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Winter im kleinen Brautladen am Strand

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Vor den Fenstern des kleinen Brautladens fällt Schnee, während Sera in ihrem gemütlichen Atelier Brautkleider entwirft. Zwischen ihren Fingern werden weiße Träume wahr. Nur ihre große Schwester Alice hat Sera noch nicht einmal nach einem Kleid gefragt. Doch dann geht in deren Hochzeitsplanung so einiges schief und Sera beschließt, ihrer Schwester zu der Winterhochzeit zu verhelfen, die sie verdient - auch wenn das bedeutet, dass sie sich mit gleich zwei attraktiven Trauzeugen herumschlagen muss.

»Einfach entzückend - märchenhaft, lustig und unvergesslich.«
Debbie Johnson

»Wie eine perfekte Hochzeitstorte - wunderschön handgefertigt und voller Romantik.« Heidi Swain


  • Erscheinungstag: 01.10.2018
  • Aus der Serie: Wedding Shop
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 408
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955768584
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Anna, Jamie, Indi, Richard, Max, Caroline, M. und Phil.

Frauen sind wie Teebeutel. Man weiß erst, wie stark sie sind, wenn man sie in heißes Wasser taucht.

Eleanor Roosevelt

1. Kapitel

Freitag, 16. Dezember

Im »Brides by the Sea«: Ehrenwort und Nixenflossen

»Lass das ›Geschlossen‹-Schild erst mal dran, Sera.«

Jess, meine Chefin und Mentorin, denkt wie immer voraus. Sie spricht über die Schulter mit mir, während sie die Tür von »Brides by the Sea«, dem beliebtesten Brautladen in Cornwall, aufschließt. Ich habe das unverschämte Glück, hier zu arbeiten.

Jeden Tag, wenn ich an den Efeugirlanden und Tüllkaskaden im weihnachtlich dekorierten Fenster vorbeikomme, kriege ich eine Gänsehaut, und das hat nichts mit dem eisigen Dezemberwind zu tun, der über die Bucht von St. Aidan fegt. Mir ist klar, dass die meisten Bräute von einer Hochzeit im Sommer träumen, aber wenn ich die schwebenden Schneeflockenwirbel und die glänzenden Pailletten auf den weißen Spitzenkleidern sehe, verstehe ich nur zu gut, warum meine Schwester Alice es sich in den Kopf gesetzt hat, Weihnachten zu heiraten. Nicht mal mehr eine Woche, dann werden nicht weniger als hundertfünfzig Gäste anlässlich dieser Hochzeit vier Tage lang ein wunderschönes Herrenhaus in Cornwall bevölkern. Ja, es ist exakt so gigantisch und ambitioniert, wie es klingt. Nur ein Energiebündel wie Alice kann auf so eine Idee kommen. Ob alles gelingt … Wir werden sehen.

Gestern hatten wir unsere Weihnachtsfeier, genauer gesagt eine Party mit haufenweise Drinks. Heute Morgen ist wieder Alltag, doch hinter den silbernen Kugeln, die im Schaufenster glitzernd die Lichter der Weihnachtsdeko spiegeln, warten noch die Überbleibsel des Vorabends. Die Luft in der Eingangshalle umfängt uns warm. Ich linse ins Weiße Zimmer hinein, wo wir gefeiert haben – und bin geschockt.

»Ach du meine Güte, als wäre da drin eine riesige Konfettikanone explodiert.« Ich stoße einen langen Pfiff aus, um meinen Schreck über das Chaos zu überspielen. Mit Blick auf die Anzahl der Gläser könnte man meinen, wir hätten die ganze Stadt eingeladen und nicht nur ein paar enge Freunde des Geschäfts.

Als ich mich bücke, um einen Cashewkern zwischen den Bodendielen herauszupulen und das Licht des Weihnachtsbaums einzuschalten, der in der Eingangshalle steht, hämmert mein Kopf. Beim Aufrichten streife ich die Zweige des Baumes, wodurch die geweißten Tannenzapfen wackeln und ein paar Schlittenglöckchen bimmeln. Ich hebe ein Glas auf und schaue hinein. Am Boden siechen ein paar Himbeeren vor sich hin. Bäh, echt eklig. Bei Jess gibt es eine eiserne Regel und die lautet: Im Ladenbereich keine farbigen Getränke! Waren wir wirklich dermaßen im Weihnachtstaumel, dass wir die Regel gebrochen haben und zu rotem Punsch übergegangen sind? Offenbar nicht nur das: Wir waren leichtsinnig genug, exotische Früchte in unsere Ruby-Duchess-Cocktails zu geben – direkt neben den vielen wunderschönen und kostbaren weißen Kleidern!

»Nach diesem fantastischen Jahr hatten wir wirklich einigen Grund zum Feiern, Sera.« Für jemanden, der bis vier Uhr früh auf einer After-Party war und gerade seinen wichtigsten Verkaufsraum völlig verwüstet vorgefunden hat, ist Jess bemerkenswert guter Dinge. Vielleicht ist sie auch noch betrunken. Oder sie spult einfach noch einmal ab, was sie schon in der Nacht mindestens zehnmal wiederholt hat. Und richtig, jetzt kommt wieder derselbe Text: »Alles dank dir und deiner wunderbaren Seraphina-East-Kleider.« Jemand müsste sie aus der Dauerschleife herausholen, damit ich nicht ständig rot werde. Ich bin dazu offenbar nicht in der Lage.

Falls ihr euch fragen solltet – ich bin Sera, kurz für Seraphina, und ich entwerfe ziemlich viele von den Brautkleidern, die Jess in ihrem Laden verkauft. Und für den Fall, dass ihr es noch nicht wisst – »Brides by the Sea«, das sind vier Stockwerke voller Hochzeitspracht in dem Küstenstädtchen St. Aidan. Man braucht kein großes Ratetalent, um zu ahnen, dass der Laden nah am Strand gelegen ist. Von dort kam ich selbst vor acht Jahren angestiefelt, mit meinem Skizzenblock voller Kleiderentwürfe. Seitdem bin ich nicht wieder gegangen. Jess, die Besitzerin, hat in einem einzigen kleinen Raum mit Brautsträußen angefangen und von da aus das Ganze hier aufgebaut: ein Hochzeitsimperium sozusagen, mit allem, was man zum Heiraten nur brauchen kann. Die Bräute pilgern aus Devon, Cornwall und von sonst wo zu uns.

Wovon Jess gerade redet, ist übrigens die große Chance, die ich in diesem Jahr hatte: Ich durfte ein Brautkleid für einen echten Promi entwerfen. Das war natürlich toll für den Laden, und seitdem gibt es einen Extraraum für meine Entwürfe. Mein Name steht sogar auf jedem Schaufenster. Aus diesem Grund versuche ich seit einigen Monaten, mich in irgendwelchen Ecken zu verkriechen, denn ich komme überhaupt nicht damit klar, im Mittelpunkt zu stehen.

»Die Hochzeiten auf Daisy Hill haben aber auch ihren Teil beigetragen«, lenke ich ab. Poppy, die oben gewohnt und für den Laden Hochzeitstorten gebacken hat, ist im letzten Jahr als Hochzeitsplanerin auf einen hiesigen Gutshof gezogen. Wenn wir ein super Jahr hatten, dann auch ihretwegen.

»Es war schön, Poppy wiederzusehen«, sage ich. So genial, wie auch der Rest der Party war, für mich war es das Größte, dass Poppy nach den Monaten in London endlich nach Hause gekommen ist. Und wie es aussieht, freut sie sich selbst auch riesig darüber. Apropos – ich könnte auf der Stelle ein Megastück von Poppys Karottenkuchen verdrücken.

»Ein Glück, dass Poppy endlich ein Einsehen hatte und sich Rafe geschnappt hat«, antwortet Jess. »So ein Sahneschnittchen von Gutsbesitzer könnten wir schließlich alle gebrauchen, oder?«

Es handelt sich hier um eine echte Inhouse-Romanze in unserem Laden, die gestern Abend besiegelt wurde. Poppy ist jetzt, nach einem Jahr, mit ihrem Boss Rafe vom Gutshof zusammen.

Jess zieht ihren Schal aus. »Für heute Morgen habe ich keine Brauttermine gemacht, weil wir hier zu viel zu tun haben.« In dieser Hinsicht versteht sie keinen Spaß. Sie ist so penibel, dass sie uns dazu anhält, die Ringe von den Untersetzern zu wischen, sobald jemand ein Proseccoglas auch nur anhebt, also müssen wir uns jetzt wohl ranhalten.

»Okay, soll ich erst mal die Gläser einsammeln und die Flächen sauber wischen?« Ich reibe mir demonstrativ die Hände, um meinen Eifer zu signalisieren, Kopfschmerzen hin oder her.

Jess wirft mir den vertrauten verzweifelten Blick zu, der eigens für meine begriffsstutzigen Momente gedacht ist. »Wir sind doch nicht zum Aufräumen hier, Sera.«

»Nicht?« Das ist mir neu. Und dann fügt sie, wieder im Schnurrton von gestern Abend, hinzu: »Zwei sehr zahme, sehr süße Barjungs vom Jaggers werden jeden Moment hier sein, um das zu erledigen.«

Das erklärt zumindest das Schnurren. Jaggers’ Cocktailbar ist der Ort, an dem Jess am liebsten abhängt. Das Publikum dort ist zwar nur halb so alt wie sie, doch was die Cocktails betrifft, trinkt sie die meisten von denen locker unter die lila Plastik-Designertische. Da sie so viel Zeit dort verbringt, ist sie natürlich mit den Angestellten dick befreundet.

»Und was machen wir dann?« Wenn Jess mich nicht zum Aufräumen und Putzen eingeplant hat, verschwinde ich am besten mal nach oben in mein Studio. Ich hab’s ihr nicht gesagt, aber ich hinke mit den Kleiderentwürfen für die nächste Saison ziemlich hinterher.

Noch ein verzweifelter Blick trifft mich. »Sera, bitte sag mir jetzt nicht, dass du es vergessen hast. Selbstverständlich geht es heute um dein Brautjungfernkleid.«

»Ach du Scheiße!« Ich stöhne herzhaft auf, während ich meine Shorts hochkrempele.

Ich entwerfe Kleider, ich trage sie doch nicht. Niemals. Klar weiß ich, dass ich für die Weihnachtshochzeit meiner Schwester eine Ausnahme machen muss, aber ich habe es verdrängt. Bei dem Gedanken an Alice entfährt mir ein Schrei: »Mist! Alice wollte, dass ich sie auf Skype anrufe. Ich muss den Laptop hochfahren. Tja, also dann …« Den Zerstreutheitsrekord macht mir so schnell keiner streitig, das steht fest. Ich bin nun mal eine Träumerin, meine Aufmerksamkeitsspanne entspricht der einer Mücke. Wenn ich einen Keks eintauche, fällt er unter Garantie in den Tee. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Ich bin kreativ – ein Koordinations- und Organisationstalent ist in meinem Hirn einfach nicht angelegt. Darum kann ich auch so super mit Jess zusammenarbeiten, die immer den Überblick behält.

»Du kannst Skype ja schon mal drüben in deinem Raum starten. Ich hol inzwischen das Kleid aus dem Lager. Deine Schwester wird wohl fünf Minuten warten können, dann kannst du es schnell anprobieren.«

Jess macht keine Vorschläge, sie gibt Anweisungen. Mag sein, dass sie ein bisschen zu diktatorisch rüberkommt, aber das ist schon okay. Die letzten acht Jahre hat sie mit ihrem Geschäftssinn und Schwung aus mir, einer kleinen Studentin mit Skizzenblock, eine echte Designerin mit Atelier und eigenem Raum in ihrem Laden gemacht. Plus einer jährlichen Kollektion und mehr Auftraggebern, als ich bedienen kann. Ohne Jess würde ich immer noch auf einem Strandlaken faulenzen, zeichnen und träumen. Auch finanziell hat Jess mich die ganze Zeit unterstützt. Das ist unglaublich großzügig von ihr, und darum macht es nichts, wenn sie mich manchmal herumkommandiert.

Ich meine, wer außer Jess hätte es fertiggebracht, dass ich fünf Minuten nach meiner Ankunft im Laden eben keinen Großputz mache, sondern aus der Umkleide trete – in einem Kleid …

»Sehr pink«, krächze ich, mehr bringe ich nicht heraus, als ich an mir herunterschaue. Stellt euch vor, eine Lawine trifft auf eine explodierende Glitzerfabrik – und selbst dieses Bild ist noch deutlich untertrieben. Trotzdem ist das wohl mein kleinstes Problem, denn der Rock bauscht sich in der Größe einer kleinen Baumkrone um mich. In diesem Moment begrabe ich meine Hoffnung auf grauen Tüll mit kleinen silbernen Tupfen.

»Es ist eher austernfarben als pink«, haucht Jess. »Und es ist exquisit. Sieh nur die Stickerei. Hast du je zuvor so winzige Pailletten gesehen?« Sie hyperventiliert, aber das ist normal. Jess wird beim Anblick von allem, was Spitze hat oder funkelt, immer ganz aufgeregt. Genau deshalb hat sie ja auch diesen unvergleichlichen Brautladen. Zumindest kann sie für den Moment ihren Unmut über Alice vergessen. Der rührt daher, dass meine Schwester ihre komplette Hochzeit von London ins Rose Hill Manor verlegt hat, das Herrenhaus in Cornwall, in dem sie nun heiraten will. Jess findet das unmöglich. Voll krass, Alice hat sich diese spektakuläre Adresse zum Heiraten über einen Freund ihres Verlobten Dan quasi erschlichen. Dass sie ihre Brautjungfern nicht im »Brides by the Sea« ausgestattet hat, hat bei Jess eine Welle der Empörung ausgelöst. Und dass sie dann auch noch für ihr eigenes Kleid eine andere Designerin wählte, obwohl sie mich hätte haben können, findet Jess dermaßen abstoßend, dass sie es bisher sogar scheut, mit mir darüber zu reden.

»Mal abgesehen von ihrer Größe – hast du schon mal so viele auf einem Haufen gesehen?«, frage ich. Ich bringe es nicht fertig, auch nur annähernd so enthusiastisch wie Jess zu sein, wo doch ich diejenige bin, die das Zeug tragen muss.

Jedenfalls habe ich kein Problem damit, dass Alice woanders einkauft. Eine Braut muss das perfekte Kleid für sich finden, und Alice und ich waren schon immer völlig verschieden. Während ich so eine Mischung aus Hippie und Bohème bin, ist sie superstylish und elegant. Wir leben in völlig verschiedenen Welten und haben absolut gegenteilige Geschmäcker. Meine Kleider können also gar nicht ihr Ding sein. Wie wir beide auf der Hochzeit miteinander klarkommen sollen …? Auch das ist ein Fall von »wird sich zeigen«.

Ich raschle zaghaft mit dem Rock. »Vielleicht bringen maximalistische Brautjungfern das minimalistische Kleid von Alice erst richtig zur Geltung.« Auf der Skizze, die sie mir gezeigt hat, sieht es streng und sehr zurückhaltend geschnitten aus, es besteht aus genau zwei Linien. Vermutlich ist es eine Art Haute-Couture-Schlauch aus Seide. »Offensichtlich hat sie sich als Thema die Schneekönigin überlegt.«

Das Lieblingsbuch meiner Schwester in unserer Kindheit war Der König von Narnia. Sie ist bei der Weihnachtsaufführung in der Schule groß rausgekommen, als sie zehn war. Ich war acht, spielte eine Schneeflocke und verpasste meinen Einsatz, aber Alice schwelgt, glaube ich, immer noch in ihrem Triumph als Königin Susan. Trotzdem war es ein Schock, als klar wurde, dass sie eine komplette Narnia-Hochzeit zu haben gedenkt. Ich hätte von meiner ehrgeizigen, ordnungsfanatischen Überflieger-Schwester nicht so was Nostalgisches erwartet.

»Wenn sie auf Schnee aus ist, seh ich aber schwarz für sie.« Jess streicht meine Röcke glatt. »Das hier ist Cornwall, nicht Krakau. Jemand hätte ihr das sagen sollen. Ozeanisches Klima.« Sie geht auf alle viere, arbeitet sich um mich herum und zupft hier und da am Saum.

»Gut, halt mal still, dann schaue ich nach der Länge. Währenddessen kannst du mir erzählen, wie du mit deiner Kollektion vorankommst.«

Ihre Aufforderung schwappt durch die Tüllwogen hoch und lässt mich erstarren, sodass sich meine Wirbelsäule plötzlich anfühlt wie ein Besenstiel. Jess redet weiter über meine Ideen für die neue Kleiderkollektion.

»Ganz okay … schätze ich …« Ich versuche, die Lüge lässig und cool klingen zu lassen.

»Wolltest du nicht dieses Wochenende alles fertigkriegen?« Jess stellt ihre Fragen immer zwischen zwei Nadelstichen, trotzdem sind sie alles andere als beiläufig. Vor diesem Verhör habe ich mich schon länger gefürchtet als vor der Sache mit dem Kleid.

Normalerweise kriege ich meine Entwürfe immer locker hin, das weiß sie so gut wie ich. Zwei Wochen, und die Sache ist gegessen, zumal wenn ich es in der vorweihnachtlichen Nebensaison ganz entspannt an einem exotischen Strand angehe. Dass ich so kurz vor Alice’ Hochzeit nicht an einem exotischen Strand bin, erklärt sich von selbst, und Cornwall im Winter ist einfach nicht dasselbe für mich wie Bali. Dabei hatte ich mir geschworen, dieses Wochenende wirklich mit allem durch zu sein, koste es, was es wolle. Auch Jess hatte ich das geschworen. Aber Pustekuchen. Ich bin nun mal ein Beach Girl und laufe nur als solches zu meiner Bestform auf. Wenn ich mich an einem weißen Sandstrand in der Sonne rekele, entwirft mein Hirn praktisch alles von selbst. Doch jetzt kommt auch noch die lähmende Angst hinzu, dass ich, weil ich einmal etwas für einen Promi entworfen habe, nie im Leben wieder so gut sein werde. Ist es da ein Wunder, dass ich nicht eine einzige vernünftige Linie aufs Papier bringe? Unter uns gesagt, fühle ich mich momentan so kreativ wie eine Steckrübe. Ich habe noch keinen einzigen Entwurf fertig, und schlimmer noch – ich habe nicht mal eine Idee! Mit anderen Worten: Statt einer kompletten Kollektion habe ich nichts anderes vorzuweisen als ein leeres Skizzenbuch. Irgendwann in der nächsten Woche wartet verdammt viel Arbeit auf mich.

Ich gebe mir einen Ruck. »Streng genommen läuft vor Weihnachten doch sowieso nichts mehr.« Natürlich ist das ein Bluff. »Da fand ich Neujahr als Deadline für mich viel sinnvoller.« Über Jess’ Kopf hinweg tausche ich mit meinem Spiegelbild OMG-Blicke aus und bete gleichzeitig, dass das Wort »sinnvoll« auf Jess wirken möge.

»Verstehe …«, antwortet sie, aber in einem Ton, der exakt das Gegenteil ausdrückt.

Ich hole so tief Luft, dass mir fast die Augen rausfallen, und hoffe inständig, dass ich jetzt erlöst bin, da ertönt ein schrilles Kreischen von unten.

»Sera! Was zum Teufel hast du da an den Füßen?«

Verdammt, ich bin aufgeflogen! Was für ein blödes Pech, wenn man bedenkt, wie viele Schichten Kleid sich zwischen Jess und meinen …

»Biker Boots?« Jetzt ist ihre Stimme so hoch, dass es in meinem katergebeutelten Kopf fürchterlich widerhallt. »Ist das dein Ernst, Sera? Wo in aller Welt sind die weißen Brautjungfernstiefeletten, die Alice dir geschickt hat?«

Meine Füße in so spitzen Schühchen? Nicht mit mir. Aber ich sollte besser Farbe bekennen. »Die Kitten-Heels sind oben im Studio.« Nämlich vergraben unter den vollkommen unbrauchbaren Zeichnungen einer ganzen Woche, zusammen mit dem weißen Pelzjäckchen und dem Hochzeitshandbuch, alles Sachen, die Alice mitgeschickt hat. »Die Absätze an den Boots sind aber praktisch genauso hoch.«

Jess starrt mich an. Sie hält den Arm wie eine Standarte hoch und weist mit dem Finger in Richtung Tür. »Lauf.«

»Okay«, gebe ich mich geschlagen.

»Und wenn du wiederkommst, hast du die richtigen Stiefel an.« Dann wird ihre Stimme weicher. »Du musst sie sowieso beizeiten eintragen, also kannst du genauso gut sofort damit anfangen.«

Als ich an dem Rock hinabschaue, der vom Umfang her der Bucht von St. Aidan in nichts nachsteht, wird mir klar, dass ich keine Chance habe, damit die enge Treppe zum Studio hochzukommen. Da hilft nur eins. Mit einem Grinsen ziehe ich den Reißverschluss hinunter und lasse das Kleid auf den Boden fallen. Dann springe ich vorsichtig über den aufgetürmten Stoffhügel, um nicht mit den Biker Boots daraufzutrampeln, und Jess legt sofort wieder los.

»Sera, das glaub ich jetzt nicht! Du hast deine ganze Kleidung darunter an?«

»Ja und?« Ich schaue hinunter auf meine Leoparden-Leggings, die Shorts und das Shirt. »Na, zum Glück, wo ich mich gerade ausziehen musste.« Also im Ernst, schließlich ist es Dezember, und warum soll man mehr als nötig frieren? Außerdem, wenn man schon ein Kleid von der Größe einer Lawine trägt, sieht sowieso kein Schwein was von der Unterwäsche. Abgesehen davon hat doch Jess höchstpersönlich das Mantra Die Brautjungfern sieht eh keiner erfunden. Sie kann also nicht leugnen, dass sie sich gerade a) ein klein wenig pedantisch und b) eine Spur scheinheilig gibt.

Fünf Minuten später, als wir weitermachen, habe ich die Kitten-Heels an, und falls es jemanden interessiert: Ja, sie sind eine Qual! Ich habe ein riesiges Zugeständnis gemacht und sogar die Shorts ausgezogen. Jess geht wieder daran, den Saum mit ihren Nadeln zu attackieren. Meine Zehen fühlen sich jetzt schon an, als würden sie absterben. Wenigstens scheinen dafür meine Entwürfe vorläufig vom Tisch zu sein – oder besser gesagt deren Nichtvorhandensein, denn Jess hat sie offenbar völlig vergessen.

»Du hast Glück, dass Alice dir keine Fünfzehn-Zentimeter-Stilettos geschickt hat.«

Ich mache mir nicht die Mühe, ihr zu erklären, dass das nun wirklich nicht Alice’ Stil ist. Stattdessen stehe ich mit durchgedrückten Knien da, lausche auf die Geräusche der Typen, die inzwischen zwei Zimmer weiter den Abwasch machen, und schaue aus dem Fenster. Allerdings ist es bei all der Weihnachtsglitzerdeko am Fenster schwer auszumachen, was in der Welt dahinter vor sich geht, man sieht nur hier und da eine einzelne Gestalt stehen bleiben, um die Auslagen anzuschauen.

»Jess?« Einer der Helfer hat mit Gläserklappern aufgehört und ruft zu uns rüber: »Da ist jemand an der Ladentür, der möchte rein.«

»Einen Moment, Sera. Dauert nicht lange.« Jess stemmt sich in Windeseile hoch, schlüpft in ihre Schuhe und marschiert den Flur entlang. Obwohl der Laden technisch gesehen geschlossen ist, besteht – solange Jess sich darin aufhält – immer die Möglichkeit, etwas zu kaufen, beziehungsweise für Jess, etwas zu verkaufen. Jess lässt nie eine Gelegenheit dazu aus. Klar, dass sie die Tür öffnet.

»Kommen Sie rein … ist ja bitterkalt draußen … aber dennoch kein Schnee … ja, wir haben geschlossen, aber ausnahmsweise … wie kann ich Ihnen helfen?«

Vielleicht klingt es zynisch, aber schon von der Begrüßung her merke ich, dass es sich bei dem Kunden um einen Mann handelt. Dreißig oder vierzig Jahre alt, nach Jess’ Tonhöhe zu urteilen. Witzig, dass ich ihrer Charmeoffensive sogar entnehmen kann, dass er mit ziemlicher Sicherheit gut aussieht. Weil mich das amüsiert, ich neugierig und auch ein bisschen gelangweilt bin, strecke ich den Kopf in Richtung Eingang, um die beiden besser hören zu können.

»Tut mir leid, dass ich Sie damit belästige …« – ein Mann mit einer Spur Schottisch im Akzent und der Art von Schokokaramell in den Untertönen, die einem eine Gänsehaut macht – »… aber ich habe da etwas im Schaufenster gesehen …«

Ich erstarre. Jeder kennt wohl dieses Phänomen, dass man eine Stimme im ersten Moment wiedererkennt, oder? Und obwohl es bei mir Jahre her ist – diese eine Stimme ist unauslöschlich in den Tiefen meines Hirns gespeichert. Bereits nach den ersten fünf Worten aus der Ferne beginnt mein Herz derartig zu hämmern, dass die Pailletten an meinem Oberteil nur so durchgeschüttelt werden. Scheiße aber auch! Da guckt man jahrelang mit Adleraugen um jede Ecke, um bloß nicht einer gewissen Person über den Weg zu laufen, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit eh gegen null geht. Ewig und drei Tage macht man das, und weil der unwahrscheinliche Fall nie eintritt, entspannt man sich schließlich, wird nachlässig und vergisst irgendwann ganz, aufzupassen. Hin und wieder gibt es dann sogar Tage, da denkt man nicht mal mehr daran, dass es diesen gewissen Jemand überhaupt gibt. Aber dann – bang! – steht er plötzlich vor einem. Der letzte Mensch, den ich sehen will.

Ich spare mir die unschönen Details. Es reicht zu wissen, dass er Johnny heißt, es in meiner Unizeit geschah und meine Demütigung grenzenlos und umfassend war.

Ich rücke dorthin, wo die Kleider aufgereiht hängen, um mich unsichtbar zu machen und gleichzeitig vorwärtszuschleichen, damit ich mehr mitbekomme. Meine Ohren stülpen sich förmlich nach vorne, so sehr spitze ich sie. Die Stimmen bewegen sich weiter und sind kaum noch zu hören, da die beiden in den Weißen Raum gehen. Verdammt ärgerlich, zumal sie sich anscheinend angeregt unterhalten. Und auch wenn es sich um den letzten Menschen handelt, den ich sehen will, muss ich trotzdem einen Blick auf den Typen werfen. Unbedingt. Einen winzigen Blick zumindest, damit ich sehe, ob er es wirklich ist. Da kann mein Verstand noch so sehr dagegen anschreien, meine Füße haben offenbar ihren eigenen Kopf.

Ehe ich mich’s versehe, stehe ich im Flur. Mein Brautjungfernkleid mag ausladend sein, aber wie heißt es so schön: Verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Maßnahmen – oder so ähnlich. In Sekundenschnelle wirbele ich den Rock um mich und wickle den Tüll so um meine Beine, als würde ich einen Regenschirm zusammenfalten. Das Ganze ergibt eine Art diagonaler Kapitulation, wobei meine Knöchel am Ende fest vom Stoff zusammengeschnürt sind und ich mich nur noch hüpfend fortbewegen kann. Das Gute daran ist, dass ich jetzt schlank genug bin, um mich neben dem Weihnachtsbaum durchzuquetschen und mich hinter die Ankleidepuppe zu ducken, die ein Sophia-Kleid von Alexandra Pettigrew trägt. Hin und wieder ertönt ein leises Klingeln von den Schlittenglöckchen am Weihnachtsbaum, doch abgesehen davon habe ich ein hervorragendes Versteck mit einer unschlagbar guten Aussicht auf die Ladentür. Solange ich mich nicht bewege, kann ich ziemlich sicher sein, dass mich niemand bemerkt.

»Ehrenwort – nur einen klitzekleinen Blick«, flüstere ich mir selbst zu und verhandle auf lächerliche Weise mit dem unergründlichen Schicksal, wegen dem mir Johnny über den Weg läuft. Ich meine: St. Aidan liegt im hintersten Winkel von Cornwall, hier kommt man nicht zufällig vorbei.

Solange ich daran denke, nicht zu atmen und mein Herz nicht zu laut klopfen zu lassen, ist alles im grünen Bereich. Zum Glück, denn in diesem Augenblick höre ich das Klackern von Slippern auf den Dielen und sie kommen zurück.

»Vielen Dank noch mal für die Bären.«

Diese kehlige, melodiöse Stimme, die über Jess’ Schulter herüberklingt, kann nur die von Johnny sein. Allein diesen Namen zu denken lässt mich schaudern. Aber Bären? Alle möchten unser gestricktes Bären-Brautpaar aus dem Schaufenster des Weißen Zimmers kaufen, sie sind einfach zu niedlich. Aber niemand kriegt sie, denn sie sind unsere Maskottchen von »Brides by the Sea«. Wir haben sie, seit es den Laden gibt.

»Es ist mir eine Freude.« Jess’ schmachtende Stimme in dreifacher Lautstärke sagt alles.

Jede von uns weiß, dass Jess ihre eigene Großmutter verkaufen würde, wenn sie den Hauch einer Chance dafür sähe, aber niemals diese besonderen fünfzehn Zentimeter großen Bären. Oder?

Plötzlich tritt Jess einen Schritt zur Seite, und ich brauche mich nicht einmal zu bewegen, um einen freien Blick zu haben. Es fühlt sich an, als würde mein Magen in rasender Schnelligkeit in die Tiefe stürzen, so, als gehörte er gar nicht mehr zu meinem Körper. Dann kommt es mir vor, als strömte ein Wasserfall durch meine Ohren, während in meiner Brust eine Schar Seemöwen wild durcheinanderflattert.

Er ist es.

Nur älter. Und dünner. Und zehn Jahre abgenutzter. Aber er hat noch dieselben kantigen Gesichtszüge und streicht sich noch dieselbe Haarsträhne aus der Stirn. Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, sterben zu müssen, aber dann spricht Jess wieder.

Sie legt ihm die Hand auf den Arm, während sie mit der anderen nach der Türklinke greift. »Alles Gute für die Hochzeit, und Weihnachten … und viel Glück für Ihre Trauzeugenrede.«

Hochzeit? Er ist wegen einer Hochzeit hier? Ich schlucke so heftig, dass ich beinahe den Schleier einatme, der direkt neben meiner Wange schwebt. Vor Schreck über das Wort taumele ich, und ein zartes Bimmeln ertönt. Es ist ein winziges Tönchen, aber nichtsdestotrotz schnellen zwei Köpfe wie auf Befehl herum und schauen in Richtung Baum.

In dem Moment, als mein Blick und Johnnys sich treffen, kreischt Jess auf: »Sera? Was in Gottes Namen machst du hinter dem Christbaum

Ausgerechnet! Aber ich kann mich immer noch rausreden. Mein Hirn arbeitet sich auf Hochtouren durch den Ausredenstapel: Nüsse zwischen Bodendielen, entlaufene Mäuse, verlorene Bären … Ich zögere und wäge die Fallstricke jeder Antwort ab. Mehr oder weniger habe ich mich schon für die Pistazien entschieden, und ich will sie gerade anbringen, da gerät einer meiner Kitten-Heels in ein Astloch in den Dielen. Ich hätte es geschafft, wenn nur mein anderer Fuß frei gewesen wäre. Stattdessen macht mich der Wickelrock bewegungsunfähig, und ich bin verloren. Gleichgewicht? Keine Rede mehr davon.

Es beginnt mit einem leichten Schwanken und geht über in eine Abfolge von Schlingerbewegungen. Ich nehme noch wahr, dass ich mich gewissermaßen im freien Fall befinde, und nach dem hässlichen lauten Poltern neben mir gehe ich davon aus, dass ich den Weihnachtsbaum mitreiße. Im nächsten Moment sehe ich die Bodendielen auf mich zukommen.

»Aaaaahhhhh…« Mein Schrei muss gigantisch sein. Die Schlittenglöckchen höre ich jedenfalls nicht mehr.

In einem Last-minute-Einsatz schaffe ich es, einen Sturz aufs Gesicht zu verhindern, indem ich mich auf den Rücken werfe. Während die Pailletten an meinem Kleid über den Holzboden schrappen und der Baum auf mich herabkracht, schaue ich in Johnnys Gesicht. Nur gut, dass mein Aufschlag auf dem Boden offensichtlich den gesamten Möwenschwarm zum Schweigen gebracht hat. Ich kann nur noch röcheln, an sprechen ist da nicht zu denken.

Johnny drückt den Baum mit einer Hand in seine vertikale Position zurück, während er in der anderen immer noch die Tasche mit den Bären hält. Exakt so sieht mein Leben aus. Der Typ schnappt den Baum, während ich auf dem Boden lande. Horizontal ausgebreitet bietet man nicht den schönsten Anblick, Da hilft es auch nicht, dass meine Beine verschnürt sind wie eine Nixenflosse. Außerdem passen meine beachblonden Haare und die Sommersprossen so gar nicht zu der Farbe des Kleides. Daher kommt es ja, dass ich mich lieber nur auf meinen Job konzentriere.

Plötzlich verschwindet Johnnys kühles, sardonisches Lächeln und er bricht in Gelächter aus. »Seraphina East. Ganz in Pink.« Er reibt sich mit dem freien Handrücken die Stirn und schaut zu mir herunter. »Wusste ich doch, dass es auf der Welt nur eine wie dich geben kann. Wir müssen aufhören, uns auf diese Weise zu begegnen.«

Dann beugt er sich vor und nimmt meine Hand, und ehe ich weiß, wie mir geschieht, umweht ein köstlicher Männerduft meine Nase, und ich werde wieder hoch auf die Füße gezogen. Und gerade, als ich mir einen Tannenzapfen aus dem Haar ziehe, entfaltet sich mein Kleid, als wäre es lebendig. Ich kann nicht mal blinzeln, da habe ich schon wieder die Form eines Kleinmädchen-Geburtstagskuchens, der einen Rock aus Biskuit und obendrauf einen Barbiekörper hat, nur in meinem Fall eben ohne Busen.

»Na bitte, er sagt auch, dass es pink ist.« Ich schaue Jess herausfordernd an. »Und was ist das mit den Bären? Seit wann sind die denn verkäuflich?«

Jess ist wirklich nicht leicht aus der Fassung zu bringen, aber irgendwie hat das wohl gesessen, denn sie sagt erst mal gar nichts. Sie öffnet nur den Mund und schließt ihn dann wieder. Da stehen wir nun und starren uns gegenseitig an, bis aus dem Seraphina-East-Zimmer ein Trillern ertönt.

Johnny reagiert als Erster. Er schaut uns fragend an. »Erwartet hier jemand einen Skype-Anruf?«

Die Wege des Schicksals sind unergründlich. Ob nun Johnny in Lichtgeschwindigkeit verschwindet oder ich? Beides hätte etwas für sich.

»Der ist für mich.« Ich schwinge mich zum Heiligtum des Seraphina-East-Zimmers hin.

Hinter mir höre ich Johnnys Stimme. »Sorry, ich wollte dir nicht den Freitag stören. Dann lasse ich dich mal weitermachen.« Das ist so typisch für ihn, immer muss er das letzte Wort haben. Aber so ganz stimmt das nicht. Das letzte Mal, als ich den Kontakt zu ihm gesucht habe, hat er nichts erwidert. Nie.

Einen Moment später sitze ich vor dem Laptop und starre auf einen leeren Stuhl auf dem Bildschirm. Wo ist meine Brautzilla-Schwester nun wieder hin?

2. Kapitel

Freitag, 16. Dezember

»Brides by the Sea«: Rote Teppiche und irre Ideen

»Ist Alice online? Ich brenne ja darauf, sie endlich mal zu sehen.«

Jess schubst mir beinahe den Laptop von den Knien, als sie sich neben mich auf die Chaiselongue schmeißt. Wenn ich Glück habe, wird sie durch Alice von der Geschichte mit Johnny abgelenkt. Allerdings gäbe ich was darum, herauszukriegen, wo diese Hochzeit stattfindet, auf die er geht, denn die von Alice wird es ja wohl nicht sein. Oder etwa doch?

»Sie ist gleich wieder da.« Ich flüstere es, für den Fall, dass Alice wieder auf dem Schirm erscheint. »Sie ist in Brüssel, mit einer Armee von Bauarbeitern.« Wie geplant sorgen die B-Wörter dafür, dass Jess sich noch mehr herüberlehnt.

Falls sich jemand wundern sollte, sei gesagt, dass Alice international als Innenausstatterin arbeitet. Nun warten wir auf ihr Erscheinen zu dieser dringenden Besprechung. Sicher frischt sie noch ihr Make-up auf, bevor sie sich ordentlich zurechtgemacht vor den Bildschirm begibt.

Als ihre Gestalt an der Webcam vorbeihuscht, stößt Jess vor Überraschung mit hoher Stimme aus: »Ach, sie ist ja dunkel. Und so gepflegt! Ähnelt ihr euch denn gar nicht?«

Trotz der Beleidigung muss ich lachen, denn sie hat recht. Alice hat den Look einer »Audrey Hepburn, bereit für den roten Teppich« voll drauf. Ich dagegen bin eine »Courtney Love, am Morgen danach«.

»Okay, da bin ich …« Alice kommt wieder in Sicht und spricht mit ihrer Geschäftsstimme, allerdings etwas weniger schnippisch als gewöhnlich.

»Sie sieht aus wie aus einem Hochglanzmagazin.« Da Jess das an meinem Ellenbogen murmelt, gehe ich davon aus, dass sie vorhat, sich zu beteiligen und das hier zu einem Konferenzgespräch zu machen.

Was den Glanz betrifft, so ist es eher die teure Sorte als die schrille. Das Adjektiv »hochwertig« passt zu allem in Alice’ Leben, doch obwohl sie bestimmt zehn Minuten für das Auftragen von Concealer aufgewendet hat, sieht man trotzdem noch ihre Augenringe.

»Seit Stunden versuche ich dich zu erreichen, Sera.« Sie übertreibt schamlos. Es ist gerade mal elf, und ich bin schon eine Ewigkeit am Laptop.

Wie auch immer, zwischen uns liegt schon wieder diese Spannung in der Luft, und ich habe keine Ahnung, warum eigentlich. Als wir noch Kinder waren, war sie die Art große Schwester, die einen gnadenlos herumkommandiert, aber wenn es hart auf hart kam, hat sie immer zu mir gehalten. Seit wir von zu Hause weg sind, respektiert jede von uns die Ansichten und die Lebensweise der anderen und wir achten aus sicherer Entfernung aufeinander. Treffen wir uns, so fallen wir wie viele Geschwister wieder in unser altes Muster zurück.

Nach meiner Erfahrung heißt das für diesen Skype-Anruf, dass Alice mich daran erinnern wird, sie morgen vom Flughafen abzuholen. Also komme ich ihr zuvor.

»Keine Bange, Alice«, sage ich, »ich habe mir den Wecker auf sechs Uhr gestellt. Ich bin also in Exeter, wenn du landest. Versprochen.«

Sie rollt mit den Augen, um anzudeuten, dass sie mir kein Wort glaubt, und sagt dann: »Deshalb rufe ich an.« Sie zögert und runzelt unter ihrem Pony die Stirn. »Ehrlich gesagt werde ich es bei alldem nicht schaffen, morgen schon zu kommen.«

»Was? Warum nicht?« Meine Stimme ist schrill vor Schock. Alice lässt niemals einen Termin platzen. Und was ist mit ihrer Hochzeit? Sie hat doch bestimmt noch jede Menge vorzubereiten.

»Ich beaufsichtige eine Installation aus poliertem Beton, und die verfluchte Mischung hat sich noch nicht gesetzt.«

Alice lebt in einer exklusiven Welt. Niemand außer ihr würde Beton polieren. Und für gewöhnlich flucht sie auch nicht.

»Ach so«, sage ich, obwohl ich ihr nicht folgen kann. »Klingt schon sehr nach kurz vor knapp, oder?«

Sie bläst die Backen auf. »Das ist ein Eilauftrag für einen Diplomaten. Den habe ich mir an Land gezogen, um die Kosten für die diversen Extras der Hochzeit finanziell etwas abzufangen.« Ein für sie sehr untypischer, herzhafter Seufzer entschlüpft ihr. »Ich wünsche mir für unsere Gäste, dass sie eine weiße Weihnacht haben, an die sie sich ihr Leben lang erinnern können.«

Na bitte. Wusste ich doch, dass sie auf Schnee hofft. Mit solchen Erwartungen begibt sie sich voll aufs Glatteis. Ich versuche, sie sanft darauf hinzuweisen. »Ich bin mir nicht so sicher, dass sie weiß wird.« Tatsächlich bin ich hundertprozentig vom Gegenteil überzeugt.

»Es muss einfach schneien, Sera.« Sie ringt die Hände und fängt an zu jammern, dass der Laptop vibriert. »Warum sonst sollte man an Weihnachten heiraten?«

Unter uns – eine Menge Leute heiraten Weihnachten, weil es billiger ist. Nicht dass ich zynisch sein will, aber dass Alice in Cornwall heiratet, hat weniger mit der Gegend zu tun als mit dem tollen Veranstaltungsort, den sie ergattert hat.

»Es hat sowieso was ganz Besonderes und Strahlendes, mit all den wunderbaren Sachen«, sage ich. Es fühlt sich komisch an, dass ich ihr das plötzlich so verkaufen will. »Allein die Holzfeuer«, versichere ich ihr etwas gezwungen. »Und es ist so toll, dass alle zusammenkommen.«

»Danke, dass du mich daran erinnerst«, sagt sie etwas ruhiger. Dennoch ist sie noch nicht wieder ganz sie selbst, denn es passiert so gut wie nie, dass sie sich so überbordend dankbar zeigt. »Ich melde mich so bald wie möglich bei dir, versprochen. Könntest du dich bis dahin bitte um ein paar Dinge für mich kümmern? Als meine Projektmanagement-Vertretung vor Ort?«

Ich blinzele nervös und runzele die Stirn. »Was – ich?« Das meint sie nicht im Ernst.

Jeder weiß, dass alle in meiner Familie überaus schlau und erfolgreich sind. Und während Alice alle anderen diesbezüglich noch übertrifft, bin ich die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Mein ganzes Leben schon war ich das schwarze Schaf, für das sich alle geschämt haben. Nicht nur dass ich für meine mittlere Reife Mathe wiederholen musste, ich habe ich mich auch noch für ein Modedesign-Studium entschieden. Alice und ich wissen beide, wie sehr ich mich abstrampele, allein um mein eigenes kleines Leben zu managen, ganz zu schweigen von den Entwürfen, die ich eigentlich längst hätte fertig haben sollen. Wer dem noch etwas hinzufügen will, fordert das Schicksal echt heraus.

»Mach dir keine Gedanken, Sera, zuerst müssen vor allem ein paar Sachen geschleppt werden«, beschwichtigt sie mich, und ich weiß nicht recht, warum ich dafür nötig sein soll. »Die Freunde von Dan stellen ihre Muskelkraft zur Verfügung, aber du musst sie beaufsichtigen.« Ihr Gesicht hellt sich auf, als sie eine neue Idee hat. »Du kannst so was wie ein Navigator sein. Du bist die Richtige, sie herumzulotsen. Bleib bei ihnen und halte ein Auge darauf, was sie so machen.« Sie nickt auf erschreckend entschiedene Weise.

»Navigator?«, formen meine Lippen, aber meine Stimme ist nur noch ein Fiepsen. Alice hat ja keine Ahnung. Ich kenne mich in St. Aidan selbst kaum aus, geschweige denn woanders. Ich gehe doch höchstens mal vom Laden in die Bäckerei, zum Cottage oder an den Strand und auf dem Rückweg in das Geschäft an der Ecke oder ins Café. In den drei Jahren, seit Granny gestorben ist, habe ich vielleicht knapp tausend Kilometer in ihrem Auto zurückgelegt. Die Fahrt zum Flughafen morgen wäre die Herausforderung für mich gewesen. Da habe ich eine Eingebung. »Mit Sicherheit gibt es jemanden, der dafür geeigneter ist als ich.«

Wir sind eine Familie und das werden wir immer bleiben, aber ich kann nicht behaupten, dass Alice und ich uns in den letzten Jahren sehr nahegestanden hätten. Meine Eltern haben es mir damals hoch angerechnet, dass ich mein Überbrückungsjahr abgebrochen habe und nach Cornwall gezogen bin, um mich um Granny zu kümmern. Alice hingegen hat das nicht sehr gutgeheißen. Seitdem steht etwas zwischen uns, und zwar mehr als die paar Meilen zwischen hier und London. Granny und ich haben uns immer gern als eine Art freigeistigen Außenposten der Familie in Cornwall gesehen, und als sie vor drei Jahren gestorben ist, hatte in London keiner was dagegen, dass ich weiter in ihrem Cottage am Hafen wohnen blieb. Doch Alice hat sich nie für mein Leben hier interessiert.

»Ich habe mir das wirklich gründlich überlegt«, sagt sie jetzt und tippt sich mit einem Stift an die Schneidezähne. »Du bist meine Schwester und damit genetisch programmiert, für mich einzustehen. Es kann niemand Besseren geben.«

»Wirklich?« Ich kann nicht umhin, über die Ironie zu lächeln. Natürlich muss Alice ihr Problem wieder kühl analysieren.

Sie wirkt leicht gekränkt. »Ehrlich, Sera, du bist die Einzige, der ich das wirklich anvertrauen kann. Tief drinnen bist du diejenige, die mich am besten kennt. Du weißt instinktiv, welche Wahl ich treffen würde. Somit bist du perfekt geeignet, um alles an meiner Stelle auszuwählen, bis ich komme, und um mich zu unterstützen, wenn ich da bin. Bitte, Sera, sag Ja. Es gibt so viel zu tun.«

Ich bin baff, weil sie derart verzweifelt klingt. Meine Schwester ist stark. Sie bettelt nie.

Sie kommt näher an den Computerbildschirm heran, und ihre Stimme wird zu einem Flüstern. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so schwierig ist. Es ist ein einziger Albtraum. Und wenn Dan und seine Freunde da sind und ich sie nicht unter Kontrolle habe, kann sonst was passieren. Du bist die Einzige, die weiß, was mir nicht gefallen würde, und der es wichtig ist, für mich einzustehen. Du kannst ihnen Paroli bieten, sie zurechtstutzen und ihnen die dummen Ideen austreiben. Hast du eine Vorstellung, wie Kerle ticken können? Manchmal habe ich das Gefühl, sie scheren sich einen Dreck um das alles.«

Ich muss zugeben, dass ich als Einzelgängerin des Jahrzehnts von Männern nicht den geringsten Schimmer habe. Womit ich mich hingegen sehr gut auskenne, ist die Art und Weise, wie Alice tickt. Ich weiß, dass sie mit jedem Detail so akribisch und kompromisslos umgeht, dass es einen wahnsinnig macht. Sie ist megamäßig verkrampft, und das Schlimme ist – sie hat recht. Ich verstehe völlig, warum sie so ist, wie sie ist, auch wenn ich die Dinge häufig etwas anders sehe. Das Problem ist, dass ich ein hoffnungsloses Weichei bin. Noch nie im Leben habe ich mich gegen jemanden gestellt oder mich gegen jemanden gewehrt. Ganz einfach, weil es nie nötig war – Alice hat das immer für mich gemacht.

Rückblickend betrachtet war unsere Kindheit nicht übel. Nur hatten unsere Eltern immer anderes zu tun. Daher hat Alice als große Schwester jeden meiner Schritte überwacht. Ich höre sie im Geist immer noch die anderen Kinder anschreien, wenn sie sich über meine fast weißen Korkenzieherlocken lustig machten. Und als der Kopf von meiner Hochzeits-Barbie abging, hat Alice für mich Marshmallows über einer Kerze getoastet, um mich zu trösten. Dann, an meinem ersten Tag auf der Mittelschule, als ich an der Schulmauer wie erstarrt einfach nicht mehr weitergehen konnte, kam sie aus dem Chemieunterricht angerannt und hat mir gut zugeredet. Ich weiß, all das habe ich damals für selbstverständlich gehalten, aber aus heutiger Sicht war sie diejenige, die mir damals auf Schritt und Tritt zur Seite gestanden hat. Dies hier ist meine erste Gelegenheit, ihr etwas dafür zurückzugeben. Ich schulde es ihr wirklich, ihr jetzt den Rücken freizuhalten.

Alice fährt sich mit den Fingern über die Wangenknochen und streicht sich wieder ihren Bob hinter die Ohren. »Wenn es dir hilft, stell dir einfach vor, dass du die leitende Brautjungfer bist.«

»Ach je.« Es wird immer schlimmer. Als ich mich für den Job als Brautjungfer habe verpflichten lassen, ging es nur darum, zwölf Stunden am Stück in einem Kleid furchtbar auszusehen und dabei ein Sträußchen zu halten. Und immer ein Lächeln für den Fotografen parat zu haben, solange er einem nicht blöd kommt. Wenn ich mich nun einverstanden erkläre, muss ich wohl mit einigen Zusatzleistungen aufwarten, scheint mir.

»Jede Einzelheit ist bereits geplant. Es geht nur noch um die Ausführung. Steht alles im Hochzeitshandbuch, und das hast du ja, oder?«

»Na klar.« Trotz allem muss ich grinsen. Das Handbuch liegt unter dem Papierberg in meinem Studio. Ich hab es mal auf irgendeiner Seite aufgeschlagen, und da stand etwas darüber, dass die Hochzeitsgäste angehalten werden, nicht miteinander zu schlafen. Daraufhin habe ich es schnell wieder zugeklappt. Heftiger als nötig. Da es aber sehr dick ist, wird Alice bestimmt jede Kleinigkeit darin festgelegt haben. Bis auf ihre verspätete Ankunft natürlich und die Tatsache, dass die Freunde des Bräutigams womöglich aus der Rolle fallen.

»Mach dir keinen Kopf, du schaffst das locker. Vielleicht hast du sogar Spaß daran.« Sie klingt auf einmal viel entspannter. »Dan hat seinem Trauzeugen deine Nummer gegeben. Er holt dich morgen früh ab. Er sagte was von zehn Uhr am Surferschuppen. Kannst du damit was anfangen?«

»Ja.« Das ist mein hiesiges Café, aber vor lauter Hyperventilieren kriege ich weiter kein Wort raus.

So ist das mit Alice. Sie ist gar nicht so sehr eine Brautzilla, denn sie macht nie viel Wirbel, sondern powert einfach durch. Wenn ich nun einspringe, um ihre Pläne umzusetzen, und sei es nur für ein paar Tage, dann ist das eine große Verantwortung. Was geschieht, wenn ich die Hochzeit vermassele?

»Na also, den Treffpunkt kennst du schon mal. Wenn das nicht ein super Einstieg ist.« Sie macht eine Siegesgeste mit dem Arm in der Luft, die so unpassend für sie ist, dass ich die Augen zukneife, als ihre Faust auf den Bildschirm zuschnellt. »Wir sind ein unschlagbares Team, Sera. Zusammen schaffen wir das.«

Was schon ein Widerspruch in sich ist, wo sie doch gar nicht dabei ist.

»Wenn noch was unklar ist, ruf mich an, okay?«

Hab ich jetzt wirklich zugesagt? Es gibt Hunderte Fragen, die ich stellen sollte, aber mein Hirn ist wie leer gefegt. Auch wer der Trauzeuge ist, will ich noch wissen, aber da spricht Alice bereits wieder.

»Vielen, vielen Dank, Sera. Ich melde mich sehr bald wieder bei dir. Versprochen. Und alles Gute.« Dann ist der Computerbildschirm leer. Sie ist weg.

***

»Was für ein Morgen!« Erst Johnny, dann das. Ich stapfe in meinen Kitten-Heels herum, und pinkfarbener Paillettentüll raschelt mir um die Beine. Ob ich zum Strand laufen soll? Immer weiter, ohne anzuhalten, bis ich in Schottland bin. Oder eher in Wales?

»Was mache ich jetzt, Jess? Ich meine, du kennst mich. Es wird ein Desaster.«

Jess ruht immer noch auf der Chaiselongue. Die Falten auf ihrer Stirn sind mir neu. »Ich weiß, ich neige dazu, dich zu bemuttern, Sera, aber es wird Zeit, dass du mehr Verantwortung übernimmst.« Ihre Augen verengen sich. »Lies dieses Hochzeitshandbuch gut durch. Und dann schmeiß den Laden. Dans Freunde werden dir schon dabei helfen.« Bei dem Gedanken wird ihre Stirn wieder glatt. »Hochzeiten fördern die Romantik, und wenn dann noch Weihnachtsstimmung hinzukommt … Wer weiß, was daraus wird.«

Moment mal. Was ist denn mit unserer Solidarität unter Singles à la »Brides by the Sea«? Jess hat uns doch erst darauf gebracht durch ihre hässliche Scheidung. Und nun wirft sie mit einem einzigen kleinen Satz unseren ganzen Grundsatz über den Haufen.

»Vergiss das mit Weihnachten und Romantik, Jess. Als wäre ich auf der Suche. Nix da.« Ich ziehe eine Grimasse. »Steht auch im Handbuch, ganz eindeutig: keine Kuppeleien innerhalb der Hochzeitsgesellschaft.« Alice mal wieder. Manchmal meint sie, sie kann über alle Welt bestimmen.

»Im Ernst?« Jess schaut betroffen drein.

Wenigstens ein kleiner Hoffnungsschimmer hinter der schwarzen Hochzeitswolke – anscheinend bleibt es mir erspart, verkuppelt zu werden.

Meine engen Schuhe erledigen mich schließlich, und ich sinke in einen unserer Louis-quatorze-Sessel, die eigentlich für die Brautmütter gedacht sind. Das letzte Mal, dass ich in so einen gesunken bin, war, als ich erfahren habe, dass Josie Redman ein Hochzeitskleid von mir entworfen haben will. Das hat mich meilenweit aus meiner Komfortzone hinauskatapultiert, aber dennoch war es nichts im Vergleich zu dem hier.

Jess strahlt. »Ich habe das Gefühl, dass diese Sache dein Durchbruch sein könnte, Sera. Erinnerst du dich an unser Mantra? Spüre die Furcht und tu’s trotzdem.«

Hätte sie das mal beim letzten Mal gesagt. Aber da gab es einen Gin, den ich jetzt auch ganz gut gebrauchen könnte. Und letztes Mal war klar, solange ich die Nerven behalte, brauche ich einfach nur meinen Job zu machen und ein tolles Kleid entwerfen. Hätte ich es verpatzt, so hätten zig Leute Schlange gestanden, um es an meiner Stelle zu machen. Im Vergleich also eine Lappalie.

Diesmal darf ich nicht patzen, und noch dazu habe ich keinen blassen Schimmer, was ich da mache. Dabei steht nichts weniger als Alice’ Hochzeit auf dem Spiel. Es muss die allerperfekteste Hochzeit überhaupt werden. Und zwar exakt so, wie Alice sie sich vorstellt.

Ich verziehe verzweifelt das Gesicht, während ich nach einem Gedanken suche, der mir über diese Erkenntnis hinweghilft. Es sind ja nur ein paar Tage, und die sind im Nu vorbei. In so kurzer Zeit ändert sich doch niemand. Oder?

3. Kapitel

Freitag, 16. Dezember

»Brides by the Sea«, im Atelier: Nach Einbruch der Dunkelheit

Viel später am Abend, Stunden nachdem alle anderen das Haus verlassen haben, bin ich oben im Atelier. Da sitze ich auf einem Hocker in einem Lichtkreis an dem hohen Zuschneidetisch. Ich schaue Stoffproben durch und fingere an Spitze und Seide herum. Dann wieder starre ich in die Schwärze hinter den Fenstern und sehe die entfernten Lichter von Schiffen auf dem Meer. Ich beginne mit einer Zeichnung, schiebe sie zur Seite und fange die nächste an. Auch wenn ich kein bisschen mit den Entwürfen vorankomme, habe ich doch zumindest das Gefühl, Zeit hineinzustecken.

Ich liebe meine große Werkstatt, die drei Stockwerke über dem Laden liegt, mit ihren Magazinstapeln und den Inspirationsschnipseln an der riesigen Pinnwand. Gegenüber dem Schneeparadies im Laden herrscht hier kreatives Chaos zwischen Schneiderpuppen, Bügelbrettern und gigantischen Scheren. Hier oben befinden sich Seide und Tüll auf Rollen, und die Stangen sind voll mit Kleiderfragmenten, Leibchen mit zerfransten Kanten und halb fertigen Unterröcken.

Jedes der wunderschönen Kleider, die unten im Laden hängen, hat als Zeichnung begonnen. Diese ersten paar Linien auf Papier enthalten die volle Essenz. Niemand kann sich vorstellen, was für eine Arbeit darin steckt, sie von dem einen in den anderen Zustand zu bringen. Ohne diese Skizzen gäbe es niemals einen Schnitt. Und ohne den Schnitt entsteht auch kein Kleid.

»Hochzeit … Weihnachten … Trauzeuge …«

Ich werde den Gedanken nicht los, wie schrecklich es wäre, wenn er auf Alice’ Hochzeit auftauchte. Und wie fertig ich sein werde, wenn er es nicht tut.

Aber jetzt muss ich vergessen, dass Johnny in Cornwall ist. Ich muss es ausblenden, dass wir, wäre es ein windiger Tag, beinahe dieselbe Luft atmen würden. Und ich muss mit ein paar neuen, aufregenden Entwürfen rüberkommen. Denn wenn ich das nicht hinkriege, wird in der Seraphina-East-Auslage im nächsten Herbst keine umwerfende Kollektion zu sehen sein, sondern gähnende Leere.

4. Kapitel

Samstag, 17. Dezember

Im Café Surferschuppen: Chocolate-Chips und Deko-Lichter

Hi Sera, der Trauzeuge von Alice hier, bin um 10 beim Café Surferschuppen. Bis dann! :)

Simsen in St. Aidan? Na hoffentlich ist diesem Trauzeugen – wer immer es auch sein mag – klar, dass es reines Glück war, dass diese Nachricht angekommen ist. Wir haben hier nur sehr selten Empfang. In weiten Teilen der Umgebung wären Rauchsignale zuverlässiger als ein Handy.

Bis auf eingefleischte Cornwall-Fans haben die meisten Londoner keinen Schimmer, wie es hier unten zugeht. Wenn sie hier zur Hochzeit ankommen, wird es für Alice’ Freunde ein böses Erwachen geben, aber so richtig. Da können sie erleben, wie es auf der Welt in den Tagen des vortechnischen Zeitalters zuging. Die Leute hier kratzen sich bei dem Begriff WLAN den Kopf und schauen einen verständnislos an, wenn man das Wort Breitband-Anschluss fallen lässt. Warum sollte man so etwas haben wollen, wenn man sich gegenseitig auf dem Festnetz anrufen kann? Oder – oh Graus – miteinander sprechen, Auge in Auge. Aber genau deshalb gefällt es mir hier so. Und die Auswahl unseres Treffpunkts hätte ich auch nicht besser hinbekommen als dieser Trauzeuge.

»Also, auf geht’s.« Ich schaue Poppy an und mache eine Grimasse, während wir uns auf dem Terrassendeck des Surferschuppens einen Weg zwischen den leeren Tischen hindurchbahnen. Poppy macht die Torten für unseren Laden. Sie ist eben erst aus London zurückgekommen und eine meiner engsten Freundinnen.

»Alles wird gut, solange du nicht vergisst zu atmen«, erinnert sie mich.

Guter Tipp. Dabei fällt mir ein, dass ich das letzte Mal Luft geholt habe, als wir die Strandpromenade erreichten, über die wir hergekommen sind. Als Poppy bei uns vorbeikam, um ein paar Backbleche aus ihrer Küche im Dachgeschoss abzuholen, hat Jess sie überfallen und dazu verdonnert, mich zu begleiten, wohl um sicherzugehen, dass ich nicht kneife und mich über den Strand davonmache. Auf diese Weise kriegt sie natürlich alles brühwarm erzählt, wenn Poppy wieder zurück ist.

Im Gegensatz zu vielen Strandcafés, die so gut wie nichts mit ihrem Namen verbindet, sieht der Surferschuppen genauso klapprig und verwittert aus, wie sein Name es nahelegt. Eben deshalb mag ihn jeder. Wenn man dann noch den exzellenten Kaffee, köstlichen Kakao und die dicksten Sandwiches der ganzen Bucht hinzunimmt, wird schnell klar, warum er so erfolgreich ist. Besonders eindrucksvoll ist, dass er ausschließlich aus Strandgut zusammengezimmert zu sein scheint. An den meisten Tagen, egal ob Sommer oder Winter, hänge ich irgendwann hier ab. Während Poppy in London war, hat meine Kalorienzufuhr hauptsächlich hier stattgefunden.

Um Punkt halb zehn werfe ich Poppy noch mal einen schiefen Blick zu und wappne mich. Als wir durch die Schwingtür ins Café gehen, empfängt uns eine Welle aus warmer Luft und frischem Kaffeeduft. Brin, der Inhaber, grinst mich an, vorbei an einem blauen, stacheligen Elektro-Weihnachtsbaum, der auf der Theke steht.

»Morgen, Sera, ah, da bist du ja wieder, Poppy«, begrüßt er uns und wischt seine Hände an der gestreiften Schürze ab. »Schaumige heiße Schokolade XXL mit dunklen Schokostreuseln und Salzkaramellwirbel?«

»Ja bitte.« Ich werfe einen Blick nach oben auf die Glitzergirlanden, die sich im Zickzack unter der Decke entlangziehen. Es ist meine übliche Winterbestellung. Um einer heißen Schokolade à la Surferschuppen gerecht zu werden, sind mindestens zwanzig Minuten notwendig, also sollte das Timing perfekt sein. So ein Kakaopott ist hier so groß wie ein Eimer, und die Toppings werden nicht gerade rar gestreut, sondern viel mehr schaufelweise hinzugefügt.

»Was ist mit dir, Poppy?«

Sie zieht die Nase kraus, während sie die Liste auf der Tafel studiert. »Heiße Schokolade – extragroß bitte – mit Schlagsahne … und Marshmallows … und weißen Chocolate-Chips. Und einen Doppel-Schokomuffin, bitte.« Sie lächelt schuldbewusst. »Rafe hat mir ein warmes Frühstück gemacht, aber das ist Stunden her. Und ich habe den Surferschuppen so vermisst.«

»Das geht heute aufs Haus, Ladies, ist schließlich Weihnachten.«

Ich hauche Brin einen Kuss zu, und wir traben los, um uns einen Tisch auszusuchen. Poppy weist mit dem Kinn auf einen mit einem blinkenden Mini-Christbaum darauf und schiebt mich zu einem Stuhl.

»Der hier ist gut. So hast du freie Sicht auf die Tür.« Sie neigt den Kopf in Brins Richtung. »Das Date, nach dem er immer fragt, hattest du noch nicht mit ihm, oder?«

Ich lache. »Erinnerst du dich, was Granny immer sagte? Besser keinen Mann als den falschen.« Das hat sie wahrscheinlich so oft wiederholt, dass es sich in meinem Kopf festgesetzt hat. »Überhaupt bin ich viel zu eingespannt, und die Kerle sind die Mühe nicht wert.« Dabei hänge ich meine Wolljacke über die Stuhllehne und ziehe meinen Schal aus.

Als Brin endlich unsere Bestellung bringt, stürzt Poppy sich gleich darauf. Während sie ihren Muffin vertilgt, bin ich nur mit halbem Auge bei meiner heißen Schokolade, denn obwohl es noch lange nicht zehn ist, lasse ich die Tür mit ihrer bunten Lichterdekoration nicht aus den Augen. Die Surfertypen, die reinkommen, ignoriere ich mehr oder weniger. Nicht, dass ich Vorurteile hätte, aber ich gehe davon aus, dass ein Freund von Dan, der es geschafft hat, an Alice’ Adlerauge vorbei Trauzeuge zu werden, auf jeden Fall meilenweit als smarter Londoner aus der Masse heraussticht. Besonders da sie ja dieser Tage mit Diplomaten herumhängt.

Und wie konnte ich annehmen, ich könnte auch nur an einer heißen Schokolade nippen, wenn eine Tausendstel-Chance besteht, dass Johnny in der nächsten Minute zur Tür hereinspaziert? Könnte durch eine seltsame Laune des Schicksals tatsächlich er Dans Trauzeuge sein?

Poppy beobachtet mich, wie ich dasitze, ohne meine Tasse anzurühren. »Ich könnte mir gut einen Surfer an deiner Seite vorstellen.« Sie streicht mit dem Finger einen Tupfer Sahne von ihrer Schokolade und steckt ihn in den Mund. »So ein attraktiver, unbekümmerter Beachboy würde zu dir passen.«

Ich lache auf. »Nur weil du Rafe am Ende doch nachgegeben hast. Übrigens, der Vollständigkeit halber, ich bin definitiv auf keinen Typen aus, egal von welcher Sorte.«

Um das hier klarzustellen: Ich bin weder eine Surferin, noch schwimme ich. Meine Vorliebe für das Meer beschränkt sich auf den Strand. »Aber wie dem auch sei, dass ich an einen Typen im Anzug gerate, ist natürlich sehr unwahrscheinlich.« Meine Hand geht andeutungsweise in Richtung meines unordentlichen Dutts und deutet dann auf meine eher lässige Erscheinung.

»Wer weiß?«, neckt Poppy. »Gegensätze ziehen sich an. Vielleicht gibt es einen smarten Rechtsanwalt in der Stadt, der ausgerechnet total auf abgerissene Jeans-Shorts steht.« Sie beugt sich zu mir vor. »Du, im Ernst, guck nicht hin, aber ich glaube, ich hab eben deinen perfekten Seelenverwandten entdeckt. Du weißt ja, dass man sich einen Partner suchen soll, der so aussieht wie man selbst, nicht wahr? Er steht da drüben bei den Kaffeemaschinen.«

»Was du nicht sagst.« Ich mache mir nicht die Mühe, mich umzuschauen. Manchmal ist es nicht zu fassen, dass Poppy nicht einmal merkt, was für lächerliches Zeug sie von sich gibt.

»Er ist gut gebaut und hat sicher ein Sixpack unter dem Schlabbershirt.« Sie will mir keine Details vorenthalten. »Sonnengebleichtes blondes Haar, genau wie du. Borstig, okay, nicht wie du, aber auf jeden Fall ist seine Jeans mindestens so abgewetzt wie deine. Es sieht aus, als teiltet ihr dieselbe Essenz.«

Wenn Poppy von Essenz spricht, ist es höchste Zeit, sie zu stoppen. »Schwachsinn!« Ich will sie anzischen, aber es kommt lauter heraus als geplant, und in dem Moment, als die Geräuschkulisse im Café erstirbt, werde ich rot bis über beide Ohren.

Poppy lehnt sich wieder zu mir. »Ich habe recht, er checkt dich jetzt total ab.«

Genau wegen solcher Sachen vermeide ich es, abends in Bars zu gehen.

»Total.«

Ich muss lachen. »Hallo? Ich habe gerade in voller Lautstärke ›Schwachsinn‹ gerufen. Natürlich guckt da jeder zu mir hin.« Ich könnte ihr gut beweisen, dass sie unrecht hat. Mit wie vielen der Abertausenden von Surfern, die in den letzten zehn Jahren durch St. Aidan gezogen sind, hatte ich was? Null. Genug davon. Ebenso gut könnte ich es richtig durchziehen und meinen Standpunkt klären. Ich gebe mir noch eine Sekunde, bete, dass nicht gerade jetzt dieser Trauzeuge hereinspaziert, und werfe einen winzigen Blick über die Schulter.

Nur eine Millisekunde will ich gucken, aber als ich den Kopf drehe und das strubbelige blonde Haar und den schlabbrigen Sweater sehe, wird mein Blick von irgendetwas festgehalten. Ich kann nicht wegsehen und grinse die ausgelatschten Wildlederboots an, die beinahe meine sein könnten. Erst wandert mein Blick über die Bartstoppeln, dann blitzt es blaugrün, und unsere Blicke rasten ein. Auf seinem herrlich lebendigen Gesicht entsteht ein Grinsen, das die Augenwinkel kräuselt, und in meinem Bauch fängt es an zu kribbeln. Nichts Weltbewegendes, kein Erdbeben, aber genug, um mich aus der Fassung zu bringen.

»Verflucht!« Ich zwinge mich, den Blick abzuwenden. Sobald Mister Trauzeuge auftaucht, bin ich weg und brauche nie wieder diesen »seelenverwandten« Typen anzuschauen.

»Siehst du?«, meint Poppy und lacht. »Und, was sagst du?«

Ich zucke möglichst auffällig mit den Schultern, um die Gleichgültige zu mimen, und rühre bühnenreif in meiner heißen Schokolade. Dann räuspere ich mich und schlucke wie verrückt, weil irgendwie mein ganzer Speichel verschwunden ist. »Nichts Besonderes«, krächze ich, auf Zeit spielend. »Obwohl das mit den Jeans stimmt. Sie wären ideal zum Abschneiden für Sommershorts.«

»Oh mein Gott …«

Zuerst nehme ich an, dass Poppys Mund deshalb ein makellos rundes »O« bildet, weil sie so geschockt und entsetzt ist, dass ich mein perfektes männliches Gegenstück zurückweise.

»Oh mein Gott, oh mein Gott …« Als sie es zum dritten Mal mit ansteigender Tonhöhe ausstößt, ist klar, dass es etwas anderes sein muss. »Oh mein Gott, hast du hier die Hände im Spiel?«

»Wie bitte?«

»Jetzt nicht gucken«, sagt sie völlig überflüssigerweise, »aber er … KOMMT HER.« Die letzten beiden Worte formt sie nur mit den Lippen. Das könnte sie sich auch sparen, denn seit sie OMG gekreischt hat, hat uns eh das ganze Café im Visier.

Dass er auf uns zukommt, weiß ich, bevor ich ihn sehe, denn Poppy schlenkert ziemlich uncool mit den Händen vor ihrem Gesicht herum. Dabei bin ich mit meiner derzeitigen Gesichtsröte wohl eher diejenige, die sich Frischluft zufächeln sollte. Und dann bläst sie auch noch die Backen auf, dass sie wie ein Fußball vor dem Platzen aussieht. Man bedenke, dass der Surfertyp in den vollen Genuss dieser Aufführung kommt, während er sich uns nähert. Letzteres nehme ich schon deswegen an, weil ich plötzlich einen tollen männlichen Duft wahrnehme. Definitiv nicht salzige Haut und Seetang mit einem Hauch Testosteron, wonach die meisten Kerle hier riechen, wenn sie sich vom Strand hierherschleppen. Eher trifft hier teures Rasierwasser auf Motorradmotor – in einem Zedernwald.

Ich atme einmal tief ein, während er um den Tisch herumkommt und stehen bleibt. Mehrere Sekunden wartet er ab, wahrscheinlich um den Dahinschmelzeffekt zu maximieren. Dann nimmt er mit einem entwaffnenden Grinsen Blickkontakt auf. Als er mir eine kräftige Hand hinstreckt, beiße ich die Zähne zusammen und tue mein Möglichstes, um mein Herzrasen zu unterdrücken.

»Hi, du bist Sera, stimmt’s? Quinn«, bemerkt er mit tiefer schwingender Stimme und zögert dann. »Quinn Penryn …?« Durch den fragenden Tonfall seiner Vorstellung hört er sich noch selbstsicherer an, als er es offensichtlich ist, fast, als wäre er so berühmt, dass man ihn einfach kennen muss. Was ich aber nicht tue.

Irgendwelche unbekannten Typen, die sich an mich ranschmeißen, sind das Letzte, was ich brauche, und meine Grundsätze werfe ich für diesen hier auch nicht über den Haufen. Für niemanden, egal wie sehr ich seine Jeans verehre. Je schneller ich das hier beende, umso besser für alle Beteiligten. Noch dazu schaut blöderweise das ganze Café zu, als würden wir hier ein Theaterstück aufführen. Also keine Zeit verlieren.

»Entschuldige«, fange ich an und deute ein möglichst unsexy rüberkommendes, aber immerhin gutmütiges Lächeln an, »wenn ich das hier mal direkt abbreche, Quinn, aber ich bin wirklich nicht interessiert.« Tatsächlich fühle ich mich ungemein resolut, ganz zu schweigen von meinem Stolz darauf, dass ich sogar darauf geachtet habe, seinen Namen einfließen zu lassen. »Es erspart uns beiden eine Menge Zeit und Mühe, wenn ich gleich ehrlich zu dir bin«, erkläre ich. Obwohl ich eine klare Ansage machen will, möchte ich doch nicht die totale Zicke geben. Schon angesichts des Publikums, das uns zuschaut.

Seinem Gesicht nach zu schließen, ist er es nicht gewohnt, einen Korb zu kriegen. Verständlich, denn von Nahem betrachtet ist er sogar noch attraktiver als vom anderen Ende des Cafés aus. Etwas an seiner Verblüffung beflügelt mein neu entdecktes Selbstbewusstsein. Ich bin richtig in Schwung.

»Mich von Fremden anbaggern zu lassen ist nicht so mein Ding«, fahre ich also mit festgefrorenem Lächeln fort, das ich zu erhalten gedenke, bis er sich trollt. »Also, danke, aber nein danke.«

Ich nehme meine heiße Schokolade ins Visier, rühre noch einmal darin und warte, dass er weggeht. Wie viel Abfuhr braucht dieser Quinn So-und-so denn noch? Er steht immer noch da. Wenn ich nach unten gucke, sehe ich nach wie vor seine ollen Boots. Sie erinnern mich an die Frage, die damals an der Schule lange ein Thema war. Diese Sache mit dem Zusammenhang zwischen der Schuhgröße eines Typen und etwas anderem Signifikanten an ihm. Peinlicherweise ist es genau das, was ich über meine heiße Schokolade hinweg gerade voll im Blick habe. Falls die Schulmädchenlegende wahr ist und es einen Zusammenhang gibt, ist seine Schuhgröße 47. Mindestens. Ich kneife die Augen zu, um nicht mehr hinzuschauen, und versuche Quinn kraft meines Willens zum Verschwinden zu bewegen. Um zu verdeutlichen, dass ich zum Alltag zurückgekehrt bin und von ihm dasselbe erwarte, trinke ich einen Riesenschluck heiße Schokolade. Als ich meine Tasse klappernd wieder abstelle, fängt Poppy erneut an zu wedeln. So, wie sie die Augen aufreißt, will sie mir anscheinend etwas ungemein Wichtiges mitteilen, doch ich habe keine Ahnung, was sie meint. Als sie sich mit dem Zeigefinger unter der Nase rumfährt, guck ich erst recht belämmert. Würde dieser verdammte Quinn nicht noch bei uns rumstehen, hätten wir mit Sicherheit längst losgegibbelt.

Schließlich gebe ich mich geschlagen. »Was denn?«, zische ich Poppy über den Tisch hinweg an.

Ein tiefes Brummen ertönt, das von Quinn auszugehen scheint. Ich schaue zu ihm auf, und er beißt sich auf die Lippen, um ein Lachen zu unterdrücken.

»Mach dir nicht draus, Sera«, sagt er dann, offenbar meinen Gesichtsausdruck falsch deutend. »Haben wir alle schon erlebt. Schokoladenschnurrbartalarm.«

Er schnappt sich eine Serviette, und ehe ich mich’s versehe, ist er in meiner Komfortzone und tupft mir die Oberlippe ab. Bevor ich lauthals protestieren kann, ist er auch schon wieder weg.

»Schon erledigt.« Er knüllt die Serviette zusammen und wischt sich die Hände an den Oberschenkeln ab. »Komm, trink aus, und dann können wir wohl los.«

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