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Zehn Wünsche bis zum Horizont

hier erhältlich:

Zur größten Brücke der Welt reisen, Gitarre spielen lernen, die Flügel ausbreiten und losfliegen … So viele Dinge wollte Lucy tun, wenn sie erwachsen ist. Doch dazu kommt es nicht. Sie stirbt mit vierzehn Jahren bei einem Autounfall.
Siebzehn Jahre später hält Maggie die Liste mit Lucys Träumen in den Händen. Sie hat es Lucy zu verdanken, dass sie lebt, denn Lucys Herz schlägt in Maggies Brust. Als Trägerin eines Spenderherzen weiß Maggie, dass Zeit ein kostbares Gut ist. Sie macht sich auf die Reise, um die Wünsche des Mädchens zu erfüllen — und erfährt, dass man reich beschenkt wird, wenn man gibt.

"Das Buch ist eine tolle Urlaubslektüre, in der es nicht nur um zweite Chancen, die Liebe und Lebensträume geht, sondern auch um das wichtige Thema "Organspende"." Münsterland Zeitung

"Inspirierend! Und wunderbar geschrieben." Irish News


  • Erscheinungstag: 09.10.2017
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677172
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Ciaran und Ashley
#donatelife

PROLOG

Einmal glaubte ich, dich in einem Zug nach Dublin zu sehen.

Da warst du etwa sechs Jahre alt. Du hast ein Eis geschleckt, das Gesicht voller Schokostreusel, und hast so heftig über den kleinen Jungen neben dir gelacht, dass ich schon dachte, du verschluckst dich gleich.

Ein paar Jahre später glaubte ich wieder, dich zu sehen, aber diesmal warst du ein lockiges Kleinkind in einem Park und stießt gerade ein schrilles Wutgeheul aus, weil du nicht an die Schaukel herankamst. Ein gut aussehender Mann nahm dich auf seine großen, starken Arme und setzte dich in einen Kinderwagen; du hast um dich getreten und geschrien, die kleinen Hände immer wieder zu Fäusten geballt und dabei die Ärmchen nach dem Spielplatz hinter dir ausgestreckt.

Eines sonnigen Nachmittags glaubte ich, dich als schlaksigen Teenager in London zu sehen, wo du mit deiner Mutter shoppen warst. Ihr habt euch gestritten: Du wolltest ein Paar Jeans im Used-Look, sie ein hübsches geblümtes Kleid.

Ich glaube ständig, dich zu sehen, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie du aussiehst, wer du bist oder was du für ein Leben hattest.

Du bist in mir. Du bist ein Teil von mir. Du bist in jeder meiner Bewegungen.

Ich habe das Gefühl, dich zu kennen, Lucy Harte, wirklich.

Aber du wirst mich nie, niemals kennenlernen.

KAPITEL 1

Ich sterbe.

Ich ertrinke, oder vielleicht ist es ein Herzinfarkt. Woran es auch liegen mag, ich bekomme keine Luft, und diesmal sterbe ich wirklich. Welche Ironie des Schicksals, wenn ich ausgerechnet heute sterben würde …

O Gott, bitte hilf mir.

Ich setze mich in meinem brandneuen Bett auf, sinke aber unwillkürlich zurück aufs Kissen, die Augen, die ich einfach noch nicht öffnen kann, zusammengekniffen, weil mein zitternder Körper mehr Zeit benötigt, um sich von meiner letzten „Soloparty“ zu erholen.

Das ist kein normaler Kater. Verdammt, nein. Mein Kopf fühlt sich an wie eine Bowlingkugel, den ausgetrockneten Mund bekomme ich nicht auf, und das Handy klingelt wie blöde. Ich wünschte, der Anrufer würde einfach aufgeben, denn ich will mit niemandem reden.

Nicht mit Flo, nicht mit meinen Eltern, nicht mit meinem Chef und garantiert nicht mit meinem erbärmlichen Ehemann.

Ich kann mir jetzt wirklich keine Vorträge, kein „Ich hab’s dir doch gesagt“ anhören, nicht heute, ganz besonders nicht heute, bitte nicht. Außerdem … kann ich mich nicht daran erinnern, wo ich gestern Abend war oder was ich getan habe, und das macht mir Angst. Ich habe solche Angst, zu erfahren, was gestern Abend passiert ist, wenn ich ans Telefon gehe, denn damit könnte ich jetzt überhaupt nicht umgehen.

Habe ich Mist gebaut? Habe ich die Wohnung verlassen? Ich weiß es nicht mehr!

Nein, das habe ich nicht getan. Garantiert nicht. Diesmal nicht.

Zu meiner Erleichterung stellen sich lückenhafte Erinnerungen daran ein, wie ich den Fernseher ausgeschaltet habe und im Schlafanzug ins Bett gewankt bin (immer ein gutes Zeichen, wenn man im Schlafanzug aufwacht), also kann ich doch nicht allzu viel Schaden angerichtet haben, oder?

Es sei denn, ich hätte jemandem geschrieben, wie mies es mir geht, oder meinen Kummer auf Facebook geteilt. Bitte nicht! Oder schlimmer noch: Ich könnte ihm geschrieben haben.

Oh, warum mache ich so was immer? Das war nicht ich, das war der Wein. Um Himmels willen, Maggie, krieg dein Leben in den Griff!

Aber ich bekomme es nicht in den Griff, und das Handy hört einfach nicht auf zu klingeln. Warum können die mich nicht in Ruhe lassen? Ich will mit niemandem reden, und ich kann mich einfach nicht dazu überwinden nachzusehen, wer mich aus meinem alkoholseligen Tiefschlaf gerissen hat, also schubse ich das Handy von seinem Stammplatz auf dem Nachtschränkchen und sehe erleichtert zu, wie es auf den Schlafzimmerboden prallt und in drei Teile auseinanderfällt – Vorderseite, Rückseite und Akku.

Na bitte. Endlich still.

Doch mein Schädel, der vom Flüssigkeitsentzug mörderisch wehtut und von den Stimmen meiner Lieben widerhallt, lässt mich nicht vergessen, dass ich in letzter Zeit keinen inneren Frieden finde, egal, wie still es hier ist.

„Geht es dir wirklich gut, Maggie? Wir machen uns große Sorgen, dass du mit diesem Stress nicht fertigwirst.“ (Mein/e Mutter/Vater – Unzutreffendes bitte streichen.)

„Zieh doch für eine Weile zu mir. Ich habe ein Gästezimmer.“ (Meine beste Freundin Flo.)

„Willst du dich umbringen oder was? Reiß dich zusammen, Maggie!“ (Mein stets mitfühlender Bruder John Joe.)

„Was? Ach, Maggie! Warum musst du denn schon wieder von zu Hause aus arbeiten?“ (Mein/e Chef/Kollegen.)

„Irgendwann musst du die Vergangenheit ruhen lassen, Mags! Komm drüber weg! Komm über dich und mich weg!“ (Mein Mann, ich meine, mein Exmann Jeff.)

„Du musst wirklich aufhören, so viel zu trinken. Das bringt dich nicht weiter.“ (Alle oben Genannten.)

Ich sollte wirklich aufhören zu trinken. Ich sollte aufhören, ihnen allen aus dem Weg zu gehen.

Ich sollte mich ihren Sorgen stellen oder zumindest zugeben, dass ich natürlich eine beschissene Zeit durchmache wegen dieser ganzen Trennungsgeschichte, und ja, ich weiß, dass meine Arbeit darunter leidet, und ja, ich muss mich zusammenreißen und wieder auf Spur kommen, aber ich bin einfach noch nicht so weit. Noch nicht.

Ach du lieber Gott, nicht auch noch das Festnetztelefon! Mein unbekannter Anrufer ist verdammt hartnäckig!

„Stopp! STOPP!“, schreie ich in die Leere meiner neuen Wohnung.

Das glänzende, anonyme IKEA-Mobiliar weckt in mir den Wunsch, alles zu zertrümmern; ich könnte aus der Haut fahren oder wenigstens unter die Bettdecke kriechen, wo ich nicht ständig daran erinnert werde, dass dies jetzt meine Wohnung ist, sich aber nicht wie zu Hause anfühlt. Ich fühle mich nicht wie ich selbst.

Ich weiß nicht mehr, wer zum Teufel ich eigentlich bin.

Ich bin allein, „getrennt“, verzweifelt und unglücklich, in einem trüben, trunkenen Schwebezustand zwischen der Ehe und der gefürchteten Scheidung gefangen, und ich habe keine Ahnung, wer ich bin oder was von mir erwartet wird.

„Bitte, hör auf, mich anzurufen! Bitte, hör auf!“, schluchze ich in das weiche neue Kopfkissen, das nach Lavendel riecht – ein Tipp meiner Mutter, damit ich besser einschlafen kann, aber von diesem Geruch wird mir nur übel.

„Das ist viel besser als Wein, Liebes“, sagte sie, aber woher will sie das wissen? Sie ist schon ihr ganzes Leben lang abstinent.

Das Telefon läutet weiter, das Geräusch bohrt sich in meinen angeschlagenen Schädel, und ich stelle mir vor, dass der Anrufer sich vorgenommen hat, „für die arme Maggie da zu sein“ und bei jeder unerwarteten Wendung nach mir zu sehen.

Haben die kein eigenes blödes Leben? Bombardiere ich sie etwa jedes Mal, wenn sie abkacken, mit Anrufen und Sorge? Nein, das mache ich nicht.

Andererseits kacken sie eigentlich auch nicht ab.

Und dann wird mir klar, dass heute Montag ist. Verdammt. Es ist Montag.

Ich weiß nicht, wie spät es ist oder ob ich schon bei der Arbeit sein sollte. Normalerweise wäre ich längst panisch unter die Dusche gestürmt und würde darum beten, dass die Zeit stillsteht, damit ich pünktlich zu meinem nächsten Termin komme oder ins Büro hetzen und alle davon überzeugen kann, dass es mir gut geht, aber heute … heute ist es anders.

Es ist mir egal, ob ich zu spät komme, weil ich anderswohin muss, auch auf die Gefahr hin, dass ich meinen Job verliere. Womit zweifellos demnächst zu rechnen ist, aber was ich heute vorhabe, ist viel wichtiger. Ich hasse meine Arbeit. Im Moment hasse ich sowieso alles, aber am meisten hasse ich Jeff und seine neue Freundin, und dass er mich in diese leere Hülle verwandelt hat, verzweifelt, ausgehöhlt, alkoholbenebelt und traurig.

Erneut setze ich mich auf und konzentriere mich.

Das Telefon klingelt nicht mehr. Es gibt doch einen Gott.

Langsam schlage ich die Augen auf, stütze mich mit den Händen ab und überlege, was ich anziehen soll, aber eigentlich ist mir auch das egal.

Es ist Zeit zu gehen. Zeit, mit Lucy Harte zu reden.

Es ist seltsam, jemandem aus tiefster Seele zu danken, wenn man denjenigen nicht sehen kann, ihm nie begegnet ist, wenn derjenige einen nicht hören kann und keine Ahnung hat, wer man ist.

Ich schätze, es ist ein bisschen so, als würde man mit Gott sprechen. Es erfordert Glauben und Vertrauen, und so befinde ich mich jetzt, eine Stunde nach meinem neuesten Anfall von akuter Einsamkeit, in einer Kirche, entzünde Kerzen, spreche Gebete und danke Lucy Harte für mein Leben – und sie kann kein Wort davon hören.

Ich hoffe, sie ist hier irgendwo, schwebt unsichtbar wie ein kleiner Engel mit lächelndem Gesicht über mir und bekommt alles mit, froh darüber, dass sie mir einen Teil des Lebens geschenkt hat, das sie hinter sich ließ.

Ich spreche gern mit Lucy, auch wenn es nur im Stillen ist, nicht laut, auch wenn ich nur einmal im Jahr Gelegenheit habe, richtig aus dem Nähkästchen zu plaudern, wie man so schön sagt. Ich denke jeden Tag an sie, aber am stärksten verbunden fühle ich mich ihr immer an diesem Datum.

Ich spreche mit ihr wie mit einer alten Freundin. Na ja, sie ist auch eine alte Freundin, wenn man bedenkt, dass unsere Unterhaltungen heute auf den Tag genau seit siebzehn Jahren stattfinden. Nicht viele Freundschaften halten so lange, besonders wenn sie wie unsere ganz und gar einseitig sind.

Nicht mal meine Ehe hat so lange gehalten – siebzehn Monate und zehn Tage, um genau zu sein –, aber andererseits war die ebenfalls eine ziemlich einseitige Angelegenheit.

Ich wollte mit ihm verheiratet sein. Er wollte nicht mit mir verheiratet sein. Ziemlich simpel, wenn man es so betrachtet.

„Elizabeth Taylor war achtmal verheiratet und hatte sieben verschiedene Ehemänner“, rief mein Vater mir in Erinnerung, als ich ihm erzählte, dass Jeff mich verlassen hatte. „Und du bist sogar noch schöner als Elizabeth Taylor, das habe ich immer schon gesagt, ich würde mir also wegen diesem verfluchten Jeff Pillock keine grauen Haare wachsen lassen.“

Ja, Pillock. Sein Nachname ist ein Synonym für Schwachkopf. Zum Glück habe ich meinen Namen behalten.

Er ist ein klitzekleines bisschen voreingenommen, mein Dad, aber andererseits bin ich seine einzige Tochter. Da muss er so nette Sachen sagen. Das ist sozusagen sein Job.

Meine Mutter dagegen hat ein bisschen traditioneller reagiert.

„Aber er kann dich doch nicht einfach verlassen!“

„Er kann, und er hat“, erwiderte ich.

„Aber doch nicht so schnell!“, sagte sie konsterniert, als wir beide tagelang bei ihr in der Küche unbeherrscht in unsere Teetassen schluchzten. Gleich darauf prophezeite sie Jeff ein unglückliches Leben ohne mich und behauptete, das Karma werde ihn eines Tages noch in seinen bedauernswerten Hintern treten. „Die Ehe ist heutzutage so ein Wegwerfartikel. Das ganze Geld für das Hotel und die eleganten Kleider zum Fenster rausgeworfen. Skandalös. Versprechen und Träume einfach zum vermaledeiten Fenster rausgeworfen.“

Natürlich hat sie recht. Er hat all die Versprechen und Träume einfach aufgegeben, bevor überhaupt echte Lebenshürden aufgetaucht waren. Und was das Geld angeht … Ich will gar nicht daran denken, was unsere Hochzeit gekostet hat. Sie war wundervoll, hat sich aber für siebzehn Monate und zehn Tage eigentlich nicht gelohnt.

Es ist kalt in der Kirche, und ich ziehe die Jacke enger um mich. Außer mir sind noch eine paar andere hier, hauptsächlich ältere Leute, deren Geflüster wie Pfeifen klingt, während sie mit fest um die runzligen Hände gewickelten Rosenkränzen beten.

Ich schließe die Augen und konzentriere mich wieder auf Lucy. Heute ist unser besonderer Tag. Heute ist der Tag, an dem sie mir mein Leben schenkte, ein Leben, so kostbar, dass ich jedes Mal daran erinnert werde, wenn ich ihr Herz in meiner Brust schlagen spüre. Der Liebeskummer, den ich im Augenblick habe, erinnert mich, so qualvoll er auch ist, an das Geschenk des Lebens, das ihre Familie mir machte, als sie mir vor siebzehn Jahren ihr Herz spendete.

Ich möchte Lucy für alles danken, woran ich mich während des Dreißig-Minuten-Zeitfensters erinnere, das ich mir für diesen Anlass zugestehe. Es ist wichtig für mich, ihr jedes Jahr an diesem besonderen Tag und um diese Uhrzeit zu danken. Damit komme ich einer positiven Lebenseinstellung so nahe, wie es mir möglich ist, bleibe geistig gesund und zuversichtlich.

Ich versuche, mich auf die guten Zeiten in den zwölf Monaten seit unserer letzten Unterhaltung zu konzentrieren, und lächele unwillkürlich über die Ironie. Die guten Zeiten sind nicht so leicht zu finden, das könnt ihr mir glauben – aber nach einer Weile sprudeln sie doch aus mir heraus, im Stillen natürlich. Die alten Leute, die mit geschlossenen Augen in der Nähe sitzen, wollen sich bestimmt nicht meine Lebensgeschichte anhören, und ich finde einen eigenartigen Trost in den Gedanken, die ich mir zu ihrem monotonen Gemurmel mache.

Ich danke Lucy für meine Beförderung im Januar, die megacool war und bedeutet, dass am Monatsende tatsächlich Geld übrig bleibt und ich Ersparnisse habe. Echte Ersparnisse. Mein Vater hat immer gesagt, ich könnte mein Geld nicht zusammenhalten – entweder würde ich einfach alles ausgeben oder davon alle möglichen Geschenke für Hinz und Kunz kaufen, aber jetzt, wo ich tatsächlich auf mich allein gestellt bin in der bösen weiten Welt, habe ich angefangen, etwas für schlechte Zeiten zurückzulegen.

Ich danke ihr für meine Wohnung. Allmählich gewöhne ich mich daran, wieder allein zu leben (das ist so was von gelogen, aber ich sage es mir immer wieder, und eines Tages wird es wahr sein). Ich habe sogar einen Garten. Na ja, einen Blumenkasten auf der Fensterbank und einen kleinen überdachten Balkon mit Topfpflanzen, das reicht mir fürs Erste. Ich schaffe es in letzter Zeit kaum, mich um mich selbst zu kümmern, geschweige denn um einen Garten mit Unkraut und einem Rasen und anderen lebenden Dingen.

Dann komme ich zum besten Teil, wo ich ihr von all dem Mist erzähle, der letztes Jahr passiert ist und mein einst so verdammt schönes Leben auf den Kopf gestellt hat.

Ich erzähle ihr von dem Abend, an dem ich mich vor der Familie meines mittlerweile Exmannes zum Affen gemacht habe, indem ich nach deutlich zu viel Prosecco mit der Krawatte seines Vaters und hochgezogenem Rock Britney Spears’ Hit Me Baby One More Time sang – mit der kompletten Choreografie. Ich mag gar keinen Prosecco. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht mal, ob ich Britney Spears eigentlich mag. Weiß der Himmel, woher die Idee kam, sie zu imitieren.

Ich habe das Gefühl, jener Abend war der Anfang vom Ende für Jeff und mich. Wer weiß? Mittlerweile habe ich mehr oder weniger alles, was mir einfiel, dafür verantwortlich gemacht und kapiere es noch immer nicht. Aber geben wir fürs Erste Britney und dem Prosecco die Schuld.

Ich erzähle von meinen letzten Monaten als Jeffs Frau, in denen ich im Wesentlichen a) sein Telefon kontrollierte und b) fand, was ich nicht sehen wollte, und ich bete zu Lucy, sie möge mir helfen, zu akzeptieren, dass er jetzt mit ihr zusammen ist, mit der, derentwegen er mich vor gerade einmal zehn Wochen verlassen hat. Sie heißt Saffron, ist Flugbegleiterin und lispelt, und sie haben sich auf Facebook kennengelernt. Wirklich reizend.

Das ist alles, was ich bis jetzt weiß, obwohl ich mich in Vollzeit der Mission verschrieben habe, ihr durch Stalken in den sozialen Netzwerken auf die Spur zu kommen, aber ihre verdammten Seiten sind alle privat, und ich habe nur herausgefunden, dass sie Katzen mag. Das freut mich. Jeff ist allergisch gegen Katzen – er bekommt davon Ausschlag. Großartig.

„Sie muss etwas falsch gemacht haben“, hörte ich Mum vor einer Weile zu Dad sagen, als sie dachte, ich könne sie nicht hören, während ich in Wirklichkeit in der Küche lauschte. „Ein Mann verlässt seine Frau doch nicht ohne Grund. Da muss etwas gewesen sein.“

Die Logik meines Vaters warf auch diesmal ein anderes Licht auf die Sache.

„Ich konnte ihn sowieso nie leiden“, sagte er hinter seiner Zeitung. „Seine Haare sind gefärbt, weißt du das? Komisches Schwarz-Braun. Ich könnte nie einem Mann vertrauen, der sich die Haare färbt, schon gar nicht in der Farbe von Kuhdung. Und er trägt Absätze an den Schuhen.“

Mein Vater ist echt auf Zack. Jeff färbt sich tatsächlich die Haare und er hat einen speziellen Schuster, zu dem er immer geht, wenn er neue Schuhe kauft.

„Jeff? Absätze? Bist du sicher, Robert? Das ist mir gar nicht aufgefallen.“

„Ja, Absätze“, sagte Dad. „Sagen wir mal so: Ein Mann, dem dort Zentimeter fehlen, dem fehlen sie wahrscheinlich auch an anderer Stelle. Nee. Konnte ihn nie leiden. Soll er doch machen. Unsere Maggie spielt weit oberhalb seiner Liga.“

Von Saffron, der Flugbegleiterin, habe ich meinen Eltern nicht erzählt und werde es vermutlich auch nie tun. Das würde meine Mutter fertigmachen, und das kann ich gerade gar nicht brauchen. Sie mag sich fragen, ob irgendetwas daran meine Schuld war, aber sie gehört noch zur alten Schule und ist ziemlich naiv, was moderne Lebensweisen angeht. Sie würde nie verstehen, wie Jeff sich in eine Frau verlieben konnte, die er nur einmal in einem nach Schweiß riechenden Fitnessstudio getroffen hatte und dann mit Privatnachrichten auf Facebook umwarb, während ich noch unsere Hochzeitsfotos bewunderte und Namen für unsere zukünftigen Kinder aussuchte.

Anstatt meinen Eltern den wahren Grund für das grandiose Scheitern meiner Ehe zu verraten, schütte ich mein Herz einem mit vierzehn gestorbenen Mädchen aus, genau wie jedes Jahr an diesem Tag um diese Uhrzeit, während der Rest der Welt Kinder zur Schule fährt, im Berufsverkehr zur Arbeit pendelt oder zum Frühstücksfernsehen Kaffee trinkt.

Ich erzähle das alles Lucy Harte, einem Mädchen, das ich nie kennengelernt habe, das mir aber eine zweite Chance verschafft hat, obwohl sie nicht einmal von meiner Existenz weiß. Ich bete für ihre Familie, wo sie auch sein mag, ich danke diesen Leuten mit meinem ganzen geborgten Herzen für den Tag, an dem sie der Organspende zustimmten.

Dann bekreuzige ich mich rasch. Jetzt möchte ich raus aus der Kirche, bevor mich noch jemand für eine echte Christin hält, und so überlasse ich Lucy dem, was tote Vierzehnjährige im Himmel so tun, während ich zu meinem neuen Singledasein mit den Mahlzeiten für eine Person und den Immobilien zurückkehre, einem Leben unter Hochdruck, das mit dem in der sanften irischen Landschaft, in der ich aufwuchs, nicht viel zu tun hat.

Ich schlage mich tapfer.

Ich schlage mich tapfer, aber ich bin es nicht.

Ich bin überhaupt nicht tapfer. Genau genommen habe ich eine Scheißangst.

Fick dich, Jeff.

Ich möchte kreischen und schreien und treten und laut heulen, aber ich bin in einer Kirche, also darf ich das nicht, und das ist so verdammt frustrierend.

Fick dich dafür, dass du mich verlassen hast, Jeff, und fick dich, Saffron, dafür, dass du ihn mir weggenommen hast. Warum? Was habe ich denn so falsch gemacht, verdammt noch mal?

Ich glaube, ich muss gleich weinen. Ich will auf keinen Fall in der Öffentlichkeit weinen.

Mit geschlossenen Augen atme ich ein und aus, ein und aus, ein und aus und konzentriere mich auf Lucy Harte. Ich bin nicht hier, um an Jeff zu denken. Ich bin hier, um Lucy zu danken.

Es ist lange her, Lucy Harte. Die siebzehn Jahre, die du jetzt in mir schlägst, sind eine lange, lange Zeit. Warum habe ich nur das Gefühl, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt?

Ich sollte zur Arbeit fahren.

KAPITEL 2

„Geht es dir wirklich gut, Maggie? Du klingst nicht so. Ich habe das ganze Wochenende versucht, dich anzurufen!“

Als ob ich das nicht wüsste! Die Stimme meiner Mutter ist immer leicht schrill, aber heute ist sie besonders aufgelöst.

„Mir geht’s gut, Mum. Ich fahre gerade Auto“, erzähle ich ihr. Ich hätte nicht drangehen sollen. Mein Kopf …

Ich fahre natürlich nicht Auto, aber das ist das Einzige, womit ich sie vielleicht abwimmeln kann. Meine Mutter kann einem ein Ohr abkauen, und leider durchschaut sie Ausreden wie „Tut mir leid, die Verbindung bricht ab“ oder „Ich bin in einer Gegend mit schlechtem Empfang“ oder „Da kommt gerade ein wichtiger Anruf rein“, mit denen ich normalerweise versuche, sie abzuwimmeln.

„Es geht dir nicht gut. Ich weiß, dass es dir nicht gut geht. Robert, sie sagt, sie fährt gerade Auto, und es geht ihr gut.“

„Lügen!“, ruft mein Vater. „Es geht ihr nicht gut. Maggie, du verträgst keinen Stress! Du musst dich ausruhen. Kein Stress!“

„Du hättest dir den Tag freinehmen und etwas Nettes unternehmen sollen, Maggie. Sogar dein Vater sagt das. Diesen Stress kannst du dir nicht leisten.“

„Ja, sie hätte sich den Tag freinehmen und etwas Nettes unternehmen sollen“, höre ich ihn im Hintergrund wiederholen. Ich sehe ihn vor mir, wie er in seinen grünen Gummistiefeln, dem karierten Hemd und der ausgebeulten Altmännerhose mit den Hosenträgern in der Nähe des Telefons wartet, das in der Küche unseres alten Bauernhauses an der Wand hängt. Er kaut garantiert auf etwas, auf dem Mundstück seiner Pfeife vermutlich, hat sich bestimmt einen Bleistift hinters Ohr gesteckt (ebenfalls abgekaut), und sicher riecht er schon jetzt nach Dung und Sägemehl.

„Ich gehe nach der Arbeit mit Flo essen, und sie holt mich um sechs vom Büro ab, also ist es am besten, wenn ich dort bin“, lüge ich. „Ich freue mich schon richtig darauf.“

„Ach, das ist nett. Wo geht ihr denn essen? Robert, sie geht essen. Mit Flo.“

„Wir gehen ins … ähm, wir gehen in dieses neue Lokal“, improvisiere ich. „Du weißt schon, mein neues Lieblingslokal. Auf der George Street.“ Noch mehr Lügen. „Schau, ich beschäftige mich, Mum. Ich bin viiiel beschäftigt.“

„Tja, das ist wohl besser, als wenn man zu viel Zeit zum Grübeln hat. Warst du in der Kirche?“

„Ja.“

„Robert, sie war in der Kirche.“

Herrgott noch mal.

Ich höre es rascheln: Dad kommt an den Apparat.

„Hoffentlich hast du dich vor diesen Leuten nicht zum Affen gemacht“, sagt er erregt.

Mit „diese Leute“ meint er einen Geistlichen. Mit „zum Affen machen“ meint er das, was Katholiken Beichte nennen. Nichts verabscheut mein Vater so sehr wie die Geistlichkeit.

„Nein.“

„Du könntest Lucy doch auch in deiner Wohnung sagen, was du auf dem Herzen hast, das wäre genauso gut, wie den Pfaffen deine Probleme zu erzählen. Geht die verdammt noch mal nichts an, diese neugierigen –“

„Ich habe nicht mal einen Priester gesehen, Dad. Ich habe Lucy nur gesagt, was ich ihr sagen wollte, ein paar Kerzen angezündet und bin wieder gegangen. Ich bin jetzt gleich im Büro, ich muss also Schluss machen.“

Das ist nicht gelogen. Ich stehe vor unserem Bürogebäude, und Davey, der Portier, zwinkert mir wie jeden Morgen zu, während er mir auf die Titten, die Beine, den Hintern und überall dazwischen glotzt. Davey ist ein leidenschaftlicher Spanner.

„Du bist ein gutes Mädchen, Maggie O’Hara“, sagt mein Vater, und seine Stimme bebt. „Ein wirklich gutes Mädchen, du verdienst nur das Beste, und du verdienst es, hier zu sein. Gott segne Lucy Harte, aber auch du verdienst es, ein Leben zu haben, und zwar ein großartiges. So, und jetzt schiebst du diese Schuldgefühle beiseite und machst dir einen schönen Tag, hörst du? Außerdem, sieh dir Prinzessin Diana an. Charles wollte sie nicht, aber das hat sie nicht davon abgehalten, wieder einen Mann zu finden, oder?“

„Nein, aber dann ist sie gestorben“, erinnere ich ihn.

„Tja, du stirbst aber nicht, oder? Du bist noch hübscher als Prinzessin Diana. Du bist sogar hübscher als Prinzessin Diana und Elizabeth Taylor zusammen. Du bist hübscher als der ganze verdammte Haufen zusammen, vergiss das bloß nicht!“

Ich kehre Davey den Rücken zu und spüre, wie sein Blick sich in meinen Rücken bohrt.

„Ich hab’s gehört, Dad“, sage ich, und mir brennen Tränen in den Augen. „Es geht mir wirklich gut. So gern ich aussehen würde wie Lady Di oder Liz Taylor oder der ganze verdammte Haufen, einen Mann zu finden, ist meine kleinste Sorge, das kannst du mir glauben. Jetzt hör auf, dir Sorgen zu machen! Ich bin dreiunddreißig Jahre alt. Ich werde damit fertig, wenn mich jemand sitzen lässt und mir das Herz bricht. Ich bin schon mit Schlimmerem fertiggeworden.“

„Nun, ich sage ja nur, dass du keine Probleme haben wirst, wenn es an der Zeit ist, eine neue Liebe zu finden“, erwidert er, und ich sehe ihn vor mir, wie er beim Reden mit dem Finger in die Luft zeigt. „Also mach dir keine Sorgen, dass du allein bleibst, denn du wirst nicht lange allein sein. Du hast in deinem Leben schon genug durchgemacht, und wenn ich mit dem Mann da oben reden würde, falls es überhaupt so was wie einen Mann da oben gibt, dann würde ich ihm sagen, dass es jetzt reicht und er dich endlich in Ruhe lassen soll! Es reicht!“

Und da breche ich in Tränen aus.

„Ja, und das reicht jetzt auch, Robert!“, ruft meine Mutter im Hintergrund. „Genieß dein Essen mit Flo und grüß sie lieb von uns, Maggie! Weint sie?“

„Ich weine nicht“, sage ich und schmiere dicke Mascara-Klumpen auf meinen Handrücken. „Ich liebe euch beide, okay? Bis bald. Ich komme euch bald besuchen.“

„Tu das. Ja, bis bald, Liebes“, sagt mein Vater, und ich höre ihm an, dass auch er weint.

Da fühle ich mich noch schlechter, denn jedes Mal, wenn mein Secondhand-Herz bricht, leiden meine Eltern darunter noch mehr als ich.

„Morgen, Maggie“, zwitschert Bridget, unsere langjährige Rezeptionistin, die für alle sechs Unternehmen im Gebäude zuständig ist, Anrufe weiterleitet, Termine vereinbart und ihre Nase im Grunde in alles steckt, was sie nichts angeht. „Mein Gott, was ist denn passiert? Sie sehen furchtbar aus. Und Sie sind sehr spät dran!“

Bridget ist eine Seele von Mensch, aber sie wäre selbst dann nicht zu einer Notlüge fähig, wenn es um ihr eigenes Leben ginge. Ich weiß, dass ich scheiße aussehe. Sie muss mich nicht daran erinnern. Ich weiß auch, dass ich zu spät komme! In diesem Augenblick hasse ich den ganzen Laden.

Dann bleibe ich wie angewurzelt stehen. Ich komme nicht nur zu spät zur Arbeit. Ich komme zu spät zu einem richtig, richtig wichtigen Meeting. O Scheiße!

„Können Sie oben Bescheid geben, dass ich gleich da bin? Und bitte entschuldigen Sie mich. Ich hatte einen schwierigen Start in den Tag.“ Bridget erwidert meinen Blick eine Spur widerstrebend.

„Die zwei Minuten, um schnell das Make-up aufzufrischen, machen jetzt auch nichts mehr, oder?“, sage ich.

Sie zuckt die Achseln und greift zum Telefon, während ich rasch auf die Toilette schlüpfe und im Spiegel dem Auslöser ihrer unverblümten Worte begegne. Ich sehe aus wie ein Kinderschreck, kreidebleich und überall verschmierte Mascara. Na ja, nichts, was eine Bürste und ein bisschen Kriegsbemalung nicht beheben könnten. Gott sei Dank gibt es Make-up. Ich muss mich beruhigen und vergessen, was für ein Tag heute ist. Lucy Harte, für den Moment werde ich versuchen, die schöne Erinnerung an dich loszulassen.

Wenige Minuten später stehe ich im Aufzug. Meine Augen sind leicht geschwollen, aber es ist mir gelungen, so normal auszusehen, wie es mir unter den gegebenen Umständen möglich ist.

Ich komme eine halbe Stunde zu spät zu einem Meeting mit Will Powers junior. Eigentlich müsste ich völlig aufgelöst sein. Kann der Aufzug denn nicht schneller fahren? Ich bekomme Herzrasen. Na bitte, mein Herz funktioniert. Es mag gebrochen sein, aber es funktioniert, und ich werde täglich an seine Anwesenheit erinnert, wenn es wegen Jeff und dieser katzenliebenden Tussi in immer kleinere Stücke zerbricht.

Aber jedenfalls … Will Powers, der Sohn vom Chef, der glattzüngige, Anzug tragende, stereotype reiche Sohn, mit einem Silberlöffel im Mund geboren und obendrein mit einem düsteren guten Aussehen gesegnet, wartet auf mich und hat wahrscheinlich mittlerweile Schaum vor dem Mund.

Will lebt in Spanien, kommt aber zwischendurch zurück, hauptsächlich, um sich um Personalangelegenheiten zu kümmern. Er ist immer braun gebrannt und gibt sich große Mühe, nett zu sein, aber er würde einem sofort in den Rücken fallen, wenn man mal nicht auf der Hut ist. Man könnte sagen, er hat alles, was man sich wünschen kann … bis er den Mund aufmacht und den größten Scheiß von sich gibt, den man je mit falschem amerikanischen Akzent gehört hat. Er hat also alles, was man sich wünschen kann, bloß kein Herz. Auch er könnte eine Transplantation brauchen, denke ich oft. Seinen versteinerten Klumpen gegen etwas austauschen, das zu echtem Mitgefühl fähig ist.

„Tut mir leid, dass ich zu spät komme“, sage ich, hoffentlich überzeugend, dabei bin ich mir gar nicht sicher, ob es mir wirklich leidtut. Bedauern kann ich neuerdings nur noch mich selbst.

Will sieht auf seine Armbanduhr, und die übrigen machen es wie bei einer La-Ola-Welle genauso. Nachmacher. Fünf Gesichter starren mich an, und ich spüre, dass ich erröte.

Sie warten auf eine Erklärung. Ich merke es an ihrem Schweigen.

„Ich … ich war …“

„Setzen Sie sich, Maggie“, sagt Will.

Mit einer solchen Versammlung habe ich nicht gerechnet, und ich habe keine Ahnung, worum es bei diesem Meeting überhaupt geht. Vermutlich wurde ich im Vorfeld darüber informiert, aber – Überraschung – ich kann mich nicht daran erinnern.

Sämtliche Direktoren des Unternehmens, wirklich alle, befinden sich hier im Raum. Ich wette, ich habe dicke rote Flecken auf der Brust, wie immer, wenn ich unter Druck stehe. Was um alles auf der Welt ist hier los?

Will zieht einen Stuhl vom Tisch ab, und ich setze mich brav hin. Er duftet nach einem edlen Aftershave und schenkt mir ein viel zu weißes Lächeln. „Ich weiß, das ist ein schwieriger Tag für Sie.“

„Wie bitte?“

„Versuchen Sie einfach, sich zu entspannen, Maggie. Wegen einer halben Stunde Verspätung geht die Welt nicht unter. Setzen Sie sich und chillen Sie.“

Chillen? Für wen hält der sich? Jay-Z? Und wer sagt heutzutage noch „chillen“?

Warum starren mich alle an? Was um alles in der Welt weiß er über meinen schwierigen Tag und was er für mein Leben bedeutet? Ich habe niemandem erzählt, dass heute mein Herzgeburtstag ist, und ich achte sehr darauf, dass mein Privatleben auch privat bleibt. Es weiß nicht einmal jemand, dass ich nicht mehr mit Jeff zusammen bin. Na ja, abgesehen von Bridget unten, deren Bruder Jeffs Familie kennt, und ja, ich habe es Diane erzählt, die mir gegenübersitzt und … na gut, möglicherweise habe ich ein paar Leuten davon erzählt. Vielleicht wissen sie alle mehr über mich, als ich dachte. Aber was zum Teufel soll das hier?

„Sie haben sich bestimmt schon gefragt, worum es in diesem Meeting geht, Maggie“, sagt Will. „Hoffentlich haben Sie deswegen keine schlaflosen Nächte gehabt.“

Schlaflose Nächte? Ich habe nicht mehr durchgeschlafen, seit Jeff mich sitzen gelassen hat. Es ist nicht einfach, zu schlafen und gleichzeitig gemeinsame Freunde auf Facebook zu stalken, um herauszufinden, wo er sich rumtreibt.

„Ich schlafe in letzter Zeit nicht gut, aber …“

Die fünf Gesichter sehen mich an.

Will betrachtet mich, die dunklen Augenbrauen zusammengezogen. Sie sehen genauso aus wie die seines Vaters, fällt mir auf. Nein, die von Will senior sind buschiger. Aber auch grauer. Warum denke ich eigentlich über Augenbrauen nach?

„Maggie?“

„Mir geht’s gut. Nur hin und wieder eine schlaflose Nacht, aber doch, es … es geht mir gut“, sage ich und verziehe das Gesicht. Ich glaube, das habe ich für heute oft genug gesagt, aber mehr fällt mir nicht ein. Ich verschränke die Hände auf dem Tisch und wünschte, ich hätte Papiere, auf die ich schauen könnte, oder irgendetwas anderes, um mich zu beschäftigen.

„Sie müssen nicht so tun, als ob es Ihnen gut geht“, sagt Sylvia Madden, eine der CEOs, auf der anderen Tischseite. „Sie haben in letzter Zeit persönlich viel durchgemacht, und niemand erwartet von Ihnen, dass es Ihnen gut geht.“

Sie starren mich wirklich alle an. Ich muss hier raus. Ich will nicht mehr hier sein. Es fühlt sich an, als zöge der Raum sich um mich herum zusammen.

„Ich kann das nicht mehr“, sage ich, und ich erkenne meine Stimme selbst kaum wieder. Ich stehe auf. „Ich muss gehen … Ich muss kündigen. Ich kann das nicht. Tut mir leid.“

Gleich fange ich an zu weinen. Will schüttelt den Kopf. Er lächelt. Warum lächelt er?

„Ich verstehe, warum Ihnen danach ist, alles aufzugeben, zu kündigen“, sagt er. „Aber Sie sind keine, die aufgibt, Maggie.“

Jetzt weine ich wirklich. Ich schluchze heftig, genau wie vorhin, als ich mit Dad telefonierte. Ich setze mich wieder.

„Ich muss … Ich brauche einfach Zeit, um das durchzustehen.“

Es gelingt mir, die Worte halbwegs verständlich herauszubringen, während Sylvia mir ein Papiertaschentuch über den Tisch reicht.

„Ja, das sehe ich“, sagt Will. „Ihre Leistung hat seit der Beförderung nachgelassen, und nachdem wir uns ein bisschen schlau gemacht haben, glauben wir, dass Sie eine Pause brauchen, aber nur für eine Weile, aus gesundheitlichen Gründen.“

„Nachgelassen?“, stottere ich. „So kann man es wohl auch nennen. Ich komme mir vor wie ein Versager. Wahrscheinlich sollte ich gehen.“

Ich versuche, mir ins Gedächtnis zu rufen, inwiefern meine Leistung „nachgelassen“ hat, und krümme mich innerlich, als mir das Ausmaß klar wird. Sicher, ich habe mir ein paar Tage freigenommen nach der Trennung von Jeff, und davor, als es zwischen uns nicht gut lief, bin ich ein paarmal früher gegangen, und dann war da der Tag, an dem ich im Aufenthaltsraum einen Zusammenbruch hatte, aber das war’s eigentlich. Oh, abgesehen von dem Tag, an dem ich einem Kunden eine Immobilie zeigte und weinen musste, weil er mich an Jeff erinnerte, und vielleicht habe ich ein bisschen heftiger mit ihm geflirtet, als professionell noch ratsam gewesen wäre … Mist. Und der eine Tag letzte Woche, an dem ein potenzieller Käufer aus Amerika warten musste, während ich mich im Bad des Boutiquehotels, das ich mit ihm besichtigte, übergeben musste, nachdem ich den armen Mann vorher mit den Wodkaausdünstungen vom Vorabend eingenebelt hatte. Ach du Scheiße.

„Ja, Maggie, es war dürftig in letzter Zeit und sah der dynamischen, tatkräftigen Person, die wir kennen, gar nicht ähnlich“, sagt Will, aber er lächelt noch immer. Er ist nicht wütend. „Fehlzeiten, ‚von zu Hause arbeiten‘, Verspätungen, nicht eingehaltene Termine … Aber Ihre Gesundheit kommt an erster Stelle, und Sie sind eine zu wertvolle Mitarbeiterin, als dass wir da ein Risiko eingehen würden. Sie wirken sehr gestresst und aufgewühlt, daher möchte ich Ihnen gerne eine Auszeit anbieten, damit Sie sich wieder fangen können, bei einer gewissen Gehaltsfortzahlung natürlich, und wenn Sie sich in der Lage sehen, zurückzukommen, steht die Tür immer offen.“

Gestresst? Na ja, natürlich bin ich gestresst. Mein Mann hat mich wegen eines jüngeren Modells sitzen gelassen, heute vor siebzehn Jahren lag ich auf einem Operationstisch, die prognostizierte Lebenserwartung habe ich schon übertroffen, und das alljährliche Gedenken eines weiteren überlebten Jahres bedeutet eine schwere Bürde, das könnt ihr mir glauben, weil ich mittlerweile eine ganz ansehnliche Dankesschuld mit mir herumschleppe.

Aber eine Auszeit … Gehaltsfortzahlung? Es schnürt mir die Luft ab, und die Wände bewegen sich wieder auf mich zu. Warum werfen sie mir diese Rettungsleine hin? Das habe ich nicht verdient.

„Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?“, fragt Sylvia. Ich wünschte, sie würden aufhören, mich anzusehen und zu lächeln. Warum müssen sie so nett sein? Da geht es mir gleich noch schlechter.

Als ich aufblicke, kommt gerade Will Powers senior herein und entschuldigt sich für seine Verspätung. Du lieber Himmel, das ist wirklich ernst. Sehr ernst. Beide Wills zusammen in einem Raum deutet immer auf eine Krise hin. Genau genommen jagt dieser Anblick jedem Mitarbeiter einen Riesenschreck ein.

Sylvia reicht mir ein Glas Wasser, und ich leere es in einem Zug. Mir war gar nicht klar, dass ich solchen Durst hatte.

Will senior setzt sich rechts von mir an den Tisch und ergreift meine kalte, verschwitzte Hand. Ich habe ihn immer sehr bewundert, das weiß er, und er hat mich gefördert, seit ich in der Firma bin, hat mir eine Chance nach der anderen gegeben. Mir ist, als hätte ich ihn im Stich gelassen.

„Maggie, wir wollen Sie nicht verlieren“, sagt er sanft und erinnert mich dabei an meinen Vater. Sie sind ungefähr im selben Alter, aber ansonsten liegen Welten zwischen ihnen. Mein Vater fährt einen Traktor, Will Powers senior einen Jaguar. Mein Vater macht Ferien mit dem Caravan in Donegal, während Mr. Powers mit seiner Frau Karibikkreuzfahrten unternimmt. Trotzdem hat er etwas an sich, was mich an den alten Robert auf seiner Farm erinnert, mit den Kühen und Schafen, seiner Vorliebe für ein deftiges Frühstück am Wochenende und seiner derzeitigen Fixierung auf Promi-Scheidungen.

„Es tut mir leid, Mr. Powers. Es tut mir so leid, wenn ich Sie in irgendeiner Weise enttäuscht habe. Ich weiß, ich habe einige Tage gefehlt, und meine Leistung hat vermutlich, ähm, nachgelassen, aber ich versichere Ihnen, dass ich das wiedergutmache. Für Sie. Für Sie alle.“

Da sitze ich nun, beinahe vierunddreißig Jahre alt, in meinem schicken Kostüm und den teuren Schuhen, fast auf dem Höhepunkt meiner Karriere, und fühle mich wie ein Schulmädchen, das seine Hausaufgaben nicht gemacht hat oder beim Schummeln erwischt wurde.

„Sie haben niemanden enttäuscht“, sagt Mr. Powers. Die anderen nicken wie Wackeldackel. „Und geraten Sie nicht in Panik und denken, wir hätten nur Ihretwegen eine Krisensitzung einberufen. Wir haben heute ein paar größere Projekte zu besprechen, deshalb sind wir alle hier, aber weil Sie uns so wichtig sind, wollten wir Ihnen unsere volle Unterstützung bezeugen, indem wir Ihnen helfen, das durchzustehen, was Sie durchstehen müssen.“

Mir fallen weitere Vorfälle ein: der Autounfall, den ich beinahe gehabt hätte, als ich noch ein bisschen angeschickert vom Vorabend zur Arbeit kam; die Tage, an denen ich so verkatert im Büro erschien, dass ich kaum einen zusammenhängenden Satz zustande brachte … Da waren so viele Kleinigkeiten, die ich lieber verdrängt hatte, und jetzt kommen sie mir alle wieder in den Kopf wie ein schmutziger Schneeball, der hügelabwärts auf mich zurollt. Der Tag, an dem ich eine E-Mail an den falschen Kunden schickte und mit einem X wie für einen Kuss beendete, wieder mal nach einem alkoholseligen Mittagessen; und das Meeting, in dem ich jemanden die ganze Zeit mit falschem Namen anredete, weil ich zu durcheinander und zu wütend auf Jeff gewesen war, um mich auch nur minimal vorzubereiten.

Und sie werfen mir eine Rettungsleine zu. Anstatt mir zu sagen, ich solle meinen Schreibtisch räumen und nie mehr wiederkommen, geben sie mir eine Chance, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Wow.

„Wir dachten für den Anfang an sechs bis acht Wochen“, sagt der junge Will Powers am Kopf des Tisches. „Falls das nicht genügt, lassen Sie es uns einfach wissen. Wir brauchen alle mal eine Auszeit, Maggie. Himmel, ich brauche die jedenfalls von Zeit zu Zeit. Ich will nicht erleben, dass jemand von unserem Personal einen Burn-out hat, schon gar nicht jemand, der so wertvoll für unser Team ist wie Sie.“

Meine Güte, der Mann aus Stahl hat doch ein Herz, und auch noch ein ziemlich großes.

„Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Sind Sie ebenfalls der Meinung, dass das helfen könnte?“, fragt Sylvia mir gegenüber. Ich habe sie immer für einen selbstverliebten kleinen Snob gehalten, aber jetzt könnte ich schwören, dass ihre Augen sich vor Mitgefühl mit Tränen füllen.

„Ja“, murmele ich, nicke und putze mir die Nase. „Ja, ich glaube schon. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm ist, aber jetzt, wo ich hier sitze … na ja, doch, ich glaube, das würde mir helfen.“

„Das ist gut“, sagt Will senior. „Ich möchte Sie so bald wie möglich wieder mitten im Geschehen bei Powers Enterprises sehen, und falls es noch etwas anderes gibt, womit wir Ihnen helfen können, dann rufen Sie mich einfach an.“

Ich sehe auf die Visitenkarte, die er mir in die Hand drückt, und drehe sie um. Auf der Rückseite steht in seiner eigenen Handschrift seine Privatnummer. Ich werde von heftigen Gefühlen überwältigt, alles läuft wie ein Zeitlupenfilm vor mir ab, während ich ungläubig zuschaue.

„Danke, Mr. Powers“, flüstere ich und starre immer noch auf die Visitenkarte. „Danke. Ich danke Ihnen allen.“

Er bringt mich zur Tür, doch anstatt dort stehen zu bleiben, begleitet Will Powers senior mich durch das Großraumbüro, an meinen Kollegen vorbei, die nicht einmal die Köpfe heben (das wagt niemand, wenn er in der Nähe ist) und runter in die Eingangshalle. Gott sei Dank ist Bridget gerade nicht an der Rezeption. Wir gehen nach draußen. Der Regen hat aufgehört, und Davey macht wohl eine Zigarettenpause, sodass der Weg zu meinem Wagen frei ist, aber Mr. Powers bleibt stehen, bevor wir am Auto sind.

„Manchmal, Maggie, ist das Leben zu schnell, und wir können nicht mithalten, egal, wie sehr wir uns bemühen. Ehe man sichs versieht, steht man vor dem Ruhestand, beißt sich in den Hintern und fragt sich, wie um alles auf der Welt man nur die einfachen Dinge des Lebens versäumen konnte. Nehmen Sie sich etwas Zeit und atmen Sie durch. Unternehmen Sie jeden Tag mindestens einmal etwas Schönes, etwas für sich selbst. Sammeln Sie neue Kräfte, und dann will ich Sie wieder hierhaben, wo Sie hingehören. Hören Sie?“

Ich nicke und lächele. Wenn es diesen Mann nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.

„Sie sind ein ganz besonderer und sehr gütiger Mann, Mr. Powers“, sage ich. „Das werde ich Ihnen nie vergessen. Danke.“

„Wir sehen uns sehr bald wieder hier“, sagt er, und ganz kurz glaube ich, er will mich väterlich in die Arme nehmen, aber er bremst sich und klopft mir nur auf die Schulter. Dann geht er zurück zu dem Bürohochhaus, in dem ich in den vergangenen fünf Jahren einen Großteil meines Lebens verbracht habe.

Eine Weile sitze ich im Auto, atme tief in meinen Bauch und versuche, zu verdauen, was gerade passiert ist, und das ausgerechnet heute. Ich spüre, wie sich eine Last von meinen Schultern hebt, ein Teil des Drucks sich bereits gelöst hat, und ich lasse mir Zeit, ehe ich schließlich losfahre und erst beim Spirituosengeschäft wieder anhalte.

Ich brauche was zu trinken.

KAPITEL 3

Es ist fast zehn Uhr abends, ich sehe mir ganz allein meine Hochzeits-DVD an und spule immer wieder zu dem Teil zurück, wo Jeff das Gedicht vorliest, das er eigens für mich geschrieben hat. Dann folgt eine große Nahaufnahme von mir, auf der meine Augen vom Weinen vor Rührung über seine überwältigende Liebe gereizt und rot sind.

Jetzt sind sie gereizt und rot von meiner überwältigenden Liebe für Sauvignon Blanc. Ist es nicht erstaunlich, was ein, zwei Jahre ausmachen können?

„Du richtest mich auf, wenn ich niedergeschlagen bin. Du lächelst, und die Sonne geht auf. Du bist die Einzige für mich, die eine, die ich liebe, und die eine, mit der ich alt werden will.“

Kotz …

Jetzt, wo ich unsanft aus meiner rosaroten, romantischen Verliebtheitsphase gerissen wurde, erkenne ich, dass er das vermutlich aus dem Internet hat oder aus einem Ronan-Keating-Song. Ich bin gerade in einer ganz finsteren Xanthippe-Phase, nachdem ich den gesamten Nachmittag über geschlafen und getrunken, geschlafen und getrunken und weitere Anrufe ignoriert habe. (Diesmal war es Flo. Die kommt damit schon klar.)

Ich schalte die DVD aus, stelle im Radio einen Sender mit Popklassikern aus den Achtzigern ein und schwanke im Takt zu Rick Astley. Dann sehe ich aus dem Fenster auf die Stadt unter mir und hebe das Glas auf meine Freiheit und meine Zukunft. Ich muss optimistisch sein. Ich bin angesäuselt und optimistisch und „Aussteigerin auf Zeit“ – so nennt man das jetzt. Die Welt liegt mir zu Füßen und wartet nur auf mich, angefangen bei dieser Stadt, in der ich zu Hause bin.

Außerdem ist es immer noch mein Herzgeburtstag, oder? Genau auf den Tag vor siebzehn Jahren stand ich an der Schwelle des Todes, und dann bekam ich durch das wundersame Geschenk des Lebens, das ein junges Mädchen in Schottland und ihre unglaubliche Familie mir machten, die Chance, zur Frau heranzuwachsen. Was soll’s, wenn ich keinen Mann mehr habe? Was soll’s, wenn ich beinahe meinen Job verloren hätte, weil ich mich in letzter Zeit total danebenbenommen habe? Ich habe immer noch ein Leben! Ich weiß nicht, wie lange noch, aber einstweilen habe ich es, und es ist dazu da, gelebt zu werden!

„Ich habe immer noch ein Leben!“, schreie ich zum offenen Fenster hinaus, und ein Pärchen unter mir schreit zurück, ich solle mich verpissen. Lächelnd winke ich ihnen zu. Ich bin wieder mal betrunken. Und ich finde es toll! Im Augenblick finde ich alles toll!

Vor allem finde ich Belfast toll. Ich finde die Lebendigkeit der Stadt toll, das Beobachten der Leute, das kulturelle Leben, die vielen verschiedenen Akzente, das Shoppen, das Nachtleben und das Gemeinschaftsgefühl, das es hier noch gibt, obwohl Belfast für ein Mädchen vom Land wie mich eine ziemlich große Stadt ist mit ihren Universitäten, den kosmopolitischen Stadtvierteln und der düsteren, blutigen Vergangenheit.

Ich denke an alle Männer, die ich geliebt und verloren habe, seit ich zum Studieren hierherzog, und da muss ich lachen. Ich kann gar nicht mehr aufhören zu lachen.

Da war Bob, der Maschinenbaudoktorand (oder Bob der Baumeister, wie wir ihn alle nannten), der nach Australien ging, als ich mitten im Studium war, und nie zurückkehrte. Da war Martin, ein Buchhalter aus Dublin, der sagte, er liebe mich, aber mit meinen Hennatattoos und den lila Haaren, die ich damals trug, könne er sich mich vom Typ her nicht als Ehefrau vorstellen. Da war Andrew, der im Vertrieb arbeitete, aber, wie sich herausstellte, ein Strafregister hatte, das so lang war wie meine bekanntermaßen langen Beine; und schließlich war da Jeff, der Lehrer, der mich, wie bereits erwähnt, schneller wegen Saffron, der Flugbegleiterin, verließ, als sein Ehering matt werden konnte.

Mein Liebesleben war … sagen wir einfach, schillernd und kompliziert.

„Ich finde es toll, schillernd und kompliziert zu sein!“, schreie ich und tanze weiter allein vor mich hin.

„Verpiss dich!“, schreit der Klugscheißer von unten noch einmal. Diesmal zeige ich ihm den Stinkefinger, und dann gehe ich lachend zum Sofa, ganz vertieft in den Wham!-Song, der gerade läuft. Das macht Spaß. Keine Arbeit morgen, ein Weißweinschwips und Wham! Was will frau mehr? Wer braucht schon einen Mann und einen Job? Ich bin betrunken, und ich bin total gut drauf! Ich packe das! Ich packe das endlich!

Mein Blick fällt auf meine Post auf dem Couchtisch. Wie aufregend! Ich habe Post! Echte Schneckenpost. Ich schnappe sie mir und versuche, sie beim Tanzen zu sortieren, aber mir verschwimmt alles vor Augen, und ich muss erst mein Weinglas abstellen, bevor ich mich auf die Briefe konzentrieren kann.

Einer vom Mobilfunkanbieter, eine Kreditkartenabrechnung … Ich werfe beides auf den Boden.

Ein Prospekt mit Sonderangeboten vom örtlichen Supermarkt, ein Ein-Pfund-Gutschein für Waschpulver. Wie aufregend? Das fliegt gleich hinterher.

Aber dann erregt ein handschriftlich adressierter Brief meine Aufmerksamkeit, und ich bleibe wie angewurzelt stehen.

Ich sehe mir den Umschlag genau an und weiß sofort, dass er immens wichtig ist, aber die Worte bewegen sich, tanzen vor meinen Augen. Ich kneife sie zusammen. Hilft auch nicht. Ich schließe ein Auge. Die Handschrift ist akkurat, die Adresse mit schwarzer Tinte in Druckbuchstaben geschrieben. Das erinnert mich an die Briefe, die ich früher von meiner Brieffreundin in Brighton bekam. Sie zog zuerst mit Bleistift und Lineal Linien auf dem Umschlag, sodass sie ihn ganz gerade und regelmäßig beschriften konnte, und dann radierte sie die Linien wieder aus. Schräg.

Ich versuche, den Poststempel zu entziffern, was mir nach einer Weile auch gelingt. Demzufolge wurde der Brief im Städtchen Tain in der Nähe von Inverness in Schottland aufgegeben.

Schottland? Tain? Ach du Scheiße!

Mir bleibt das Herz stehen. Ziemlich ironisch eigentlich, aber es setzt buchstäblich einen Schlag aus, und als ich wieder atmen kann, greife ich nach meinem Wein und leere das Glas in einem Zug.

Es gibt nur einen Menschen, den ich in Tain kenne. Einen Menschen, den ich kenne, dem ich aber nie begegnet bin und auch nie begegnen werde.

Dieser Mensch ist Lucy Harte. Und Lucy Harte ist tot.

KAPITEL 4

Ich wache bei Tageslicht mit dem noch immer ungeöffneten Brief in der Hand auf. Ich muss im Vollrausch einfach umgekippt sein – wieder mal –, oder vor lauter Panik vor dem, was sich in diesem Briefumschlag befinden könnte.

„Mach ihn auf, Maggie“, sagt Flo, als ich sie anrufe. Sie ist nicht sauer, obwohl es erst sieben Uhr morgens ist; andererseits ist ihr Sohn vermutlich seit mindestens einer Stunde wach, also ist es für sie schon mitten am Tag. „Bringt doch nichts, ihn bloß anzustarren und rumzurätseln. Soll ich wirklich nicht rüberkommen?“

Ich halte noch immer den Brief in der Hand und trinke einen Schluck von meinem letzten Glas Wein von gestern Abend. Er schmeckt wie Essig. Ich muss würgen. Wirklich nüchtern bin ich noch nicht. Aber unglücklicherweise kann Flo nicht einfach rüberkommen – so sehr ich das auch möchte. Als alleinstehende Mutter kann sie um diese Tageszeit nicht einfach alles stehen und liegen lassen und mit ihrem Zweijährigen auf der Hüfte aus dem Haus rennen. Er geht zur Schule. Nein, er ist erst zwei, also geht er noch nicht zur Schule. Er geht in die Kindertagesstätte. Ich bin echt eine miserable Freundin.

„Sei nicht albern“, sage ich, auch wenn ich meinen rechten Arm dafür hergeben würde, wenn sie jetzt neben mir sitzen könnte. „Du musst Billie fertig machen. Glaubst du wirklich, er ist von ihnen?“

Ich höre Flo tief durchatmen. Schließlich antwortet sie.

„Wenn sich nicht jemand einen kranken Scherz erlaubt hat, dann wird er wohl von ihnen sein. Ich meine, Tain ist nicht gerade das Zentrum des Universums, und so, wie du den Umschlag beschreibst, ist es weder eine Rechnung noch eine Werbesendung oder ein Bettelbrief von einer Spendenorganisation. Das müssen sie sein.“

„Sie“ sind die Familie Harte, Lucy Hartes Familie. Ich weiß nicht, wie viele von ihnen es gibt, ob es sich um Männer, Frauen oder Kinder handelt, um Lucys Großeltern oder ihre Eltern. Obwohl ich mit Anfang zwanzig versucht habe, sie auf dem offiziellen Weg über Krankenhäuser und die Behörden zu kontaktieren, weil ich ihnen danken wollte, ist dies das erste Echo, das ich erhalte, und ich hätte niemals damit gerechnet, auf diesem Weg von ihnen zu hören.

Aber warum sollten sie mir schreiben? Warum jetzt? Warum nicht damals, vor vielen Jahren, als ich es wollte?

„Sie dürfen mich nicht direkt kontaktieren, Flo.“ Jetzt sehe ich mich in der Küche um und durchsuche sämtliche Ecken und Winkel nach einer Zigarette. Ich rauche nicht, habe es nie getan, aber ich brauche etwas, um meine Nerven zu beruhigen. Jeff hat früher manchmal geraucht, wenn er angespannt war, also funktioniert es bei mir vielleicht auch. „Das ist eine heikle Sache. Man soll über die Krankenhäuser gehen, wenn man sich miteinander in Verbindung setzen will.“

„Das bedeutet aber nicht, dass sie dich nicht finden, wenn sie das wollen“, sagt Flo. „Die Welt ist klein, Maggie. Du kennst Lucys Namen, also können sie auch deinen herausfinden. Eine schnelle Google-Suche oder ein bisschen Rumschnüffeln auf Facebook, et voilà. Dafür muss man kein Genie sein.“

„Stimmt wohl“, murmele ich. „Aber was wollen sie von mir?“

„Na ja, was wolltest du denn immer von ihnen?“, fragt Flo zurück.

„Damit abschließen vielleicht? Eine Gelegenheit, mich für mein beschissenes Leben zu bedanken.“

„Du hast kein beschissenes Leben“, versichert mir Flo. „Es ist nur vorübergehend scheiße.“

Ich zünde mir die Zigarette an, die ich schließlich in einer Schachtel in einer Schublade gefunden habe. Ich wusste doch, dass da noch eine von meiner Einweihungsfeier sein musste. Am nächsten Morgen fanden sich alle möglichen Hinterlassenschaften einer rauschenden Party.

„Rauchst du?“, fragt Flo.

„Kannst du hellsehen?“, gebe ich zurück. Mein Gott, ihr entgeht aber auch gar nichts.

„Manchmal glaube ich, ein bisschen schon. Denkst du das auch?“

„Nein. Und ja, ich rauche. Ich würde auch was Stärkeres nehmen, wenn ich was in die Finger kriegen könnte, glaub mir.“ Das stimmt nicht so ganz, denn in Wirklichkeit habe ich panische Angst vor allem, was stärker ist als eine Mentholzigarette, und Flo weiß das.

„Wie auch immer. Machst du den Brief jetzt auf oder nicht?“, fragt sie. „Egal, ob das der offizielle Weg ist, du musst ihn öffnen, sonst machst du dich völlig verrückt und mich gleich mit.“

„Okay, okay, bin schon dabei.“

Ich lege die Zigarette in den Aschenbecher und stoße den Rauch aus. Ich muss husten. Mein schlechtes Gewissen und ein akuter Brechreiz veranlassen mich, die Zigarette nach nur einmal Paffen auszumachen. Widerlich.

„Ich dachte, es wäre das, was du dir immer gewünscht hast, Maggie.“

„Es ist das, was ich mir immer gewünscht habe“, flüstere ich. Dann klemme ich mir das Telefon zwischen Ohr und Schulter, und meine Finger reißen wie auf Autopilot den Briefumschlag auf. „Aber ich habe auch Panik, Flo. Ich glaube, ich stehe unter Schock.“

„Okay, warte eine Sekunde. Warte!“, sagt Flo. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie mich sehen kann. Diese Frau hätte Kriminalpolizistin werden sollen. Sie liest in mir wie in einem Buch.

„Was? Ich bin dabei, ihn aufzumachen, Herrgott noch mal!“

„Ich möchte doch nur, dass du dir überlegst, was du von diesem Brief erwartest. Was hattest du dir erhofft, wenn du der Familie Harte begegnest oder mit den Leuten redest? Du sagst, damit abschließen zu können. Sonst noch was?“

„Ich glaube … ich glaube, ich möchte sie einfach loslassen“, sage ich und schließe die Augen, während mir die Bilder, die ich mir von Lucy gemacht habe, durch den Kopf schießen. „Ich möchte die Tür hinter Lucy Harte schließen und mit meinem eigenen Leben weitermachen. Und ich glaube nun mal, dass ich das nur schaffe, wenn ich denjenigen danke, die damals beschlossen haben, Leuten wie mir Lucys Organe zu spenden, nachdem sie gerade erst ihr Kind verloren hatten.“

„Tja, das bringt es auf jeden Fall auf den Punkt“, sagt Flo, und schon habe ich den Brief auseinandergefaltet, und die Worte verschwimmen mir vor Augen. Er ist genau wie die Adresse in akkurater Handschrift mit schwarzer Tinte geschrieben. Ich bin beeindruckt.

„O Gott, Flo.“

„Was ‚o Gott, Flo‘? Was?

„Er ist von ihnen. Er ist wirklich von ihnen! Soll ich vorlesen?“

„Tja, ich kann den Brief von hier aus nicht selbst lesen, oder? Ja! Lies vor!“ Sie hält kurz inne. „Natürlich nur, wenn du willst. Ich kann auch später noch mal anrufen, wenn du dabei lieber allein sein willst.“

Ich will dabei auf gar keinen Fall allein sein, deshalb habe ich Flo ja angerufen. Die ersten zwei Zeilen habe ich schon gelesen, aber noch nicht ein Wort davon erfasst.

„Okay, los geht’s“, sage ich und räuspere mich, als stünde ich vor einem riesigen Publikum. „Liebe Maggie …“

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