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Wo der Seewind flüstert. Die St.-Peter-Ording-Saga

Als Buch hier erhältlich:

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Die große St.-Peter-Ording-Saga von Bestsellerautorin Tanja Janz

1959: Sabine träumt nach dem Abschluss der Frauenfachschule davon, den Sommer am Gardasee zu verbringen. Doch familiäre Pflichten führen sie zu ihrer Tante nach Nordfriesland. Ihre Eltern bestehen darauf, dass Sabine ihr in St. Peter hilft. Obwohl sie von italienischem Flair und weiter Welt geträumt hat, lernt Sabine bald den Zauber Nordfrieslands und des Strandcafés in Ording zu schätzen. Auch der junge Tom lässt sie hier ihr Fernweh schnell vergessen. Doch Sabine muss sich erneut den Wünschen ihrer Eltern beugen und St. Peter verlassen. Findet sie dennoch einen Weg in eine Zukunft mit Tom?


  • Erscheinungstag: 21.03.2023
  • Aus der Serie: St. Peter Ording Saga
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002551

Leseprobe

Für Ursula Schön,
die mich ins St. Peter-Ording
der 1950er und 1960er entführt hat.
Wie schön, dass ich dich kennenlernen durfte,
liebe Ursula!

KAPITEL 1

Juni 1959, Freibad Grimberg in Gelsenkirchen

Sabine legte den Kopf in den Nacken und schirmte ihre Augen mit einer Hand gegen das grelle Sonnenlicht ab.

»Hoffentlich trifft er das Becken«, merkte Rita an und schob ihre verrutschte Sonnenbrille zurück auf die Nase. Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte Rita skeptisch nach oben.

»Mal den Teufel nicht an die Wand!« Sabine schüttelte den Kopf und knuffte ihre beste Freundin tadelnd in die Seite, woraufhin Rita kicherte. Dann ging auch ihr Blick wieder zum Zehnmeterturm, den Ort der allgemeinen Aufmerksamkeit.

Auf der Brettkante stand er. Gino. Der beste Freund ihres großen Bruders und ihr heimlicher Schwarm. Der schöne Gino in enger Badehose, fast schwarze Haare und eine athletische Figur wie gemalt. Aus der Entfernung sah Sabine seine strahlend blauen Augen leider kaum, aber sie wusste, dass sie die Farbe des Gardasees hatten. Nicht dass sie jemals in Italien gewesen wäre. Aber Ginos Eltern waren Italiener, die mussten es wissen und verwendeten diesen Vergleich gerne, wenn sie von ihrer Heimat schwärmten.

Vincenzo und Antonella Rossi waren vor einigen Jahren dem Ruf der Stadt der tausend Feuer gefolgt. Weil Ginos Vater eine Arbeit als Bergmann auf Consol angenommen hatte, war die ganze Familie von Verona nach Gelsenkirchen gezogen. Sabines Vater arbeitete dort im Schacht 4. Ginos Vater war hingegen im Schacht 3, wie Sabine bei einem Gespräch aufgeschnappt hatte.

Dennoch kannten sie sich und waren sogar befreundet. Was sie neben der Arbeit verband, war die Liebe zum Fußball. Deshalb hatte ihr Vater Vincenzo Rossi vor Jahren zu einem Heimspiel des FC Schalke 04 mitgenommen, das auf dem Gelände der Glückauf-Kampfbahn in eben jenem Stadtteil von Gelsenkirchen stattgefunden hatte. Spätestens nach dem Siegtor gegen den VfL Bochum war Vincenzo Rossi der Überzeugung, dass die Deutschen fast so leidenschaftlich Fußball spielten wie die Mannschaften in Italien. Neben seiner Liebe zum AC Mailand schwärmte er fortan auch für den FC Schalke. Und seit jenem Tag gingen Ginos und Sabines Väter gemeinsam auf Schalke. Es schien, dass keiner von ihnen sich mehr vorstellen konnte, dass es jemals anders gewesen war.

Gino machte sich bereit. Er schwang die Arme nach oben und setzte zum Sprung an.

Sabine hielt vor Anspannung den Atem an. Was, wenn Ritas Bemerkung wahr werden und Gino am Ende doch das Becken verfehlen würde?

»Wenn das mal gut geht!« Rita zog geräuschvoll Luft durch die Zähne ein.

»Hör bloß auf!«, herrschte Sabine sie angespannt an. Sie kniff die Augen fest zusammen, sie konnte nicht hinsehen. Die umstehenden Leute johlten, riefen Anfeuerungen und klatschten in die Hände.

Dann erklang ein lautes Plumpsen, und ein Schwall Wasser spritzte hoch und traf sogar auf Sabines Oberkörper. Abrupt riss sie die Augen wieder auf und machte einen Satz zurück. »Ist das kalt!«

»Er hat das Becken doch getroffen«, bemerkte Rita grinsend, die ebenfalls Wasserspritzer abbekommen hatte. Sie schien es jedoch nicht im Geringsten zu stören. Ihr geblümter Bikini passte gut zu ihrer Figur und ihrer gebräunten Haut.

Insgeheim beneidete Sabine ihre Freundin um ihre Wespentaille und ihren vollen Busen. Von weiblichen Rundungen konnte sie selbst nur träumen. Glücklicherweise war ihr Badeanzug mit einem figurformenden Innenfutter ausgestattet, das den Anschein einer Taille und eines Busens erweckte.

Auf Ritas Kopf thronte ein Strohhut mit einer rot-weißen Borte, unter dem ihre blonden Locken hervorlugten. Wie immer trug sie die neueste Mode und erntete dafür nicht nur von Frauen bewundernde Blicke. Ihren Eltern gehörte der Friseurladen Salon Inge auf der Bickernstraße, wo Rita eine Lehre zur Friseurin machte. »Man kann als Frisöse ja nicht in altmodischen Fräckchen durch die Weltgeschichte laufen. Dann kommt doch keiner mehr zum Haaremachen«, hatte sie einmal gesagt und dabei nicht unzufrieden gewirkt. Sabine wusste natürlich, dass ihre Freundin einfach Spaß daran hatte, stets den neusten Modetrend auszuprobieren, und das lediglich begründen wollte. Ritas Eltern hatten danach bereitwillig einen Bikini gekauft, auch wenn Rita ihn kaum bei der Arbeit im Salon getragen hätte. Doch Herr und Frau Brosch begriffen sich als eine Art Institution. Sie hatten es sich zur Mission gemacht, dafür zu sorgen, dass selbst die Frauen aus Gelsenkirchen-Bismarck modisch denen aus Düsseldorf in nichts nachstanden.

Sabines Badeanzug war zwar kein Bikini, dennoch fühlte sie sich in dem vorteilhaft geschnittenen Modell gut. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und konzentrierte sich wieder auf Gino, während er unter dem Applaus der Umstehenden zum Beckenrand schwamm. Er beeilte sich nicht, vollführte aber auch keine Kunststücke mehr und lächelte nicht einmal. Dennoch sprach Stolz aus jedem seiner Schwimmzüge.

»Was ist, kommst du mit ins Wasser?«, fragte Rita herausfordernd. »Wer als Erste im Becken ist?«

Sabine schüttelte den Kopf. »Nein, ich werde mal zurück zu Karin gehen. Sie langweilt sich bestimmt ganz allein auf der Decke. Außerdem ist mein Badeanzug nass geworden.«

Rita schüttelte lachend ihre Locken. »Dafür sind Badeanzüge doch da.«

»Später vielleicht.« Ihr Blick ging erneut zu Gino. Jetzt stand er am Beckenrand. Einige Jungs klopften ihm anerkennend auf die Schulter, und die Mädchen schauten voller Bewunderung zu ihm auf. Doch er war viel zu bescheiden, um diese Situation auszukosten oder gar mit seinem Wagemut zu prahlen. Stattdessen ging er zu Sabines Bruder Rolf, der mit drei anderen Jungs an einer Brause im Fußbecken stand.

Rita lächelte. »Wie kann man nur so wasserscheu sein. Ein Wunder, dass du dich hinter den Ohren wäschst.«

»Wie kann man so eine Wasserratte sein«, gab Sabine zurück. »Dir wachsen bestimmt eines Tages Schwimmhäute zwischen den Fingern.«

Rita winkte ab. »Nimmst du die mit?« Sie reichte Sabine ihre Sonnenbrille und ihren Strohhut.

Lachend setzte Sabine sich den Hut auf. »Mit dem größten Vergnügen. Der Hut hilft mir dabei, die unkontrollierte Vermehrung meiner Sommersprossen in Schach zu halten.« Sabine strich sich die dicken braunen Haarsträhnen auf die Schultern.

»Na dann.« Rita blickte zum Schwimmerbereich, den eine Wand im Becken vom Sprungbereich trennte. »Aber nachher gehen wir im Allgemeinbecken noch eine Runde plantschen, ja?« Sie zeigte auf das große Becken, das im hinteren Bereich des Freibads hinter einem kleinen Wall lag.

Dort war das Wasser zunächst wadenhoch, das Becken wurde tiefer, je weiter man sich vorwagte. Erst hinter dem Seil fiel die Wassertiefe bis auf nahezu zwei Meter ab.

Natürlich wusste Rita um Sabines Dilemma. Im Gegensatz zu ihrer Freundin schaffte sie nämlich keinen einzigen Schwimmzug. Sabine konnte nicht sagen, wie oft Rita ihr bereits angeboten hatte, ihr das Schwimmen beizubringen. Sie hatte es jedes Mal ausgeschlagen. Denn es wäre ihr einfach zu beschämend, wenn Hinz und Kunz sie bei ihren ungelenken Schwimmversuchen beobachtet hätten und sie dadurch zum Bismarcker Tratsch geworden wäre. Sie genierte sich, vor anderen zugeben zu müssen, dass sie mit ihren siebzehn Jahren noch immer Nichtschwimmerin war. Ihre Geschwister Rolf und Karin konnten natürlich schwimmen. Rolf hatte als kleiner Junge von Opa Erich Schwimmstunden im Kanal bekommen und es später Karin beigebracht. Aber Sabine hatte den geeigneten Zeitpunkt verpasst. Sie hatte auch nicht danach gefragt, denn Wasser war ihr außerhalb des Badezimmers immer suspekt gewesen. Besonders wenn es trüb war und sie nicht bis auf dessen Grund schauen konnte. »Beim nächsten Mal«, hatte sie Rolfs Angebot genauso regelmäßig abgewiegelt wie Ritas.

Tapfer nickte Sabine ihrer Freundin Rita zu. »Ist gut. Aber nur bis zur Leine.«

»Selbstverständlich.« Rita zwinkerte ihr zu. »Nicht auszudenken, wenn du am Ende noch von Gino gerettet werden müsstest.«

Sabine streckte ihrer Freundin die Zunge raus. »Sieh du lieber zu, dass sich kein Aal aus dem Kanal ins Becken verirrt hat, der dich in den großen Zeh beißt.«

Rita lachte auf. »Ich werde mich bemühen. Bis nachher!«

»Bis nachher!« Sie wandte sich ab, setzte sich Ritas Sonnenbrille auf und ging über den mit Gras bewachsenen Wall auf die große Liegewiese. Die Badegäste hatten in geringem Abstand zueinander Decken ausgebreitet.

Das Freibad Grimberg war bei schönem Sonnenwetter stets brechend voll. Gerade am Wochenende drängte halb Gelsenkirchen ins Bad. Spätestens gegen Mittag traten sich die Leute gegenseitig auf die Füße, und an richtiges Schwimmen war ohnehin nicht mehr zu denken – was Sabine mehr erleichterte, als dass es sie gestört hätte. Sie stieg vorsichtig über einige Decken, lief über schmale Rasenstreifen und sah sich um.

Es brauchte einige Minuten, bis sie die Decke gefunden hatte, auf der ihr Korb stand. Aber keine Spur von Karin. Dabei hatte ihre kleine Schwester doch hoch und heilig versprochen, so lange die Stellung zu halten, bis sie zurück sein würde.

Sabine kniete sich auf die Decke und durchsuchte den Inhalt des Korbs, bis sie den Haustürschlüssel und ihre Geldbörse fand. Sie öffnete den Bügelverschluss des Portemonnaies und schaute hinein. Erleichtert atmete sie auf, als sie fünf Groschen zählte. Es schien alles da zu sein.

Aber wo mochte Karin nur stecken? Mit ihren nunmehr zehn Jahren war sie immerhin alt genug, um sich an Vereinbarungen zu halten. Früher war sie absolut zuverlässig gewesen, aber seit die Pubertät bei ihr eingesetzt hatte, hatte Karin nur noch Flausen im Kopf. Nicht auszudenken, wenn der Haustürschlüssel weg gewesen wäre. Mutti und Vati hätten Sabine als ältere Schwester einen Kopf kürzer gemacht – Karin hätte höchstens einen mahnenden Blick kassiert. Rolf wäre ebenso fein raus gewesen. Seit er Geselle in der Bäckerei Gatenbröcker war, schien er seiner geschwisterlichen Pflichten gänzlich entbunden zu sein, die Sabine nun offenbar von ihm geerbt hatte – ohne es zu wollen.

Sie richtete sich wieder auf und ließ den Blick suchend über die Anlage gleiten. Das Freibad lag tiefer als das umliegende Gelände, sodass man als Besucher einen guten Überblick über das jeweilige Becken hatte, zu dem man wollte. Es gab zwei Nichtschwimmerbecken, in die Metallrutschen führten. Weiter oben befand sich die große Spielplatzwiese, die von einem kleinen Wäldchen umgeben war. Dort gab es idyllische Plätze, die besonders bei Liebespaaren hoch im Kurs standen.

Ihr Blick blieb an einem Grüppchen hängen, das sich einen Steinwurf entfernt zusammengefunden hatte. Erleichtert atmete Sabine auf. Karin hatte sich zu einer Familie aus der Nachbarschaft gesellt, zu den Puscheks, mit deren Tochter Maria sie befreundet war. Sabines Ärger ließ nach. Sie nahm den Korb und ging zu ihnen hinüber.

»Hier bist du! Ich dachte schon, du bist verschüttgegangen.«

Karin sprang auf. Ihr war das schlechte Gewissen anzusehen. »Ich bin erst seit ein paar Minuten hier. Ehrlich! Ich habe auch immer zum Korb geguckt«, rechtfertigte sie sich.

»Du hättest den Korb einfach mitnehmen können«, gab Sabine zu bedenken und nickte dann den Puscheks zu. »Guten Tag! Ziemlich heiß heute, nicht wahr?«

»In der Tat!« Frau Puschek wischte sich die Stirn mit einem Stofftuch ab. »Glückwunsch übrigens zu deiner bestandenen Prüfung, Sabine. Deine Mutter hat mir vor ein paar Tagen davon erzählt. Da kannst du stolz drauf sein.«

Herr Puschek nickte. »Das kannst du wohl!«

»Danke.« Vor zwei Wochen hatte sie die Prüfung zur Hauswirtschafterin an der Frauenfachschule mit Erfolg absolviert. Sabine freute sich über die unerwartete Anerkennung.

»Wie geht es denn jetzt weiter? Hast du schon eine Stelle in Aussicht?«, wollte Frau Puschek wissen.

»In Aussicht nicht, aber ich habe mich beworben«, antwortete Sabine wahrheitsgemäß.

Herr Puschek versenkte einen Daumen zwischen den Fingern und hob die Faust. »Da drücken wir dir ganz fest die Daumen.«

»Danke! Das kann ich gut gebrauchen.« Sie schaute zu ihrer Schwester, die sich wieder zu ihrer Freundin gesetzt hatte. »Du kannst ruhig hierbleiben, Karin. Ich bin auf unserer Decke.«

Karin sah an ihr vorbei. »Rolf ist jetzt auch da.«

Sabine nickte. »Lass dich zwischendurch mal blicken«, bat sie, bevor sie sich höflich von den Puscheks verabschiedete.

Nachdem sie sich umgewandt hatte und einige Schritte gegangen war, hielt Sabine kurz in der Bewegung inne. Nicht nur ihr Bruder hatte sich auf ihre Decke gehockt, sondern auch Gino. Ohne nachzudenken, zog Sabine ihren Bauch etwas ein und nahm die Schultern zurück. Während sie so auf die beiden zuging, schlug ihr Herz kräftig, und sie spürte das flattrige Gefühl in der Magengegend, das sie jedes Mal überkam, wenn Gino in ihrer Nähe war oder er sie ansah.

»Da bist du ja!« Rolf hob erleichtert die Hände, als er sie sah.

Sabine lächelte. »Wo sollte ich denn sein?«

»Rita sagte, dass du mit Karin hier wärst.«

»Karin ist drüben bei Puscheks.« Sie zeigte hinter sich.

Rolf schaute an ihr vorbei und nickte. »Ah, das ist gut. Gino und ich wollten dir nämlich was erzählen. Und Rita verraten wir es auch.«

»Ja? Was denn?« Sabine stellte den Korb auf der Decke ab.

»Es ist eine Überraschung«, verkündete Gino mit seinem so charmanten italienischen Akzent. »Una grande avventura«, fügte er hinzu.

»Aha.« Sabine lächelte ihn an. Sie hatte zwar kein Wort verstanden, ihr genügte aber allein der Anblick seiner leuchtenden Augen. Mehr brauchte sie nicht, um glücklich zu sein. »Ihr macht mich neugierig.«

»Gino möchte mit dir zusammen vom Zehnmeterturm springen«, sagte Rolf mit todernster Miene.

»Was?« Erschrocken griff sie sich ans Schlüsselbein. Als sie Gino lachend den Kopf schütteln sah, wurde ihr klar, dass Rolf Spaß machte.

»Deinen Blick hättest du mal sehen sollen«, prustete Rolf los. »Wie ein Huhn, wenn’s donnert!«

»Ach, du!« Sie gab Rolf einen Klaps auf den Oberarm.

In diesem Moment kam Rita zu ihnen. Von ihrem nassen Haar perlten Tropfen auf ihre Schultern. »Worüber freut ihr euch so?«

»Sabine springt gleich mit Gino vom Zehnmeterturm«, wiederholte Rolf.

Rita zeigte ihm einen Vogel. »Sonst noch was?«

»Ja«, schaltete sich Gino nun ein. »Wir fahren zusammen nach bella italia

»Wohin fahren wir?« Sabine sah ihren Bruder und Gino verständnislos an.

»Nach Italien! Zum Gardasee. Ist das nicht dufte?« Rolf grinste wie ein Honigkuchenpferd.

Rita riss vor Begeisterung die Augen weit auf. »Wann und wie lange?«

Rolf schien kurz zu rechnen. »In genau zehn Tagen. Am Gardasee bleiben wir dann zwei Wochen.«

»Das passt. Ich trage gleich Urlaub im Salon ein. Meine Prüfung ist eh erst im Herbst, meine Eltern werden nichts dagegen haben.«

»Und was ist mit meinen Bewerbungen?«, warf Sabine ein. Sie wusste nicht, ob sie sich freuen konnte. »Was, wenn ich in der Zeit ein Vorstellungsgespräch habe?«

»Dann machst du einen späteren Termin aus«, konterte Rita nüchtern.

»Und wie sollen wir überhaupt bis nach Italien kommen?« Sabine schwirrte der Kopf.

»Mit dem Borgward von Onkel Alfredo«, verkündete Gino. »Er leiht ihn mir, wenn ich ein Päckchen für seinen Cousin mitnehme.«

Sabine schaute zu Rita, die entschlossen nickte. »Ja, wenn das so ist …«

Zwei Wochen mit Gino in Italien. Bei dem Gedanken ging Sabines Herz auf. Das war zu schön, um wahr zu sein.

Rita erriet ihre Gedanken zweifellos. Sie griff nach ihrer Hand und drückte sie, bevor sie ihr zuflüsterte: »Du brauchst unbedingt einen Bikini.«

KAPITEL 2

Juni 1959, auf der Dorfstraße in Sankt Peter

Ebba Freese hatte es eilig. Sie trat gehörig in die Pedale ihres Diamant-Sportrads. Dabei hielt sie den Oberkörper tief über den Lenker gebeugt, um dem Wind so wenig Widerstand wie möglich zu bieten, der in kräftigen Böen von vorne kam und ihr Regentropfen ins Gesicht trieb. Über zwei Wochen hatte sich schönstes Frühsommerwetter über Sankt Peter gehalten und den Anschein erweckt, die Bilderbuchtage könnten nie zu Ende gehen. Doch am frühen Morgen hatte es erst leise über der See gegrollt, am Horizont hatte sich ein grauer Streif gebildet. Die grauen Wolken und das immer lauter werdende Grollen waren schließlich aufs Festland gezogen und hielten sich nun schon seit Stunden. Sehr zum Leidwesen derjenigen, die sich in dem Heilbad erholen wollten, einen Spaziergang zum Leuchtturm geplant hatten oder bis zu den Knien in der noch recht kühlen Nordsee hatten waten wollen. Für Ebba Freese war es ebenfalls ärgerlich. Das ungemütliche Wetter hielt die Gäste auf ihren Zimmern und führte dazu, dass sie nicht wie gewohnt ungestört Ordnung schaffen, Zimmer vorbereiten oder ihrer täglichen Routine nachgehen konnte. Besonders die Schuberts, ein Ehepaar aus Stuttgart, hatten sie mit unnötigen Fragen aufgehalten.

»Wie lange dauert denn der Regen voraussichtlich?«, hatte Herr Schubert gefragt.

»Das Wetter ist in Sankt Peter wechselhaft. Es kann sein, dass mittags wieder die Sonne vom blauen Himmel lacht«, hatte Ebba Freese zur Antwort gegeben.

Frau Schubert hatte daraufhin mürrisch den Mund verzogen. Doch was hätte sie ihren Gästen anderes sagen sollen? Hellsehen konnte sie schließlich nicht, und ein Wetterfrosch war sie schon gar nicht. »Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird nicht tagelang regnen, höchstens ein paar Stunden«, hatte sie versöhnlich hinzugefügt.

Daraufhin hatte Frau Schubert nicht mehr ganz so verdrießlich dreingeschaut und angemerkt, dass sie bis dahin in ihrer Illustrierten lesen wollte.

Sobald die Schuberts wieder auf ihr Zimmer gegangen waren, hatte Ebba sich eine Jacke übergezogen, den Einkaufskorb geschnappt und sich wenig später auf ihr Fahrrad geschwungen. Trotz ihrer dreiundsechzig Jahre fühlte sie sich noch ziemlich rüstig, was sie auf die tägliche Bewegung an der guten Nordseeluft schob. Immerhin war das der Grund, weswegen die meisten Leute nach Sankt Peter kamen: Reizklima wurde es im Fachjargon genannt.

Sie war schon spät dran und musste sich beeilen, wenn sie noch vor der Mittagspause im Kolonialwarenladen einkaufen wollte. Für den Nachmittag hatten sich neue Gäste aus Bayern angekündigt. Damit waren alle drei Fremdenzimmer belegt. Sie selbst war in den Schuppen im Garten gezogen. Zugegeben, es war eine notdürftige Behausung, in der bloß ein schmales Eisenbett mit einer durchgelegenen Matratze und eine Kommode Platz gefunden hatten. In der warmen Jahreszeit ließ es sich dort jedoch einigermaßen gut aushalten. Für den September, wenn die Nächte kühler wurden und der Wind durch alle möglichen Ritzen pfiff, musste Ebba sich etwas einfallen lassen. Seit dem Tod ihres Mannes war das Geld noch knapper als ohnehin. Deshalb hatte sie dringend Einnahmen benötigt und begonnen, Gäste aufzunehmen.

Die Küche in ihrem Haus konnte sie weiternutzen, da sie ihren Gästen Essen anbot. Das Wohnzimmer hatte sie in einen Speisesaal umfunktioniert, in dem sie morgens das Frühstück servierte. Brot, gute Butter und selbst gemachte Marmelade gab es und dazu wahlweise eine Tasse Bohnenkaffee oder Tee. Manchmal bekam sie auch ein paar frische Eier von einem Nachbarn, der hinter dem Haus ein paar Hühner hielt.

Um vier Minuten vor zwölf bremste Ebba vor dem Laden von Boy Jöns. Sie stellte das Rad neben dem Haus ab und hastete zur Eingangstür. Ein helles Glöckchen erklang, als sie den Laden betrat. Frau Jöns erfasste bei einer Kundin die Einkäufe auf einer Registrierkasse. Mit vier Fingern drückte sie geschickt auf die Knöpfe und drehte zum Schluss die Kurbel an der Seite. Die Kundin schob einen Geldschein über die Theke und packte ihre Einkäufe in einen Korb. Danach ging sie zur Ladentür.

»Moin, Frau Freese«, begrüßte Frau Jöns sie nun freundlich. Sie kannte alle Kunden beim Namen und wusste stets, wer sich für welche Waren interessierte. »Kommen Sie wegen dem bestellten Kaffee?«

Ebba lächelte. »So ist es. Zwei Pakete Kaffee, bitte. Wenn das so weitergeht, beehre ich Sie demnächst mehrmals in der Woche. Jeder möchte nur noch Jacobs Kaffee trinken, als wären andere Sorten kein richtiger Bohnenkaffee.«

Frau Jöns lachte auf. »Jaja, Jacobs Kaffee … wunderbar«, zitierte sie den Werbespruch der Bremer Rösterei. Sie nahm zwei Päckchen Bohnenkaffee aus einem Regal und stellte sie vor Ebba auf den Verkaufstresen. »Die Beliebtheit des Kaffees scheint mit der Reklame in den Tageszeitungen mit Großmutter Sophie zusammenzuhängen. Kürzlich erzählte mir eine Kundin, dass es sogar eine Reklame im Radio und im Fernsehen gibt.«

Ebba zuckte die Schulter. »Zum Radiohören komme ich im Moment kaum. Und Fernsehen … Ich wäre schon froh, wenn wir endlich fließendes Wasser hätten und ich nicht ständig zum Brunnen laufen müsste.«

»Darauf warten wir doch alle sehnsüchtig.« Frau Jöns nickte verständnisvoll und tippte den Preis in die Kasse ein. »Das macht dann neunzehn Mark und siebzig Pfennige.«

Nachdem Ebba bezahlt hatte, verstaute sie den Kaffee in ihrem Einkaufskorb. »Eine schöne Mittagspause für Sie«, wünschte sie der Ladeninhaberin noch, bevor diese hinter ihr die Tür abschloss und das Schild umdrehte, sodass von außen das Wort Geschlossen zu lesen war.

Zufrieden ging Ebba zu ihrem Fahrrad und fuhr den Weg wieder zurück. Nun musste sie sich sputen, wenn die Zimmer für die neuen Gäste noch rechtzeitig fertig werden sollten.

Auf halber Strecke blickte sie sich um. Ihr war, als hätte jemand ihren Namen gerufen. Tatsächlich. Vor einer reetgedeckten Kate auf der gegenüberliegenden Seite stand Knut Wehrich und winkte ihr hektisch zu.

»Ebba!«

Sie überquerte die Straße und kam neben ihm zum Stehen. »Moin!«

»Moin! Gut, dass ich dich gerade heute sehe. Am Nachmittag hätte ich dir sonst einen Besuch abgestattet. Es gibt nämlich gute Nachrichten.« Als Leiter der Peilfunkstelle in Sankt Peter erreichten ihn Neuigkeiten meist zuerst.

Ebba zog die Augenbrauen hoch. »So? Was sollen das denn für Nachrichten sein?«

»Ein ehemaliger Funkerkollege möchte mit seiner Frau und den drei Kindern eine Woche an der Nordsee Urlaub machen«, erklärte Knut Wehrich. »Natürlich am liebsten in Sankt Peter. Und da habe ich gleich an dich gedacht und ihm gesagt, dass du Fremdenzimmer mit Frühstück vermietest.«

»Wann will er denn mit seiner Familie kommen?«, fragte Ebba und knöpfte sich die Jacke bei der Gelegenheit weiter zu.

»Übermorgen.«

»Ausgeschlossen.« Sie schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Übermorgen habe ich keinen Platz. Schon gar nicht für fünf Personen! Ein Hotel bin ich ja längst noch nicht. Meine drei Zimmer sind in den nächsten sechs Wochen bis aufs letzte Bett belegt. Weißt du, wo ich deshalb gerade wohne? Im Schuppen.«

Knut kratzte sich am Kopf. »Oha. Dann gibt es nun ein Problem. Ich habe meinem ehemaligen Kollegen nämlich schon zugesagt, weil du mal meintest, dass du die Einnahmen von Übernachtungen gut gebrauchen kannst.«

Tadelnd schnalzte Ebba mit der Zunge. »Das stimmt ja auch. Aber im Moment kann ich keine Unterkunft anbieten. So leid es mir tut. Du musst deinem Bekannten absagen.«

Eine Böe fegte ums Haus und zerzauste Knuts graues Haar. »Das geht nicht mehr. Nach unserem Gespräch wollte er gleich zum Bahnhof und die Fahrkarten kaufen. Bestimmt hat er sie längst.« Er wirkte ratlos. »Hast du denn wirklich keine Möglichkeit?«

»Nein«, erwiderte Ebba entschieden. »Du hättest mich vorher fragen können.«

Er nickte. »Hätte ich. Zur Not muss ich die Familie beherbergen.«

»In eurem kleinen Haus?« Sie blickte skeptisch auf das Gebäude. »Ihr habt doch bloß die zwei Wohnräume im Erdgeschoss. Bei mir gibt’s wenigstens eine weitere Etage.«

Darauf senkte er den Blick. »Ich kann die Familie doch nicht im Stich lassen.«

»Kannst du nicht«, stimmte sie ihm zu. Dann fiel ihr etwas ein … »Vielleicht weiß ich jemanden, den ich fragen könnte.«

»Wirklich?«, fragte Knut erwartungsfroh.

»Vielleicht. Freu dich nicht zu früh! Ich werde fragen und dir dann Bescheid geben«, dämpfte sie seine Hoffnung.

»Gut. Dann warte ich auf deine Rückmeldung. Danke, Ebba!«

»Da nicht für!« Sie stellte wieder den Fuß aufs Pedal. »Jetzt muss ich aber wirklich weiter.«

Eigentlich wollte Ebba auf direktem Weg zurück zu ihrem Haus im Amselweg fahren. Die Zeit drängte, und es regnete wieder etwas kräftiger. Doch der Gedanke an die Familie von Knuts ehemaligem Kollegen ließ ihr keine Ruhe. Die Leute konnten unmöglich eine weite und teure Zugfahrt auf sich nehmen und dann in Sankt Peter ohne Unterkunft dastehen. Was würde das denn für einen Eindruck machen? Kurz entschlossen bog sie in den Heideweg ein. Dort standen vier Nissenhütten. In einer von ihnen lebte ihre Freundin Grete Schröder allein mit zwei Töchtern, seit der Mann im Krieg verschollen war. Sie schlug sich mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsarbeiten durch und konnte jeden Pfennig gebrauchen, soviel wusste Ebba.

Als sie vor der Wellblechhütte mit halbrundem Dach hielt, war aus dem Niederschlag ein kräftiger Landregen geworden. Sie klopfte energisch.

Die älteste Schröder-Tochter öffnete. »Guten Tag, Tante Ebba.«

»Moin, Dörte. Ist deine Mutter da?«

Das Mädchen nickte. »Ich hole sie.«

Als Dörte sich umdrehte, stand ihre Mutter schon hinter ihr. »Moin, Ebba! Willst du nicht reinkommen?« Grete Schröder machte die Tür auf und ließ sie herein. »Du triefst ja. Gib mir mal deine Jacke, ich hänge sie vor den Ofen.«

»Danke.« Ebba reichte Grete ihre Jacke und stellte den Einkaufskorb mit den zwei Päckchen Kaffee neben der Tür auf den Boden.

Dörte war zu ihrer jüngeren Schwester gegangen, die in einer Ecke saß und gerade Socken stopfte. Die Nissenhütte war spärlich möbliert. Zwei Etagenbetten, ein Feldbett, ein paar Schränke, vier Stühle, ein Tisch und die provisorische Küche, deren Dreh- und Angelpunkt ein alter Küchenofen war, der zum Kochen und Heizen genutzt wurde.

»Wir haben die Wäsche vorhin auch schnell reingeholt, als der Regen angefangen hat. Möchtest du eine Tasse Tee?«

»Da sag ich nicht Nein.« Ebba setzte sich und wartete, bis Grete mit zwei Tassen Tee zu ihr kam.

»Hat dich der Regen zu einem Überraschungsbesuch bei mir veranlasst?«, fragte Dörte mit einem leichten Lächeln.

»Nicht der Regen. Eher Knut Wehrich.« Ebba trank einen Schluck Tee.

»Knut Wehrich? Na, warum das denn?«, fragte Grete verwundert.

»Ein ehemaliger Kollege will mit seiner Familie in Sankt Peter Urlaub machen und bei mir unterkommen.«

»Das ist doch gut. Gäste bringen Geld.«

Ebba zuckte die Achseln. »Eigentlich schon. Allerdings bin ich ausgebucht und deswegen schon in den Schuppen gezogen.« Sie hob die Hände. »Ich wüsste nicht, woher ich den Platz für weitere fünf Personen nehmen sollte! Knut hat seinem Bekannten ohne mein Wissen einfach zugesagt. Und nun haben sie wohl schon die Zugfahrkarten gekauft.«

»Das ist ja allerhand! Und nun? Wo sollen sie unterkommen?«

»Na ja …« Ebba machte eine kurze Pause und sah Grete bittend an. »Deswegen bin ich vorbeigekommen. Ich hoffe, du reißt mir nicht gleich den Kopf ab, aber ich dachte, vielleicht hast du die Möglichkeit, die Familie zu beherbergen. Du würdest auch Geld dafür bekommen.«

»Warum sollte ich dir denn deswegen den Kopf abreißen?«, fragte Grete halb entrüstet.

Ebba seufzte. »Na, du hast genauso wenig wie ich ein Hotel. Bei dir ist ja sogar noch weniger Platz als bei mir. Deswegen war ich mir nicht sicher, wie du meine Frage aufnehmen würdest. Schließlich möchte ich dich und die Mädchen nicht aus eurem Zuhause jagen. Aber man kann die Familie doch nicht ohne Dach über dem Kopf stehen lassen.«

»Nein, kann man nicht«, befand Grete. »Was würde das für einen Eindruck machen!«

»Ich bin froh, dass du das genauso siehst«, sagte Ebba und trank erleichtert wieder von ihrem Tee. Der erste Schritt war geglückt.

Gretes Augen funkelten vergnügt. »Wann kommt die Familie denn in Sankt Peter an?«

»Schon übermorgen. Ich weiß, es ist alles sehr kurzfristig, aber …«

Grete unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Meine Mädchen und ich fahren doch morgen zu meiner Schwester Marga auf den Bauernhof. Wie du ja sicherlich noch weißt, helfen wir die nächsten drei Wochen dort im Obst- und Gemüsegarten. Unsere Hütte ist in der Zeit frei. Von mir aus kann die Familie bei uns unterkommen. Es sei denn, sie erwarten etwas Besseres …« Grete machte eine ausladende Armbewegung.

Zufrieden mit sich, leerte Ebba die Teetasse und stellte sie ab. »Ich werde Knut nachher Bescheid geben. Danke, Grete, für den Tee und deine Hilfsbereitschaft.«

»Da nicht für. Es ist doch eine gute Lösung für alle Beteiligten. Ich kann meine Hütte vermieten und bekomme Geld dafür. Schön, wie sich alles fügt.«

»Ein wirklich glücklicher Umstand.« Ebba stand auf. »Nun muss ich mich sputen. Die nächsten Gäste kommen bald, und ich bin noch nicht dazu gekommen, die Zimmer vorzubereiten.«

Grete half ihr in die Jacke. »Ist schon trockener. Ich bringe dir morgen die Schlüssel vorbei, bevor wie aufbrechen.«

Der Regen hatte nachgelassen, und zwischen der grauen Wolkendecke blitzten zaghaft einige blaue Lücken hervor. Nachdem Ebba sich noch einmal bei ihrer Freundin bedankt hatte, nahm sie ihr Fahrrad und fuhr los.

Als Ebba wenig später an ihrem Haus im Amselweg ankam, warteten die neuen Gäste schon vor der Eingangstür. Frau und Herr Solms waren mit Sohnemann Fritz im eigenen Auto angereist und »besser als gedacht durchgekommen«.

Ebba entschuldigte sich vielmals bei ihnen dafür, dass ihr Zimmer noch nicht bezugsfertig war. »Vielleicht möchten Sie nach der langen Autofahrt eine Tasse Jacobs Kaffee im Frühstücksraum trinken? Und für Fritz habe ich selbst gemachte Zitronenbrause.«

Familie Solms nahm Ebbas Angebot dankend an.

Manchmal braucht man einfach nur die richtige Idee zur rechten Zeit, befand Ebba, als sie sich am Abend in den Schuppen zurückzog. Die Solms waren inzwischen zufrieden zum Strand spaziert. Und Ebba hatte sogar Zeit gefunden, um zu Knut zu fahren und ihm von der Abmachung mit Grete zu berichten. Knut hatte sehr erleichtert gewirkt.

Obwohl alles gut gegangen war, hatte der Tag sie mehr angestrengt, als sie erwartet hatte. Sie musste sich eingestehen, dass die jugendliche Kraft von einst nicht mehr vollends da war, dabei hatte die Saison erst begonnen. Vielleicht sollte sie sich wie Gretes Bauern ebenfalls um Unterstützung bemühen? Allerdings konnte sie nichts zahlen, bloß die Möbel im Schuppen irgendwie so weit zusammenschieben, dass noch ein weiteres Bett reinpasste …

Im Lichtschein einer Kerze verfasste sie einen Brief an ihre Schwester Käthe. Bevor sie das Schreiben schließlich in ein Kuvert steckte, zögerte Ebba. Vielleicht war es doch etwas zu viel verlangt?

Nein sagen konnte Käthe immer noch. Ebba gab sich einen Ruck, klebte den Umschlag zu und schrieb die Adresse darauf. Wozu hatte man denn sonst Familie?

KAPITEL 3

Juni 1959, Westfalenkaufhaus auf der Bahnhofstraße in der Gelsenkirchener Altstadt

Käthe Kurowski stand hinter ihrer Tochter und zupfte an den Schultern der Bluse, die Sabine gerade anprobierte. Kritisch sah sie auf, trat einen Schritt zurück und blickte prüfend in den Spiegel neben der Umkleidekabine. »Da kannst du noch einen mit reinnehmen. Die Bluse wirft Falten. Du brauchst eine Nummer kleiner.«

Gleich nach dem Frühstück waren Sabine und ihre Mutter mit der Straßenbahnlinie 1 von Gelsenkirchen-Bismarck in die Altstadt gefahren. Sabines kleine Schwester Karin war zum Spielen bei einem Nachbarskind geblieben.

»Du solltest besser vorbereitet sein, wenn eine Einladung kommt«, hatte Sabines Mutter am Vorabend gemeint. »Eine neue weiße Bluse im Schrank hängen zu haben, für alle Fälle, das ist besser, als auf den letzten Drücker loszurennen und dann nichts Gescheites zu bekommen.«

Kurz nach Ladenöffnung hatten sie das dreigeschossige Kaufhaus auf der Bahnhofstraße betreten. Dort herrschte viel Betrieb. Das angebotene Vollsortiment lockte sogar Kundschaft aus den umliegenden Städten in die Gelsenkirchener Altstadt.

Sabine strich mit einer Hand über die vordere Knopfleiste der Bluse. Der Stoff hing an ihrem Oberkörper schlaff herab. »Die mit den roten Punkten habe ich in einer Nummer kleiner gesehen …«

»Rote Punkte!« Käthe Kurowski verdrehte die Augen. »Weiß muss die Bluse sein. Schlicht und weiß, mehr nicht. Du gehst damit zu einem Vorstellungsgespräch und nicht zum Tanztee.«

Sabine drehte sich zu ihrer Mutter um. »Noch habe ich keine Einladung bekommen«, gab sie zu bedenken.

»Und wenn schon. Die Bluse verdirbt nicht im Schrank.« Sie drehte sich um und ging entschlossen zu der Kleiderstange, an der weitere Blusen auf Bügeln in strahlendem Weiß hingen.

Sofort war eine Verkäuferin zur Stelle, die bei der Auswahl des Bekleidungsstücks behilflich sein wollte.

Sabine seufzte leise und warf einen wehmütigen Blick auf die rot gepunktete Bluse, die bloß wenige Schritte von der Umkleidekabine entfernt hing. Wie hübsch das Rot leuchtete. In Gedanken sah sie sich zusammen mit Gino in Italien. Das Blau des Gardasees strahlte mit dem Himmel um die Wette, die Sonnenstrahlen wärmten ihr die Arme. Sie trug die Bluse zu einer hellen Caprihose, und ihre Füße steckten in hübschen Riemchensandalen. Ach, sie konnte es sich alles haargenau ausmalen! Es würde einfach wunderbar werden! Mutti und Vati mussten es ihr einfach erlauben, wenn sie sie fragte. Noch hatte sie sich das nicht getraut.

Langsam wandte sie den Blick wieder von der Bluse ab und sah geradeaus. Im Spiegel konnte sie sehen, wie ihre Mutter auf sie zukam. Gleich neben ihr die Verkäuferin. In den Händen hielt sie zwei Kleiderbügel mit weißen Blusen.

Am Mittag stand Sabine zusammen mit ihrer Mutter und Karin in der kleinen Küche der Zechenhaussiedlung an der Deichstraße. Käthe Kurowski hatte sich eine Schürze umgebunden und schlug ein Ei auf, während Karin die Eierschalen auf einem Stück Zeitungspapier sammelte.

Ihre Mutter trennte sorgsam das Eigelb vom Eiweiß. »Die Bluse hängt bei uns im Schlafzimmerschrank.«

»Hm.« Sabine presste die Hälfte einer Apfelsine aus. Währenddessen biss sie sich gedankenverloren auf die Unterlippe.

Ihre Mutter legte weitere Eierschalen auf das Stück Zeitungspapier und sah Sabine skeptisch an. »Was brütest du schon wieder aus?«

Ertappt hob Sabine den Blick. »Ich? Gar nichts, Mutti.«

»Sabine, keiner kennt dich so gut wie ich. Jedes Mal beißt du auf den Lippen herum, wenn du dir über etwas Gedanken machst. Es geht doch nicht etwa um diese Bluse mit den roten Punkten?«

»Nein, Mutti.« Sabine nahm die zweite Apfelsinenhälfte und drückte sie auf die Presse. »Nur ein kleines bisschen vielleicht.«

»Halte besser deine Gedanken zusammen, damit die Butterkrem was wird«, ermahnte sie ihre Tochter. »Die Apfelsinentorte nehmen wir morgen mit zu Tante Wilhelmas Geburtstag. Du weißt doch, wie pingelig sie ist. Da muss alles passen. Und noch dazu an ihrem Achtzigsten!«

»Sonst schimpft Tante Wilhelma«, bekräftigte Karin.

Sabine goss den ausgepressten Saft in eine kleine Schüssel und wischte sich die Hände an einem feuchten Küchentuch ab. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen. »Mutti, der Rolf möchte mich mit nach Italien zum Gardasee nehmen. Rita darf auch mitfahren. Bitte erlaube es mir!«

»Na, hör sich das einer an!« Ihre Mutter stemmte eine Hand in die Hüfte. »Karin, geh doch mal ums Haus und schau, ob schon neue Petersilie unter dem Balkon gewachsen ist.«

Erst als Karin die Küche verlassen hatte, zog sie die Augenbrauen zusammen. »Und wann wollte Rolf deinem Vater und mir von euren Plänen erzählen?«

Sabine zog eine Schulter hoch. »Bald. Er wollte nach der Arbeit mit euch sprechen.«

»Das halte ich für ein Gerücht. Nach der Arbeit in der Backstube schläft er. Rolf und seine Ideen!« Sie schüttelte den Kopf. »Wie wollt ihr überhaupt bis nach Italien kommen? Etwa zu Fuß über die Alpen?«

»Ginos Onkel hat einen Borgward. Den leiht er ihm, und wir können sogar in einem Haus seiner Verwandten schlafen. Sie haben nichts dagegen, wenn Gino Freunde mitbringt«, erzählte Sabine aufgeregt. »Ist das nicht wunderbar?«, fügte sie hinzu, als ihre Mutter nichts erwiderte.

»Ob das so wunderbar ist, werde ich mit deinem Vater ausführlich besprechen. Du und Rita, zwei junge Dinger alleine in Italien. So etwas hätte ich mich früher nie getraut, meine Eltern zu fragen. Die hätten mir Italien gegeben.«

»Ach, Mutti!« Sabine nahm die Hände ihrer Mutter in ihre. »Das waren doch damals schlimme Zeiten. Nun haben wir aber 1959, und es bietet sich diese schöne Gelegenheit. Rolf und Gino passen auf Rita und mich auf. Wir werden uns bestimmt gut benehmen und euch keine Schande machen, wenn ihr es uns nur erlaubt.«

»Dass Ritas Eltern so einfach zugestimmt haben«, wunderte sich ihre Mutter. »Aber die Broschs haben ja den Ruf, auch modern in ihren Ansichten zu sein.«

Es klingelte an der Tür. »Ich mache schon auf«, bot Sabine an. »Ist bestimmt Karin!«

»Lass mich das mal machen.« Käthe Kurowski nahm sich die Schürze ab und ging zur Haustür. Wenig später kehrte sie mit Karin, die ein paar Stängel Petersilie in der Hand hielt, und einem jungen Mann in Postbotenuniform zurück in die Küche. Strahlend sagte sie zu Sabine: »Guck mal, wen ich mitbringe!«

»Guten Tag, Engelbert«, grüßte Sabine freundlich.

»Guten Tag, Sabine.« Er nahm seine Dienstmütze ab und lächelte sie unsicher an.

»Einen Kaffee, Engelbert?«, fragte ihre Mutter, ging bereits zum Küchenschrank und nahm Karin im Vorbeigehen die Petersilie ab.

»Von mir aus gerne. Aber nur, wenn es keine Umstände macht.«

»So wenig Umstände wie jeden Tag«, erwiderte Sabines Mutter knapp. Sie legte die Petersilie in eine Schale und setzte einen Kessel Wasser auf dem Holzkohleherd auf.

»Du bist ja heute spät dran mit der Post. Ich dachte, du wärst längst durch.« Sabine deutete auf einen Brief, den er in der Hand hielt.

»Das bin ich auch. Aber diesen Brief wollte ich dir persönlich überreichen. Sieht für mich wichtig aus.« Er hielt ihr das Kuvert hin.

Sabine war aufgeregt und blickte schnell auf den Absender. »Oh! Die Polizeikantine Buer.«

Sogleich trat ihre Mutter zu ihr und schaute interessiert auf den Brief. »Das wird die Antwort auf deine Bewerbung sein«, sagte sie mit bedeutungsschwangerem Blick.

Ihr Herz klopfte. Es war ihre erste Antwort auf eine Bewerbung. »Und wenn es eine Absage ist?«, fragte sie verunsichert.

»Mach ihn auf, dann wirst du es erfahren«, sagte ihre Mutter. »Der Brief wird dich nicht beißen.«

»Also gut!« Hastig schlitzte Sabine das Kuvert mit einem Frühstücksmesser auf und entnahm ein Blatt Papier. Bevor sie vorzulesen begann, begegnete sie Karins neugierigem Blick. »Sehr geehrtes Fräulein Kurowski«, las Sabine laut. »Bezug nehmend auf Ihre Bewerbung, laden wir Sie zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch ein. Finden Sie sich bitte am 29. Juni 1959 um elf Uhr am Eingang der Polizeikantine Buer ein. Dort fragen Sie nach der Kantinenleiterin Frau Eppmann. Weitere Empfehlungsschreiben können zum Gespräch mitgebracht werden.« Sabine schluckte. »Der 29. Juni ist ja schon übermorgen.«

Ihre Mutter nickte zufrieden. »Ich wusste doch gleich, dass es ein guter Einfall von mir gewesen ist, dir eine neue Bluse zu kaufen.«

»Da wünsche ich dir viel Glück für das Vorstellungsgespräch«, sagte Engelbert höflich.

Energisch ging Frau Kurowski zum Herd und hob den Kessel. »Das haben wir doch bestimmt auch ein bisschen dir zu verdanken, nicht wahr, Engelbert?«

»Ich habe Frau Eppmann bloß von Sabines Torten vorgeschwärmt, die ich schon probieren durfte«, gab sich Engelbert bescheiden. Er stammte aus einer Eisenbahnerfamilie und hatte seine Anstellung als Postbeamter über einen Onkel bekommen, der an entsprechender Stelle ein gutes Wort für ihn eingelegt hatte. Frau Eppmann kannte er, weil sie mit ihrer Familie in einem der Eisenbahnerhäuser in der Nachbarschaft wohnte. Ihr Mann war als Zugführer bei der Deutschen Bundesbahn beschäftigt und darüber hinaus ein guter Freund von Engelberts Vater.

Sabine blickte ratlos drein und runzelte die Stirn. »Ich habe doch gar keine Empfehlungsschreiben.«

»Die brauchst du auch nicht. Du backst für Frau Eppmann einfach eine Torte und nimmst sie als Arbeitsprobe mit«, schlug ihre Mutter vor. Lächelnd schaufelte sie mit einem Löffel gemahlenen Kaffee in einen Filter.

»Das wird Frau Eppmann bestimmt überzeugen«, stimmte Engelbert zu. »Soweit ich mitbekommen habe, mag sie Kirschkuchen besonders gerne.«

Sabine nickte. »Kirschkuchen. Also gut. Ich danke dir vielmals für den Hinweis und werde ihn beherzigen.«

»Manchmal ist Frau Eppmann ein wenig streng. Deswegen haben einige Kinder aus unserer Nachbarschaft Angst vor ihr«, erzählte Engelbert leichthin.

»Oh!« Sabine rutschte das Herz in die Hose. Sie hatte so darauf gehofft, dass die Leiterin der Kantine eine freundliche Person war. Allzu häufig war sie Frauen begegnet, die sie sich mit einer fröhlichen Miene nicht einmal hatte vorstellen können.

Dankend nahm Engelbert von Sabines Mutter eine Tasse frischen Kaffee entgegen. »Dir wird bestimmt nicht so leicht bangig. Immerhin bist du kein kleines Mädchen mehr«, sagte er aufmunternd.

»Der Engelbert ist so ein feiner Kerl. Die Frau, die ihn mal zum Mann bekommt, kann sich glücklich schätzen«, bekundete ihre Mutter später, nachdem der Postbote weitergezogen und Karin zum Spielen nach draußen gegangen war.

»Ja, bestimmt.« Sabine las den Brief der Polizeikantine ein zweites Mal.

Käthe Kurowski entsorgte den Kaffeesatz im Mülleimer und spülte die Tassen mit klarem Wasser aus. »Wolltest du nicht mit ihm zum Tanztee gehen?«

»Er hat mich mal gefragt, aber ich hatte an dem Tag schon etwas vor.«

»Vielleicht fragt er dich ja ein zweites Mal. Er scheint dich zu mögen, sonst hätte er dich nicht Frau Eppmann empfohlen.« Sie seufzte. »Eine gute Partie ist der Engelbert in jedem Fall. Ein Postbeamter genießt höchsten Respekt und bringt gutes Geld nach Hause. Außerdem ist die Familie Müller hoch angesehen.«

»Ach, Mutti. So eilig habe ich es nicht, unter die Haube zu kommen.« Sie wich dem Blick ihrer Mutter aus. Es war kein Geheimnis, wovon Käthe Kurowski träumte – da nahm sie kein Blatt vor den Mund. Ginge es nach ihren Eltern, würde Sabine einmal eine »glückliche Hausfrauenehe« führen und mindestens zwei Kinder bekommen – vorzugsweise einen Jungen und ein Mädchen. Allerdings hatte Sabine andere Vorstellungen von ihrem Leben und vor allem ihrem zukünftigen Ehemann. So nett und wohlerzogen Engelbert auch war, er kam für sie als Mann nicht infrage. Gino und sonst keiner, war ihre Losung.

»Zumindest kannst du seine nächste Einladung annehmen«, beharrte ihre Mutter. »Zur Not sagst du eben andere Dinge ab. Engelbert hat gute Manieren und ist gebildet. Soweit ich weiß, hat er sogar ein Auto.«

»Eine Isetta«, bestätigte Sabine. Sie legte den Brief in eine Schublade des Küchenschranks, in der wichtige Post aufbewahrt wurde.

Ihre Mutter nickte anerkennend und widmete sich wieder der Zubereitung der Torte. »Das muss man erst einmal schaffen. Aus unserer Familie hat noch nicht einmal einer einen Führerschein.«

»Rolf möchte bald einen machen, hat er gesagt.« Und Gino hat längst einen, dachte sie.

»So?«

»Redest du heute mit Vati wegen Italien?«, hakte sie nach.

»Das kommt ganz darauf an, wann dein Vater nach Hause kommt. Heute hat er doch Sonderschicht auf dem Pütt. Meistens ist er danach viel zu müde, um anstrengende Gespräche zu führen.«

»Aber sprichst du morgen mit ihm? Dann ist Sonntag, und er hat frei.«

»Jaja. Ich werde schon mit ihm reden, wenn wir von Tante Wilhelmas Geburtstag wieder da sind«, versprach ihre Mutter. »Sonst gibst du ja doch keine Ruhe.«

»Fein. Rolf kann dann auch mit Vati sprechen und ihm alles erklären.«

Ihre Mutter blickte sie nachdenklich an. »Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen. Allerdings nur unter einer Bedingung.« Sie hob den Zeigefinger. »Du wirst deinen Vater und mich bei dem Vorstellungsgespräch in der Polizeikantine nicht in Verlegenheit bringen und dich von deiner besten Seite zeigen. Selbst dann, wenn Frau Eppmann höchst sauertöpfisch und die Unfreundlichkeit in Person sein sollte. Hörst du?«

»Danke, danke, liebe Mutti!« Stürmisch fiel sie ihrer Mutter um den Hals. »Ich werde euch alle Ehre machen. Ganz bestimmt sogar! Und Frau Eppmann bekommt den leckersten Kirschkuchen, den sie jemals gegessen hat!«

KAPITEL 4

Juni 1959, in der Straßenbahnlinie 1 von Bismarck Richtung Buer

Die Straßenbahn ruckelte am Erler Forsthaus vorbei und hielt kurz darauf. Es war stickig in dem Waggon, und das Glas der Fensterscheiben war streifig. Wiederholt zog Sabine den grauen Rock über ihren Knien glatt. Die neue weiße Bluse hatte sie mit einem Glätteisen faltenfrei gebügelt und danach ihre Sonntagsschuhe auf Hochglanz geputzt. Auf dem Schoß hielt sie eine Tortenplatte mit dem abgedeckten Kirschkuchen, den sie am Vortag nach Tante Wilhelmas Geburtstagskaffee in Windeseile gebacken hatte.

Nachdem Rolf ihren Eltern von der Italienreise erzählt hatte, waren sie sich schneller einig gewesen, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sabine durfte mit an den Gardasee fahren – solange Rolf über sie und Rita wachte. Außerdem hatte ihre Mutter wiederholt, dass sie bei dem Vorstellungsgespräch eine gute Figur abzugeben habe. Erstens habe auch die Familie Kurowski einen Ruf in Gelsenkirchen zu verlieren, und zweitens sei sie es Engelbert schuldig.

Die Straßenbahn fuhr wieder geräuschvoll los, Sabine blickte aus dem Fenster. An ihr zogen die grauen Häuserfronten auf der Cranger Straße vorbei. Italien!, dachte sie sehnsuchtsvoll. Wie schön es doch werden würde! Sogar unbeschreiblich schön! Sie stellte sich vor, wie sie zusammen mit einem Boot auf dem Gardasee fuhren, in einem Restaurant Spaghetti aßen oder italienisches Eis genossen. Dabei sah sie im Geiste Ginos blaue Augen vor sich und musste unwillkürlich lächeln.

In der Nähe des Rathauses stieg sie aus. Das alte Präsidium war nicht zu übersehen. Ein imposanter Bau aus den 20er-Jahren mit einem skulpturengeschmückten Portal und einer aus massivem Werkstein gebildeten Bogenhalle überbrückte den Bürgersteig. Bei Regenwetter fanden Passanten dort Schutz. Sabine hielt das Kuchentablett in beiden Händen. Frau Eppmann konnte gar nicht so Furcht einflößend sein, als dass sie die Fahrt an den Gardasee verhindern könnte. Es würde schon alles gut verlaufen. Entschlossenen Schritts ging Sabine auf das alte Polizeipräsidium zu.

»Soso. Den Kuchen haben Sie also ganz alleine gebacken?« Frau Eppmann beäugte sie über den Rand ihrer Brille, dann roch sie argwöhnisch an dem Stück Kirschkuchen auf ihrem Teller.

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