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Zweier ohne

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Über sieben Jahre hinweg wächst die Freundschaft zwischen Johann und dem gleichaltrigen Ludwig. Bis wir Zwillinge sind, sagt Ludwig, denn nur so haben sie beim Ruder-Wettkampf im Zweier ohne gegen die echten Zwillinge aus Potsdam eine reelle Chance. Als Johann mit Ludwigs Schwester Vera schläft, versucht er es vor Ludwig zu verbergen. Der wird immer seltsamer. Statt zu fasten für den Wettkampf, beginnt er maßlos zu fressen. Er klettert auch immer häufiger hinauf zur Brücke, von der sich manchmal nachts die Selbstmörder stürzen ... Spannend und von einer lakonischen Poesie - ein kleines Kunstwerk!


  • Erscheinungstag: 05.06.2017
  • Seitenanzahl: 136
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312010547
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

In der Nacht, als das Mädchen vom Himmel fiel, wurde Ludwig mein Freund. Es war Sommer, ich lag wach und horchte, das Fenster stand offen. Es war zwei Uhr morgens. Ich sah das an dem Radiowecker, der auf dem Nachttisch stand, gelb beleuchtete Ziffern, die leise klapperten, wenn sie umsprangen. Ludwig schlief. Wenn kein Auto über die Brücke fuhr, hörte ich seinen Atem. Kam ein Auto, hörte ich erst ein schwaches Pfeifen aus der Ferne, dann ein Rauschen, lauter werdend, immer lauter, dann leiser, immer leiser. Nachts fuhren nicht viele Autos über die Brücke. Ich lauschte angestrengt auf das nächste Pfeifen, lieber ein Auto als Ludwigs Atem und das leise Klappern in der Stille. Vielleicht konnte ich deshalb nicht schlafen, vielleicht weil ich darüber nachdachte, ob Ludwig mein Freund sein könne. Ein Lastwagen zog über die Brücke, ein dunkles Pfeifen, ein kräftiges Rauschen, darunter das Dröhnen des Motors, bei Lastwagen hörte man immer den Motor, aber nur bei Lastwagen. Ich war nicht sicher, ob Ludwig zu mir passt. Dann fiel das Mädchen vom Himmel.

Nach der Schule waren wir zu Ludwig nach Hause gefahren. Er hatte mich eingeladen, zum ersten Mal. Wir fuhren bis zum Stauwehr, dann nahmen wir ein Schiff, obwohl man von unserem Städtchen bis zum Haus von Ludwigs Eltern nur eine Viertelstunde mit dem Fahrrad brauchte. Aber er bestand darauf, am Stauwehr auf das Schiff der Weißen Flotte zu steigen, die im Sommer einen kleinen Liniendienst unterhielt. Wir waren die einzigen Fahrgäste auf dem kleinen, weißen Schiff, das leise brummend durch das weite Tal glitt, rechts und links grüne Hänge, dazwischen Äcker, Pferdekoppeln und unter uns der Fluss, in dem wir nicht schwimmen durften. Direkt voraus lag die Brücke. Ich weiß bis heute nicht, wie viele Pfeiler sie hat, obwohl ich oft versucht habe, sie zu zählen. Ich fing links an, mein Blick wanderte von Pfeiler zu Pfeiler, und ich zählte zügig bis sechs, sieben, verlor dann aber die Gewissheit, welchen Pfeiler mein Auge als Nächstes erfassen müsse und, schlimmer noch, die Gewissheit, welchen Pfeiler ich zuletzt gezählt hatte. Ich begann von vorn, sechs, sieben, acht... Moment — wirklich acht, immer noch sieben oder doch schon neun? Es konnte einen fertig machen, es konnte einem sogar richtig schwindelig werden, weil man so angestrengt schaute. Ich versuchte es meistens von links, weil es von rechts noch schlimmer war. Ich kann nur sagen, dass es 15, 16 oder 17 Pfeiler waren, aus hellem Beton, stämmig und doch verstörend schmal, zu schmal für den Wind, für die großen Laster, für vier Spuren Autobahn, gebettet in grünen Stahl. Ich weiß auch nicht, wie hoch die Brücke ist, ich kenne keine genaue Zahl, obwohl wir uns viel damit beschäftigt haben. Hoch wie der Himmel, sagten wir als kleine Jungs, hoch wie der Mount Everest, höher als ein Wolkenkratzer. King Kong, sagten wir, müsste sich nicht bücken, wenn er auf der Jagd nach uns unter der Brücke hergehen würde. Die erste Zahl, die wir nannten, war tausend Meter, sie schrumpfte mit den Jahren. Bei fünfzig, sechzig Metern hörten wir auf. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Man kann so schlecht in den Himmel hinein schätzen. Hoch ist die Brücke, sehr hoch.

Zwei Wochen zuvor hatte ich Ludwig zum ersten Mal gesehen. In einer Deutschstunde ging plötzlich die Tür auf, der Rektor kam herein, hinter ihm ein blonder Junge. Der Rektor stellte ihn vor und sagte, Ludwig sei von größeren Geistern geschickt, um uns auf die Sprünge zu helfen. Wir grinsten, wir kannten das. Er sagte das immer, wenn ein Schüler vom Gymnasium der Nachbarstadt zu uns wechselte. Es stand im Ruf, besonders viel zu fordern, und alle, die zu uns kamen, waren dort gescheitert. Wie ließen sie spüren, dass sie einmal zu mehr Hoffnung Anlass gegeben hatten als wir selbst.

Als der Rektor Ludwig in unser Klassenzimmer brachte, regnete es. Wir lasen in der Bürgschaft, aber ich war nicht konzentriert, sondern betrachtete den Regen, den stärksten in diesem Sommer. Breit rann das Wasser die vier Fenster hinunter, man sah keine Tropfen, man sah vier Vorhänge aus Wasser, dahinter einen grünen Schimmer, die Kastanien im Hof. Vier senkrechte Seen, dachte ich, so klar, dass man die Algen auf dem Grund grün schimmern sieht. Ich wartete auf einen Fisch. Die Klinke an der Tür sprang nach unten, und wir wussten sofort, dass der Rektor kommt, weil nur er der Klinke einen solchen Hieb versetzte, dass sie wie erschrocken nach unten sprang.

Wir waren es gewöhnt, dass unsere neuen Mitschüler verlegen neben dem Rektor standen, mit roten Köpfen, manchmal mit nassen Augen, die Blicke auf den Boden gesenkt. Eine Hand des Rektors lag auf einer Schulter der Unglücklichen und das sah aus, als drücke er sie zu Boden. Er war ein schwerer Mann.

Ludwig grinste. Ich vergaß den Regen. Der Rektor sprach von den größeren Geistern, und Ludwig grinste immer noch. Hallo, kleine Geister, sagte er und lachte. Er lachte laut und fröhlich und lang. Wir rührten uns nicht. Wir hörten den Regen und Ludwigs Lachen. Wir hatten die Angst, die man hat, wenn andere etwas Verbotenes tun, aber die Strafe alle treffen wird.

Ludwig war so groß wie ich, das heißt mittelgroß. Er hatte einen enormen Kopf, das fiel auf, aber man wusste nicht, ob der Kopf groß war oder nur groß schien, weil die Haare darauf so dicht waren. Blondes Haar, fast weiß, eine Spur zu weiß, fand ich, fast so weiß wie bei dem Kaninchen meiner Cousine. Ludwigs Haar hing über die Ohren und war wirklich sehr dicht. Er sah aus, als habe er eine Mütze auf, wie sie die Russen tragen, mit Klappen über den Ohren. Aber die Mützen der Russen sind dunkel, Ludwigs Mütze war weiß. Ein rundes Gesicht, eine etwas platte Nase, dünne Lippen, kaum Augenbrauen, aber vielleicht waren sie auch zu hell, um auf seiner hellen Haut sichtbar zu sein.

Er lachte immer noch. Er stand ein wenig schief, wie alle, die der Rektor zu uns brachte. Seine Hand musste ganz schön schwer auf Ludwigs Schulter liegen. Ich sah erst jetzt, dass Ludwig tropfte. Er hatte seine Regenjacke nicht ausgezogen, eine dünne Jacke, wie wir sie alle trugen, mit Kapuze. Seine war rot. Weil er so lachte und sich schüttelte, sprangen die Tropfen wild von der Jacke. Ich sah einen Tropfen auf dem schwarzen Schuh des Rektors landen. Meine Angst wuchs. Ludwig stand in einer Wasserlache, der Rektor sah auf seine Schuhe. Plötzlich nahm er die Hand von Ludwigs Schulter, eilte zur Tür, hieb auf die Klinke und verschwand. Wir brauchten eine ganze Weile, bis wir wieder atmeten.

Der Deutschlehrer schickte Ludwig auf den freien Platz in der zweiten Reihe. Wir lasen wieder in der Bürgschaft, es war stiller als zuvor.

Damals brauchte ich dringend einen Freund. Ein Freund war alles in jener Zeit. Etwas mit den Eltern zu unternehmen war unwürdig geworden, allein sein hatte noch nicht den Reiz, den es heute für mich hat. Was man nicht mitteilen konnte, war nicht. Es gab uns nur im Spiegel von anderen. Die Länge der Telefonliste, die wir alle in einem Notizbuch führten, entschied über die Bedeutung unseres Daseins. Wir fragten jeden, den wir trafen, nach seiner Telefonnummer und gaben unsere eilfertig her. Dann warteten wir auf Anrufe. Es war besser, angerufen zu werden als anzurufen. In dieser Falle saßen wir alle. Gemessen an unseren Telefonlisten war es sehr ruhig bei uns zu Hause. Wir warteten. Am Abend zählten wir die Anrufe. Je häufiger man von seinen Erlebnissen berichten konnte, desto wirklicher war das, was man erlebt hatte. Wir wollten uns vervielfältigen, um jemand sein zu können.

Vielleicht sollte ich nur von mir sprechen. Ich weiß nicht, ob es bei den anderen auch so war mit den Anrufen. Damals war ich davon überzeugt, weil es sonst so schwer auszuhalten gewesen wäre, nehme ich an. Ein Freund war jemand, den man dreimal hintereinander anrufen konnte, eigentlich nach jedem Gedanken, nach jeder Fahrt um den Block mit dem Fahrrad. Nur ein Freund konnte einem ununterbrochen das Gefühl geben, da zu sein. Und wie herrlich es sein musste, dreimal hintereinander angerufen zu werden. Ich sehnte mich danach. Irgendwie war es mir bis dahin nicht gelungen, einen Freund zu finden. Ich fuhr viel mit dem Fahrrad um den Block und wenn ich zurück war, fragte ich meine Mutter, ob jemand angerufen habe. Sie schüttelte den Kopf. Ich trat einem Ruderverein bei, ich mochte den Fluss. Schwimmen ging ja nicht.

Pfeifen, Rauschen. Nachts wurde sehr schnell gefahren. Ludwig war gegen halb zwölf eingeschlafen. Seitdem lag ich stumm auf seiner Luftmatratze. Ich dachte an das, was geschehen war, an meinen ersten Tag mit ihm. Das Haus seiner Eltern stand direkt unter der Brücke, vielleicht nicht wirklich direkt, vielleicht zehn Meter versetzt. Es stand beim letzten der großen Pfeiler, danach kamen noch zwei kürzere, weil dort die Talwände anstiegen. Vom Anleger bis zum Haus brauchten wir zwei Minuten. Wir lehnten die Fahrräder an den Zaun, ich starrte hinauf. Ich hatte oft hinaufgestarrt, den Kopf weit in den Nacken gelegt, aber jetzt schaute ich mit dem Gedanken, dass es Menschen gibt, die direkt unter einer solchen Brücke leben, und ich kannte einen, Ludwig. Hundert Meter, die höchste Brücke der Welt, sagte Ludwig, als er das Gartentor öffnete. Weißt du, sagte er, dass in dem Pfeiler einer drin ist? Er zeigte auf den Pfeiler, der beim Haus seiner Eltern stand. Ein Arbeiter, er ist in den Beton gefallen, als er gerade hart wurde. Da konnten sie ihn nicht mehr rausziehen. Jetzt ist er da drin für immer. Ludwig grinste. Ich kannte die Geschichte, dachte aber, dass der Pfeiler mit dem Arbeiter drin auf der anderen Seite des Flusses steht. So hatte man es mir erzählt. Komisch, oder, sagte Ludwig, wenn man denkt, dass einer da drin steckt, ist doch, als würde der Pfeiler irgendwie leben, weil ja einer drin ist, ein Mensch. Aber der ist tot, sagte ich schnell. Ludwig zuckte mit den Schultern.

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