×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Zeugin am Abgrund«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Zeugin am Abgrund« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Zeugin am Abgrund

hier erhältlich:

Lauren hat einen kaltblütigen Mord beobachtet, und als einzige Zeugin ist ihre Aussage von unschätzbarem Wert. Aber bis zur Verhandlung, die den Mafiaboss Giovessi für immer hinter Gitter bringen soll, vergehen noch Monate, in denen Lauren sich in größter Lebensgefahr befindet, mundtot gemacht zu werden. Man betraut FBI-Agent Sam Rawlins persönlich mit ihrer Sicherheit, und er fliegt sie aus - doch die Mafia ist schneller. Über den verschneiten Rocky Mountains stürzt das sabotierte Flugzeug ab. Für Sam und Lauren beginnt ein verzweifelter Kampf ums Überleben und eine dramatische Flucht vor Giovessis Schergen.


  • Erscheinungstag: 10.12.2012
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955761844
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Ginna Gray

Zeugin am Abgrund

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Witness

Copyright © 2002 by Ginna Gray

Erschienen bei: Mira Books, Toronto

Übersetzt von Ralph Sander

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B. V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Claudia Wuttke

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz/

Mauritius GmbH, Mittenwald

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-184-4

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

1. KAPITEL

Zwei Schüsse, die in unmittelbarer Nähe der Tür abgefeuert wurden, ließen Lauren Brownley den Kopf hochreißen.

Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Gesicht war kreidebleich. Bislang hatte sie Schüsse nur im Fernsehen oder im Kino gehört, aber sie erkannte das Geräusch sofort, und sie fühlte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief.

Ihr erster Gedanke galt der Flucht. Sie drehte den Wasserhahn zu und sah sich nach einer Möglichkeit um, aus der Damentoilette zu entkommen. Aber von dem hoch oben eingebauten Fenster abgesehen, das zur Gasse hinter dem Gebäude hin lag, gab es keinen Fluchtweg.

Vorn in der Lounge schrie jemand vor Schmerzen auf. Lauren fühlte, wie sich ihr die Haare sträubten. Sie starrte auf die Tür und umklammerte mit nassen Händen den Unterschrank hinter ihr. Es war nach Ladenschluss. Von ihrem Boss Carlo Giovessi abgesehen, der sich vor zehn Minuten in sein Büro zurückgezogen hatte, sollte der Club Classico eigentlich leer sein.

Großer Gott, war er etwa einem Einbrecher über den Weg gelaufen? Wenn ja, wer hatte dann den Schuss abgegeben?

Nachdem sie sich noch einmal in aller Eile umgesehen hatte, schluckte Lauren und schlich auf dem gefliesten Boden leise bis zur Tür. Sie wollte sie öffnen, zog aber im letzten Moment die Hand zurück. Ihr Herz raste, als ihr bewusst wurde, welchen Fehler sie um ein Haar begangen hätte. Wenn der Einbrecher noch immer da draußen war und eine Waffe hatte, dann wollte sie ihn ganz sicher nicht auf sich aufmerksam machen.

Als das Stöhnen draußen in der Lounge auf einmal lauter wurde, machte sie das Licht aus. Sie wartete einen Moment in der Dunkelheit, presste die Lippen aufeinander und öffnete dann vorsichtig die Tür einen Spaltbreit.

Lauren hielt den Atem an. Sie sah drei Männer, die auf der Tanzfläche in der Nähe des Klaviers standen. Zwei von ihnen war sie im Club gelegentlich begegnet, ohne zu wissen, um wen es sich handelte. Der dritte Mann -- der die Waffe in der Hand hielt -- war Carlo.

Vor ihm auf dem Boden kauerte ein weiterer Mann, der mit beiden Händen seine blutigen Beine festhielt. Lauren musste fast würgen, als ihr klar wurde, dass man ihm offenbar beide Kniescheiben zerschossen hatte.

Der Mann rollte laut stöhnend zur Seite, so dass sie sein Gesicht sehen konnte. Überrascht erkannte sie, dass es sich um Frank Pappano handelte!

Als sie vor zwei Monaten zum ersten Mal in der Lounge Klavier gespielt hatte, war Frank ihr als ein Geschäftspartner von Carlo vorgestellt worden. Seitdem hatte sie ihn oft im Club gesehen, ohne ihn näher kennen zu lernen -- nicht dass sie das überhaupt gewollt hätte.

Frank war deutlich jünger als Carlo, etwa Mitte dreißig, und zumindest dann attraktiv, wenn man auf dunkle Typen stand. Er hatte einige Male versucht, mit ihr zu flirten, aber sie hatte so getan, als würde sie es nicht bemerken. Frank hatte etwas Kaltes und Seelenloses an sich, was ihr eine Gänsehaut bereitete.

Trotzdem hatte er es nicht verdient, angeschossen zu werden. Sie konnte nicht fassen, dass Carlo so etwas getan hatte.

Lauren ließ den Kopf gegen den Türrahmen sinken und schloss die Augen. O Gott, wie dumm sie doch gewesen war. Sie hatte in den Zeitungen die Anschuldigungen gelesen, sie wusste, was die Leute redeten, und seit sie im Club Classico arbeitete, hatte sie immer wieder die zwielichtigen Gestalten bemerkt, die in Carlos Büro ein und aus gingen. Aber sie hatte vor allem die Augen verschlossen. Ich habe den Kopf in den Sand gesteckt, dachte sie voller Abscheu über ihr eigenes Verhalten.

Tief in ihrem Inneren hatte sie durchaus ein gewisses Unbehagen gespürt, aber sie hatte sich geweigert, diesem Gefühl auf den Grund zu gehen. Nach allem, was Carlo für sie getan hatte, kam sie sich wie eine Verräterin vor, wenn sie dieses Misstrauen verspürte.

Sieh dir doch an, wohin dich dein Wegsehen gebracht hat!

O Gott, sie konnte es nicht fassen.

“Du hast auf mich geschossen! Jesus Christus, Carlo! Warum denn bloß? Ahhhh, verdammt, meine Knie! Meine Knie!”

Carlo Giovessis weiße Strähne und das markante Gesicht verliehen ihm das Erscheinungsbild eines würdevollen Patriarchen, sogar dann, wenn er sich amüsierte, was sein schwaches Lächeln noch beängstigender wirken ließ. “Spiel keine Spielchen mit mir, Frank. Du weißt genau, warum. Du hast mich bestohlen, und das kann ich nicht durchgehen lassen.”

Ohne den Blick von Frank zu nehmen, schnippte Carlo mit den Fingern. Einer der anderen Männer reichte ihm ein quadratisches, in Plastikfolie gewickeltes Päckchen. Er öffnete es, griff hinein und ließ weißes Pulver auf Frank herabrieseln. “Diese letzte Lieferung, die du für mich abgeholt hast, besteht fast nur aus Puderzucker.” Er wog das Päckchen spielerisch in der Hand und schürzte die Lippen. “Zu schade, dass du gierig geworden bist. Es hätte vielleicht geklappt, wenn du es nicht so übertrieben hättest. Das war dumm von dir, Frank.”

Seine Miene änderte sich schlagartig, und er trat mit Wucht gegen Franks Bein. Der Schrei, den Frank ausstieß, sorgte dafür, dass sich Laurens Nackenhaare abermals sträubten.

“Du kleiner Dreckskerl”, zischte Carlo. “Hast du wirklich geglaubt, du könntest dir die Hälfte von meinem Kokain unter den Nagel reißen, ohne dass ich das merke?”

“Nein, Carlo, ich habe nichts gestreckt! Ich schwöre es bei Gott, Mann! Es … es muss einer von diesen verdammten Lieferanten gemacht haben! Das sind diejenigen, die dich bescheißen. Nicht ich. Du weißt doch, dass ich das niemals machen würde! Ahhhh, Jesus, meine Knie!”

“Ich bin bald mit meiner Geduld am Ende, Frank. Und deine Zeit ist auch bald abgelaufen.”

Auch in dem dämmerigen Licht konnte Lauren sehen, dass Franks Gesicht schneeweiß war.

“Ich tue dir einen Gefallen. Du weißt, dass ich mir mit solchen Dingen nicht mehr die Finger schmutzig mache. Aber das hier … das ist etwas Persönliches. Deinetwegen habe ich beschlossen, es selbst zu erledigen. So viel bin ich dir schuldig.”

Frank hörte auf zu stöhnen und begann um Gnade zu wimmern. “Jesus, Carlo, es tut mir Leid. Es tut mir Leid, Mann. Bitte. Bring mich bitte nicht um.”

“Du hast viele Jahre für mich gearbeitet, Frank. Ich habe dich von der Straße geholt, als du noch ein Kind warst. Ich habe dich ausgebildet. Jesus Christus, ich habe dich wie einen Sohn behandelt, du verdammter Drecksack.”

“Bitte, Carlo, töte mich nicht. Bitte! Bitte, Mann! Ich flehe dich an! Es wird nie wieder vorkommen! Ich schwöre es bei Gott! Ich werde alles für dich tun, alles. Aber bring mich bitte nicht um!” Er wälzte sich auf dem Boden und umklammerte seine Knie. Sein schmerzverzerrtes Gesicht war schweißnass. “O mein Gott, o mein Gott!”

“Hör schon auf, Frank. Du warst bereits ein toter Mann, als du mich zum ersten Mal bestohlen hast. Die Frage ist jetzt nur, wann und wie du sterben wirst. Du hast es selbst in der Hand. Wenn du mir sagst, wo mein Eigentum ist, mache ich mit dir kurzen Prozess. Wenn du Zeit schinden willst, dann wirst du mich schon bald anflehen, damit ich deinem jämmerlichen Leben ein Ende setze.”

“O Mann, hör doch bitte mal zu …”

“Du hast nur diese beiden Möglichkeiten, Franco”, sagte Carlo mit Eiseskälte. “Und ich warne dich. Wenn du mich anlügst, werde ich deine Familie auch umbringen. Das möchte ich wirklich nicht. Du weißt ja, wie sehr mir Maria und Frank und Mario, deine Kleinen, am Herzen liegen. Es ist immer eine hässliche Sache, Frauen und Kinder zu töten, aber du weißt, dass ich nie leere Drohungen mache.”

Er beugte sich vor und lächelte. “Wenn du also nicht willst, dass deiner hübschen kleinen Frau und deinen beiden Söhnen etwas zustößt, dann solltest du mit der Wahrheit herausrücken. Also, Frank, du hast drei Sekunden. Entweder sagst du mir, wo mein Eigentum ist, oder die nächste Kugel zerfetzt dir deine Eier.”

Lauren sah ungläubig und voller Entsetzen mit an, was sich vor ihren Augen abspielte. Frank zitterte und murmelte etwas, bekreuzigte sich und holte dann tief Luft. “Es ist … in einem Lagerhaus … Patton und East Third.”

Er hatte kaum ausgesprochen, als ein weiterer Schuss durch den Club peitschte und ein hässliches Loch in seine Stirn riss.

Obwohl Lauren gewusst hatte, dass der Schuss fallen würde, zuckte sie zusammen und schnappte nach Luft, noch bevor sie ihre Hände auf den Mund hatte pressen können.

Frank zuckte noch einmal, dann sackte er auf dem Boden zusammen. Wie erstarrt sah Lauren auf den Toten und spürte, wie sie von dem Drang erfüllt wurde, sich zu übergeben. Aus dem abscheulichen Loch in der Stirn quoll Blut.

“Was war das?” Carlo sah sich in der Lounge um, bis sein Blick erst an der Tür zur Herrentoilette, dann am Eingang zur Damentoilette hängen blieb.

Lauren machte einen Schritt nach hinten in die Dunkelheit, während das Entsetzen sie packte. Sie war soeben Zeugin eines kaltblütigen Mordes geworden! Sie musste hier raus! Und zwar sofort, bevor sie sie fanden.

Sie sah zum Fenster, durch das der schwache Schein einer Straßenlampe am Ende der Gasse drang. Selbst wenn sie es schaffen sollte, durch dieses Fenster zu klettern, würde sie nicht schnell genug sein, um Carlo und dessen Leuten zu entkommen. Panik stieg in ihr auf, aber sie kämpfte dagegen an. Es musste einen Ausweg geben. Denk nach, ermahnte sie sich. Denk nach!

“Was war was? Ich hab nichts gehört, Boss.”

“Standen noch irgendwelche Wagen auf dem Parkplatz, als ihr hergekommen seid?”

“Keine Ahnung. Ich und Tony, wir haben Frank durch den Hintereingang reingebracht, so wie Sie es uns gesagt haben.”

“Dann geh raus und sieh nach. Und du, Tony, überprüfst die Toiletten. Ich durchsuche den Club.”

O Gott, o Gott! Lauren stand händeringend da und sah zu den Toilettenkabinen, verwarf aber den Gedanken, sich darin zu verstecken. Dort würden Carlos Handlanger zuerst nachsehen.

Ein Knall von der gegenüberliegenden Wand ließ sie einen Satz machen. Das Geräusch wiederholte sich Sekunden später, und Lauren erkannte, dass sie Recht gehabt hatte. Dieser Tony sah sich in der Herrentoilette um und trat eine Tür nach der anderen auf!

Sie zögerte nur eine Sekunde lang, ehe sie zum Fenster rannte. Sie streckte sich, um an den Griff zu kommen und es aufzuziehen, dann eilte sie zurück zum Waschbecken, nahm ihre Handtasche und machte die Tür des Unterschranks auf, in dem Handtücher, Toilettenpapier und Reinigungsmittel untergebracht waren, hob ihr langes Abendkleid an und zwängte sich in den Schrank. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh darüber, dass sie so zierlich gebaut war.

Sie hatte gerade eben die Tür hinter sich zugezogen, als Carlos Killer die Damentoilette betrat.

Er schaltete das Licht ein, das von den glänzenden Fliesen reflektiert wurde. Ein dünner Lichtstreifen drang durch eine Ritze an der Schranktür in Laurens Versteck. Sie hielt den Atem an und machte sich noch kleiner. Durch den winzigen Spalt sah sie den Mann, den Carlo Tony genannt hatte. Mit vorgehaltener Waffe schlich er in den Raum.

Seine geschmeidigen Bewegungen und sein kalter, stechender Blick erinnerten sie an eine Schlange.

Ihr Herz schlug so heftig, dass Lauren fürchtete, er würde es hören, aber er ging an dem Unterschrank vorbei und geriet aus ihrem Blickfeld. Einen Moment später wurde die erste Toilettentür aufgetreten, dann die zweite und die dritte. Sie presste die Lippen zusammen, um nicht zu schluchzen, während sie bei jedem Knall zusammenzuckte.

“Was gefunden, Tony?”

“Nein, Mr. Giovessi, nichts.” Der bösartig dreinblickende Mann kam wieder zurück, so dass sie ihn sehen konnte. “Wenn jemand hier war, dann ist er aus dem Fenster geklettert. Das steht offen.”

“Verdammt!”

Laurens Herzschlag setzte fast aus, als Carlo in der Tür erschien. Er sah zum offenen Fenster, dann machte er mit seiner Waffe eine Bewegung. “Geh nach draußen und sieh nach, wo Leo abgeblieben ist.”

“Bin schon hier, Boss. Draußen steht nur ein Wagen, ein roter Lexus.”

“Das ist Laurens Wagen.”

“Die schicke Kleine, die Klavier spielt?”

“Ja, ja. Ich dachte, sie wäre vor einer Viertelstunde gegangen. Offenbar ist sie noch mal reingekommen und zur Toilette gegangen.” Carlo seufzte. “Eine Schande. So ein Talent ist unbezahlbar.”

“Was sollen wir machen, Boss?”

“Erst mal schafft ihr Frank hier raus. Und macht sauber. Wenn ihr damit fertig seid, dann kümmert ihr euch um den Wagen von Miss Brownley. Tony, du siehst dich in ihrem Apartment um. Sie ist Hals über Kopf getürmt. Ein verängstigter Hase versteckt sich üblicherweise in seinem Bau. Wahrscheinlich wird sie nach Hause gehen und ein paar Sachen einpacken, um dann unterzutauchen. Wenn sie wieder klar denken kann, wird sie wahrscheinlich die Cops informieren. Ich will, dass du sie vorher findest.”

“Und was soll ich mit ihr machen, Boss?”

Carlo sah den Mann einen Moment lang an. “Leg sie um.”

Lauren presste eine Hand auf ihren Mund und versuchte sich noch tiefer in ihr Versteck zurückzuziehen.

Lange, nachdem das Licht ausgegangen war und die Stimmen der Männer nicht mehr zu hören waren, saß Lauren noch immer in dem Unterschrank. Sie zitterte von Kopf bis Fuß. Dunkelheit und Stille umgaben sie. Die einzigen Geräusche waren ihr rau klingender Atem und das wilde Pochen ihres Herzens.

Sie strengte ihre Ohren an, um zu hören, ob sich noch jemand im Club aufhielt, aber das leise Brummen der Heizung war alles, was sie wahrnehmen konnte. Trotzdem kam sie nicht heraus. Es konnte ein Falle sein. Carlo saß vielleicht irgendwo da draußen in der dunklen Lounge und wartete darauf, dass sie auftauchte.

Nach einiger Zeit begann die unbequeme Haltung, in der sie sich befand, die Hysterie zu überwinden. Sie spürte jeden einzelnen Knochen, und außerdem war ihr eiskalt, obwohl die Heizung nach wie vor lief.

Lauren runzelte die Stirn und überlegte, was sie machen konnte, bis ihr auffiel, dass Carlo und seine Männer vergessen hatten, das Fenster zu schließen.

Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu diesem Fenster zurück, das als Fluchtweg so verlockend war. Die Öffnung war zwar klein, doch sie war sicher, dass sie sich hindurchzwängen konnte.

Aber wenn Carlo oder einer seiner Leute noch immer in der Lounge waren, würde man sie hören. Sie biss sich auf die Unterlippe und dachte nach. Sie konnte auch nicht einfach hier bleiben.

Nach einigen Augenblicken fasste sie sich ein Herz und öffnete langsam die Schranktür.

Es war äußerst mühsam, sich aus der Position zu lösen, in der sie im Unterschrank gekauert hatte, aber schließlich schaffte sie es, ihn zu verlassen. Einen Moment lang lag sie auf den kalten Fliesen, und erst beim dritten Anlauf gelang es ihr, sich aufzurichten. Jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte, und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzustöhnen. Sie humpelte ein paar Mal hin und her, um sich zu strecken und zu dehnen.

Als der Schmerz einigermaßen erträglich war, sah sie sich in der fast völligen Dunkelheit nach etwas um, auf das sie steigen konnte, um das Fenster zu erreichen. Das Einzige, was sie entdeckte, war der Abfalleimer neben dem Waschbecken. Er reichte ihr bis zur Hüfte, war aus Metall und so schwer, dass sie ihn nicht heben konnte. Sie kippte ihn leicht an, um ihn drehend bis zum Fenster zu bringen.

Alle paar Sekunden sah sie sich zur Tür um, dann stieg sie auf den Abfalleimer und klammerte sich am Fenstersims fest. Als sie ein Bein über den Sims geschoben hatte, verlor sie einen Schuh, außerdem kippte der Eimer unter ihr weg. Der Lärm, den er dabei verursachte, ließ die Katzen in der Gasse aufgeschreckt davonlaufen, während Laurens Adrenalinspiegel sprunghaft anstieg.

Sie schob sich wie ein Aal durch die schmale Öffnung und landete auf allen vieren auf dem Straßenbelag, wobei sie sich die Handflächen und ein Knie aufscheuerte. Sie nahm aber weder den Schmerz wahr, noch nahm sie sich die Zeit, nach dem Schuh zu suchen. Die Tonne rollte noch immer durch die Toilette, als sie bereits das lange Kleid gerafft hatte und durch die Gasse davonrannte.

2. KAPITEL

Special Agent Sam Grey Wolf Rawlins wusste, dass sich etwas Großes zusammenbraute, als er das Office des Senior Agent betrat, der das Büro des FBI in Denver leitete und der meist nur kurz und prägnant als SAC bezeichnet wurde, also als Senior Agent in Charge.

Harvey Weiss saß an seinem Schreibtisch und machte einen nervösen Eindruck, während Sams direkter Vorgesetzter Charley Potter vor dem Fenster auf und ab ging. Beide Männer zogen gierig an ihrer Zigarette, und das Gleiche galt für Todd Berenger, David Owens und Roy O’Connor, die drei Agenten, die im Halbkreis vor Harveys Schreibtisch Platz genommen hatten. Bläuliche Rauchschwaden erfüllten den Raum.

“Hat hier eigentlich noch niemand was von Lungenkrebs gehört?”

Harvey warf ihm einen finsteren Blick zu. “Wird Zeit, dass Sie hier auftauchen, Rawlins. Wo zum Teufel haben Sie gesteckt?”

“Die letzte halbe Stunde habe ich hinter einem Schneepflug zugebracht. Falls Sie es noch nicht bemerkt haben: Der Sturm hat Denver in den letzten Stunden fast einen halben Meter Schnee beschert.”

“Wenn Sie nicht in diesem Cañon mitten im Nichts leben würden, dann könnten Sie in solchen Situationen schneller einsatzbereit sein.” Harvey betrachtete Sams Jeans, Stetson und die abgewetzten Cowboystiefel und verzog missbilligend die Mundwinkel.

Sam ignorierte die Bemerkung und den Blick. Wenn es Harvey nicht gefiel, wo er wohnte, dann war das sein Problem. Er brauchte Platz, um atmen zu können. In der Großstadt hätte er es nicht länger als einen Tag ausgehalten. Außerdem wäre er schön dumm, wenn er in die Stadt ziehen würde, nur damit Harvey vor seinem Chef gut dastand.

Der SAC deutete auf den vierten Stuhl vor seinem Schreibtisch. “Wir vergeuden wertvolle Zeit. Setzen Sie sich.”

Sam zog seinen Parka aus und hängte ihn zusammen mit seinem Stetson an die Garderobe. “Danke, aber ich bleibe stehen, die Luft ist hier besser.” Er lehnte sich gegen den Türrahmen und sah zu, wie Harvey mit der Kippe der letzten gerade eine neue Zigarette anzündete.

Harvey blinzelte ihm durch die Rauchwolke zu, als er ausatmete. “Ihr Nichtraucher seid verdammte Nervensägen. Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie sich so aufregen, schließlich haben die Indianer die Weißen überhaupt erst mit Tabak vertraut gemacht.”

“Ja, meine Leute nennen das die Rache des roten Mannes.”

Roy und Dave begannen zu kichern, verstummten aber sofort, als sie Harveys Blick bemerkten.

Der Mann ließ keine Gelegenheit aus, um eine Bemerkung über Sams indianische Abstammung zu machen. Auch wenn Sam nie das Gefühl hatte, wirklich zu einer der beiden Welten zu gehören, war er trotz allem stolz auf seine indianischen und weißen Vorfahren. Harveys Engstirnigkeit schmerzte ihn, aber Sam zeigte nie, wie sehr er sie verabscheute.

“Sehr witzig, Rawlins, Sie sind ein richtiger Komiker. Könnten wir dann wieder zur Sache kommen?”

Sam verschränkte die Arme und sah ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken. “Sicher. Ich hoffe nur, dass die Aktion gerechtfertigt ist. Es ist drei Uhr nachts, und ich habe mir fast den Hintern abgefroren, um herzukommen.”

Zorn machte sich auf Harveys Gesicht bemerkbar, doch bevor er etwas erwidern konnte, mischte sich Agent Berringer ein.

“Was ist denn los, Kumpel? Ist deine Autoheizung schon wieder verreckt?”

Ein flüchtiges Lächeln huschte über Sams Lippen. Todd hatte seinen Beruf verfehlt, er war der geborene Friedensstifter. Die Frage war unübersehbar darauf ausgerichtet, die gereizte Stimmung zu mildern. “Nicht schon wieder. Immer noch.”

“Was denn? Ich hab Ihnen vor Wochen gesagt, Sie sollen einen Antrag einreichen, damit das repariert wird”, brummte Charley.

“Habe ich gemacht. Dreimal sogar.” Sam sah zu Harvey. “Aus irgendeinem Grund gehen alle meine Anträge verloren.”

“Verdammt, können wir endlich damit aufhören und uns unserer Arbeit widmen?”

“Klar, schießen Sie los.”

“Vor einer Stunde haben wir einen Anruf vom Police Department in Denver erhalten. Sie haben eine Frau in Schutzhaft genommen, die behauptet gesehen zu haben, wie Carlo Giovessi Frank Pappano umgebracht hat.”

Die drei Agenten, die vor dem Schreibtisch saßen, horchten auf, während Sam keine Miene verzog.

“Wirklich?” Dave, der Jüngste aus der Gruppe, lehnte sich nach vorne, da er zu aufgeregt war, um still sitzen zu können. Fast hätte man meinen können, dass sein rotes Haar noch mehr leuchtete als sonst.

“Nicht nur das. Ihre Darstellung bringt Giovessi sogar eindeutig mit Drogenhandel in Verbindung.” Harvey zog an seiner Zigarette und lehnte sich so zufrieden zurück, als hätte er persönlich dem Mafiaboss das Handwerk gelegt.

“Warum sollte Carlo einen von seinen eigenen Leuten umlegen?” fragte Todd.

“Tja, es sieht so aus, als hätte sich Frankie-Boy am Warenbestand seines Bosses vergriffen. Carlo hat das gar nicht gefallen.”

“Kann ich mir vorstellen.”

Dave stieß einen Freudenschrei aus. “Mann, das ist ja großartig! Jetzt haben wir den Bastard endlich!”

“Ja”, stimmte Todd grinsend zu. “Wird ja auch Zeit, dass wir in dem Fall mal weiterkommen.”

“Wer ist diese Frau?” fragte Sam ruhig.

“Ihr Name ist Lauren Brownley. Sie spielt im Club Classico von Carlo Klavier. Die Jungs in Denver hatten sie schon eine Zeit lang beobachtet. Unsere Leute übrigens auch. Nichts Ernstes, nur eine Überprüfung, wo sie lebt und wie sie ihre Zeit verbringt. Die Cops und unsere Agenten glauben übereinstimmend, dass sie Giovessis aktuelle Geliebte ist, aber wahrscheinlich gehört sie nicht zu seiner Organisation.” Harvey warf Sam einen großen Briefumschlag zu, den der reflexartig auffing. “Da drin steckt die Akte, die über sie zusammengestellt wurde. Ich kenne nicht alle Einzelheiten, aber Ms. Brownley schwört, dass sie alles gesehen und gehört hat. Den Mord, Franks Geständnis, dass er Drogen gestohlen hat. Sogar die Adresse des Lagerhauses, in dem er den Stoff versteckt hat.”

“Warum sollte Giovessis Geliebte ihn ans Messer liefern?” wollte Sam wissen.

Harvey streckte die Arme aus und zuckte mit den Schultern. “Wer weiß schon, aus welchem Grund Frauen irgendwas machen? Vielleicht hatte sie sich mit Giovessi zerstritten. Vielleicht hatte sie was mit Frank und will sich rächen. Welchen Unterschied macht das schon? Wichtig ist nur, dass wir eine Zeugin haben.”

Todd pfiff leise durch die Zähne. “Das ist großartig. Dave hat wohl Recht, jetzt haben wir den Bastard.”

“Keiner von euch sagt ein Wort”, ermahnte Harvey die Runde. “Ich möchte nicht, dass diesmal auch nur ein Ton nach außen dringt. Niemand außer uns sechs wird etwas davon erfahren, solange wir unsere Zeugin nicht an einem sicheren Ort untergebracht haben. Und damit meine ich auch ‚niemand‘.”

Er sah seine Leute der Reihe nach an. “Rawlins, Sie, Todd, Roy und Dave begeben sich zum Polizeirevier und überprüfen die Geschichte dieser Frau. Wenn die Cops alles richtig aufgenommen haben, übernehmen wir den Fall. Todd, Sie und Roy holen sich dann Verstärkung und nehmen Giovessi fest. Charley hat bereits Sweeney losgeschickt, damit der einen Durchsuchungsbefehl besorgt. Wir observieren das Lagerhaus, und jeder, der da auftaucht, wird sofort festgenommen. Wenn wir Glück haben, taucht der gute alte Carlo persönlich dort auf. Ich schätze, er ist noch immer verdammt sauer, dass Frank ihn betrogen hat. Wahrscheinlich will er sich selbst davon überzeugen, dass der Stoff da ist.”

Harvey blickte zu Sam. “Rawlins, Ihnen gebe ich den Auftrag, auf die Zeugin aufzupassen. Dave wird Sie unterstützen. Wenn Sie überzeugt sind, dass die Frau uns kein Märchen auftischt, bringen Sie sie schnellstmöglich aus der Stadt. Bringen Sie sie irgendwohin, wo sie sicher ist, und dann passen Sie auf sie auf, bis das Verfahren beginnt.”

“Lassen Sie das jemand anders machen. Ich habe Wichtigeres zu tun, als Babysitter für eines von Carlos Betthäschen zu spielen.”

Harveys Hals lief puterrot an. Er beugte sich vor und zeigte mit einem vom Nikotin verfärbten Zeigefinger auf Sam. “Hören Sie zu, Rawlins. Die Aussage dieser Frau kann Carlo für eine ganze Weile hinter Gitter bringen. Ob es Ihnen gefällt oder nicht, Sie werden darauf achten, dass sie lebt, um ihre Aussage zu machen, ganz gleich, wie lange es auch dauern mag. Haben Sie das verstanden?”

“Ich arbeite bereits an einem Fall, wie Sie wissen dürften. Ich stehe kurz vor der Aufklärung.”

In diesem Moment war die Atmosphäre im Büro auf das Äußerste angespannt. Die drei Agenten versteiften sich und räusperten sich. Charley Potter presste die Kiefer aufeinander und blickte zu Boden.

Sams Auftrag war von der Art, die jeder Gesetzeshüter verabscheute -- er musste seine Kollegen ausspionieren. Seit Jahren versuchte die Abteilung, eine Anklage gegen Carlo Giovessi aufzubauen, aber jedes Mal, wenn sie glaubten, ihn endlich zu haben, ging irgendetwas schief. Ein wichtiges Beweismittel verschwand, Zeugen kamen ums Leben, auf mysteriöse Weise fanden sich winzige Unregelmäßigkeiten, die es Carlos schmierigem Anwalt ermöglichten, die Anklage zu Fall zu bringen. Das Ganze sah schon bald danach aus, dass ein Insider Informationen weitergab.

Beim FBI hasste man nichts mehr als einen Agenten, der die Seiten gewechselt hatte -- ausgenommen den Mann, der versuchte, ihn ausfindig zu machen.

Für Gesetzeshüter war Teamwork ein entscheidender Faktor. Niemand wollte glauben, dass der Partner oder Freund schmutzige Geschäfte trieb, und sobald jemand anfing, Fragen zu stellen, wurde gemauert. Sam hatte versucht, diskret vorzugehen, aber es hatte sich herumgesprochen. Bis auf wenige Ausnahmen wie Todd und Charley wurde er im Büro in Denver seit einiger Zeit von seinen Kollegen sehr kühl behandelt.

Sam vermutete, dass dies mit ein Grund war, warum Harvey ihn mit der Untersuchung beauftragt hatte, anstatt den Dienstweg zu gehen und sich an das OPR zu wenden, das Office of Professional Responsibility, also die Abteilung für innere Angelegenheiten des FBI. Das OPR setzte sich aus hochrangigen erfahrenen Ermittlern zusammen.

Harvey behauptete, er betrachte es als einen persönlichen Affront, dass ein Agent aus seiner Abteilung sich hatte kaufen lassen. Er wollte die Angelegenheit intern klären, und zwar auf der Stelle.

Seine Entscheidung rechtfertigte er damit, dass es keinen handfesten Beweis für die Existenz eines Maulwurfs gab -- nur Verdächtigungen und eine Reihe von Zufällen. Und das, obwohl das FBI grundsätzlich nicht an Zufälle glaubte.

Sam hatte den Verdacht, dass der SAC eigentlich nur jeden Agenten im Büro in Denver gegen ihn aufhetzen und ihm das Leben zur Hölle machen wollte.

Es störte ihn nicht besonders, da er ohnehin ein verschlossener Typ war.

″Es ist für uns wichtiger, Giovessi festzunageln. Charley ist meiner Meinung, er hat dich sogar für diesen Job empfohlen.”

Sam warf seinem Boss einen vernichtenden Blick zu, aber Charley hob beschwichtigend die Hände. “Sam, bevor Sie irgendetwas sagen, hören Sie sich an, was ich zu sagen habe. Wenn diese Frau Carlos Geliebte ist, werden Sie Wochen oder sogar Monate Zeit haben, um Informationen aus ihr herauszuholen, die uns in dem Fall weiterhelfen könnten. Vielleicht kennt sie ja sogar den Namen des Maulwurfs. Es ist einen Versuch wert.”

“Das stimmt”, pflichtete Harvey ihm bei. “Man kann nie wissen, was der Mann neben seinem Liebesgeflüster sonst noch von sich gegeben hat. Mit anderen Worten, Sie haben einen neuen Auftrag, Rawlins.”

“Warum ich? Jeder könnte diese Frau bewachen.”

“Weil Sie länger als jeder andere an diesem Fall arbeiten und Sie ihn in- und auswendig kennen. Sie wissen, mit wem wir es zu tun haben. Und ich vertraue Ihnen. Ich kann Sie vielleicht nicht besonders gut leiden, Rawlins, aber ich vertraue Ihnen.” Er zog lange an seiner Zigarette, dann blies er den Rauch in die Wolke, die sich bereits unter der Decke angesammelt hatte. “Und jetzt machen Sie sich auf den Weg und nehmen sich die Frau vor.”

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, nahm Sam seinen Hut und seinen Parka und ging hinaus. Als er im Korridor war, holte Todd ihn ein und lief neben ihm her.

“Mein Gott, Sam, wann wirst du endlich klug und hörst auf, dich mit dem Kerl anzulegen? Du weißt doch, dass du nicht gewinnen kannst.”

“Mache ich das?”

“Ja, verdammt, das machst du. Du weißt schließlich ganz genau, dass du alles machst, um ihn auf die Palme zu bringen. Du weißt, wie Harvey ist, wenn es um die Kleiderordnung geht. Wäre es denn wirklich so schlimm, Anzug und Krawatte anzuziehen, bevor du ins Büro kommst?”

“Harvey kann mich mal. Ich hatte das Wochenende frei. Außerdem hatte ich einen Urlaubstag zugesichert bekommen. Offiziell habe ich noch …”, er schob den Ärmel seines Flanellhemds zurück und sah auf die Uhr, “… siebenundzwanzigeinhalb Stunden frei.”

“Ja, aber du hättest dich wenigstens rasieren können.”

Sam rieb sich über die Bartstoppeln und zuckte mit den Schultern. “Ich habe ein Wochenende lang abgeschaltet. Du kannst mich ja verklagen.”

“Du bist ein verdammt sturer Hund. Hör mal, ich weiß, dass du den Kerl nicht magst. Ich kann ihn auch nicht leiden. Aber er ist nun mal der SAC.”

Sam schnaubte verächtlich. “Harvey Weiss ist ein kleinkarierter, ehrgeiziger Politiker, aber kein Mann des Gesetzes. Seine Hauptsorge, nein, seine einzige Sorge ist die, Harvey gut dastehen zu lassen. Bei jeder Entscheidung überlegt er erst mal, wie sie sich auf sein Image auswirkt und ob sie die Chancen für eine Beförderung verbessert. Ich kann mir gut vorstellen, dass er sich vorgenommen hat, Chef des FBI zu sein, wenn er fünfzig ist.”

“Ja, ja, mag ja alles sein. Aber ist doch ein Grund mehr, dir selbst einen Gefallen zu tun und aufzuhören, dich mit dem Kerl zu bekriegen.”

“Hey, Cochise!”

Sam blieb wie angewurzelt stehen, während Todd den Kopf senkte und leise aufstöhnte.

Langsam drehte er sich um. Sein Blick ging an Charley, Dave und Roy vorbei und traf Harvey, der in der Tür zu seinem Büro stand und gerade eine weitere Zigarette anzündete. “Ja?”

“Denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe. Sie bringen die Frau sofort aus Denver raus. Ich möchte diesmal keine Fehler erleben. Bringen Sie sie aus dem Staat, irgendwohin, wo Carlo keinen Einfluss mehr hat.”

“Hatte ich auch vor. Sonst noch was?”

“Achten Sie darauf, dass Sie mit uns in Verbindung bleiben. Die Routine kennen Sie ja. Sie nehmen einmal täglich mit mir oder mit Charley Kontakt auf, mit niemandem sonst.”

“Gut.” Sam wandte sich um und ging die letzten Schritte bis zum Aufzug. Er drückte den Knopf, und fast im selben Moment öffneten sich die Türen. Todd machte einen Satz nach vorn, als könne er es nicht erwarten, aus der Schusslinie zu verschwinden. Sam blieb dagegen einen Augenblick lang stehen und sah noch einmal zu Harvey.

“Ach, übrigens, falls Sie es noch nicht wussten. Cochise war ein Chiricahua-Apache. Meine Mutter war eine Navajo.” Ohne auf Harveys Antwort zu warten, betrat er ebenfalls den Aufzug und drückte den Knopf für das Erdgeschoss. “Arschloch.”

Lauren Brownley war in keiner Weise das, was Sam erwartet hatte. Zu seiner Überraschung und Verärgerung zugleich fühlte er sich im selben Augenblick zu ihr hingezogen, als er sie das erste Mal durch den von einer Seite durchsichtigen Spiegel sah. So etwas war ihm noch bei keiner Zeugin passiert, und er musste feststellen, dass es ihn zutiefst irritierte.

Offenbar war er nicht der Einzige, der so reagierte. Neben ihm flüsterte Dave: “Wow.”

Todd stieß einen leisen Pfiff aus. “O Mann, ich glaube, das ist wahre Liebe.”

“Du? Der Bürohengst?” schnaubte Sam. “Das möchte ich bezweifeln. Ich würde eher sagen, du meinst wahre Lust.”

“Egal was, ich bin süchtig nach ihr. Und du darfst die nächsten Wochen mit ihr verbringen. Verdammt.”

“Ich würde liebend gern mit dir tauschen.”

Todd lachte auf. “O ja, und dann dreht uns Harvey den Hals um. Aber … das wäre die Sache wert. Verdammt, Sam, du warst schon immer der Glückspilz.”

Lieutenant John Dumphries und Detective Allen Morgan vom Denver Police Department lachten amüsiert.

“Tja, die Kleine ist schon was Besonderes”, meinte der Detective.

“Hmm”, machte Sam und beobachtete aufmerksam die Frau, um jedes Detail zu erfassen.

Sie tigerte wie ein eingesperrtes Tier im Verhörraum hin und her, die Arme vor der Brust verschränkt und eng an den Körper gepresst. Sie war klein, höchstens eins sechzig, und sehr zierlich gebaut. Im unerbittlichen Schein der Neonröhre hatte ihr kastanienbraunes Haar einen kupfernen Schimmer. Jedes Mal, wenn sie das Ende des Raums erreicht hatte und umkehrte, legte sich die lange, volle Mähne wie ein seidenes Cape um ihre Schultern.

Sam beobachtete, wie sie wieder näher kam. Ihre Augen waren grün, wie er sehen konnte, als sie vor dem Spiegel stehen blieb und nur Zentimeter von ihm entfernt war. Ihre Gesichtszüge waren so anmutig wie ihr gesamtes Erscheinungsbild, auch wenn ihre Haut im Moment blass war.

Wahrscheinlich vom Entsetzen, überlegte er sachlich. Und von der Erschöpfung, die ganze Nacht auf zu sein.

Sie trug ein bodenlanges, eng anliegendes Abendkleid mit langen Ärmeln aus einem hauchdünnen Stoff und mit einem dezenten Ausschnitt. Überrascht bemerkte er, dass das Kleid nicht das mindeste Dekollete zeigte. Eine schwarze Samtjacke, die mit schwarzen Pailletten besetzt war, hing über der Stuhllehne. Ihr Outfit schien eher zu einer Opernbesucherin zu passen, nicht aber zu einer Frau, die in einem Nachtclub Klavier spielte.

Ihr Kleid war schmutzig und zerknittert, und auf Kniehöhe war der Stoff aufgerissen. Sogar Sam konnte sehen, dass es aus einem teuren Material geschneidert worden war. Bei jedem Schritt, den sie machte, war durch den seitlichen Schlitz zu sehen, dass sie eine schwarze Strumpfhose, aber keine Schuhe trug.

“Was ist mit ihren Schuhen?” fragte Sam.

“Sie behauptet, dass sie sie auf der Flucht verloren hat.”

“Sie ist nicht gerade Carlos Typ.” In der Vergangenheit hatte der Mafiaboss mehr auf vollbusige Blondinen mit einem Gespür für modische Kleidung gestanden, das in etwa dem von Dolly Parton entsprach. Aber obwohl diese Frau barfuß und sichtlich aufgewühlt war, strahlte sie eine Eleganz aus, die den anderen Frauen vor ihr gefehlt hatte.

Der Lieutenant räusperte sich. “Was das angeht, erklärt Miss Brownley, sie sei lediglich bei Giovessi angestellt. Sie sagt, dass sie nur am Wochenende im Club Classico arbeitet. Unter der Woche ist sie Musiklehrerin an der University of Denver.”

Ganz bestimmt, dachte Sam und beobachtete weiter die Frau. Auf dem Weg hierher hatte er einen flüchtigen Blick in ihre Akte geworfen. Die hier sah edel aus und konnte Klavier spielen. Na und? Carlos Gespielinnen arbeiteten immer in seinem Club, egal in welcher Funktion.

Es wurde vermutet, dass er so seine aktuelle Geliebte an der kurzen Leine halten konnte, aber Sam glaubte eher, dass er sie in seinem Club anstellte, damit Mrs. Giovessi nichts merkte. Wenn Carlo einen Menschen fürchtete, dann war es seine Frau Sophia.

“Was haben Sie bislang über sie gefunden?”

“Nicht viel. Wir haben das Kennzeichen ihres Wagens und ihre Adresse. Hier ist unser vorläufiger Bericht”, sagte Lieutenant Dumphries und gab Sam eine Akte. “Ihre Aussage finden Sie auch da drin.”

Als er die erste Seite überflog, grinste Detective Morgan. “Erkennen Sie die Adresse wieder?”

“Ja.” Sie war ihm schon aufgefallen, als er auf der Fahrt zum Polizeirevier die FBI-Akte eingesehen hatte. Ms. Brownleys Apartment befand sich in einem luxuriösen Hochhaus, das keinem anderen als eben Carlo Giovessi gehörte.

“Und unsere Zeugin fährt einen hübschen neuen Lexus.”

“Das passt.”

Der Polizeibericht entsprach in weiten Teilen den Erkenntnissen des FBI. Über diesen Bericht hinaus hatten Agenten beobachtet, dass die Frau freitags und samstags noch bei Giovessi im Club blieb, nachdem der bereits geschlossen hatte. Außerdem hatten sie herausgefunden, dass Carlo sie jeden Mittwochabend in ihrem Apartment besuchte und dort mehrere Stunden blieb.

Nur eine Angestellte, dachte Sam grimmig. Seine Mundwinkel zuckten. Er fragte sich, welchen Vorwand Carlo an diesen Abenden bei seiner Frau vorschob. Dass er mittwochs eine Runde in seinen Bowlingklub spielen ging?

“Unser Team hat sie auch mehrmals zum Campus verfolgt. Es könnte sein, dass sie die Wahrheit sagt, was ihre Arbeit dort angeht”, fuhr der Lieutenant fort.

Sam gab einen zustimmenden Laut von sich. Die FBI-Leute hatten sie ebenfalls observiert, aber da man sie nicht mit kriminellen Aktivitäten in Verbindung hatte bringen können, waren weder ihre Vorgeschichte noch ihr Beschäftigungsverhältnis genauer durchleuchtet worden. Die Agenten, die ihr gefolgt waren, hielten sie einfach für eine weitere Bettgefährtin von Giovessi, die sich zum Schein an der Universität eingeschrieben hatte.

“Hat irgendjemand bei der Uni nachgefragt, ob sie wirklich da beschäftigt ist?”

“Noch nicht. Wir wollten nicht mit der Untersuchung beginnen, solange ihr Jungs noch nicht ihre Geschichte gehört habt.”

“Na gut.” Sam klappte die Akte zu und nickte auffordernd. “Dann mal an die Arbeit.”

3. KAPITEL

Lauren machte eine weitere Runde durch den schäbigen kleinen Raum. Wo waren die Polizisten abgeblieben? Warum dauerte das alles so lange?

Sie blieb stehen und starrte in den großen Spiegel gleich neben der Tür. Beobachteten sie sie so, wie sie es aus Filmen und Fernsehserien kannte? Und wenn ja, warum? Meinten sie, dass sie log?

Vielleicht waren Lieutenant Dumphries und Detective Morgan zum Club Classico gefahren, um nach der Leiche zu suchen. Finden würden sie nichts. Inzwischen hatten Carlos Lakaien alle Spuren beseitigt. Das hatte sie ihnen schon längst gesagt, aber würden sie annehmen, dass sie sie belog, wenn sie keinen Toten finden konnten?

Lauren wandte sich vom Spiegel ab und lief wieder im Raum auf und ab. Während sie um den Tisch herumging, blickte sie um sich und erschauerte. Lieber Gott, was machte sie bloß hier? Sie hatte noch nie eine Polizeiwache von innen gesehen. Was war nur aus ihrem Leben geworden?

Sie gab einen wütenden Laut von sich und betrachtete angewidert ihr Spiegelbild. “Du bist eine Närrin”, flüsterte sie tonlos. “Das ist der Grund für das alles. Eine einfältige Närrin. Gib doch zu, dass außer dir niemand an diesem Elend die Schuld trägt.”

Es war nicht so gewesen, dass es keine Hinweise gegeben hätte. Bereits vor zwei Jahren, als sie im Krankenhaus gelegen und Mr. Giovessi sie besucht hatte, waren von Seiten der Krankenschwestern Bemerkungen über dessen dunkle Machenschaften gefallen.

Sie hatte alle beiläufigen Warnungen in den Wind geschlagen, weil sie nicht hatte glauben können, dass ein Mann mit so guten Manieren irgendetwas Verwerfliches an sich haben könnte.

Lauren seufzte. Nein, das stimmte nicht so ganz. Die ungeschminkte Wahrheit war die, dass sie nicht hatte glauben wollen, Carlo Giovessi könne irgendetwas anderes als ein höflicher älterer Gentleman sein.

Carlo war zu einem Zeitpunkt in ihr Leben getreten, als sie allein und verloren und völlig verwundbar gewesen war. Er war als Einziger zu ihr gekommen, um ihr zu helfen. Er war als Einziger da gewesen, als sie einen Freund gebraucht hatte.

Darum hatte sie vor allem, was sie nicht wahrhaben wollte, die Augen verschlossen. Und später hatte sie auch die offensichtlichsten Dinge ignoriert.

Es war nicht so schwer gewesen, das Misstrauen zu überwinden. Carlo hatte sie stets charmant, respektvoll und mit großer Bewunderung behandelt. Und wenn sie sich selbst gegenüber ganz ehrlich war, musste sie zugeben, dass es schön gewesen war, in ihm einen Liebhaber klassischer Musik zu finden.

Lauren stöhnte leise und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Als ob guter Musikgeschmack eine Garantie für einen guten Charakter wäre.

Wie naiv sie doch gewesen war!

Sie war aufs Äußerste angespannt und wirbelte herum, als die Tür geöffnet wurde. Erleichtert erkannte sie Detective Morgan, der sich freundlich und verständnisvoll verhalten hatte. Der Lieutenant dagegen war barsch gewesen und hatte sich ihre Geschichte mit unverhohlener Skepsis angehört.

Die Nervosität kehrte sofort wieder zurück, als sie sah, dass fünf Männer dem Detective ins Zimmer folgten. Einer von ihnen war Lieutenant Dumphries, während sie die anderen noch nicht gesehen hatte. Drei der Fremden trugen Anzug und Krawatte, aber ihre Aufmerksamkeit weckte der vierte Mann, der größer war als die anderen.

Sein volles Haar war schwarz wie die Nacht und passte damit genau zu seinen dunklen, unergründlichen Augen. Er war unrasiert, und sein Gesicht hatte durch die ausgeprägte Nase etwas von einem Falken. Er wirkte knallhart.

Sein durchdringender Blick ließ sie noch nervöser werden, woraufhin sie wieder zu Detective Morgan sah.

“Detective, ich bin ja so froh, dass Sie wieder da sind. Haben Sie Mr. Giovessi schon festgenommen? Kann ich jetzt nach Hause gehen?”

“Nein, noch nicht. Nehmen Sie doch bitte wieder Platz, Miss Brownley. Das ist Special Agent Sam Rawlins und die Agenten Todd Berringer, Roy O’Connor und Dave Owens vom FBI. Sie würden Ihnen gerne einige Fragen stellen.”

“Das FBI? Ich verstehe nicht. Warum interessiert sich das FBI für einen Mordfall?”

“Kein Grund zur Sorge”, erwiderte einer der FBI-Leute und lächelte freundlich. “Normalerweise tun wir das auch nicht, aber hier kommen andere Faktoren ins Spiel.”

“Was Agent Berringer sagen will, ist, dass wir von einem Kapitalverbrechen sprechen, wenn ein bekannter Mafiaboss verdächtigt wird, mit Drogen zu handeln.”

“Setzen Sie sich doch bitte”, sagte Berringer und zog einen Stuhl für sie zurück. Nachdem sie Platz genommen hatte, schenkte er ihr ein Glas Wasser ein und sagte freundlich: “Am besten erzählen Sie uns von Anfang an, was geschehen ist.”

Laurens Hand zitterte, als sie das Glas nahm, um einen Schluck zu trinken. Ihr Blick kehrte zurück zu Detective Morgan. “Ich verstehe nicht. Ich bin das doch schon zweimal mit der Polizei durchgegangen.”

“Und jetzt werden Sie es mit uns noch einmal durchgehen”, sagte der Mann mit der Hakennase ohne eine Spur von Mitgefühl. “Am besten geben Sie uns erst einmal ein paar Hintergrundinformationen. Wie lange arbeiten Sie bereits im Club Classico?”

“Etwas mehr als zwei Monate.”

“Und seit wann kennen Sie Mr. Giovessi?”

“Ich … na ja, ich bin ihm vor etwa zwei Jahren zum ersten Mal begegnet.”

“Wie kam es zu der Begegnung?”

“Er besuchte mich im Krankenhaus, nachdem ich einen Unfall gehabt hatte.”

Sam sah von dem Notizblock auf. “Wenn Sie ihn vorher nicht kannten, warum hat er Sie dann besucht?”

“Er kannte mich. Sie müssen wissen, dass ich zu der Zeit Konzertpianistin war. Mr. Giovessi ist ein Fan von klassischer Musik, der meine Karriere aufmerksam mitverfolgt hatte. Ich war in Denver auf Tournee, als sich der Unfall ereignete. Er las darüber in der Zeitung, und als er erfuhr, dass ich mir eine Hand gebrochen hatte und vielleicht nie wieder Klavier würde spielen können, da ist er ins Krankenhaus gekommen, um mir Trost zu spenden und mir beizustehen.”

Agent Rawlins sah auf ihre linke Hand, die von einem Muster dünner heller Linien überzogen war. Lauren legte ihre rechte Hand darüber, um die Narben zu verbergen.

“Und Sie wussten nicht, wer er war?”

“Nein. Ich sagte ja schon, ich war auf Tournee. Bis zwei Tage vor dem Unfall war ich in meinem ganzen Leben noch nicht in Denver gewesen.”

“Und warum sind Sie hier geblieben? Sie haben ja offensichtlich nicht die Kontrolle über Ihre Hand verloren, schließlich spielen Sie immer noch Klavier.”

Laurens Gesichtsausdruck wurde traurig. “Ja, nach etlichen Operationen und einem Jahr Physiotherapie konnte ich wieder spielen, aber nicht auf dem Niveau, das für Konzerte nötig ist. Die Hand ist nicht mehr so flexibel. Zugegeben, ich kann besser spielen als die meisten anderen Menschen, aber nicht mehr so virtuos. Ich bin mein Leben lang auf Tournee gewesen, und ich fühlte mich nie mit einem bestimmten Ort besonders verbunden. Denver war nicht besser und nicht schlechter als jede andere Stadt, also bin ich geblieben.”

Dabei verschwieg sie, dass sie nicht einmal mehr das Geld für eine Busfahrkarte gehabt hatte, um in die nächste Stadt zu fahren. Es war ihr einfach zu peinlich.

“Ich verstehe. Sie sagen also, dass Carlo Giovessi Ihnen seine Hilfe anbot, weil er ein so großer Musikliebhaber ist?”

Lauren warf ihm einen misstrauischen Blick zu, da sein sarkastischer Tonfall sie verwirrte. “Das würde ich so sagen.”

“Hat er Ihnen finanzielle Hilfe angeboten?”

Sie sah auf das Wasserglas und ihre Hände, mit denen sie es umklammerte, damit die anderen nicht sahen, wie sehr sie zitterte. “Ja. Ich dankte ihm für das Angebot, nahm es aber nicht an.”

“Wirklich? Warum sollte er Ihnen finanzielle Unterstützung anbieten? Wenn Sie Konzertpianistin waren, dann hätten Sie doch eigentlich Geld haben müssen. Ich weiß zwar, dass Klassikkünstler nicht so viel verdienen wie Rockstars, aber für ein Trinkgeld arbeiten sie nun auch nicht.”

Lauren biss sich auf die Lippe. So viel zum Thema, ihre miserable finanzielle Situation für sich zu behalten. “Ja … das stimmt, aber … sehen Sie, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war ich pleite.”

“Ja, Krankenhausrechnungen können ganz schön ins Geld gehen”, meinte Agent Berringer.

“Das stimmt”, pflichtete sie ihm bei.

Es war nicht die ganze Wahrheit. Die Kosten für ihre Behandlung waren zwar astronomisch hoch gewesen, doch die Versicherung hatte sich um den größten Teil gekümmert. Sie hatten sie nicht in den Bankrott getrieben, das hatte Collin erledigt.

Aber diese Männer mussten nichts über die beschämendste Episode ihres Lebens wissen. Es stand in keinem Zusammenhang zu dem Verbrechen, das sie beobachtet hatte.

“Ich verstehe.”

Agent Rawlins glaubte ihr nicht, das erkannte Lauren an seinem kalten Blick. Sie konzentrierte sich rasch wieder auf das Glas, das sie fest umschlossen hielt.

“Laut Lieutenant Dumphries behaupten Sie, an der University of Denver Musik zu unterrichten. Stimmt das?”

“Was meinen Sie mit ‚behaupten‘? Ich bin Musiklehrerin. Mr. Giovessi half mir, diese Stelle zu bekommen, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Ich habe ja bereits dem Lieutenant und Detective Morgan erklärt, dass ich nur Freitag- und Samstagabend im Club Classico spiele.”

“Und Ihr Apartment? Ist er Ihnen bei der Suche auch behilflich gewesen?”

Etwas am Tonfall von Agent Rawlins verletzte sie. Sie sah ihn verwundert an. “Ja. Ja, das war er. Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was ich ohne Mr. Giovessi gemacht hätte. Er hat mir auf die Beine geholfen und dafür gesorgt, dass ich mein Leben in den Griff bekam. Er hat sogar dafür gesorgt, dass ich Fahrstunden nehmen konnte. Und dann hat er mir geholfen, einen Wagen für mich zu finden, den ich mir leisten konnte.”

“Sie konnten nicht Auto fahren? Wie alt waren Sie damals? Vierundzwanzig? Fünfundzwanzig?”

“Siebenundzwanzig. Vor dem Unfall habe ich nie Fahrstunden genommen. Es war nie notwendig gewesen. Wenn man auf Tournee ist, wird man am Flughafen von einer Limousine abgeholt. Und wenn ich nicht auf Tournee war, wurde ich von meinem Vater oder seinem Assistenten gefahren.”

“Und bevor Sie Profimusikerin wurden? Ich kenne keinen Teenager, der nicht den Führerschein machen wollte.”

“Agent Rawlins, offenbar verstehen Sie nicht, dass ich ein Wunderkind war. Seit meinem vierten Lebensjahr bin ich auf Tourneen gegangen. Ich kenne überhaupt kein anderes Leben. Als ich ein Teenager war, waren wir ständig unterwegs. Außerdem musste ich jeden Tag sechs bis acht Stunden üben. Und wenn ich nicht geübt habe, dann war ich mit meinem Musikstudium beschäftigt oder ich bekam Privatunterricht. Ich hatte keine Zeit für andere Interessen. Mein Vater war zugleich mein Manager, und er sah keinen Grund, mir die Zeit dafür zu verschaffen. Ich musste mich auf meine Musik konzentrieren.”

“Ein Wunderkind? Aha. Das ist ja mal was Neues.” Sam sah sie ungläubig an. “Sie sagen also, dass Ihr Vater als Sklaventreiber aufgetreten ist und Sie an den Klavierhocker gekettet hat, damit Sie den lieben langen Tag üben konnten? Was noch? Hat er Sie vielleicht auch noch bei Brot und Wasser gehalten?”

“Machen Sie sich doch nicht lächerlich. Ich habe nichts Derartiges gesagt. Mein Vater musste mich nicht zwingen, Klavier zu spielen. Ich liebe es, Musik ist mein Leben. Mein Vater hat immer sehr gut auf mich aufgepasst. Er hat meine Karriere begleitet und dafür gesorgt, dass ich nicht von meiner Musik abgelenkt wurde. Wenn, dann war er vielleicht zu besorgt um mein Wohlergehen, aber das ist wohl kein Verbrechen. Warum fragen Sie mich das überhaupt? Was hat meine Vergangenheit mit dem Mord an Frank Pappano zu tun?”

Agent Rawlins machte weiter Notizen. Als er fertig war, ignorierte er ihren Einwurf und fragte: “Und wo ist Ihr fürsorglicher Vater heute? Warum hat er Ihnen nach dem Unfall nicht geholfen?”

Lauren warf ihm einen eisigen Blick zu, aber er zeigte keine Reaktion. “Mein Vater ist zehn Monate vor dem Unfall gestorben. Danach hat sein Assistent die Funktion des Managers übernommen.”

“Wie heißt er?”

Panik stieg in Lauren auf, als sie sah, dass Agent Rawlins wieder Notizen machte. “Warum wollen Sie das wissen? Er hatte nichts mit dem zu tun, was heute Abend geschehen ist.”

“Beantworten Sie nur die Fragen, Ms. Brownley.”

Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, aber auch diesmal konnte sie ihn zu keiner Reaktion bewegen. Er sah sie einfach nur an und wartete. Schließlich atmete sie deutlich vernehmbar aus. “Er heißt Collin. Collin Williams.”

“Wie kann ich mit ihm Kontakt aufnehmen?”

“Ich habe keine Ahnung. Nachdem er erkannt hatte, dass ich nie wieder Konzerte würde geben können, ist er gegangen.”

“Und Sie haben nichts mehr von ihm gehört?”

So gut wie nichts, dachte Lauren, erwiderte aber: “Nein.”

“Verstehe. Sie sagen also, dass Sie nach dem Unfall niemand hatten, an den Sie sich wenden konnten, und darum haben Sie sich Carlo angeschlossen.”

Lauren runzelte die Stirn. “Ich würde es zwar nicht gerade so formulieren, aber im Prinzip stimmt es.”

Agent Rawlins sah sie so lange durchdringend an, dass ihr unbehaglich wurde.

“Mr. Giovessi war da, als ich einen Freund brauchte. Er war wunderbar zu mir”, legte sie trotzig nach.

Plötzlich kamen ihr die Ereignisse des vergangenen Abends in Erinnerung, und mit einem Mal klang es sogar in ihren Ohren unglaublich, dass sie ihn verteidigte. Lauren stöhnte und stützte ihre Stirn in die Hände, während sie mit den Daumen ihre Schläfen massierte. “Ich … ich kann noch immer nicht glauben, dass Frank so kaltblütig umgebracht wurde. Wenn ich es nicht hautnah mitbekommen hätte, würde ich es nicht glauben. Carlo war immer so nett zu mir.”

“Darauf möchte ich wetten.”

Lauren sah auf und bekam mit, wie die Männer zynische Blicke austauschten. “Das war er wirklich!”

“Oh, das glaube ich Ihnen. Carlo ist zu den Frauen in seinem Leben schon immer sehr großzügig gewesen”, sagte Rawlins, ließ seine Worte aber mehr nach einer Beleidigung klingen. “Dann erzählen Sie uns doch mal, was gestern Abend geschehen ist.”

“Nachdem der Club geschlossen war, habe ich noch eine Zeit lang für Mr. Giovessi gespielt.”

“Geben Sie für ihn oft Privatkonzerte?”

“Ja, immer nach meiner Arbeit im Club. Mr. Giovessi liebt klassische Musik, und auch wenn ich nicht mehr perfekt spiele, hat er völliges Verständnis.”

Sie machte sich nicht die Mühe, diesem Mann zu erklären, dass ein Künstler sein Publikum brauchte, was es bedeutete, zu wissen, dass da jemand war, der zuhörte und von den Klängen gerührt war, die man aus dem Instrument herausholte. Der Job am College war nichts weiter als ein Job, ein Weg, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber ihre Seele verlangte nach mehr. Der Job im Club Classico stillte ein wenig ihren Hunger nach Auftritten, aber die große Wertschätzung, die Mr. Giovessi ihrer Musik entgegenbrachte, gab ihr das Gefühl, wieder eine richtige Künstlerin zu sein. Diese Abende waren die Rettung für ihre Seele gewesen.

Autor