre Gerichtsfälle reden konnte, als er den Kopf schüttelte. »Ich weiß, ich weiß. Aber meiner Meinung nach war das ein mutiger Schritt, und das konnte ich nicht einfach übergehen.«

Olivia hätte es vorgezogen, wenn er seine Meinung nicht in der ganzen Stadt herumposaunt und zur Diskussion gestellt hätte. Aber egal, was sie nun sagte oder tat, der Artikel war bereits veröffentlicht worden.

»Wie lange leben Sie schon in Cedar Cove?«, fragte sie stattdessen.

»Seit drei Monaten. Versuchen Sie vorsätzlich von sich abzulenken?«

Olivia grinste. »Selbstverständlich. Also – Sie haben einen Sohn?«

»Eric. Er ist sechsundzwanzig und lebt in Seattle. Mit sechs Jahren wurde ein seltener Knochenkrebs bei ihm diagnostiziert. Niemand erwartete, dass er die Krankheit überleben würde …« Sein Gesicht verfinsterte sich bei dem Gedanken an diese Zeit.

»Aber er hat überlebt.«

Jack nickte. »Er lebt und ist gesund, und dafür bin ich zutiefst dankbar.« Eric arbeite für Microsoft, und er mache seine Sache ordentlich, erzählte er weiter.

Olivias Blick wanderte automatisch auf Jacks Ringfinger. Er hatte seinen Sohn erwähnt, aber nicht seine Frau.

Offensichtlich bemerkte er ihren raschen Blick. »Eric hat den Krebs überlebt«, erklärte er, »meine Ehe leider nicht.«

Also verstand er aufgrund persönlicher Erfahrung, was sich in ihrem eigenen Leben abgespielt hatte. »Das tut mir leid.«

Er zuckte lässig mit den Schultern. »Das ist lange her. Das Leben geht weiter. Sie sind ebenfalls geschieden?« Trotz seiner Frage war sie sich sicher, dass er die Antwort bereits kannte.

»Seit fünfzehn Jahren.«

Danach verlief ihre Unterhaltung flüssig und leicht, und ehe sie sich’s versah, musste sie zu ihrer Essensverabredung mit ihrer Mutter aufbrechen. Sie griff nach ihrer Handtasche, stand auf und streckte Jack die Hand entgegen.

»Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben.«

Er erhob sich ebenfalls und ergriff ihre Hand. »Ganz meinerseits, Olivia.« Kurz drückte er ihre Finger, als wollte er damit sagen, dass sie nun etwas miteinander verband. Als sie sich an diesem Tag zum ersten Mal begegnet waren – und auf jeden Fall vor dieser Begegnung –, war Olivia wütend auf ihn gewesen, aber Jack hatte es geschafft: Ihr Unmut über ihn war verflogen. Als sie das Café verließ, hatte sie das Gefühl, einen Freund gewonnen zu haben. Dennoch war ihr bewusst, dass Jack Griffin kein gewöhnlicher Mann war. Sie würde keinesfalls den Fehler machen, ihn zu unterschätzen.

Ian Randall saß in seinem Auto vor dem Wohnhaus, in dem das Apartment seiner Frau lag. Ihm graute vor dem, was ihn erwartete, denn seiner Befürchtung nach würde es wieder einmal zu einem Streit kommen. Die Richterin hatte eindeutig klargestellt, dass sie den Ehevertrag nicht annullieren würde. Was nun? Ihnen blieben ein paar Optionen, die weder ihm noch seiner Frau gefielen.

Cecilia war diejenige, die die Scheidung wollte. Sie hatte sich zuerst einen Anwalt gesucht. Sie hatte ihm diese dämliche Idee in den Kopf gesetzt, denn sie wollte nur noch raus. Na schön, sollte sie ihren Willen haben. Wenn sie nicht bei ihm bleiben wollte, sah er nicht ein, dass er um das Privileg, ihr Ehemann zu sein, kämpfen sollte. Aber jetzt hatte sich ihnen ein unerwartetes Hindernis in den Weg gestellt, und das nur, weil sie diesen Vertrag unterzeichnet hatten, der ihr Ehegelübde schützen sollte. Sie mussten eine Entscheidung treffen.

Noch länger zu warten war sinnlos, also stieg er aus dem Wagen, betrat das Gebäude und schlug den Weg zu der Wohnung im ersten Stock ein, in der sie einst gemeinsam gelebt hatten.

Es ärgerte ihn, dass er klingeln musste, obwohl das doch bis vor Kurzem noch sein Zuhause gewesen war. Nach ihrer Trennung hatte er eine Unterkunft auf dem Stützpunkt beziehen müssen. Zum Glück hatte sein Freund Andrew Lackey ihm gestattet, ein paar Dinge in seinem Haus zu lagern. Er drückte fest auf die Klingel und kämpfte dabei gegen seine Verbitterung an. Dann ließ er den Klingelknopf los, trat einen Schritt zurück und straffte die Schultern. Er drängte seine Emotionen in den Hintergrund, wie er das in der militärischen Grundausbildung gelernt hatte, denn er wollte Cecilia auf keinen Fall Einblick in seine Gedanken oder Gefühle geben.

Seine Frau öffnete die Tür und runzelte die Stirn, als sie sah, wer davorstand.

»Ich dachte, wir sollten eine Entscheidung treffen«, erklärte er entschlossen. Ganz gleich, wie oft er sich schon gesagt hatte, dass er nichts für sie empfinden sollte, er tat es doch. Er konnte nicht im selben Zimmer mit ihr sein und vergessen, wie es war, wenn sie sich liebten oder als er das erste Mal gespürt hatte, wie das Baby sich in ihrem Bauch bewegte. Genauso wenig konnte er vergessen, wie es sich angefühlt hatte, am Grab seiner Tochter zu stehen, nachdem er nie die Gelegenheit gehabt hatte, Allison in den Armen zu halten oder ihr zu sagen, wie lieb er sie hatte.

Cecilia hielt ihm die Tür auf. »In Ordnung.«

Das Zögern in ihrer Stimme war unüberhörbar.

Er folgte ihr in das kleine Wohnzimmer und ließ sich auf dem Sofa nieder. Sie hatten es kurz nach der Hochzeit gebraucht auf einem Garagenflohmarkt gekauft. Ian hatte Cecilia damals verboten, ihm beim Tragen zu helfen, denn sie war bereits im dritten Monat schwanger gewesen. Seine Sturheit hatte zur Folge, dass er sich heftige Rückenschmerzen eingehandelt hatte. Das alte Sofa war mit einer Menge schlechter Erinnerungen verknüpft, genauso wie seine kurzlebige Ehe.

Cecilia setzte sich ihm gegenüber, die Hände im Schoß gefaltet. Ihre Miene verriet nichts.

»Ich muss schon sagen, die Entscheidung der Richterin war ein ziemlicher Schock«, begann Ian.

»Mein Anwalt sagt, wir können Einspruch einlegen.«

»Ja, klar doch«, murmelte Ian, während in ihm der Zorn hochkochte. »Und unsere Anwaltsrechnungen um weitere fünf- oder sechshundert Dollar hochtreiben. Ich habe nicht so viel Geld übrig, um es zum Fenster hinauszuwerfen, und du auch nicht.«

»Du weißt nichts über meine finanziellen Verhältnisse«, fauchte Cecilia.

Und genau so begann jede Diskussion zwischen ihnen. Zuerst waren sie höflich, beinahe überhöflich, aber binnen Minuten begannen sie sich zu streiten, und schon gingen beide an die Decke. In letzter Zeit erreichten sie dieses Stadium irrationaler Wut äußerst schnell, genau genommen seit Allison Maries Geburt – und ihrem Tod. Ian seufzte. Hoffnungslosigkeit machte sich in ihm breit. So, wie es jetzt zwischen ihnen stand, konnte man kaum glauben, dass sie jemals miteinander geschlafen hatten.

Rasch verscheuchte er den Gedanken an ihr ehemals so leidenschaftliches Liebesleben. Im Bett waren sie sich eigentlich immer einig gewesen, aber das war, bevor …

»Wir könnten auch tun, was mein Anwalt vorgeschlagen hat.«

»Und das wäre?« Ian hatte nicht die Absicht, auf Allan Harris’ Rat zu hören. Der Mann vertrat die Interessen seiner Frau, nicht aber seine.

»Allan schlägt vor, dass wir der Empfehlung der Richterin folgen und eine Schlichtungsstelle anrufen.«

Ian fiel wieder ein, dass Richterin Lockhart so etwas erwähnt hatte und wie er selbst in dem Moment darauf reagiert hatte. »Und was genau soll das bewirken?«, fragte er, bemüht, vernünftig und versöhnlich zu klingen.

»Nun, das weiß ich auch nicht so genau, aber ich denke, wir könnten beide unsere Standpunkte einem unparteiischen Dritten vorlegen.«

»Was wird das kosten?«

»Geht es dir eigentlich immer nur ums Geld?«, fragte Cecilia.

»Stell dir vor: Ja.« Diese Scheidung hatte ihn jetzt schon ein Vermögen gekostet. Er war nicht derjenige, der sie unbedingt wollte, redete er sich starrsinnig ein. Sicher, nach Allisons Tod hatten sie sich ein paarmal gestritten, aber dass es einmal so weit kommen würde, damit hatte er nie gerechnet.

Cecilia hatte nie verstanden, wie das Ganze für ihn gewesen war, obwohl er unzählige Male versucht hatte, es ihr zu erklären. Er hatte ihr Familien-Telegramm erst erhalten, nachdem die Dienstfahrt des U-Boots beendet gewesen war. Sein befehlshabender Offizier hatte ihm die Nachricht von der Frühgeburt und dem Tod seiner Tochter verschwiegen, denn ein Flug nach Hause hatte sich zu dem Zeitpunkt nicht realisieren lassen, und eine Kontaktaufnahme mit Cecilia hatte ebenfalls außer Frage gestanden. Als Ian schließlich wieder auf dem Stützpunkt angekommen war, hatte er noch keine Chance gehabt, den Verlust seiner kleinen Tochter zu begreifen und zu verarbeiten.

Seine Frau warf ihm einen angewiderten Blick zu. »Hast du denn einen besseren Vorschlag?«, fragte sie in dem überheblichen Ton, der ihm immer tierisch auf die Nerven ging. Sie wusste, wie sehr er es hasste, wenn sie mit ihm redete wie mit einem Schuljungen.

»Stell dir vor, ja, habe ich«, sagte er und stand auf.

»Fein, schieß los, ich kann es kaum erwarten, ihn zu hören.« Damit verschränkte sie eingeschnappt die Arme vor der Brust.

»Ich schlage vor, dass wir einfach so weiterleben.«

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