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Wir, wir, wir

Als Buch hier erhältlich:

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»Ein bewundernswertes Debüt, das unter die Haut geht.«The Sunday Times

Für Fans von Meg Wolitzer und der Serie Yellowjackets

Falls Landing, Florida: ein kleiner Ort umgeben von Freizeitparks, sumpfigen Seen und von der brennenden Sommersonne ausgetrockneten Pflanzen. Eine Clique 13jähriger Mädchen kreist obsessiv um Sammy, die Tochter des ansässigen Priesters. Sie ist einige Jahre älter – und alles, was die Mädchen selbst sein wollen: beliebt, schön, mysteriös und mit einem der coolen Jungs zusammen. Auf die Clique übt Sammy eine geradezu hypnotisierende Faszination aus, sie projizieren alle ihre Träume auf das ältere Mädchen und gehen auf in ihrer geteilten Identität, ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl, ihrer gemeinsamen Stimme. Bis Sammy plötzlich spurlos verschwindet – und auch im Inneren ihrer Clique Risse auftauchen. Eine brutale, eindrückliche Geschichte über die Bande, die wir in unserer Jugend knüpfen, und den Moment, an dem sie unwiderruflich reißen.


»Das spannendste Debüt der Saison.«Vogue

»Eine fesselnde Geschichte, die sowohl durch nuancierte Einblicke als auch durch einen energetischen Plot besticht.«Elle

»[Dieser Roman] besitzt eine Vielzahl hochkarätiger Zutaten, nicht zuletzt Tates sprachliches Talent und beeindruckende Beobachtungsgabe.«The Guardian


  • Erscheinungstag: 24.10.2023
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783753000916

Leseprobe

Wir gruben ein Loch. Um das Ding herum wurde unser weißes Haar warm, und wir fragten, ist das eine Schöpfung?

Nein, wir waren uns einig, das Ding war keine Schöpfung. Eine Schöpfung ist, wenn er über dem Wasser schwebt.

Wir nickten. Es raschelte. Wir rückten näher zusammen und fragten, was ist das, eine Stille?

Wir beobachteten es aus einigem Abstand und waren uns einig, das Ding war keine Stille.

SABRINA ORAH MARK

1

»Wo ist sie?«

Wir stellen uns vor, dass ihre Mutter zuerst fragen wird. Anfangs leise, wenn sie im Türrahmen von Sammys Zimmer steht. Dann wird sie das leere Bett sehen. Das hin und her schaukelnde Insektengitter, das vom Fenster gerissen wurde. Wenn sie das zweite Mal fragt, wird ihre Stimme zittern, und beim dritten Mal wird sie sich überschlagen.

Dann wird ihr Vater ins Zimmer rennen und die gleiche Frage stellen: »Wo ist sie?« Zuerst wird seine Stimme furchtsam klingen, wie bei unseren kleinen Schwestern, wenn sie in unsere Betten kriechen, weil sie schlecht geträumt haben. Beim zweiten Mal wird seine Frage fordernd klingen, als wollte das Zimmer ihm etwas verschweigen. Beim dritten Mal wird er die Frage am Telefon stellen und die Stimme benutzen, mit der er vor der Gemeinde seine Predigten hält und die selbst dann ruhig und gemessen klingt, wenn er den Teufel und die Hölle beschreibt.

Die Frage wird durch Telefonleitungen rauschen und Männer dazu bringen, sich von ihren Stühlen zu erheben und in ihre Autos zu steigen.

Sammys Mutter wird ihre eigene Mutter und sämtliche Frauen der Stadt anrufen, denen sie vertraut, und die Frauen werden die Frage nicht wiederholen, sondern sofort auflegen und andere anrufen, sie werden sogar loslaufen und bei Nachbarn an die Tür hämmern, weil die Frage dringend ist, ihr fehlt die Zeit für greinendes Geklingel. Wir stellen uns vor, wie die Frage aus Sammys Haus und aus Falls Landing heraussickert, wie sie über den Highway und die Ruinen der Baustelle rinnt und sich in unseren Wohnblöcken ausbreitet. Wie sie über den stillen See streicht wie ein erster bedrohlicher Windstoß.

Die Abenddämmerung zieht langsam auf, dann ist es plötzlich dunkel.

Wir schauen zu, so wie immer.

Schon bald sehen wir flackernde Blaulichter. Ein Polizeiwagen nach dem anderen taucht auf dem Highway auf. Wir schauen zu, wie sie die Kurve der Ausfahrt entlangschlittern und um das rechte Ufer des Sees rasen. Dann fädeln sie sich durch das Tor von Falls Landing und verschwinden. Wir sehen das Dach von Sammys Haus über den weißen Wänden, wie es blinkt, schwarz, blau, schwarz, blau. Wir stellen uns vor, wie die Cops sich der Haustür nähern und mit schwerer Hand anklopfen, und die verzerrten Gesichter von Sammys Eltern, wenn die Mutter sich an den Vater und der Vater sich an den Türrahmen klammert. Wir stellen uns vor, wie die Nachbarskinder aufwachen und fremdartige Lichter auf ihren Zimmerwänden erblicken, blaue Botschaften, die ihre Eltern dazu bringen, sich eilig zu vergewissern, dass ihre Töchter und Söhne gut behütet im Bett liegen.

Unsere Hände zittern, wir können kaum noch durch unsere Ferngläser schauen. Wir zwingen uns zur Konzentration.

Erste Gestalten treten aus dem Tor von Falls Landing. Einige sind allein, andere bilden Grüppchen. Es sind Frauen. Wir kennen sie nicht persönlich, doch sie kommen uns vertraut vor, wie Frauen, die in Filmen oder unseren Träumen im Hintergrund auftauchen. Sie sehen wie Gemeindefrauen aus in ihren Hosenröcken und pastellfarbenen Pullis. Sie tragen Stirnlampen, weshalb wir ihre Gesichter nicht erkennen können. Ihre Gesichter sind wie Lichtkreise, wie unvollendete Bilder. Sie marschieren über die Baustelle Richtung See wie Eroberinnen. Einige kratzen mit langen Metallstäben im Dreck herum. Andere haben Schaufeln und Mistgabeln dabei. Sie stochern und schaben in unserem Terrain. Sie laufen bis zum Ufer des Sees, und einige halten ihre Geräte über das Wasser, aber zum Glück wagt keine es, die stille Oberfläche zu zerreißen. Der See ist dunkel und geht nahtlos in den sternlosen Himmel über, der ab und an von den schweifenden Scheinwerfern der Freizeitparks erhellt wird. Über dem See leuchtet der Mond, klein und diffus wie ein Unterwasserlicht.

Wir verfolgen die Frauen mit unseren Blicken. Sie laufen zielstrebig, zögern nicht. Sie scheinen keine Angst zu haben, und das nehmen wir Fremden übel. Sie versammeln sich auf der Baustelle, nehmen die Fundamente der nicht erbauten Häuser unter die Lupe, spähen unter vergessene Planen und verrottende Bretter. Sie fallen ins Musterhaus ein, das einzige Gebäude, das fertiggestellt wurde. Die Lichtstrahlen ihrer Stirnlampen huschen über Spritzennadeln, Weinflaschen und die fleckige Matratze. Die Frauen rümpfen die Nasen. Seit ein Hurrikan das Dach weggerissen hat und die Baustelle brachliegt, ist das Musterhaus ein bekanntes Liebesnest. Irgendwann hat jemand eine Matratze hineingeschleift und mit Starthilfekabeln ein Zelt darüber aufgehängt, um sie vor Regen zu schützen. Das Zelt ist dünn; wir schauen schon seit Jahren auf die schattenhaften Gestalten hinunter, die sich dort treffen, beobachten, wie sie miteinander verschmelzen und wieder auseinandergehen. Wie Schutzengel schauen wir diskret von unseren Fenstern aus zu, aber den suchenden Frauen ist Barmherzigkeit anscheinend fremd. Wie voreingenommen sie sind, kommt in ihren Bewegungen zum Ausdruck. Mit den Lichtstrahlen ihrer Stirnlampen zerkratzen sie alles, was sie sehen. Als sie nichts finden, gehen sie wieder hinaus und lassen die Tür offen stehen.

Zwei Frauen marschieren noch weiter am Seeufer entlang, an unseren Wohnungen vorbei. Sie steuern auf das Stück Wildnis zu, wo selbst wir uns nicht hinwagen. Wir schwenken unsere Ferngläser nach links, um ihnen zu folgen. Der Strahl einer Stirnlampe fällt auf das Warnschild am Stacheldrahtzaun, der das Stück Wildnis umgibt; ein gelbes Dreieck mit schwarzem Blitz. Das hohe Gras hinter dem Zaun ist wie eine dicke Wand. Eine der beiden Frauen leckt sich den Daumen und fasst damit an den Stacheldrahtzaun. Als ihre Hand zurückzuckt, kichern wir in uns hinein. Wir können förmlich sehen, wie dem ungläubigen Pummelchen der Strom durch den Körper schießt.

Die Suche der Frauen wirkt entschlossen und choreografiert; während wir ihnen zuschauen, hören wir ihre Gedanken wie ein Mantra: »Wo ist sie?« »Wo ist sie?« »Wo ist sie?« Die Frauen sind wie lautlose, zielstrebige Soldaten.

Wir bleiben den Frauen auf den Fersen, doch allmählich wird es zu dunkel, und wir verlieren sie aus den Augen. Wir jagen dem Schein ihrer Stirnlampen hinterher. In den hektisch tanzenden Lichtkreisen sehen wir eine zähnebleckende Streunerkatze, das Schwanzende einer Schlange und Eddies Leiter, die am Boden aufblitzt, aber die Szene ist wie ein schwarzer Bildschirm, auf dem gelegentlich ein Pixelschwall erscheint.

Wir kämpfen gegen die Müdigkeit an, obwohl uns bereits die Augen zufallen wie bei Übernachtungspartys, wenn wir um jeden Preis wach bleiben wollen, während uns der Kaffee und die Horrorfilme nur Magenschmerzen und Albträume bescheren. Wir sitzen im Schneidersitz vor unseren Fenstern, die müden Köpfe an die Scheibe gelehnt. Die Handlung fängt an, sich zu verzerren. Die leuchtenden gesichtslosen Frauen steigen in die Luft wie Weltraumspaziergängerinnen. Leitern hängen lose vom Himmelsgewebe herab. Die Frauen springen in die Höhe, um nach den Sprossen zu greifen. Sie öffnen ihre Münder, als wollten sie mit uns sprechen, doch wir hören nur das Kreischen der Streunerkatzen, die zwischen unseren Wohnblöcken ihre nächtlichen Kämpfe austragen.

Als wir aufwachen, geht gerade die Sonne auf, ein dicker roter Muskel am Horizont, der über den See blutet. Wir reiben uns die Augen und starren aus dem Fenster. Die Frauen sind auf den Boden zurückgekehrt. Die warme Luft flimmert um sie herum. Sie wirken ernüchtert, bewegen sich langsam durch die rosafarbene Morgendämmerung. Sie haben die Geräte weggelegt und scheinen wieder und wieder ihren Namen zu rufen. Sie sehen verzweifelt aus, ihre Entschlossenheit ist verschwunden. Wir kichern und richten unsere Ferngläser auf ihre Münder, die sich flehend öffnen und schließen: »Sam-my, Sam-my, Sam-my!« Auf dem Highway ertönen wieder Sirenen, und jenseits des Sees hören wir das Gejohle der ersten Touristen, die von den Hotels auf die Freizeitparks losgelassen werden.

Unsere Mütter beugen sich über unsere Betten, und wir lassen die Augenlider unter ihren kühlen Händen flattern. Wir mögen ihren verkaterten Geruch nach Gin und Limetten.

»Es ist etwas passiert«, sagen sie.

»Was?«, flüstern wir.

»Die Tochter des Predigers. Eddies kleine Freundin. Sie ist spurlos verschwunden.«

Wir halten die Augen geschlossen. Kleine Freundin. Wir verdrehen die Augen unter den Lidern.

»Die mit den kurzen Haaren. Wie heißt sie noch mal?«

Die mit den kurzen Haaren! Unsere Mütter sind so naiv. Sie haben nicht die geringste Ahnung, wofür wir brennen und für wen unsere Herzen schlagen.

»Sammy«, sagen wir leise.

»Der Kaffee ist fertig«, sagen sie.

»Wir erklären dir gleich alles«, sagen sie.

Wir nicken und scheuchen sie aus dem Zimmer.

Kaum sind wir wieder allein, kehren wir an unsere Fenster zurück. Die Baustelle unten hat sich in einen Jahrmarkt verwandelt. Um das Musterhaus herum werden Zelte errichtet. Plastikmülleimer mit Eis und Wasserflaschen säumen die Mauer von Falls Landing. An der Straße zum Highway haben Pick-ups geparkt, die Ladeflächen ein Gewirr aus Metalldetektoren, Gehstöcken, Papier und Klebeband. Die Frauen sind noch da, nicht mehr so viele, wie wir dachten, nur ungefähr ein Dutzend, mit frischen pinkfarbenen T-Shirts uniformiert, knallig und unförmig wie aus einem Multi-Pack. Sie hocken vor ihren Zelten, bereiten Kaffee auf dem Campingkocher zu oder putzen sich die Zähne und spucken das Wasser auf das gemarterte Gras. Der Sheriff ist auch da, er steht mit seinem Wagen am Tor von Falls Landing und umklammert sein Funkgerät wie ein Kind, das in die Ecke geschickt wurde. Durch unsere Fenster dringt schwaches Stimmengewirr; unsere Mütter und Großmütter haben sich mit anderen Nachbarinnen auf den Balkonen versammelt. Einige haben sich das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt; ein Trick, den sie lernten, als wir noch Babys waren und gehalten werden wollten. Andere rufen zu ihren Nachbarinnen hinüber. Auch wenn wir sie nicht genau verstehen können, wissen wir, was sie sagen: »Wo ist sie?« Vielleicht benutzen sie andere Worte, doch letztendlich läuft es auf diese Frage hinaus. Wir wissen, welche Mütter beten, welche Mütter niederträchtig reagieren, welche Mütter schon in Tränen ausgebrochen sind und welche Mütter zu viele Fragen stellen. Wir kennen alle Sorten von Müttern.

Wir gehen in unsere Küchen; Ecken mit Linoleumböden, die sich vom braunen Teppich der Wohnzimmer abgrenzen. Wir gießen uns einen Kaffee ein. Fügen Vanille-Kaffeeweißer hinzu. Drei Würfel Zucker. Im Hintergrund läuft stumm der Fernseher. Die üblichen Berichte werden gezeigt. Schon den ganzen Sommer werden nachts Feuer in der Stadt gelegt; kleine nur, die von allein ausgehen und bloß zerborstenes Glas und Brandspuren hinterlassen. Vor der Düngerfabrik geht der Streik weiter, die Arbeiter kauern auf Getränkekisten, Engelsflügel aus Schweiß zwischen den Schulterblättern. Es folgen Bilder des kleinen Mädchens, dem in der Nähe des Golfplatzsees von einem Alligator ein Bein abgebissen wurde, und Aufnahmen der Mutter, die kurz davor noch Selfies machte. Und dann erscheint ein Foto von Sammy, ein aktuelles, auf dem sie mit rasiertem Kopf und neuem Riesenpiercing in der linken Ohrmuschel zu sehen ist. Am unteren Bildrand erscheint das Wort EILMELDUNG, die beiden Nachrichtensprecher raffen hektisch ihre Papiere zusammen. Danach kommt ein Foto ihres Vaters bei einer seiner Predigten, die fleischigen Hände zum Gebet erhoben.

Unsere Mütter greifen nach der Fernbedienung und schalten das Gerät aus.

Wir setzen uns und schauen sie erwartungsvoll an.

»Viel wissen wir noch nicht«, sagen sie. »Es war noch hell, als sie verschwand. Sie hat nichts mitgenommen, alles war wie immer, bis auf das abgerissene Fliegengitter an ihrem Zimmerfenster.«

Wir nicken, pusten auf unseren Kaffee. Wir verstehen, was unsere Mütter meinen. Manchmal, wenn wir im Laden darauf warten, dass sie bezahlen, gehen wir zur Pinnwand hinüber und schauen uns die Vermisstenmeldungen aus ganz Florida an. Einige Kids sind schon seit Jahren verschwunden. Dann betrachten wir ihr klebriges Lächeln, die flehentlichen Bitten ihrer Eltern. Auf die Mädchen achten wir immer besonders. Sie kommen uns so vertraut vor, doch sie sind an einem Ort, den unsere Mütter nie erwähnen. Also machen wir uns auf eigene Faust schlau und hören schmutzige Geschichten, Storys, von denen uns übel wird, obwohl wir sie irgendwie schon kennen, unsere Mütter haben sie uns bloß mit anderen Worten erzählt. Uns ist klar, dass die Wälder keine Wälder und die Wölfe keine Wölfe sind. In den Geschichten, die wir früher vorm Einschlafen hörten, sind die Mütter immer verbannt oder verflucht oder tot.

»Alles gut bei euch?«, fragen unsere Mütter. »Die ganze Stadt sucht nach ihr, macht euch keine Sorgen.«

Wir schauen sie an.

»Macht euch nicht verrückt«, sagen unsere Mütter. »Sie übernachtet bestimmt nur bei einer Freundin.«

Sie zeigen uns ihre Zähne, die die Farbe unseres Kaffees haben. Das liegt an dem ständigen Mix aus Zigaretten und Zahnweiß-Streifen.

Unsere Klamotten wählen wir sorgfältig aus. Wir wollen perfekt aussehen, aber niemand soll merken, wie viel Mühe wir uns geben. Wir wollen cool, hinreißend und unschuldig aussehen. Unsere Betten sind mit verworfenen Outfits übersät.

Leila trägt ihre Trainingsshorts und einen schwarzen Hoodie, den ihr Dad dagelassen hat. Britney trägt ein hellblaues Polohemd, Schmetterlingsspangen im Haar und weiße Denim-Shorts, die wir auch alle haben wollen. Jody trägt Flip-Flops mit Strassriemchen. Hazel trägt Shorts und darunter Jodys alten roten Badeanzug, mit Papiertüchern ausgestopft, damit er gut sitzt. Isabel trägt einen Hippierock und eine lange Plastikperlenkette. Christian trägt eine Nadelstreifenweste und dreifach aufgetragenen Eyeliner. Wir starren uns im Spiegel an. Sammy ist weg, denken wir, ohne mit der Wimper zu zucken. Wir lassen uns nichts anmerken. Wir schmieren uns Lidschatten bis unter die Augenbrauen. Wir tragen Lipgloss auf. Wir lächeln. Wir schimmern. Wir fühlen uns, als existierten wir nicht.

Draußen finden wir uns sofort. Wir verdrücken uns vor unseren Müttern und laufen um den See. Eddies Leiter liegt in der Nähe des Stegs im Gras. Wir hüpfen zwischen den Sprossen umher, wie bei Himmel und Hölle, und balancieren über die Risse auf dem Asphaltweg.

»Meine Mom sagt, sie will bestimmt nur ihre Mutter ärgern.«

»Meine Mom sagt, sie werden sie bestimmt bald finden.«

»Meine Mom findet es schräg, dass ihr Dad sie in den Nachrichten Engel nennt, das klingt, als wäre sie tot.«

Darüber müssen wir lachen. Tot!

An den Tod denken wir nur, wenn wir an Britneys Dad denken.

Und wir haben uns geschworen, niemals an Britneys Dad zu denken.

Leila hat ihrer Mutter eine Packung Zigaretten geklaut, die Sorte, die wir am liebsten mögen, mit dem Silberband am Filter. Wir hocken uns auf die Treppe des Musterhauses, Leila auf die oberste Stufe, wir übrigen kauern unter ihr wie eine menschliche Pyramide. Leila greift hinter sich und knallt die Tür zu.

»Hat jemand einen Stift dabei?«, fragt sie.

Wir leeren unsere Taschen. Wir haben nur Christians Eyeliner. Leila kritzelt KEIN ZUTRITT auf die Tür, dazu ein kleines Herz. Sie gibt den Eyeliner zurück. Christian betrachtet ihn betrübt, bevor er ihn in die Gesäßtasche seiner Jeans zurückschiebt.

»Wir teilen uns auf«, sagt Leila. »Wir teilen uns auf und belauschen die anderen.«

Wir zucken mit den Achseln, nicken, kauen auf unseren Zigaretten herum. Wir teilen uns nicht gerne auf. Wir bleiben lieber zusammen, sitzen Arm in Arm, legen uns gegenseitig die Köpfe auf die Schultern oder in den Schoß. Aber wir tun, was Leila uns sagt.

Wir laufen herum. Wir stellen uns neben Frauengrüppchen und horchen, was sie sich erzählen. Ein paar jüngere Kinder malen mit Glitzerkleber Engelsflügel auf die Rückseiten von pinkfarbenen T-Shirts, auf denen Sammys Gesicht prangt. Die Telefonmasten und die verwitterte Fassade des Musterhauses sind mit Plakaten übersät, die weiße Mauer ebenfalls. Die Frauen verwenden ein altes Foto von Sammy mit langen Haaren und ohne Zahnspange, nicht das aus den Nachrichten. Als suchten alle nach einer anderen Sammy, nicht nach der, die wir jeden Abend auf der Mauer sehen, wenn sie die Leiter hinunterhuscht, um sich mit Eddie zu treffen.

Stangen, Schaufeln und Schwarzlichtlampen blitzen in der grellen Sonne auf. Alles scheint von innen zu leuchten. Wir kriegen Kopfschmerzen.

»Wenn Sie Beweisstücke finden, geben Sie sie uns!«, ruft eine Gemeindefrau. »Wir leiten sie dann weiter an die zuständige Stelle. Bitte nicht herumzeigen!«

»Hat sie gerade bitte oder Titte gesagt?«, fragt ein Junge. Ein anderer neben ihm prustet los, und eine Frau verpasst den beiden eins mit einem zusammengerollten Poster.

Wir schauen immer wieder zum See hinüber, aber er ist so still wie eh und je. Der See rührt sich nie, doch wir kaufen ihm seine Stille nicht ab. Wir sind überzeugt, dass er uns hinters Licht führen will, aber wir müssen nur schnell genug hinschauen, dann kommen wir bestimmt hinter sein Geheimnis. Auf der anderen Seite des Sees verpestet die Düngerfabrik den Himmel mit Rauch. Im Freizeitpark saust eine orange-blaue Achterbahn herum, die Mitfahrenden kreischen. Die Reklamewand für die Tausendundeine Nacht Dinnershow glitzert in der Sonne, zwei Bauchtänzerinnen umrahmen den Lockspruch Kinder essen gratis.

Unsere Mütter haben sich ein wenig abseits hingestellt, um eine zu rauchen, wofür sie missbilligende Blicke ernten. Ab und zu gehen wir zu ihnen und schmiegen uns in ihre Achselhöhlen. Sie duften jetzt nach Duschgel mit einem Hauch Gin. Sie kaufen immer Duschgels, die besonders stark duften. Mandarine, Limone, Vanille.

»Irgendwas ist da im Busch. Die schicken die ganzen Leute doch nicht ohne Grund hierher.«

»Angeblich ist sie gestern aus dem Fenster geklettert.«

»Nicht dein Ernst.«

»Um unsere Mädels würden die nie so ein Trara machen.«

»Hättest halt einen Prediger heiraten sollen.«

»Amen.«

Sie lachen. Als die Gemeindefrauen zu ihnen herüberstarren, tun sie so, als müssten sie husten.

»Die sollen sich mal nicht so haben«, flüstern sie. Dann eilen sie auf ihren Keilabsätzen davon.

Jemand bringt einen Kaffeespender und stellt ihn auf einen Plastiktisch. Bier gibt es auch. Die braunen und grünen Flaschen stecken zwischen den Wasserflaschen in den Mülleimern. Wir klauen uns eine und versammeln uns wieder auf der Treppe des Musterhauses. Wir mögen Bier, vor allem kaltes. Britney lässt einen Rülpser los, und wir lachen.

Wir können die Frauen jetzt deutlich hören. Niemand flüstert mehr. Die Suchaktion wirkt allmählich wie eine ganz normale Party. Bisher hat niemand etwas gefunden.

»Glaubst du, sie ist abgehauen?«

»Das tun viele, gerade in dem Alter.«

»Es werden aber auch viele entführt.«

»Sag doch nicht so was.«

»Angeblich hat sie sich den Kopf mit dem Rasierer von ihrem Dad kahl geschoren.«

»Glaubst du, er hat was damit zu tun?«

»Jedenfalls darf sie nur mit Neoprenanzug ins Schwimmbad.«

»Wieso das denn?«

»Damit sie keine Haut zeigt.«

»Ich würde meine Tochter auch in einen Neoprenanzug stecken, wenn ihr einer passen würde.«

»Da würdest du wohl eher eine Katze reinkriegen.«

»Die würde auch weniger kratzen.«

»Vielleicht hat sie ja Angst bekommen, wegen dem Casting?«

»Was ist denn mit ihrem Freund?«

»Der sagt, er weiß von nichts.«

»Traust du dem etwa?«

»Glaubst du, sie ist abgehauen?«

»Das tun viele, gerade in dem Alter.«

Wir hören, wie sie ihre Iced Coffees durch Strohhalme aufsaugen und glucksend Bier trinken. Die Sonne knallt ihnen offenbar aufs Hirn, denn das Gespräch geht wieder von vorne los. Wir trinken das Bier aus, und Britney wirft die Flasche durch den leeren Fensterrahmen des Musterhauses. Sie kracht gegen die Wand, und die Scherben landen auf der Matratze.

»Brit«, sagt Leila. »Das ist uncool. Da wollen die Leute doch poppen.«

Britney nagt an ihrem Daumennagel. Ein paar von uns lachen, die anderen schütteln den Kopf, aber da wir nicht gern verschiedener Meinung sind, vergessen wir das Ganze. Wir spähen um die Ecke des Musterhauses. Ein paar Mütter aus den Wohnblöcken nähern sich mit ihren Kindern im Schlepptau; sie sagen zu ihnen: Hört auf, Fragen zu stellen, guckt einfach nur. Die kleineren Kinder sehen aus, als bekämen sie gleich einen Hitzschlag, ihr Haar ist schweißnass. Die älteren Kids stehen herum und lassen ihre Kaugummis knallen, regungslos und gelangweilt wie Kühe. Irgendwer hat Snacks vom Discounter geholt. Wir kennen die Plastik-Tellerglocken, die Sandwiches und die hellen Plätzchen mit den bunten Streuseln. Es gibt ein paar Brathähnchen zum Auseinanderreißen. Ein Junge bietet einem Mädchen die Reste einer Chipstüte an, und das Mädchen legt den Kopf in den Nacken und lässt sich die Krümel in den Mund regnen. Die Mütter kauen, ihre Gesichter entspannen sich. Die Jungs beißen kräftig zu, die Mädchen knabbern. Die Kleinen nehmen argwöhnisch Sandwiches auseinander und essen nur das, was sie lecker finden. Wir sehen Münder, Münder und noch mehr Münder, sie kauen Hähnchen in Orangensauce, Pute mit Mayonnaise, Mini-Brownies aus der Tiefkühlpackung. Speichel kringelt sich zwischen Lippen. Kerne schießen aus berstendem Tomatenfleisch. Fettadern schwabbeln herum. Salatblätter hängen schlaff herunter. Undefinierbare Fitzelchen graben sich zwischen weiß blitzende Jacketkronen.

Wir schauen uns an. »Nichts«, sagt Leila. »Sie haben nichts.«

»Wie immer«, sagt Britney, und diesmal lachen wir alle.

2

Das erste Mal fiel uns Sammy Liu-Lou vor einem Jahr so richtig auf. Als wir in die siebte Klasse kamen, kam sie in die achte. Wir wussten damals noch nicht viel über sie, nur, dass sie in einem der großen weißen Häuser hinter der Mauer von Falls Landing wohnte. Wir wussten, dass ihr Dad ein berühmter Fernsehprediger war, der herumreiste, um über Erweckung zu reden. Manchmal predigte er sonntags in unserer Kirche, und dann sahen wir Sammy und ihre Mutter mit gefalteten Händen in der ersten Reihe sitzen, die Gesichter hinter dem langen dunklen Haar versteckt. Unsere Mütter schickten uns nach der Predigt hin und wieder zu ihm hoch, besonders wenn wir gerade bei einem Sehtest in der Schule durchgefallen waren oder Durchfall hatten. Dann nahm er unsere Köpfe zwischen seine Pranken, als wollte er etwas aus uns herausquetschen. Wir ließen es über uns ergehen, und Britney tat manchmal, als fiele sie in Ohnmacht oder redete in Zungen, aber eigentlich fanden wir es langweilig. Männer waren uns egal, und wir glaubten nicht an Wunder. Wir fanden Sammy irgendwie schräg, aber auf eine Art, die wir verstanden. Sie trug Schlabberpullis, saß immer allein in der Bücherei, und einmal keifte sie beim Mittagessen eine Mädchengang an, weil jemand »Oh mein Gott« gesagt hatte. Mit quiekender Stimme forderte sie sie auf, den Namen des Herrn nicht zu benutzen, aber das brachte natürlich nichts. Als alle sie auslachten, dachten wir schon, sie würde in Tränen ausbrechen, aber von wegen. Sie starrte die Mädchen einfach nur an, und einen Moment lang wurde es totenstill in der Schulkantine, fast schon beklemmend. Wir dachten echt, sie würde gleich anfangen zu schweben. Dann ertönte der Gong, und sie verwandelte sich wieder in eine Unsichtbare, die von niemandem beachtet wurde. Wir vergaßen sie wieder.

Doch dann gab Sammy eine Geburtstagsparty.

Sie wurde vierzehn und war damit eigentlich zu alt dafür, ihre ganze Klasse einzuladen. Aber Sammy lud alle Mädchen aus der Stufe ein. Sie ließ wirklich niemanden aus. Einen ganzen Tag lang war sie damit beschäftigt, Einladungen zu verteilen, legte jedem Mädchen eine auf den Platz, ließ sie hinabregnen wie Dollarscheine in einem Musikvideo, schleuderte sie auf die Tische der Kantine. Nach der Schule trafen wir uns auf dem Spielplatz vor unserem Wohnblock und belauschten die Mädchen aus der achten Stufe, die auf der Rutsche saßen; sie warfen Sammys Einladungen in die Luft, kreischten »Nur für Mädchen« und äfften dabei Sammys heisere Quiekstimme nach.

»Für wen hält die sich eigentlich?«

»Was soll ich denn da, wenn keine Jungs kommen?«

»Nur für Mädchen!«

»Die hat übrigens Warzen im Hals.«

»Auf den Stimmbändern.«

»Wo auch immer.«

»Jedenfalls klingt sie wie ein Quietschball für Hunde.«

»Sie muss sich die Dinger alle drei Jahre weglasern lassen.«

»Woher weißt du das?«

»Ich hab sie gefragt!«

»Du hast sie einfach gefragt?«

»Wie gemein!«

»Du spinnst ja!«

Die Mädchen lachten, aber wir mochten Sammys heisere Stimme, die immer so klang, als verriete sie gerade ein Geheimnis.

Irgendwann hielten wir es nicht mehr aus.

»Zeigt doch mal her!«, riefen wir.

Die Mädchen verdrehten die Augen und reichten uns ihre Einladungen. Das Papier fühlte sich warm und samtig an. Als wir die Einladungen auseinanderfalteten, rieselte Konfetti heraus. Wir fingen es mit den Fingerspitzen auf und betrachteten es blinzelnd; es hatte die Form von winzigen Vögeln.

»Kommt, wir verbrennen sie«, sagte Kayla, Leilas ältere Schwester. Sie stand darauf, Sachen anzuzünden, vor allem schöne. Sie schaute gern zu, wenn billiger Ohrschmuck sich auf dem Asphalt kringelte, pinke Bougainvillea-Blüten zusammenschrumpften und verkohlten oder die Haarspitzen ihrer hübschesten Freundin in Rauch aufgingen. Wir legten uns die makellosen Vögelchen sofort auf die Zungen, um sie zu retten. Sie lösten sich auf wie Esspapier. Sie schmeckten sogar süß. Die älteren Mädchen machten ein kleines Feuer aus ihren Einladungen und forderten einander heraus, es barfuß auszutreten. Leila versuchte es als Erste, doch kaum berührten ihre Fußsohlen die Flammen, schrie sie auf.

Am Tag der Party wollten sie trotzdem alle hingehen. Jedes einzelne Mädchen aus Sammys Stufe wartete draußen an der Straße auf Leilas und Kaylas Mom. Deren Freund arbeitete nämlich beim Gebrauchtwagenhändler und hatte ihr einen Volvo besorgt, auf dessen Rückbank fünf Mädels passten, wenn sie sich eng zusammenquetschten. Wir kannten die Maße unserer Oberschenkel genau, die idealen (wenn wir den Bauch einzogen und uns vorm Spiegel in die Höhe reckten, bis eine Lücke erschien) ebenso wie die realen (wenn wir im Schulbus saßen und unser Fleisch wie Kartoffelbrei hervorquoll). Die Mädchen aus der achten hatten sich aufgedonnert. Sie trugen ihre besten Jeansshorts, sämtliche Plastikarmreifen, die sie besaßen, an einem Handgelenk, und weit ausgeschnittene T-Shirts, die knapp überm BH endeten oder ihnen über die Schulter fielen. Ihr Haar trugen sie geflochten, gegelt oder geglättet, und ihre Lippen schimmerten in einem identischen Braun, weil sie ein Dutzend verschiedene Farbtöne aufgetragen und wieder abgewischt hatten. Wenn sie lächelten, sahen wir die Kosmetiktuchfetzen, die sich in ihren Zahnspangen verfangen hatten und mit jedem aufgeregten Atemzug flatterten.

Es war Samstag und uns war langweilig, so wie immer. Auf die Sachen, die wir sonst machten, hatten wir keine Lust. Normalerweise schlugen wir die Zeit damit tot, uns etwas zu essen zu machen, am liebsten in der Mikrowelle. Wir wärmten Pink Milk auf, stopften alles, was wir finden konnten, in Tortillas und grillten sie kurz bei maximaler Hitze, bis sie zerschmolzen und knusprig und köstlich waren. Wir redeten über Jungs und vereinbarten, uns niemals in denselben zu verknallen. Wir kritzelten unsere Handynummern auf Papierfetzen, die wir dann im Lebensmittelladen in Müsliverpackungen versteckten. Wir warteten darauf, dass uns jemand anrief. Aber das passierte nie. Wir spielten MASH, das Wahrsage-Spiel, eine Runde nach der anderen. Wir bekamen nie genug davon und lachten uns immer wieder schlapp, wenn jemand den Sportlehrer heiraten, in ein Drecksloch ziehen und Tankstellenklos putzen musste, was allerdings nicht ganz so lustig war, weil ein paar von unseren Müttern tatsächlich putzen gingen.

Doch am Tag der Party konnten wir uns auf nichts einigen. Sobald eine von uns einen Vorschlag machte, kreischten wir »Langweilig!«, bis diejenige den Mund hielt. Die großen Mädchen waren weg, und wir hatten das Gefühl, dass uns etwas verheimlicht wurde. In der Ferne sahen wir ein Gewitter aufziehen, einen herankriechenden Schatten, der den hellblauen Himmel überzog. Am Horizont zuckten bereits Blitze, und die Achterbahnen in den Parks hörten auf zu fahren. Wir liebten Gewitter. Wenn unsere Mütter uns zuriefen, aus dem Pool zu kommen, ignorierten wir sie. Die Regel war, den Pool zu verlassen, wenn zwischen Donner und Blitz sieben Sekunden lagen, denn ein Gewitter kam rasch näher, und auch wenn wir niemanden kannten, der im Wasser vom Blitz getroffen worden war, konnten wir uns lebhaft vorstellen, wie das ablief. Wir würden brutzeln wie die Tortillas in der Mikrowelle, bis wir knusprig schwarz waren und qualmten. Wenn wir darüber redeten, wie wir am liebsten sterben wollten, war das unsere Nummer eins, viel besser als erfrieren, ertrinken oder erschossen werden. Als Leila einmal den Stecker ihres Kühlschranks in die Steckdose steckte, schoss eine blaue Flamme daraus hervor. Sie sagte, sie hätte gespürt, wie die Flamme durch ihren ganzen Körper ging. »Als hätte sie an mir geleckt«, sagte sie und zeigte uns eine Stelle an ihrem Arm, wo die Härchen sich kringelten. »Die standen alle zu Berge«, sagte sie. Wir waren völlig fasziniert. Das war, bevor wir anfingen, uns die Arme zu waxen.

»Kommt, wir folgen dem Volvo«, sagte Leila.

Wir rannten, so schnell wir konnten, das Treppenhaus hinunter, über den roten Rindenmulch auf dem Spielplatz und dann kreischend die Straße zwischen unseren Wohnblöcken entlang, weil wir uns auf dem glühenden Asphalt die Füße verbrannten. Als wir die Baustelle mit ihren kühlen Grasflecken erreichten, konnten wir durchatmen. Wir sahen, wie der Volvo vor uns an der Ampel von Falls Landing anhielt. Wir liefen geduckt um das Musterhaus herum, hüpften über die Balken der Baustelle und sprinteten die restliche Strecke bis zu der weißen Mauer, die sich vor uns auftürmte. Sie war so gewaltig, dass selbst das große Eingangstor von Falls Landing im Vergleich dazu klein und albern wirkte, wie eine von diesen ekelhaft hohen Achterbahnen in den Freizeitparks. Als wir um die Ecke schlichen, sahen wir, wie der Volvo durch das schmiedeeiserne Tor glitt. Wir pirschten uns in die Nähe des gläsernen Pförtnerhauses. Links und rechts davon standen zwei Orangenbäume mit perfekt geformten Früchten. Ein Wasserfall ergoss sich über das Dach des Pförtnerhauses in die glitzernden Becken zu beiden Seiten. Wir wussten, dass in den Pools herrlich fette Goldfische schwammen, aber wir hatten es nie nah genug herangeschafft, um sie zu sehen, weil der Pförtner uns jedes Mal verjagte. Der Pförtner hasste uns, doch wir liebten ihn. Wir liebten seine Uniform mit dem schwarz-goldenen Brokat und träumten davon, mit ein paar Goldfischen und einem Minifernseher in seinem Glashäuschen zu wohnen.

Als der Pförtner uns sah, kam er aus seinem Haus gelaufen und verscheuchte uns wie üblich. Wir reagierten mit Knurren, Zischen und Jaulen, spielten unseren Part. Eine von uns schoss wie ein Pfeil nach vorn, der Pförtner kam näher, eine andere von uns schlug ihm auf die Schulter, und als er herumwirbelte, rannte sie weg. Wir rasselten mit unseren Armreifen und fluchten auf Rumänisch, wie Isabels Oma es uns beigebracht hatte, auch wenn wir die Worte nicht verstanden. Später erfuhren wir, dass es so etwas bedeutete wie »Deine Mutter hat dich auf Sonnenblumenkernen gemacht.«

Wir triezten den Pförtner, bis er damit drohte, die Polizei zu rufen, und dann flohen wir zurück auf die Baustelle. Wir spähten durchs Fenster des Musterhauses, aber tagsüber war dort keiner. Ein halber Kirschkuchen lag auf dem Küchentresen, mit glänzenden Kakerlaken übersät. Früher hätten wir uns noch gegenseitig herausgefordert, den Finger reinzustecken und dran zu lecken, aber das kam uns jetzt kindisch vor. Wir traten gegen die vermoderten Balken, schauten den fliehenden Käfern zu und zerquetschten ein paar, und dann kamen wir uns mies vor. Wir waren in der Stimmung, wo nichts uns hätte glücklich machen können. Denn jedem Glück wohnte auch seine eigene Zerstörung inne, wie Glas, das nur darauf wartete, von uns zertrümmert zu werden.

Die Baustelle lag schon seit so vielen Jahren brach, dass sie in unserer Vorstellung ein fertig errichteter Ort war. Für uns war es undenkbar, dass dort weitergebaut wurde. Über den wenigen Wänden, die man hochgezogen hatte, flatterten zerlöcherte Planen, das Musterhaus groß und eigenartig in der Mitte. Wir konnten uns noch daran erinnern, wie das Dach bei einem Hurrikan davongeflogen war. Wir hatten es von Christians Fenster aus beobachtet, während unsere Mütter im Wohnzimmer bei Kerzenschein Party machten. Lachend schauten wir zu, wie ein großer Brocken nach dem anderen vom Dach fegte und Richtung Highway hüpfte, bis ein so großes Loch klaffte, dass wir den grasbewachsenen Boden erkennen konnten. Neben dem Musterhaus stand eine Reklametafel, die so hoch wie die weiße Mauer war und die ursprüngliche Vision für das Grundstück präsentierte: identische braune Reihenhäuser mit identischen Rasenflächen vor der Haustür, im Vordergrund ein blondes Paar, das einen großen goldenen Schlüssel hielt. Ob das Paar sich über seine Zukunft freute, ließ sich nicht sagen, denn die Gesichter waren so vollgekritzelt, dass sie wie zwei schwarze Löcher aussahen.

Wir standen da und lauschten. Jenseits der Mauer hörten wir den Lärm von Sammys Party.

Ratlos starrten wir die Gesichter auf der Reklametafel an. Sie schienen Leila auf eine Idee zu bringen. Fasziniert schauten wir zu, wie sie an einem der Holzmasten die Reklametafel hochkletterte. Nur zwei von uns konnten zu ihr hoch, weil da oben nicht genug Platz für uns alle war. Der Rest von uns klammerte sich an die Masten, die Köpfe dicht an den Hintern der anderen. Hazel musste unten bleiben und nölte: »Was seht ihr? Nun sagt schon!«

Leila stellte sich oben auf die Tafel, um über die Mauer zu spähen; sie musste aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Ich kann den Garten sehen«, sagte sie und erzählte uns dann, was los war.

Die Mädchen lieferten sich eine Wasserballonschlacht in Sammys Garten. Die Sprinkler waren an und die Luft voller Regenbogensplitter. Verschiedene Grüppchen steckten die Köpfe zusammen, überlegten sich Strategien, gingen hinter den dünnen Palmen in Deckung, sammelten Munition, bildeten Stoßtrupps. Als die Munition nach mehreren Angriffswellen zur Neige ging, stopfte sich ein Mädchen zwei Wasserballons in ihr Bikinioberteil, und kurz darauf liefen alle Mädchen mit riesigen Schwabbelbrüsten herum. Dann fingen sie an, sich gegenseitig anzurempeln, um sie zum Platzen zu bringen.

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