×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Winterwünsche in Willowbrook«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Winterwünsche in Willowbrook« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Winterwünsche in Willowbrook

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Liberty liebt ihr ruhiges Leben im zauberhaften Willowbrook. Sie kann sich nichts Schöneres vorstellen, als am Kaminfeuer zu quilten oder mit ihrem Labrador lange Spaziergänge durch die verschneite Natur zu unternehmen. Nur eine fehlt ihr sehr: ihre beste Freundin Carys, die im Koma liegt. Doch dann bekommt Liberty wie jedes Jahr zu ihrem Geburtstag anonym Blumen geschenkt, und sie fragt sich, ob sie es nicht wagen sollte, aus ihrer Routine auszubrechen. Hat ihr nicht auch Carys’ Unfall gezeigt, wie wenig Zeit einem bleibt? Liberty stellt sich die Aufgabe, im Dezember zu allen Dingen Ja zu sagen. So passiert es, dass sie ein Zimmer in ihrem kleinen Cottage an Alex vermietet und plötzlich mit einem attraktiven Mann unter einem Dach wohnt …

»Sophie Claires Romane sind einfach perfekt für gemütliche Lesestunden, um dem Alltag zu entfliehen.« Heidi Swain


  • Erscheinungstag: 27.09.2022
  • Aus der Serie: Willowbrook
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904761
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Jane Dodds,
die mich zu dieser Geschichte inspiriert hat.

Kapitel eins

Mittwoch, 26. November

Liberty war bereit.

Jedes Jahr fragte sie sich, wer sie lieferte, wer sie schickte und warum. Tja, in diesem Jahr würde sie es herausfinden.

Im Cottage war es still. Draußen hatte die Nacht eine dunkle Decke über den Wald gelegt, und Liberty stellte sich vor, wie sich alle Wesen in der Wildnis schlafend zusammengerollt hatten. Gewöhnlich ließ sie ihr Verandalicht brennen, heute aber nicht. Absichtlich.

Fröstelnd zog sie ihren Quilt fester um sich und wünschte, sie könnte ein Buch lesen, um sich zu beschäftigen, nur wollte sie sich nicht durch ein scheinendes Licht verraten. Deshalb hockte sie im Dunkeln und wartete. Ihre Augenlider fühlten sich schwer an. Wäre da nicht die mysteriöse Person gewesen, die sie einmal im Jahr an diesem Tag aufsuchte, jeweils vor Tagesanbruch, hätte sie noch geschlafen. Nun zupfte sie einen losen Faden vom Bein ihrer blauen Pyjamahose. Vielleicht kommt der- oder diejenige in diesem Jahr nicht, dachte sie, während die Minuten verstrichen. Es könnte pure Zeitverschwendung sein, so lachhaft früh aufzustehen. Die Uhr in der Diele tickte einen einlullenden Takt, und Liberty lehnte den Kopf an den Fensterrahmen …

Sie war fast eingenickt, als das wummernde Brummen eines Motors bewirkte, dass sie die Augen aufriss. Sie setzte sich auf und sah, wie ein Scheinwerferpaar auf sie zukam. Wer immer das war, schaltete den Wagen aus. Listig! Kein Wunder, dass Charlie, ihr allzeit wachsamer Labrador, es in den letzten Jahren nie gehört hatte. Er bellte sonst schon, wenn sich ein Eichhörnchen aus hundert Metern Entfernung näherte, doch jetzt schlief er friedlich weiter in der Küche.

Hellwach beobachtete Liberty, wie ein kleiner Van die Lichter löschte und leise auf ihr Cottage zurollte. Sie strengte sich an, den Fahrer oder die Fahrerin zu erkennen, konnte jedoch lediglich einen dunklen Umriss ausmachen. Sie konnte nicht mal sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Die Person stieg mit einem Blumenstrauß in der Hand aus und ging auf das Cottage zu. Libertys Herz pochte vor Vorfreude auf das wunderschöne Geschenk – und die Auflösung des Rätsels.

Schnell öffnete Liberty das Fenster. »Danke für die Blumen!«, rief sie munter. »Ich habe mich nur gefragt …«

Die Gestalt draußen ließ den Strauß fallen und lief weg.

»… wer sie schickt«, beendete Liberty den Satz leise, während Charlie in der Küche lauthals anfing zu bellen. Okay, das war nicht die Reaktion, die sie erwartet hatte.

Sie überlegte. Eine Verfolgungsjagd war ja kaum angemessen – oder? Sie blickte an sich hinab: Pyjama und Morgenmantel. Nein, für eine Verfolgungsjagd war sie nicht gekleidet, und sie hatte keine Ahnung, wer diese Person war.

Der Klang des startenden Vans half ihr, zu einem Ad-hoc-Entschluss zu gelangen. Wenn sie nichts tat, würde diese Person davonkommen und Liberty nie erfahren, wer hinter den Lieferungen steckte. Das durfte sie nicht zulassen. Sie war so dicht dran, eine Antwort zu bekommen, und sie weigerte sich, jetzt aufzugeben.

Also rannte sie zur Haustür. Ihr Adrenalinpegel war hoch. Charlie flitzte bellend durch die Diele. Bis sie an der Tür waren, preschte der Wagen bereits mit schlingernden Reifen davon. Fluchend packte Liberty ihre Schlüssel. Charlie folgte ihr, und es war einfacher, ihn mit ins Auto hüpfen zu lassen. Liberty dankte ihrem Glücksstern, dass ihr alter Citroën 2CV auf Anhieb ansprang, und Freude mengte sich unter ihre Aufregung. Noch nie hatte sie so etwas wie dies hier gemacht.

»Wer ist es, Charlie?«, fragte sie den Hund, als sie in den zweiten Gang schaltete und hinter dem Van herfuhr. »Und was sollte diese panische Flucht?«

Sie war sich nicht sicher, warum es sie so wütend machte. Vielleicht lag es daran, dass sie das Gesicht der Person fast gesehen hätte. »Ich will doch nur wissen, wer mir die verdammten Blumen schickt! Ist das denn zu viel verlangt?«

Charlie blinzelte nervös, während sie um eine Kurve jagte. Sie kannte die Landstraßen hier wie ihre Westentasche, trotzdem fuhr sie normalerweise nicht so schnell. Tatsächlich war sie seit Carys’ Unfall vor sechs Monaten vorsichtiger denn je. Der Van vor ihr raste schlitternd auf die Hauptstraße und brauste davon, doch Liberty holte auf. Sie trat das Gaspedal durch, um mitzuhalten. Zum Glück war weit und breit niemand auf der Straße.

»Der Van ist von einem Floristen«, meinte sie und versuchte, den Namen zu entziffern. »Aber nicht Natashas, oder?«

Charlie winselte.

»Schon gut, Charlie. Keine Angst.« Sie streichelte ihn kurz, dann konzentrierte sie sich wieder auf die Straße. Mit beiden Händen umklammerte sie das Lenkrad, fest entschlossen, den Van vor sich nicht aus den Augen zu lassen. Die mysteriöse Person fuhr in einem halsbrecherischen Tempo. Libertys Herz pochte wie verrückt, und sie versuchte, nicht daran zu denken, dass sie die Kontrolle über den Wagen verlieren könnte, weil sie ins Schlittern geriet oder die Bremsen versagten. In all den Filmen, die sie gesehen hatte, hatten solche Verfolgungsjagden aufregend gewirkt; in der Realität wurde Liberty schlecht vor Angst.

Schließlich erreichten sie den Ortskern, und der Van bog hinter einem Blumenladen ein. Die Fahrerin – wie Liberty nun erkannte, warf ihr einen Blick zu, bevor sie ins Gebäude eilte. Liberty bremste mit quietschenden Reifen, sprang aus dem Wagen und lief ihr nach, wobei sie rief: »Halt! Warten Sie!«

Charlie war direkt hinter ihr und bellte laut. Als die Frau die Tür von innen schließen wollte, schob Liberty einen Fuß in den Spalt. Schmerz schoss ihr durchs Bein, als die Frau fest gegen die Tür drückte.

»Okay, jetzt machen Sie mir Angst«, sagte die Frau. »Warum sind Sie mir den ganzen Weg gefolgt?«

Liberty rang nach Luft. Im Ernst, es wäre ein Wunder, überstünde ihr Zehennagel dies unbeschadet. Trotzdem ließ sie ihren Fuß dort, denn sie wollte unbedingt Antworten auf die Fragen, die sie seit Jahren beschäftigten. »Warum sind Sie so gerast? Ich hoffe, Sie überschreiten das Tempolimit nicht immer so.«

Schuldgefühle spiegelten sich in den blauen Augen der Frau. »Natürlich nicht. Ich wollte weg, weil Sie nicht wissen sollen, wer Ihnen Blumen schickt.«

Charlie bellte immer noch neben Liberty. Sie befahl ihm, ruhig zu sein, und sah wieder die Frau an. »Warum nicht?«

Die Frau blieb stumm.

Liberty ließ sich nicht beirren. »Ich will nur wissen, von wem die sind. Heute ist mein Geburtstag, und die Blumen kommen schon, seit ich achtzehn wurde, aber es ist nie eine Karte oder ein Name dabei, und Sie glauben nicht, wie viele Stunden ich schon gegrübelt habe, wer dahintersteckt. Aber ich habe immer noch keine Ahnung, und falls Sie mir irgendwas sagen können, egal wie vage, würde ich es gern erfahren. Richtig gern.« Sie holte tief Luft und ergänzte: »Bitte.«

Die Frau biss sich auf die Unterlippe und strich sich mit einer Hand durch ihren Pony. »Na gut«, meinte sie seufzend. »Kommen Sie rein. Aber ohne den Hund.«

Liberty zögerte. Sie hatte Charlies Leine nicht dabei, um ihn festzubinden, wagte allerdings auch nicht, ihn zurück zum Auto zu bringen, weil die Floristin sie dann aussperren könnte. »Sitz«, sagte sie zu Charlie. Er gehorchte. Liberty improvisierte, indem sie den Gürtel ihres Morgenmantels aus den Schlaufen zog und Charlie damit am Regenrohr festband. Ideal war es nicht, doch er war ein artiger Hund – meistens. »Jetzt bleib, okay? So ist es brav.«

Drinnen blickte sie sich um. Sie waren in einem kärglich eingerichteten Hinterzimmer mit einer Werkbank, auf der lauter Blätter und Blumenstängel lagen. Eine Tür führte in den Laden, und Liberty konnte Regale voller silberner Eimer mit Schnittblumen sehen. Das Geschäft war größer und geräumiger als das von Libertys Freundin Natasha in Willowbrook. Es war kalt, doch die vielen farbenprächtigen Blumen boten einen wärmenden Anblick. Sie waren wunderschön. Andererseits hätte sie es sich denken können. Die Blumen, die sie jedes Jahr bekam, waren besonders und immer die gleichen: knallgelbe Gerbera, ihre Lieblingsblumen, aufgebunden mit Grün und exotischen Blüten, deren Namen sie nicht kannte, die aber aussahen, als wären sie in einem tropischen Urwald gepflückt worden. Kunstvoll und elegant, und Liberty war jedes Mal aufs Neue bezaubert.

Sie streifte ihre Handschuhe ab und rieb sich den Fuß. »In Filmen zeigen sie nie, wie weh das tut.«

»Vielleicht, weil die Leute da keine Hausschuhe tragen«, sagte die Frau, die Libertys Morgenmantel und Fleecepyjama musterte. Sie hatte langes Haar, das an den Ansätzen weiß-grau war und zu den Spitzen hin eisblau wurde. Es sah sagenhaft aus. »Entschuldigung, aber Sie haben mir Angst gemacht. Und mit dem Hund …«

»Ist schon gut«, sagte Liberty und schlüpfte wieder in den Hausschuh. »Dieser Laden ist fantastisch. Liefern Sie jedes Jahr meine Blumen?«

Die Frau nickte.

»Tja, zunächst einmal, danke. Sie sind immer sehr schön.«

»Gern geschehen.« Die Floristin sah Liberty nicht direkt an.

»Verraten Sie mir bitte, von wem sie sind.«

Nun schürzte die Frau die Lippen. »Weiß ich nicht.«

»Nie ist eine Karte dabei. Ist das Absicht?«

Wieder ein Nicken. »Die Person will anonym bleiben. So lautet die Anweisung, die ich erhalten habe.«

Anweisung? Es klang sorgfältig geplant. »Warum?«

Die Frau zuckte mit den Schultern, und Liberty versuchte es mit einer anderen Taktik. »Erinnern Sie sich, wann Sie diese Anweisung bekommen haben? War jemand persönlich hier?«

Sie warf Liberty einen Seitenblick zu, der zu sagen schien, dass sie diese Information nicht preisgeben durfte. »Ich habe den Auftrag zusammen mit dem Laden übernommen, als ich ihn vor zehn Jahren gekauft habe.«

Also hatte die Person, die hinter den Sträußen steckte, alles vor zwölf Jahren arrangiert, als Liberty achtzehn geworden war. »Und wie läuft das? Hat der- oder diejenige im Voraus bezahlt, oder schicken Sie jedes Jahr eine Rechnung?«

»Das ist vertraulich. Hören Sie, ich habe Ihnen schon mehr erzählt, als ich durfte. Sie sollen nicht erfahren, wer der Absender ist, okay?«

Liberty konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Ich wollte es wirklich nur wissen.«

Die Züge der Frau wurden weicher. »Ich gebe zu, dass es seltsam ist, und ich habe noch nie einen ähnlichen Auftrag gehabt – ausgenommen hin und wieder am Valentinstag. Aber vielleicht soll das Rätsel Teil des Geschenks sein. Es ist doch ziemlich aufregend, finden Sie nicht?«

»Ja, ist es wohl«, gestand Liberty.

»Es sind teure Blumen, so viel kann ich sagen. Wer immer die bestellt, ist nicht knausrig.«

»Und Gerbera sind meine Lieblingsblumen«, meinte Liberty. »Der Auftraggeber muss das wissen, weil sie immer dabei sind.«

»Tut mir leid, dass ich nicht mehr für Sie tun kann.« Die Floristin schaute auf ihre Uhr. »Hören Sie, ich habe noch jede Menge zu tun, also falls es Ihnen nichts ausmacht …«

»Nur eines noch«, sagte Liberty hastig. »Wie lange soll diese Bestellung noch ausgeführt werden? Ich meine, es sind schon zwölf Jahre, und ich bin heute dreißig geworden. Ist es … Ist es jetzt vorbei?«

Die Frau presste die Lippen zusammen. »Nein, ist es nicht. Aber mehr sage ich nicht.«

Liberty empfand eine Erleichterung, mit der sie nicht gerechnet hatte. »Gut. Tja, danke. Und mir tut es leid, wenn ich Ihnen Angst gemacht habe.«

Sie öffnete die Tür und war froh, Charlie zu sehen, der geduldig auf sie wartete.

»Genießen Sie Ihren Geburtstag!«, rief die Floristin ihr nach.

Liberty fuhr langsam und vorsichtig nach Hause, wobei sie die Informationsbrocken durchging, die sie der Floristin hatte entlocken können. Aber die meisten ihrer Fragen waren unbeantwortet geblieben. Was wäre, wenn sie umzog? Würden die Blumen sie dann immer noch erreichen? Und was geschähe, wenn dem Absender etwas zustieß? Handelte es sich um nur eine Person?

Sie bog von der Hauptstraße ab und folgte dem Waldweg, bis sie ihr Cottage erreichte. Der Strauß lag noch auf der Terrasse, wo die Floristin ihn abgelegt hatte. Liberty nahm die Blumen mit nach drinnen, arrangierte sie in einer Vase und bemerkte dann, wie spät es war. Die Zeit wurde knapp, und ihre morgendliche Routine war vollkommen aus dem Takt geraten. Was insofern beunruhigend war, als Liberty ihre Routine liebte: Sie war nicht mit dem Hund draußen gewesen, hatte nicht gefrühstückt, nicht einmal geduscht, und alle drei Tagesordnungspunkte schaffte sie jetzt nur im Eiltempo. Daher verkürzte sie die Hunderunde (Charlie schien enttäuscht und verwirrt zu sein, als sie umdrehten), duschte superschnell (dem Himmel sei Dank für Trockenshampoo) und machte sich rasch Tee und einen Toast mit Erdnussbutter und Marmelade. Darauf konnte sie unmöglich verzichten, denn sie würde die Kunden anknurren, wenn sie nicht frühstückte.

Während sie aß, versuchte sie, nicht an die Bedeutsamkeit des Tages zu denken. Dreißig war ein Meilenstein. Sie fühlte sich … Sie konnte es nicht benennen. Verunsichert? Getrieben?

Letztes Jahr um diese Zeit hatte ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Carys in der Küche mit einem glitzernden silberfarbenen Umschlag auf sie gewartet. »Herzlichen Glückwunsch, Lib!« So aufgeregt, wie Carys sich aufgeführt hatte, war Lib bereits klar gewesen, dass das Kuvert ein besonderes Geschenk enthielt.

Dennoch verschlug es ihr die Sprache, als sie zwei Zugtickets nach Paris darin fand. »Ich habe gedacht, dass wir uns ein verlängertes Wochenende gönnen. Wir können uns ganz viel ansehen und einige Weihnachtseinkäufe machen, wenn du magst.«

»Das ist ein wundervolles Geschenk«, sagte Liberty benommen. »Vielen Dank, Car.« Mit Freudentränen in den Augen umarmte Liberty ihre Freundin. Dann fiel ihr etwas ein. »Aber ich habe keinen Pass!«

Carys reichte ihr augenzwinkernd ein Formular. »Dann besorg dir einen.« Sie hatte an alles gedacht.

Doch Carys war nicht mehr hier. Sie lag im Koma, seit ein rücksichtsloser Mann vor sechs Monaten viel zu schnell gefahren und frontal in ihren Wagen gekracht war.

Liberty hatte gewusst, dass ihr Geburtstag ohne Carys schwierig werden würde, und sich darauf eingestellt. Trotzdem kam ihr das Haus zu still vor, und es wartete kein Geschenk auf dem Küchentisch auf sie.

Sie verdrängte den Gedanken und begann, eine Liste zu erstellen, wer die Blumen geschickt haben könnte. Das hatte sie schon Dutzende Male getan. »Es kann kein heimlicher Verehrer sein, denn ich bin seit über einem Jahr Single«, sagte sie laut. »Womit reichlich Zeit gewesen wäre, mich anzusprechen. Es sei denn, derjenige ist zu schüchtern …«

Charlie blickte kurz auf, ehe er sich wieder seinem Frühstück widmete.

»Und Carys kann es auch nicht sein.« Ihre beste Freundin hatte geschworen, dass sie es nicht war, und inzwischen war es schlicht unmöglich. »Womit so ungefähr jeder bleibt, dem ich je begegnet bin, und eine unendliche Zahl an Gründen, warum.« Frustriert legte sie den Stift hin. Wer in aller Welt könnte es sein?

Sie trug ihre Tasse und den Teller zur Spüle. Und warum tat derjenige es? Glaubte die Person, Liberty bräuchte eine Aufmunterung? Hatte sie Mitleid mit ihr? Sie wusch den Teller energischer als nötig ab. O Gott, sie hasste den Gedanken, dass jemand sie bemitleidete. Nein, das konnte es nicht sein. »Oh, verdammt! Warum sagt derjenige nicht einfach, wer er ist, und erlöst mich aus meinem Elend?«

Sie stellte den Teller auf das Abtropfgestell und blickte durchs Fenster in den Garten. Wie sehr hatte sie gehofft, dies wäre der Tag, an dem sich der Absender endlich zu erkennen gab. Schließlich war es ein runder, ein besonderer Geburtstag. Sie hatte gehofft, diesmal würde die Person selbst die Blumen bringen.

Und sie hatte auf einen Mann gehofft.

Auf einen heimlichen Bewunderer, der sie schon lange kannte, aber aus irgendwelchen mysteriösen Gründen auf Abstand geblieben war, ihr nun aber doch die Gefühle gestehen musste, die er für sie hegte. Jemand, der gut aussah und freundlich war.

Ach, Liberty. Es war nicht die beste Idee, sich einzubilden, dass irgendwo ein Verehrer auf sie wartete. Es musste ja mit einer Enttäuschung enden.

Charlie kam zu ihr getrottet. Liberty streichelte und drückte ihn kurz. Der Labrador schmiegte sich an sie, als spürte er ihre Enttäuschung. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie zur Arbeit musste, also richtete sie sich auf. Als sie an dem Strauß vorbeiging, berührte sie die Blütenblätter einer knallgelben Gerbera. Sie waren so weich wie das grüne Samtkleid, das sie trug.

»Aber schön sind sie«, meinte sie leise, »also danke, wer auch immer du bist.«

Vielleicht kannst du es einfach genießen, hatte ihre Mutter einmal vor Jahren gesagt, als Liberty wieder einmal gerätselt hatte, wer der Absender sein könnte. Nun schloss sie die Augen und versuchte, genau das zu tun, indem sie das Gefühl auskostete, dass irgendjemand entschieden hatte, sie an ihren Geburtstagen mit ihren Lieblingsblumen zu beschenken. Jemand mag mich, dachte sie, und ihr wurde wohlig warm. An dem Gedanken muss ich festhalten. An diesem Gefühl … gemocht zu werden. In jemandes Gedanken zu sein. Es spielt letztlich keine Rolle, wer die Blumen geschickt hat. Ich kann froh sein, sie zu bekommen.

Trotz der Störung ihrer Morgenroutine war Liberty pünktlich bei der Arbeit, und wie immer hob sich ihre Stimmung, als sie die Tür vom Button Hole öffnete. Fast ein Jahr war es her, seit sie ihre alte Stelle in einem Kaufhaus gekündigt hatte, und sie liebte es, hier zu arbeiten. Draußen mochte der Himmel Ende November grau und trüb sein, aber Evies Patchwork- und Quiltladen war ein leuchtender Stern in der Hauptstraße, eine Aladin-Höhle voller bunter Stoffe und Nähutensilien. Hier, inmitten der riesigen Garnspulen und Knöpfe, die von der Decke hingen, und der Musterquilts an den Wänden fühlte Liberty sich vollkommen zu Hause. Wenn sie sich umschaute, entdeckte sie unendliche Möglichkeiten für neue Entwürfe. Und im hinteren Raum wurden diese Entwürfe real: bezaubernde Quilts, die sie für ihre Onlinekunden auf der ganzen Welt fertigten. Dieses Geschäft war Libertys Wohlfühlort.

Ihre Chefin Evie lehnte am Tresen und plauderte mit Natasha, der Inhaberin des Blumenladens gegenüber. Beide begrüßten Liberty strahlend und umarmten sie – auch wenn es bei Natasha nicht leicht war, denn sie war im achten Monat schwanger.

»Wie geht es dir?«, fragte Liberty.

Natasha war klein und zierlich, und ihr Babybauch nahm sich in dem geblümten Kleid sehr rund aus. »Als würde ich durch die Gegend gekullert. Sicher wird dieses Baby mal Turner. Ich schwöre, dass es abwechselnd Purzelbäume schlägt und sich lang ausstreckt.« Sie strich sich das blonde Haar hinters Ohr.

»Wie lange noch bis zum Stichtag?«

»Vier Wochen. Luc wird schon übervorsichtig und drängt mich, mit der Arbeit aufzuhören und die Füße hochzulegen. Aber ich habe so viel zu tun, dass ich noch ein bisschen weitermachen muss. Meine Krankenhaustasche ist aber für alle Fälle schon gepackt. Und Evie ist auf Stand-by, um Lottie zu übernehmen, wenn die Wehen einsetzen.«

Evie nickte.

»Wie es sich anhört, hast du alles im Griff«, sagte Liberty.

Natasha wurde rot, doch sie bewegte sich langsamer, und Liberty fragte sich, ob die Schwangerschaft ihr mehr zu schaffen machte, als sie sich anmerken ließ. Oder sie war schlicht erledigt davon, Vollzeit zu arbeiten und ein quirliges Kleinkind zu Hause zu haben.

»Herzlichen Glückwunsch, Lib!« Evie streckte ihr ein Geschenk entgegen. Es war in Baumwollstoff eingewickelt und mit orangem Band verschnürt.

»Danke, Evie. Wunderschöner Stoff«, meinte Liberty, während sie die Schleife aufzog.

»Ich weiß, dass du normalerweise keine Thriller liest, aber dieser ist genial, glaub mir.«

Liberty drehte das Hardcover um und überflog den Klappentext.

»Was liest du sonst?«, fragte Natasha.

»Liebesromane, die in ländlichen Regionen spielen«, antwortete Liberty. »Die mag ich sehr. Und Cowboys als Helden. Die Typen, die fies und hart aussehen, aber einen verborgenen weichen Kern haben.«

»Von denen man denkt, dass sie sich nicht zähmen lassen?« Natashas blaue Augen blitzten.

»Genau.«

»Die finde ich auch gut.«

Natasha schenkte ihr einen Pyjama aus schöner gebürsteter Baumwolle, ganz weich und mit Garnspulen bedruckt. »Der ist wunderschön, Nat. Danke.«

»Ich weiß, dass du es dir gern abends mit deinem Nähzeug bei einem guten Film gemütlich machst. Dafür ist der ideal.«

»O ja, den werde ich garantiert sehr oft tragen.« Sie lächelte.

Doch während sie sprach, beschlich sie ein unangenehmes Gefühl. Sie sagte sich, es liege nur daran, dass sie Carys vermisste, doch es ließ sich nicht vertreiben, nagte beharrlich an ihr. Die Geschenke ihrer Freundinnen waren schön und zeigten, wie gut sie Liberty kannten – doch hatte sie sich ihr Leben mit dreißig so vorgestellt? Pyjamas, gemütliche Abende zu Hause und Helden, die nur in ihrer Fantasie existierten?

»Gut, ich gehe lieber wieder«, sagte Natasha. »Ich will das Schaufenster heute umdekorieren. Es muss etwas Weihnachtliches her. Bis später!«

»Wir müssen auch über eine neue Schaufensterdekoration nachdenken«, sagte Evie, als Natasha gegangen war. Sie zog ihren langen Zopf nach vorn und wickelte sich das Ende um ihre Finger, während sie nachdenklich zum Fenster blickte. »Am Montag ist der erste Dezember.«

Liberty legte ihre Geschenke hinter den Tresen. »Die Dekoration im letzten Jahr war ein echter Hingucker.« Als sie letzten Dezember hier angefangen hatte, war das Fenster voller riesiger Kugeln und in Stoff eingepackter Geschenke gewesen.

»Ja, aber in diesem Jahr möchte ich den Leuten Anregungen für kleine selbst gemachte Geschenke geben. Alle erzählen immer, wie herrlich sie es finden, Geschenke selbst zu machen.«

Liberty überlegte. »Wie wäre es mit Anfängersets für Kissen zum Selbernähen? Wir könnten Anleitungen, Stoffstücke und passendes Garn dazulegen. Und ich könnte einige Kissen für das Fenster anfertigen, damit die Kunden eine Vorstellung davon bekommen, wie das Endprodukt aussieht.«

Evies Augen leuchteten. »Das ist eine super Idee! Solche Sets können sie entweder kaufen und selbst die Kissen nähen, oder sie verschenken das Set an jemanden, der gerne näht.«

Sie machten sich an die Arbeit, suchten Stoffe aus und schnitten die Quadrate zu.

»Hast du wieder einen Strauß von deinem mysteriösen Gönner bekommen?«, fragte Evie währenddessen.

Liberty nahm die Quadrate auf und stapelte sie ordentlich. »Habe ich, und ich bin extra früher aufgestanden, um ihm aufzulauern.« Sie erzählte Evie von der Verfolgungsjagd.

Ihre Chefin sah sie verblüfft an. »Du bist der Frau bis in die Stadt gefolgt? Ich fasse es nicht!«

»Warum ist das so schwer zu glauben?«

Evie griff nach dem nächsten Stoff und maß die Quadrate ab. »Weiß ich nicht. Ich schätze, ich hatte dich eher als vorsichtig und vernünftig eingeschätzt.«

Mit anderen Worten langweilig, dachte Liberty, was ihre Gedanken von früher am Tag nur bestätigte. »Tja, es war alles vergebens, denn sie wollte mir nicht verraten, von wem die Blumen sind.«

Evie verzog mitfühlend den Mund, lächelte aber gleich wieder. »Könnte etwas Gutes sein«, sagte sie, und ihre braunen Augen strahlten. »Du weißt schon – das Geheimnisvolle daran. Wüsstest du, von wem sie kommen, wäre es nicht annähernd so aufregend.«

Liberty lächelte. Evie sah bei allem die Sonnenseite, egal worum es ging. »Und es ist auch romantisch, oder?«

»Auf jeden Fall«, bestätigte Evie. »Ich fände es klasse, anonym Blumen geschickt zu bekommen.«

Die Türklingel läutete, und die erste Kundin trat ein; der Vormittag verflog nur so. Mittags ging Liberty zur Bäckerei nebenan, um etwas zu essen zu besorgen.

»Wir haben köstliche neue Sandwiches mit einem Belag, der zur Jahreszeit passt, falls du mal was anderes ausprobieren willst«, sagte Marjorie. »Truthahn mit Füllung, Räucherlachs und Krabben, Brie und Cranberrysoße?«

»Danke, aber ich bleibe bei dem Üblichen.« Liberty bezahlte ihr Sandwich mit Curryhühnchensalat und ihre Vanilleschnitte.

Marjorie lachte. »Ich mag mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn du eines Tages herkommst und wir deine Leibspeise nicht mehr dahaben!«

Liberty lachte. »Das wird nicht geschehen, weil du sie mir immer zur Seite stellst.«

»Stimmt. Du bist ein Gewohnheitstier, Liberty, und eine sehr unkomplizierte Kundin!«

Lächelnd nahm Liberty die Papiertüte entgegen, doch als sie die Bäckerei verließ, ließen Marjories Worte sie nicht los. Sie erinnerten sie an etwas, das ihr Ex gesagt hatte, als er letztes Jahr Schluss mit ihr machte. Du bist viel zu festgefahren in allem. Carys und sie hatten darüber gelacht, denn er hatte sie wegen einer Partynudel verlassen, die ihn zwei Wochen später abservierte. Jetzt jedoch fragte Liberty sich, ob er recht gehabt hatte. Steckte sie in einem Trott fest?

Ihre Tage verliefen alle gleich: aufstehen, mit Charlie durch den Wald spazieren und zur Arbeit fahren. Sie beriet die Leute im Laden und leitete Näh-Workshops. Danach fuhr sie nach Hause und arbeitete abends an ihren eigenen Quilts. All das hatte natürlich mehr Spaß gemacht, als Carys ihr noch Gesellschaft leistete – sie hatten vor dem Unfall fünf Jahre lang im Damselfly Cottage zusammengewohnt –, aber nicht einmal jetzt konnte sie sich einen Abend vorstellen, an dem sie nicht nähte. Ihr Pseudonym lautete ja nicht ohne Grund »Liberty Homebird«. Die Leute liebten die Fotos, die sie von ihren Projekten im Entstehungsprozess vor dem Kaminfeuer postete. Sie schrieben, wie traumhaft ihr gemütliches Cottage aussah, weit weg von der Hektik ihres Lebens in der Stadt. Aber hatte Liberty zugelassen, dass ihr Leben zu gemütlich geworden war?

Seit Carys’ Unfall hatte sich so vieles verändert. Probleme, die früher klein erschienen waren, wirkten nun doppelt so groß, weil Liberty allein mit ihnen fertigwerden musste. Sie war noch nie risikofreudig gewesen, doch neuerdings war sie extrem vorsichtig geworden, und allein der Gedanke, unter Fremden zu sein, bescherte ihr Schweißausbrüche. Und auch wenn sie Carys nur einmal die Woche besuchte, war sie ständig in ihrem Hinterkopf. Was, wenn sie in der Nacht starb? Was, wenn sie nie wieder aufwachte? Was, wenn sie wieder zu sich kam, aber nicht mehr Carys war? Diese Fragen waren beunruhigend, und bei all der Unsicherheit tröstete Liberty ihre ruhige, vertraute Routine.

Doch bei dem Gedanken an ihre Freundin im Koma fragte sie sich jetzt unwillkürlich: Was, wenn der heutige Tag mein letzter ist?

Im Laden herrschte plötzlich ein Ansturm an Kunden. Zum Glück hatten Evie und Liberty ein System, das in solchen Momenten gut funktionierte: Eine von ihnen schnitt den Stoff, während die andere die Kasse bediente. Auf die Weise war die Schlange rasch bewältigt. Als die letzte Kundin gegangen war, begannen sie, die Stoffballen wieder zurückzuordnen.

»Und was hast du heute Abend vor?«, fragte Evie, während sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um einen Ballen zurück ins Regal zu legen.

Liberty wickelte die letzten Ballen auf dem Tresen auf und stapelte sie übereinander. »Ach, nichts Besonderes. Ich mache mir einen ruhigen Nähabend. Mein Maple-Leaf-Quilt ist fast fertig.«

»Maple Leaf? Ist das nicht ein wenig zu traditionell für dich?«

Liberty lächelte. Evie hatte recht. Ihre Quilts waren immer modern mit frechen bunten Mustern auf schlichtem Hintergrund. »Ich habe mich für meine eigene Interpretation der kanadischen Münze mit stilisierten Ahornblättern entschieden. Und ich arbeite mit diesen neuen Waldmotivstoffen.« Sie zeigte in eine Ecke des Ladens.

»Oh – schön! Welche Farben?«

»Orange, Rot, Violett und Braun.«

»Herbstlich«, meinte Evie zustimmend. »Den würde ich gerne mal sehen.«

»Ich bringe ihn mit, sobald er vorzeigbar ist.« Sie hoffte, ihn fertiggestellt und fotografiert zu haben, solange noch das letzte Herbstlaub an den Eichen hing. Ihre fertigen Quilts knipste sie immer mit dem Wald im Hintergrund, um sie dann auf ihren Social-Media-Kanälen zu posten. Dieser hier würde vor den Herbstfarben sagenhaft aussehen.

Evie runzelte ein wenig die Stirn, während sie an die Kasse zurückkehrte. »Aber feierst du deinen Geburtstag denn gar nicht heute Abend?«

Liberty nahm vier Stoffballen auf. »Ich besuche Carys’ Eltern am Wochenende. Sie haben mich zum Tee eingeladen«, murmelte sie und wandte sich rasch ab. Sie begann, die Ballen einzusortieren und die Regale aufzuräumen.

»Es ist dein Dreißigster!«, sagte Evie. »Den musst du feiern.«

»Du kennst mich. Ich bin kein Partymensch. Und ohne Carys …« Es fühlte sich falsch an, wenn ihre beste Freundin im Koma lag. Sie hatten große Pläne für ihre dreißigsten Geburtstage gehabt. Nach dem Erfolg ihres Paris-Wochenendes im letzten Jahr hatte Carys die Idee gehabt, eine Rucksacktour durch Europa zu machen – mit dem Zug, weil Liberty nicht fliegen konnte. Darauf hatten sie gespart und sich auf die vielen Länder gefreut.

Nun waren Libertys Ersparnisse weg, aufgebraucht für den Unterhalt des Cottages. Allein zu leben bedeutete, dass es finanziell eng war. Sie schob den letzten Ballen an seinen Platz und bemerkte, dass ihre Chefin sie ansah.

Evie lächelte sie verständnisvoll an. »Es muss ja keine Party sein. Wie wäre es mit etwas Kleinem – einem Essen im Pub vielleicht?«

»Nein, schon gut. Ich will keinen Aufstand veranstalten.«

»Seit wann ist eine Feier mit deinen Freunden ein Aufstand? Das wird witzig. Na los, Lib!«

Sie biss sich auf die Unterlippe. Verlockend war es …

»Das nehme ich als Ja.« Evie holte ihr Handy aus der Tasche. »Gut, ich organisiere alles. Ich lade Jake und Natasha ein. Luc wird gewiss bei Lottie bleiben müssen. Ich kann nicht glauben, dass du diesen Tag nicht feiern wolltest. Du kümmerst dich ständig um alle anderen, aber was ist mit dir?«

Liberty antwortete nicht gleich. Sie beide wussten, dass normalerweise Carys alles arrangiert hätte. »Ich will keine Umstände machen«, wiederholte sie.

»Ach, Liberty«, meinte Evie. Sie legte ihr Handy hin, ging zu Liberty und nahm sie in die Arme. »Mir ist klar, dass dir Carys fehlt, doch es ist wichtig, dass du dein Leben weiterlebst.«

Evie hatte vor einigen Jahren ihre Schwester verloren, daher wusste Liberty, dass sie verstand, wie ihr zumute war. Sie nickte stumm, weil ihre Kehle auf einmal wie zugeschnürt war.

Die Türklingel bimmelte, und eine Dame kam mit einem Stück Stoff in der Hand herein. Evie begrüßte sie freundlich, bevor sie sich zu Liberty wandte und leise sagte: »Ich habe eine Idee. Wie wäre es, wenn du heute früher Schluss machst und nachmittags Carys besuchst?«

Libertys Stimmung wurde schlagartig besser. »Bist du sicher? Kommst du hier klar?« Sie schaute zu der Kundin.

»Natürlich. Geh schon! Es ist dein Geburtstag.«

»Hi, Carys!«, rief Liberty, als sie das Krankenhauszimmer betrat. Sie hängte ihre Jacke über die Stuhllehne und ergriff die Hand ihrer Freundin. »Ich weiß, dass nicht Sonntag ist, aber heute ist ein besonderer Tag.«

Carys schlief weiter. Ihre Wimpern ruhten auf ihren Wangen, und sie sah so friedlich aus. Ihr Anblick beruhigte Liberty.

Sie plapperte wie üblich, erzählte ihrer Freundin alles, was seit ihrem letzten Besuch passiert war. Sie berichtete ihr von dem Essen mit Freunden, das Evie spontan für den Abend organisiert hatte, und wie sie die Floristin verfolgt hatte. »Ich dachte, in diesem Jahr zeigt sich der Absender, Car. Und ich bin so enttäuscht.«

Diese verdammten Blumen hatten sie morgens richtig runtergezogen, und es war nicht die Schuld des Absenders, sondern ihre. Sie hatte zu sehr gehofft, einen heimlichen Bewunderer zu haben, der sich heute zu erkennen gegeben hätte, worauf ihr Leben eine neue Richtung eingeschlagen hätte. Vor der heutigen Enttäuschung war ihr nicht bewusst gewesen, wie unzufrieden sie mit allem war.

Im Zimmer blieb es still, als sie verstummte, doch sie kannte ihre Freundin gut genug, um sich deren Reaktion vorstellen zu können: Pfeif auf den anonymen Blumenschenker. Geh da raus und such deinen Traummann.

Nur wie? Liberty pflückte einen Faden von ihrem Ärmel und wand ihn sich gedankenverloren um den Finger. Sie war nicht so mutig wie Carys. Ohne sie an ihrer Seite sogar noch viel weniger.

Es war schwer, eine einseitige Unterhaltung aufrechtzuerhalten, deshalb fing Liberty nach einer Weile an zu singen. Wie immer begann sie mit Carys’ Lieblingslied, Your Song, und arbeitete sich dann durch bis zu Leonard Cohens Hallelujah. Mit dem war sie halb fertig, als eine der Schwestern hereinkam, um nach Carys und deren Tropf zu sehen.

»Lassen Sie sich nicht stören«, sagte sie, als Liberty sich unterbrach. »Sie haben eine wunderschöne Stimme.«

»Nein, ich kann nicht singen, Jacqui. Nicht, wenn jemand zuhört.«

»Warum nicht? Wie gesagt, Sie haben eine wundervolle Stimme. Nicht wie mein Mann. Er hält sich für Tom Jones, klingt aber mehr wie ein jaulender Kater.«

Liberty lächelte, entgegnete aber nichts. Carys war einer der wenigen Menschen, die sie jemals singen gehört hatten, und dabei sollte es auch bleiben. »Jacqui, darf ich Sie etwas fragen?«

Die Schwester blieb stehen. »Selbstverständlich.«

»Wie wahrscheinlich ist es, dass Carys wieder aufwacht, nachdem jetzt bereits sechs Monate vergangen sind?«

Jacqui dachte kurz nach. »Ich bin mir nicht sicher, was die Statistiken angeht, aber meiner Erfahrung nach gibt es kein Muster. Ich habe Patienten schon nach Jahren aufwachen gesehen.«

Liberty beobachtete, wie sich Carys’ Brustkorb in einem steten Rhythmus hob und senkte. Den Takt gaben das Ticken und Piepen der Maschinen vor. »Aber«, sagte sie langsam, »sie könnte ebenso gut auch nie wieder zu sich kommen?«

Die Schwester nickte ernst und berührte Libertys Arm. Liberty blickte ihr nach, als sie das Zimmer verließ. Bisher hatte sie sich nicht erlaubt, so zu denken. Die Hoffnung aufzugeben wäre so, als würde sie ihre beste Freundin im Stich lassen. Sie hatte sich selbst geschworen, so lange zu hoffen, zu beten und Carys zu besuchen, wie es dauerte. Doch heute hallten ihr Evies Worte durch den Kopf: Es ist wichtig, dass du dein Leben weiterlebst.

Seit der Vorschule waren Liberty und Carys schon enge Freundinnen. Beinahe wie Schwestern. Sie hatten niemanden sonst gebraucht. Und seit Carys’ Unfall – nun, Liberty war nicht danach gewesen, unter Leute zu gehen. Also hatte sie ihr Leben auf »Pause« geschaltet. Doch sechs Monate waren vergangen, und jetzt musste sie sich der Frage stellen: Was wäre, wenn Carys nie aus dem Koma aufwachte?

Und nun begriff sie, was den ganzen Tag schon an ihr nagte.

Sie war einsam.

Und weil sie dreißig geworden war, was sich wie ein gewaltiger Meilenstein anfühlte, hatte Liberty Angst, dass es immer so sein würde: nur sie, ihr Hund und ihre Quilts.

Momentan hätte jeder, der sie beobachtete, die Uhr nach ihrer täglichen Routine stellen können. Doch ihr heutiger Geburtstag hatte ihr bewusst gemacht, dass die Zeit nur so verflog, und sie erkannte, dass sie tatsächlich in ihren festgefahrenen Gewohnheiten gefangen war. Sie verließ Willowbrook nur, um Carys in der Klinik zu besuchen oder hin und wieder in der Stadt einzukaufen. Nie traf sie neue Leute, ausgenommen die, die in den Laden kamen, und das waren überwiegend Frauen. Liberty liebte ihr Cottage und das Dorfleben – aber sie hasste es, allein zu sein.

Sie blinzelte angestrengt und versuchte, das flaue Gefühl in ihrem Bauch zu ignorieren. Ihr fehlte Carys, und ihr fehlte ihre Mutter. Aber sie glaubte fest daran, dass alles besser wurde, wenn man die Kontrolle über die Situation übernahm. Also was sollte sie tun? Etwas musste sich ändern. Die Frage war nur, was?

In ihrem Cottage scrollte sie durch ihren Instagram-Account. Ein Zitat fiel ihr ins Auge: Öffne dich für Möglichkeiten, und sie werden Wirklichkeit.

Sie hielt einen Moment inne, dann scrollte sie weiter. Noch ein Post erschien, der einen Adventskalender zeigte. Der Countdown für Weihnachten beginnt in fünf Tagen!

Unbehaglich wechselte sie ihre Sitzposition. Wenn sich ihr Geburtstag ohne Carys schon schlimm anfühlte, wie viel übler wäre Weihnachten dann erst? Dann war einsam zu sein noch einsamer, und die Tage waren dunkler denn je. Die Zeit rückte schnell näher. Es hing nur noch wenig Laub an den Bäumen, und bei ihren Morgenrunden mit Charlie war die Luft frostig. Noch dazu tauchte überall im Ort allmählich die Weihnachtsdekoration auf. Auf der Dorfwiese war ein Weihnachtsbaum aufgestellt worden, der Wirt des Pubs hatte schon Lichterketten über der Tür vom Dog and Partridge angebracht, und in den Läden wurden Weihnachtskarten angeboten.

Liberty scrollte weiter, hielt inne, um einen schönen Quilt zu bewundern, der vor einer verschneiten Berglandschaft fotografiert worden war, und ignorierte Bilder von Kuchen und Essen, weil ihr der Magen bereits knurrte, es bis zum Essen allerdings noch eine Weile hin war. Eine Werbung für eine Dating-App blinkte auf. Liberty klickte sie weg.

Dann runzelte sie die Stirn. Sie würde heute Abend im Dog and Partridge keine neuen Leute kennenlernen, oder? Ihr ganzes Leben wohnte sie schon in Willowbrook und kannte jeden hier. Und es gab auch keine ledigen Männer, die sie auf diese Weise mochte. Aber eine Dating-App? Die war etwas für extrovertierte Menschen, für Leute, die gern Spaß hatten, für hübsche Mädchen mit langen Haaren und perfekt manikürten Fingernägeln – keine langweiligen Stubenhockerinnen wie sie.

Sie atmete langsam aus und pfiff nach Charlie. Er hob den Kopf, weil er das Signal erkannte und wusste, dass sie jetzt Gassi gehen würden. »Na komm, wir spazieren ein bisschen durch den Wald.« Eine Idee nahm in ihrem Kopf Gestalt an, und sie musste nachdenken.

Im Dog and Partridge war nicht viel los – es war schließlich ein Mittwochabend –, also hatten sie kein Problem, einen Tisch für vier zu finden.

Als das Essen kam, erhoben alle ihre Gläser, um auf Liberty anzustoßen.

»Wie fühlst du dich damit, dreißig zu werden?«, fragte Evie. Libertys Chefin würde selbst bald ihren Dreißigsten feiern.

»Ähm …« Wenn sie ehrlich sein sollte, fühlte sie sich mit diesem Geburtstag nicht gut, so wenig wie mit der Erkenntnis, dass die Zeit verging und sich Türen schlossen. Was unlogisch war. Es gab immer noch eine Million Möglichkeiten, falls sie bereit wäre, sie zu nutzen. Was sie bisher nicht getan hatte. »Ich hatte mir vorgestellt, dass mein Leben inzwischen anders aussieht.«

»Inwiefern anders?«, fragte Evie.

»Na ja, Carys und ich hatten geplant, durch Europa zu reisen, was nicht mehr passieren wird. Und …« Sie nagte unsicher an ihrer Unterlippe. »… und ich schätze, dass ich gedacht habe, ich würde in einer festen Beziehung sein, wenn ich dreißig bin. Aber ist euch klar, dass mein letztes Date dreizehn Monate her ist?«

Jake, Evies Freund, stellte sein Pint hin und sagte nachdenklich: »Es ist nicht leicht, in Willowbrook neue Leute kennenzulernen.«

Seine ruhige Bemerkung erinnerte Liberty daran, dass er erst vor einem Jahr ins Dorf gezogen war und den Ort immer noch recht objektiv sah. Doch er war definitiv nicht mehr der Einsiedler, der er anfangs gewesen war. Evie zu begegnen hatte ihn verwandelt, und nun war er Teil der eingeschworenen kleinen Gemeinschaft.

»Nein, ist es nicht«, stimmte sie ihm zu. Jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit begegnete sie denselben Menschen, und die einzigen drei Männer, mit denen sie ausgegangen war, hatte sie nur mäßig attraktiv gefunden. Dann hatte ihre jüngste Beziehung mit dem Klempner Rob ein unschönes Ende genommen, was es unangenehm machte, wenn sie ihm über den Weg lief. (Und wenn sie einen Klempner brauchte.) »Aber ich bin selbst schuld, weil ich alles für selbstverständlich nehme und lebe, als hätte ich unendlich viel Zeit. Ich schiebe Dinge auf, um … sicher zu sein.« Zu Hause zu sitzen und zu nähen war ein Rückzug von der Welt, wie ihr jetzt klar wurde.

»Sicher? Was meinst du?«, fragte Natasha.

»Zu vorhersehbar. Ich hänge in einem Trott fest.«

»Glaubst du?«, fragte Evie besorgt.

»Ich liebe meine Arbeit, und ich lebe sehr gern hier, aber – ich kann nicht umhin zu denken, dass es mehr geben muss.« Sie befühlte den Stiel ihres Proseccoglases. Die Frage war, ob sie den Mut aufbrachte, die Idee umzusetzen, die ihr vorhin gekommen war.

»Du könntest vielleicht allein reisen«, schlug Natasha vor.

»So mutig bin ich nicht.« Der Gedanke, sich allein mit dem Rucksack aufzumachen, jagte ihr Angst ein. Und fliegen? Nein, ausgeschlossen. Nicht nach dem letzten Mal. Doch war nicht genau das ihr Problem? Sie mied alles, was ihr Angst machte. Ihr Leben drehte sich ausschließlich um Vertrautes und Routine. »Das Aufregendste, was ich in diesem ganzen Jahr getan habe, war, die Floristin heute Morgen zu verfolgen.«

»Davon habe ich gehört.« Jake lachte leise. »Eine Verfolgungsjagd in Pyjama und Hausschuhen. Hast du herausgefunden, von wem die Blumen kommen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich war so enttäuscht. Doch es hat mir geholfen, eine Entscheidung zu treffen.«

»Oh, spannend!«, sagte Evie. »Welche?«

Liberty zögerte. Hatte sie es erst ausgesprochen, würde sie es durchziehen müssen. »Na ja«, begann sie vorsichtig. »Was mit Carys passiert ist, hat mir bewusst gemacht, dass wir nicht wissen, was uns im nächsten Moment widerfährt. Und sollte mir morgen etwas zustoßen, will ich nichts bereuen. Also …« Sie holte tief Luft. »Ich werde den Dezember über mutig sein.«

»Willst du dich einer militärischen Spezialeinheit anschließen?«, scherzte Evie. »Oder Stuntfrau werden?«

Liberty verneinte. »So mutig nun auch wieder nicht – nur ein bisschen mehr als normal. Vom ersten Dezember bis zum Jahresende werde ich zu allem Ja sagen. Ich werde jede Gelegenheit nutzen, jede Einladung annehmen. Wenn ich mich entscheiden muss, werde ich nicht die einfache Option wählen, sondern das Gegenteil. Und jeden Tag werde ich zumindest eine Sache tun, die mich aus meiner Komfortzone zwingt.«

»Warum?«, fragte Natasha sichtlich perplex.

»Weil ich auf die Weise neue Sachen ausprobieren muss und hoffentlich neue Leute kennenlerne.« Hielte sie es weiter wie bisher und bliebe bei ihrer Routine und diesem ruhigen Leben, würde sich nichts ändern und sie säße in dreißig Jahren immer noch jeden Abend nähend vor dem Kamin. »Ich möchte wissen, ob ich mein Leben umkrempeln kann. Ob ich anders sein kann.«

In Wahrheit hatte sie entsetzliche Angst vor dieser Herausforderung, aber das behielt sie für sich.

»Auf dich!«, sagte Evie. »Das ist eine großartige Idee.«

Sie stießen mit ihr an.

»Dir ist klar, dass der Dezember einunddreißig Tage hat, oder?«, fragte Jake. »Es ist ein langer Monat.«

»Ja, und auch noch mit Weihnachten«, ergänzte Natasha. »Was die Dinge verkomplizieren könnte.«

»Du hättest dir den Februar aussuchen sollen«, sagte Evie. »Der ist viel kürzer.«

»Ich schaffe das«, entgegnete Liberty, denn sie war wild entschlossen, ihren Worten Taten folgen zu lassen. »Und es müssen ja nicht alles große Sachen sein. Ich könnte zum Beispiel an Weihnachten keinen Truthahn essen, sondern stattdessen etwas anderes.«

»Bist du da nicht bei Carys’ Eltern?«, fragte Natasha. »Da musst du essen, was ihre Mutter kocht, oder nicht?«

»Es war ja bloß ein Beispiel.« Sie lachte. »Aber ich werde jeden Tag Ja zu etwas Neuem sagen. Und ich erzähle es euch allen heute Abend, damit ihr mit aufpasst, dass ich es wirklich mache. Ich möchte das jetzt durchziehen.«

Evie wickelte sich eine Haarsträhne um die Finger. »Hast du schon irgendwelche Sachen geplant, oder gehst du es Tag für Tag an?«

»Ich habe schon eine Idee«, antwortete Liberty zögerlich. Sie fragte sich, was ihre Freunde davon halten würden. »Vielleicht nehme ich einen Untermieter auf.«

»Du willst Carys’ Zimmer vermieten?« Evie machte ein erschrockenes Gesicht.

Liberty ignorierte den Kloß in ihrem Hals und nickte. »Es ist nicht leicht, alle Kosten allein zu tragen. Wohl fühle ich mich dabei nicht.« Sie senkte den Kopf. »Es ist, als würde ich sie aufgeben. Was ist, wenn sie aufwacht und nach Hause will?«

Zunächst schwiegen alle, bis Evie schließlich verständnisvoll nickte. Natasha wirkte nachdenklich.

»Du könntest das Zimmer monatsweise vermieten«, sagte Jake. »Dann kann sie es, wenn sie zu sich kommt, schnell wieder beziehen.«

»Stimmt. Ich will eine Anzeige aufgeben, bin mir allerdings nicht sicher, wie ich es am besten anstelle. Ich kann ja nicht irgendeinen Fremden bei mir einziehen lassen. Was ist, wenn derjenige insgeheim ein Axtmörder ist?« Sie zwinkerte, obwohl sie es nur halb im Scherz meinte.

»Kann sein, dass ich da eine Idee habe«, sagte Natasha, die gleichzeitig nach ihrer Jacke und ihrer Tasche griff. »Jetzt muss ich gehen. Ich bekomme morgen eine frühe Lieferung. Aber ich rede mal mit Luc und erkläre dir dann, was mir vorschwebt.«

»Okay.« Liberty fühlte sich aufgemuntert.

»Dein Plan ist richtig spannend«, sagte Natasha. »Ich finde die Idee großartig.«

Liberty lächelte. Sie war entschlossen, es zu tun. Sie wollte nicht in zehn Jahren zurückblicken und sich fragen, wie ihr Leben hätte sein können, wäre sie mutiger gewesen. »Jetzt gibt es kein Zurück mehr.«

Kapitel zwei

Sag Ja zu allem. Sei mutig. Es war ein kühner Plan, aber Liberty wusste, damit er funktionierte, konnte sie nicht einfach nur dasitzen und warten, dass die Gelegenheiten zu ihr kamen: Sie musste sie herbeiführen. Sich selbst Aufgaben stellen. In einem winzigen orangen Notizbuch, das offen auf ihrem Schoß lag, begann sie, eine Liste zu erstellen. Abgesehen vom Ausprobieren neuer Sandwiches, was würde sie noch aus ihrer Komfortzone holen? Was wollte sie erreichen? Mehr ausgehen, neue Leute kennenlernen … Sie kaute auf ihrem Stift. Was würde Carys ihr für den Anfang raten?

Verabredungen. Ohne Frage.

Früher waren sie zusammen ausgegangen – ins Kino, in Restaurants oder den Pub. Sie hatten sogar Doppeldates gehabt oder manchmal welche zu dritt, wenn eine von ihnen vorübergehend Single war. Doch seit dem Unfall konnte Liberty die Male an einer Hand abzählen, die sie aus gewesen war. Sie hatte ein zu schlechtes Gewissen, sich zu amüsieren, während ihre beste Freundin im Krankenhaus lag. Liberty wusste allerdings auch, dass Carys entsetzt darüber gewesen wäre, wie ruhig und überschaubar ihr Leben geworden war. Sie konnte ihre Stimme richtig in ihrem Kopf hören: Lib, du musst vor die Tür und leben. Dreißig ist so alt!

Lächelnd griff Liberty nach ihrem Telefon. Alt war vielleicht übertrieben, aber der heutige Geburtstag hatte sie eindeutig wachgerüttelt. Sie wünschte sich einen Partner, eine liebevolle Beziehung und – eines Tages – eine Familie.

Sie wusste, was sie zu tun hatte, obwohl es die beängstigendste Aufgabe war, die ihr bisher eingefallen war. Sie würde sich bei einer Dating-App registrieren.

Oder vielleicht erst mal nur die App runterladen und sie sich ansehen.

Nein, sie würde sich registrieren. Wie schwer konnte das schon sein?

Das Problem war, dass Liberty es hasste, sich dort zu präsentieren, und gar nicht gut im Umgang mit Fremden war. Im Button Hole zu arbeiten war gut, weil sich dort alle Gespräche ums Nähen drehten, und das war ihre Leidenschaft. Alles außerhalb ihres Jobs war eine andere Sache. Viele Leute konnten lustige Geschichten erzählen und stundenlang plaudern; sie nicht. Sie stammelte nur, und ihr Kopf war wie leergefegt.

Die App öffnete sich, und Liberty suchte nach einem Foto, das sie als Profilbild nehmen könnte. Doch die einzigen Aufnahmen, die sie hatte, waren welche von Carys und ihr zusammen. Schließlich schnitt sie eines so zurecht, dass nur noch sie zu sehen war. Es war nicht das schönste Foto: Ihr Haar leuchtete noch röter als in natura, und ihre Wangen waren gerötet von der Sonne. Aber es musste genügen, und sie lud es hoch.

Also, nach was für einem Mann suchte sie? Sie zupfte ein paar lose Fäden von ihrem Top und wickelte sie mit dem Finger auf, während sie überlegte. Der ideale Mann für sie würde ein ruhiges Leben genießen. Er würde es vorziehen, zu Hause Filme zu sehen, anstatt in Nachtclubs oder auf wilde Partys zu gehen. Und er wäre ein Tierfreund, dachte sie, als sie zu Charlie blickte, der vor dem Kaminfeuer schlief. Es wäre nett, wenn er gut aussah, jedoch nicht so sehr, dass er außerhalb ihrer Liga spielte, und er musste groß sein. Sie war einen Meter siebenundsiebzig. Was die Haarfarbe oder sonstige körperliche Belange anging, hatte sie keine Vorlieben. Es kam auf die Persönlichkeit an. Wankelmütige oder unverlässliche Menschen hatte sie noch nie gemocht, und jetzt, da sie dreißig war, wollte sie umso dringender jemanden Verlässliches an ihrer Seite haben. Jemanden Bodenständiges, der etwas Langfristiges wollte. Sie füllte den Fragebogen aus, dann entschied sie, dass es für heute genug war, und nahm ihren Quilt auf.

Ein Jammer, dass ich vermutlich keinen Typen finden werde, der gern Quilts näht, dachte sie. Das wäre perfekt. Oder, besser noch, einen quiltenden Cowboy.

Donnerstag, 27. November

Am nächsten Morgen kam Natasha ins Button Hole. Die Türklingel bimmelte, und sie betrat den Laden. Ihr weißblondes Haar schimmerte im Licht.

»Hi, Nat«, sagte Liberty. »Soll ich Wasser aufsetzen für einen Tee?« Sie machte einen Schritt auf Nat zu, um ihrer Freundin eine Tannennadel aus dem Haar zu entfernen.

Natasha lachte. »Ich habe den ganzen Morgen Adventskränze gebunden, und das Zeug gerät überallhin. Ich kann nicht bleiben, sondern wollte nur kurz wegen des Untermieters mit dir reden. Bist du immer noch interessiert?«

»Ja – vor allem, wenn es jemand ist, der mir empfohlen wird.«

Natasha lächelte. »Luc hat einen französischen Freund, der zu Besuch kommt und eine Unterkunft braucht. Wir haben ihm unser Sofa angeboten, aber er will einige Wochen bleiben, deshalb hat er sich nach Hotelzimmern in der Stadt umgesehen. Aber dein Cottage wäre günstiger für ihn. Im Dorf zu wohnen würde heißen, dass er in unserer Nähe wäre und wir ihn häufiger sehen – wenn er denn mal da ist, heißt das. Ich weiß nicht genau, was er vorhat.«

»Hört sich gut an«, sagte Liberty, die automatisch nach dem Haar in der Suppe suchte. Sei nicht so negativ, ermahnte sie sich streng. Denk dran, dass es von jetzt an im Leben darum geht, Ja zu sagen.

»Die Sache ist nur – er kommt schon am Montag an. Dir bliebe also wenig Zeit, alles vorzubereiten.«

»Montag? Und für wie lange?«

»Weiß ich nicht. Ich vermute, dass er über Weihnachten nach Hause reist, aber das hat er nicht gesagt. Ich kann dir seine E-Mail-Adresse geben, wenn du willst. Dann kannst du ihn direkt kontaktieren.«

»Okay«, sagte Liberty zögerlich. »Was weißt du sonst über ihn?«

Natasha grinste. »Er ist Motorradrennfahrer. Sehr erfolgreich.«

Liberty runzelte die Stirn. Warum sagte ihre Freundin das so, als wäre das etwas Gutes?

»Er und Luc kennen sich schon ewig. Sie sind schon als Jungen zusammen in der Provence zur Schule gegangen. Dann ist Alex’ Familie nach Paris gezogen. Sie haben sich nicht viel gesehen seither – ein bisschen so wie du und ich, nur dass Alex ein Teenager war, als er wegzog.« Natasha hatte Willowbrook nach dem Tod ihrer Eltern verlassen, weil sie danach bei einer älteren Verwandten wohnte, war aber vor einigen Jahren wieder hergezogen und hatte ihren Blumenladen aufgemacht. »Aber sie haben all die Jahre den Kontakt gehalten.« Wieder lächelte Natasha. »Du musst dir also keine Sorgen machen. Er wird dich nicht im Schlaf ermorden.«

Liberty nickte, obwohl sie nicht so beruhigt war, wie Natasha eventuell dachte. »Ich maile ihm und sehe mal, was er sagt. Falls er zustimmt, wird es meine erste Herausforderung sein, ihn bei mir aufzunehmen.« Sie griff nach dem orangen Notizbuch in ihrer Tasche, das sie eigens für diese Challenge angeschafft hatte. »Es kommt ja nicht jeden Tag vor, dass man einen Fremden einlädt, bei einem zu wohnen.« Für andere mochte es kein gewaltiges Ding sein, aber für sie war es ein enormer Schritt.

»Denk an die Miete, die er zahlt. Und ich habe ihn bei unserer Hochzeit kennengelernt.« Natasha zwinkerte. »Ist auch nett anzusehen.«

Samstag, 29. November

Liberty hatte sich vorgenommen, Carys’ Zimmer auszuräumen, sobald sie am Samstagabend von der Arbeit zurück war. Sie hatte einige Kartons aus dem Supermarkt mitgebracht, in die sie die Sachen ihrer Freundin packen wollte.

»Die warten hier auf dich«, murmelte sie, als sie in dem Zimmer stand und überlegte, wo sie anfangen sollte. Das Zimmer duftete immer noch nach Carys, obwohl seit dem Unfall sechs Monate vergangen waren. Liberty schnupperte an der Parfümflasche neben dem Bett, und Erinnerungen an ihre schönsten gemeinsamen Momente wurden wach: die Filme, die sie gesehen hatten; wie sie lachen mussten, bis ihnen die Tränen kamen; wie sie Carys’ selbst gebackene Kekse futterten; sich umzogen für ein besonderes Essen; sich gegenseitig ihren Liebeskummer oder ihre neue Verliebtheit gestanden. Liberty blinzelte angestrengt. Das Schwerste an Carys’ Unfall war, dass er aus heiterem Himmel gekommen war. Sie beide hatten geglaubt, diese gemeinsamen Momente würde es noch jahrelang geben.

Behutsam wickelte sie die gerahmten Fotos von Carys’ Eltern und ihren kleinen Brüdern sowie eine Handvoll Karten ein, die ihre Schüler ihr gemalt hatten. Es gab noch mehr von ihnen neben Carys’ Bett im Krankenhaus, Dutzende, um genau zu sein, aber die zu Hause waren von vor dem Unfall und keine Genesungswünsche – nur Zuneigungsbekundungen, die von Herzen kamen. Sie sind die beste Lehrerin der Welt! stand unter einer Kinderzeichnung von einer Frau mit braunem Gesicht. Liberty kamen die Tränen, und sie packte die Karte rasch weg. Carys war eine geniale Lehrerin. Ihr waren die Kinder wichtig, die sie unterrichtete, und sie verstand jedes einzelne von ihnen und förderte ihre einzigartigen Talente.

Als der Nachttisch leer war, faltete Liberty den Quilt auf Carys’ Bett zusammen. Er war ein Geschenk von Liberty zu ihrem sechzehnten Geburtstag gewesen, mit einem Muster aus Freundschaftssternen in fröhlichen Farben vor weißem Hintergrund, wie Carys es mochte. Das Design war nicht ganz so wie das der in Primärfarben gehaltenen, die Liberty heute mit Vorliebe fertigte, besaß aber ihre typische moderne Note. Sie drückte den Quilt an sich, bevor sie ihn sorgsam in einen Karton legte. Carys’ Kleidung auszuräumen war das Schwierigste: Schuhe, die sie gemeinsam gekauft hatten; Kleider, die sie beide getragen hatten. Seit dem Unfall hatte es sich falsch angefühlt, Sachen von Carys zu leihen, weshalb Liberty sie seitdem nicht mehr angerührt hatte.

Als sie fertig war, verstaute sie die Kartons oben auf dem Kleiderschrank und unter dem Bett. Das Zimmer wirkte jetzt geräumiger, bereit für einen Gast. Oder war es zu kahl? Ihr Untermieter sollte sich ja willkommen fühlen, also sammelte Liberty im Haus einige lavendelgefüllte Herzen und Pinienzapfen zusammen, die sie an die Schubladengriffe und Haken im Zimmer hängte. Außerdem stellte sie noch Kerzen auf. Anschließend trat sie einen Schritt zurück und musterte alles. Ja, so sah es viel einladender aus. Jetzt fehlten nur noch frisches Bettzeug und ein Quilt, um es gemütlicher zu machen. Was den Quilt anging, hatte Liberty einen ganzen Stapel, aus dem sie wählen konnte. Sie dachte an den E-Mail-Austausch mit ihrem Mieter, Alex. Er hatte geschrieben, dass er bis Weihnachten zu bleiben plante. Seine Nachrichten waren kurz und sachlich gewesen, und Liberty fragte sich, wie er sein mochte. Wenigstens musste sie nicht mehr lange warten, um es herauszufinden.

Montag, 1. Dezember

»Unfassbar, wie wenig du dich verändert hast!« Luc grinste. »Du isst immer noch doppelt so viel wie jeder andere.«

Alex machte sich über eine zweite Portion Cassoulet her, denn nach einem langen Tag unterwegs war er hungrig. Vor einer Stunde war er angekommen und froh, dass er zunächst zum Essen bei Luc und Natasha eingeladen war, bevor er zu dem Cottage fuhr, in dem er wohnen würde. »Ich verbrenne das alles. Und dies hier ist köstlich. Sogar noch besser als das meiner Mutter. Hast du es gekocht, Natasha?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Luc hat gekocht, wie meistens. Jedenfalls wenn er zu Hause ist.«

Alex sah seinen Freund verblüfft an, denn er wusste, wie Luc vor der Ehe mit Natasha gelebt hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass Luc vor vier Jahren nicht einmal ein Ei hätte kochen können. »Wer hätte gedacht, dass du mal so sesshaft wirst, Duval? Nat, du hast einen guten Einfluss auf meinen alten Freund.«

»Oh, er hat schlicht eines Tages entschieden, kochen zu lernen. Es ist also nicht mein Verdienst.«

Luc und Natasha sahen einander an. »Ist es wohl«, sagte er leise. »Ich wusste, dass ich dir beweisen musste, wie ernst es mir ist. Deswegen habe ich kochen gelernt.«

»Du hast dich auch sonst verändert. Kochen allein reicht nicht, um eine Frau von der eigenen Verlässlichkeit zu überzeugen.«

»Stimmt.« Lucs dunkle Augen nahmen einen weichen Ausdruck an, als er seine Frau anblickte. »Wir waren füreinander bestimmt, und kaum hatten wir das begriffen, ergab sich alles andere von selbst.«

Alex fand es amüsant, dass Luc immer noch ein wenig erstaunt zu sein schien, wie sich die Dinge entwickelt hatten; immerhin war er inzwischen seit über vier Jahren verheiratet. Alex erinnerte sich an Lucs und Natashas zweite Hochzeit in der Provence. Die Nachricht von ihrer Scheidung war ein Schock gewesen, und dann hatten sie sich wieder aufs Neue verliebt. Es war eine große Ehre für ihn gewesen, zu der kleinen entspannten Feier auf Château Duval eingeladen worden zu sein, wo sie wieder geheiratet hatten.

»Und was führt dich her?«, fragte Luc. »Du erwähntest etwas von einer Suche nach einer Verwandten.«

»Richtig. Nach dem Tod meines Vaters hat meine Mutter mich gebeten, seine Unterlagen zu ordnen, und da habe ich einige Briefe gefunden.« Er trank einen Schluck von seinem Wasser. Luc und Natasha warteten darauf, dass er fortfuhr, allerdings fiel es ihm nicht leicht, über die Sache zu reden. Wenn er ehrlich war, schämte er sich. »Sie waren an meinen Vater adressiert, und er hatte sie versteckt. Die Briefe waren dreißig Jahre alt, von einer Frau, die ein Kind von ihm bekommen hat. Ein Mädchen.«

»Wow«, flüsterte Natasha.

»Dein Vater war eine unbekannte Größe.«

»So kann man es auch nennen«, sagte Alex. »Auf den Briefen fand sich kein Absender, und sie waren schlicht mit M. unterzeichnet. Der einzige Hinweis waren die Poststempel von hier auf den Umschlägen.«

»Aus Willowbrook?«, fragte Natasha.

Alex winkte ab. »Nicht ganz. Aus der nächstgrößeren Stadt.«

»Trotzdem ist es ein schöner Zufall, dass dich deine Suche hergeführt hat, in unsere Nähe«, sagte Luc, der sich auf seinem Stuhl zurücklehnte. »Und du hoffst, die Frau zu finden, die diese Briefe geschrieben hat?«

»Vielleicht. Oder das Kind. Meine Halbschwester.«

»Wie willst du das anstellen? Ohne einen Namen dürfte es schwierig werden.«

»Ja, wird es gewiss. Ich habe es schon online versucht. Jetzt werde ich alle hiesigen Geburtenregister durchsehen. Mal schauen, was ich dort finden kann. Und falls ich eine Spur entdecke, hoffe ich, dass sich jemand an irgendetwas erinnert. Deshalb wollte ich in der Nähe wohnen … Meine Halbschwester muss um die dreißig Jahre alt und vaterlos sein. Kennt ihr jemanden, auf den die Beschreibung passt?«

Luc und Natasha wechselten einen Blick. »Na ja, Libertys Mutter war alleinstehend, aber ihr Vater ist bekannt und verstorben, als sie noch klein war«, sagte Natasha schließlich. »Sie ist die Freundin, bei der du wohnen wirst. Und sie hat keinerlei Ähnlichkeit mit dir. Sie hat feuerrotes Haar, und wie sie sagt, verdankt sie es den Genen ihres Vaters.«

Alex schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht, dass sie es ist. Mein Vater war dunkelhaarig, so wie ich.«

Natasha rieb sich das Kinn. »Hmm. Ich sage dir Bescheid, wenn mir sonst jemand einfällt.«

»Hast du überlegt, einen Privatdetektiv zu engagieren?«, fragte Luc.

»Eventuell.« Alex war unwohl dabei, den wahren Grund zu verschweigen, aus dem er hergekommen war. Er würde ihn Luc erklären – später. Noch war er nicht bereit dazu. »Aber es ist eine sensible Angelegenheit. Ich halte es für besser, das selbst zu regeln.«

Natashas blondes Haar schimmerte, als sie aufstand. »Macht es euch beiden etwas aus, wenn ich mich zurückziehe? Ich bin sehr müde.« Sie berührte ihren Babybauch. »Mein Bauch ist so groß, dass ich das Gefühl habe, ich platze gleich.«

»Selbstverständlich nicht«, sagte Alex.

»Wir räumen auf, Chérie«, sagte Luc und gab seiner Frau einen Kuss.

Sie schloss die Tür leise hinter sich, und die beiden Männer begannen, den Tisch abzuräumen. Alex griff nach dem gusseisernen Cassoulet-Topf und verzog das Gesicht, als er ihn anhob. Der Schmerz in seiner Schulter war stechend.

Luc blickte auf. »Leidest du noch unter Spätfolgen des Unfalls?«, fragte er. Er sprach jetzt Französisch, da sie allein waren.

Alex verspannte sich sichtlich. Er ärgerte sich, dass er die Aufmerksamkeit auf seine Schwachstelle gelenkt hatte. »Hin und wieder.«

Sie trugen alles in die Küche. »Ich habe ein Video im Internet gesehen. Es sah nach einem üblen Crash aus«, sagte Luc.

Alex stellte den Topf hin. »Ich hatte Glück, da lebend rauszukommen, sagen sie zumindest.«

»So kam es mir auch vor. Was für Verletzungen hattest du?«

»Schulter und Handgelenk.« Er blickte auf seinen Unterarm. Das Handgelenk war das verfluchte Problem, obwohl es seine Schulter war, die bis heute schmerzte.

Luc räumte alles Geschirr in die Spülmaschine. »Und das so kurz nach dem Unfall im letzten Jahr. Du musst fertig gewesen sein.«

Alex hatte ein langes Jahr in der Reha verbracht, um beim zweiten Rennen danach gleich wieder zu verunglücken. Fertig traf nicht annähernd das Gefühl, das ihn erfasst hatte, als er auf dem Asphalt aufschlug.

Er dachte an sein letztes Treffen mit seinem Manager Eric vor einer Woche. Eric hatte Papiere auf seinem Schreibtisch geordnet. »Ich habe hier die Berichte von deinen beiden Ärzten.«

Alex hatte auf einer zweiten Meinung bestanden. »Was sagen sie?«

Eric hatte ihn direkt angesehen, und Alex war mulmig geworden. »Sie haben alles getan, was sie können.«

Der Arzt und der Personal Trainer waren von Anfang an pessimistisch gewesen, aber Alex wollte ihnen beweisen, dass sie unrecht hatten. Was sich nicht bewahrheitete, ungeachtet der vielen Stunden Physio und Training, die er absolviert hatte.

Seine Ziele, seine Träume, sein Leben drohten zu zerbröseln. Seine Kehle fühlte sich eng an, und er schwieg. Was gab es auch schon zu sagen?

»Aber du bist jung und angesehen. Es wird dir nicht an Möglichkeiten mangeln.«

Alex starrte ihn an. Dachte sein Manager allen Ernstes, der Kram würde ihn interessieren? Er hatte die Werbe- und Sponsoren-Deals gesehen, für die sich andere Rennfahrer nach ihrer aktiven Zeit hergaben, und konnte sich keine schlimmere Art vorstellen, seine Seele zu zerstören. Er musste fahren. Nichts kam dem Hochgefühl nahe, auf der Rennstrecke zu sein.

»Ich informiere alle – das Team, die Presse …«

»Nein!«, fiel Alex ihm ins Wort. »Noch nicht!«

Eric schaute ihn fragend an.

»Bitte. Ich bin noch nicht so weit.«

Sein Manager dachte nach. »Und was soll ich ihnen sagen? Die sind nicht blöd. Wenn du verschwindest, werden sie eins und eins zusammenzählen.«

Alex suchte nach einem glaubwürdigen Grund. »Es gibt etwas, das ich schon länger machen will – es hat mit meinem Vater zu tun. Dafür muss ich nach England.«

Sein Manager nickte langsam. »Gut. Ich sage den Leuten, dass du eine Pause einlegst.« Und hatte mit einem warnenden Blick hinzugefügt: »Aber ich kann sie nur begrenzt hinhalten.«

»Gib mir einen Monat. Bis Weihnachten. Dann gehen wir an die Öffentlichkeit.«

Jetzt, zehn Tage später, widerstrebte es ihm immer noch, darüber zu reden. Sogar mit Luc. Es war noch zu frisch, saß zu tief. Er konnte sich vorstellen, welches Mitgefühl sein Freund mit ihm hätte, welche Nachrichten von seinen Kollegen kämen – und von seinen Rivalen. Und er fragte sich, ob er das alles jemals verkraften würde.

»Hast du starke Schmerzen?«, fragte Luc, als er den Geschirrspüler zuklappte.

»Sind auszuhalten.«

»Käse? Wein?«, bot Luc an.

Alex schüttelte den Kopf. »Ein Kaffee wäre nett, dann muss ich los. Es war ein langer Tag.«

»Klar doch. Ich nehme einen koffeinfreien. Willst du auch so einen, oder kannst du immer schlafen?«

»Nein, für mich bitte auch koffeinfrei.« Er schlief überhaupt nicht mehr gut. Vielmehr graute ihm vor den langen Nächten.

Luc stellte eine Tasse unter die Kaffeemaschine und drückte ein paar Knöpfe. »Weißt du noch, wie du auf dieser Campingtour ein Gewitter mit Sturm verpennt hast und …«

»… dieser Baum umgestürzt ist«, beendete Alex den Satz mit ihm im Chor und grinste. »Wie könnte ich das vergessen, so oft wie du mich daran erinnerst?«

Luc reichte ihm eine Tasse Kaffee, machte sich selbst eine, und sie gingen ins Wohnzimmer, wo noch ein Feuer brannte.

»Ein schönes Haus habt ihr«, sagte Alex und betrachtete die niedrige Balkendecke und die Rautenfenster. Das Cottage mutete beinahe wie eine Karikatur dessen an, wie Alex sich englische Cottages vorgestellt hatte. Schieferdach und cremefarbene Fassade, lauter Blumen im Garten und ein weißer Lattenzaun. »Natasha und du scheint sehr glücklich zu sein.«

»Sind wir. Extrem sogar. Ich habe wirklich Glück. Und Vater zu sein … tja, das kann ich unbedingt empfehlen.« Luc nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Und, gibt es eine Frau in deinem Leben?«

»Nein.«

»Keine mehr seit …?«

»Nein«, unterbrach in Alex.

Luc zog einen Mundwinkel nach oben. »Dann ist es immer noch ein sensibles Thema?«

»Nein. Ich bin nur … Nein. Das ist alles.«

Luc nickte.

Plötzlich erklang ein Wimmern aus dem Babyphone. Die kleine Lottie murmelte etwas Unverständliches und verstummte wieder.

»Ich nehme zurück, was ich vorhin gesagt habe«, sagte Luc. »Du hast dich verändert.«

Alex schaute ihn fragend an.

»Du bist stiller als früher. Nicht, dass du jemals eine Quasselstrippe gewesen wärst, aber dennoch.«

Alex nickte. »Das Leben verändert uns, nicht wahr?«

Er war es nicht gewohnt, sich anderen zu öffnen. Seine Karriere hatte ihn verschlossen gemacht und bewirkt, dass er Mauern um sich herum hochzog. Er hasste diesen Aspekt seines Jobs. Ja, er hasste den Ruhm und das Geld so inbrünstig, wie sein Vater beides geliebt hatte. Für Alex ging es einzig um das Motorrad und die Rennstrecke. Er wollte einfach nur fahren.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Luc.

Alex nickte, konnte seinen Freund jedoch nicht ansehen. Er starrte auf die glimmenden Scheite im Kamin und rieb sich gedankenverloren das Handgelenk.

»Es war ein schlimmes Jahr für dich«, sagte Luc leise. »Deinen Vater zu verlieren, dann der Unfall. Wie kommt deine Mutter zurecht?«

»Überraschend gut.« Bei dem Gedanken hob sich Alex’ Stimmung. »Sie ist richtig aufgeblüht.«

»Inwiefern?«

Er lachte kurz. »Als wäre sie aus Ketten befreit worden. Ohne meinen Vater ist sie glücklich, geht mehr unter Leute, und sie hat jemanden kennengelernt.« Er dachte an den Gesichtsausdruck seiner Mutter, als sie Alex und dessen Brüder mit Bernard bekannt gemacht hatte. Bernard war ein ruhiger, sanftmütiger Mann, ganz anders als Alex’ verstorbener Vater. Und als sie ihn vorstellte, war da ein Leuchten in ihren Augen gewesen, ein Strahlen, wie Alex es nie zuvor bei ihr gesehen hatte. »Übrigens hat sie ihre Wohnung in Paris verkauft und mit ihm zusammen ein Haus gekauft. Sie leben wieder in der Provence.«

Luc staunte. »Ist das für dich in Ordnung?«

»Natürlich. Mein Vater hat sie nie glücklich gemacht.« Im Gegenteil. Er hatte ihr so viel Schmerz bereitet, dass Alex nicht wusste, ob er ihm jemals würde verzeihen können. »Und Bernard behandelt sie mit dem Respekt, den sie verdient. Er ist sehr liebevoll zu ihr, was nett anzusehen ist.« Er trank seinen Kaffee aus und blickte auf seine Uhr. »Okay, ich fahre mal lieber. Es ist spät.«

Luc stand mit ihm auf. »Es ist super, dich in der Nähe zu haben, hier im Dorf. Und bei Liberty bist du gut untergebracht. Sie ist eine liebe Freundin und hilft oft aus, wenn wir einen Babysitter brauchen. Lottie betet sie an.«

»Schön.« Liberty McKenzie hatte ihm gemailt und Fotos von ihrem Cottage geschickt, doch er hatte keine Ahnung, wie sie aussah, ausgenommen das rote Haar, das Natasha erwähnt hatte. Alex rollte seine Schulter. Die Schmerzen setzten wieder ein. »Hauptsache, sie versteht, dass ich nur ein Zimmer brauche und selten dort sein werde.«

Genau genommen war er nicht sehr froh über dieses Arrangement gewesen, doch Luc hatte ihn praktisch genötigt, indem er sagte, dass Liberty die Mieteinnahme gut gebrauchen könne und das nächste anständige Hotel eine halbe Stunde Fahrtzeit entfernt sei. Alex kannte es bisher nicht, seinen privaten Raum mit jemandem zu teilen. Wenn er beruflich unterwegs war, mied er sogar Hotels und zog Appartements vor, die er für die Dauer seines Aufenthaltes mietete und ihm Privatsphäre garantierten.

»Ich bin sicher, dass ihr euch gut verstehen werdet«, sagte Luc und öffnete ihm die Haustür. »Oh, eines noch.«

»Mhm?« Er war müde. Die lange Anreise holte ihn ein, und er wollte sich hinlegen und ein wenig schlafen.

»Die Freundin, die früher in dem Haus mit ihr zusammengewohnt hat, wurde bei einem Autounfall schwer verletzt.«

»Vor Kurzem?«

»Ungefähr vor sechs Monaten. Sie liegt seitdem im Koma. Es ist sehr traurig.«

»Verstehe.«

»Ich dachte nur, ich warne dich vor. Sie waren sich sehr nahe.«

Ein Schwall kalter Luft schlug ihm entgegen, als er nach draußen trat. Mondlicht spiegelte sich in seinem Motorrad, und er blickte nach oben. Der Nachthimmel war wie ein gigantischer Asphaltplatz, gesprenkelt von Glasscherben.

»Es ist schön, dich wiederzusehen, Alex. Wir treffen uns die Tage wieder, ja?«

»À bientôt.«

Charlie zog an seiner Leine, weil er es nicht erwarten konnte, von der Hauptstraße auf den langen Weg zu kommen, der sich durch den Wald zu Libertys Cottage schlängelte. Um diese Zeit abends waren nur sehr wenige Autos hier unterwegs, trotzdem versteckte sich das Wild noch. Normalerweise erhaschte Liberty hin und wieder einen flüchtigen Blick auf einen Dachs oder einen Fuchs, hörte mal eine Eule schreien, doch heute Abend war alles still. Nur sie und Charlie. Was ihr nichts ausmachte. Ob bei Tag oder bei Nacht, sie liebte es, durch den Wald um ihr Cottage zu laufen, mochte den feuchten, torfigen Geruch, das leise Rascheln und die frische, kühle Luft, die ihr übers Gesicht strich. Deshalb hatte sie sich geweigert, den ganzen Abend zu Hause zu bleiben und auf ihren üblichen Spaziergang zu verzichten.

Sie erreichte die Abbiegung, und der Boden wurde federnd unter ihren Füßen, als sie die geteerte Straße hinter sich ließ. Der Strahl ihrer großen Taschenlampe durchschnitt wippend die Dunkelheit, während sie zurück zum Damselfly Cottage eilte. Ihr Handy blieb beharrlich stumm. Der Mieter verspätete sich schon über eine Stunde, hatte es aber nicht für nötig gehalten, sie anzurufen oder eine Nachricht zu schreiben. Vielleicht hatte er es sich anders überlegt und kam nicht. Oder es hatte Probleme bei seiner Anreise gegeben. Allerdings hätte Natasha ihr dann sicher Bescheid gegeben, denn er sollte heute Abend bei ihr und Luc zu Abend essen. Jetzt war es beinahe elf. Libertys Stiefel knirschten auf den heruntergefallenen Eicheln und dem vertrockneten Laub.

Dann, aus dem Nichts, ertönte das laute Röhren eines Motors. Charlie fuhr herum und bellte. Die Lärmexplosion rollte einer riesigen Welle gleich von hinten auf sie zu, und unwillkürlich wich Liberty einen Schritt zurück. Sie schirmte ihre Augen gegen das blendende Licht ab und packte Charlies Leine fester, als ein Motorrad an ihnen vorbeidonnerte. Vögel kreischten und schlugen aufgeregt mit den Flügeln in den Bäumen. Verübeln konnte sie es ihnen nicht – sie wäre selbst weggeflogen, wenn sie gekonnt hätte. Von dem infernalischen Lärm bebte der Boden unter ihr und durch sie hindurch. Es fühlte sich wie ein tätlicher Angriff an und bewegte sich auf ihr Zuhause zu.

Aufgebracht beschleunigte sie ihre Schritte, als sie die letzte Biegung nahm und ihr Cottage vor ihr auftauchte. Sie traf gerade rechtzeitig ein, um zu sehen, wie er die Lichter seines Motorrads ausschaltete und es vor ihrer Tür parkte. Charlie bellte noch wütender.

Autor