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Willkommen in der kleinen Kaffeerösterei

Als Buch hier erhältlich:

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Mit Liebe und Kaffee wird alles gut!

Als Corinnes Vater, der Kaffeebaron, Geschäftsführer von Ahrensberg Kaffee, schwer erkrankt, muss sie mit ihrem Bruder das Familienunternehmen leiten, doch das führt zu Streitigkeiten, und plötzlich ist Corinne nicht mehr sicher, ob sie wirklich hinter der Firmenpolitik steht. Als sie dann auch noch auf dem Dachboden den alten Trommelröster und das Tagebuch ihres Großvaters findet, beginnt sie, zu lesen. Mit jeder weiteren Seite taucht sie tiefer ein in die erschütternde Geschichte ihrer Familie und gleichzeitig wird immer klarer: Sie will selbst rösten. In kleinen Mengen mit hoher Qualität und für eine Kundschaft, die genau das schätzt. Corinne beschließt, ihre eigene Rösterei zu eröffnen.


  • Erscheinungstag: 27.12.2022
  • Aus der Serie: Die Kaffeedynastie
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365001066

Leseprobe

Für
Jan Marc Möbius.
Danke.

Personen und Handlungsorte

Euweiler

Ein kleiner fiktiver Ort in der Eifel, in der Nähe von Aachen. Hier erlebt Eberhard Ahrensberg seine Kindheit und Jugend im Krieg und in der Nachkriegszeit.

Aachen

Die Villa Ahrensberg ist im Preusweg angesiedelt.

Die Firmenvilla von Ahrensberg Kaffee steht in der Lütticher Straße. Das Firmengebäude bekam im Laufe der Jahrzehnte mehrere Anbauten – in diesen Hallen wird Kaffee gelagert, geröstet und für den Einzelhandel verpackt.

Brasilien

Die verpachtete Kaffeeplantage der Familie Ahrensberg liegt in São Paulo.

Familie Ahrensberg

Die Urgroßeltern

August Ahrensberg

Johanna Ahrensberg

Die Kinder

Marianne, Rudolf, Barbara und Eberhard

Die Großeltern

Eberhard Ahrensberg, geb. 1929

Magdalena Ahrensberg, geb. 1932

Sohn

Günther

Die Eltern

Günther Ahrensberg, geb. 1950

Esther Ahrensberg, geb. 1960

Die Kinder

Alexander Ahrensberg, geb. 1985

Corinne Ahrensberg, geb. 1992

Mitarbeiter bei Ahrensberg Kaffee und in der Villa

Thomas Feldmann – Marketing

Beatrice Breithaupt – Chefsekretärin

Karsten Otto – Qualitätsbeauftragter

Karl Lohmeyer – Außendienst

Emil – Pförtner

Kurt – Hausmeister

Klara – Haushälterin in der Villa Ahrensberg

Freunde

Susan Jones

Sebastian Wagner

Noah Engel

Sarah Rosenbaum

Familie Pelzmann

Bernhard Pelzmann

Charlotte Pelzmann

Tochter

Isabella Pelzmann

Familie Rosenbaum

Jacob Rosenbaum

Rebecca Rosenbaum

Tochter

Sarah

Die Bewohner der Kaffeeplantage

Fernando Oliveira Silva

Luciana Crepaldi Oliveira

Tochter

Katalina Oliveira Silva

Kapitel 1
Der Einschnitt

Brasilien • Brasil • Brazil

Gegenwart: Oktober

Einen Moment blieb Corinne stehen, um durchzuatmen. Sie nutzte die kurze Pause und sah sich wieder einmal voller Bewunderung um. Mit jedem Tag, den sie hier war, liebte sie Brasilien noch ein bisschen mehr. Tiefblau und wolkenlos spannte sich der Himmel über dieses verzauberte Stück Welt. Als Schutz vor der schräg stehenden Sonne hielt Corinne ihre Hand wie einen Schirm über die Augen. Ihr Blick wanderte über den grünen Wald entlang des sanft ansteigenden Berges aufwärts. Bis weit nach oben konnte sie die Kaffeesträucher ausmachen, die sich in die Schatten der Bäume duckten. Zwischen den Blättern blitzten leuchtend rot die reifen Kaffeekirschen hervor, die alle noch geerntet werden mussten. Und das nicht nur heute, sondern in den nächsten Wochen alle paar Tage aufs Neue.

Über Corinnes linker Schulter hing an einem Riemen der halb gefüllte geflochtene Erntekorb. An ihrer rechten Hüfte baumelte zusätzlich der Jutesack für die Spezialernte, wie Fernando es mit einem Augenzwinkern genannt hatte. Jacu Bird Kaffee – Corinne rümpfte unwillkürlich die Nase bei dem Gedanken daran. Anfangs hatte es sie Überwindung gekostet, den mit Kaffeebohnen versetzten Kot der Vögel mit der bloßen Hand zu sammeln. Inzwischen dachte sie gar nicht mehr darüber nach und freute sich stattdessen über jeden neuen Fund. Sie wusste, dass diese Ausbeute für Fernando und seine junge Familie das Gold der gesamten Ernte war, es war der Teil, der ihnen zu einem besseren Leben verhalf.

Die Begeisterung für diesen speziellen Kaffee konnte Corinne zwar so gar nicht nachvollziehen, doch Kaffeeliebhaber auf der ganzen Welt waren bereit, horrende Preise für den Genuss zu bezahlen. Sie selbst kannte bislang nur den aus Indonesien stammenden ebenso teuren Kopi Luwak, den Katzenkaffee, den sie jedoch aus Prinzip nicht trank. Von dem Vogelkaffee hatte sie bis gestern noch nie etwas gehört. Da sie gerade erst anfing, sich über die Containerlieferungen Arabica an die Familienfirma hinaus intensiv mit dem Kaffeegeschäft auseinanderzusetzen, war das jedoch nicht verwunderlich. Es gab noch unglaublich vieles, was sie über Kaffee lernen wollte, sie stand ganz am Anfang.

Eines wusste Corinne allerdings schon jetzt – mit diesem Spezialkaffee brauchte sie ihrem Vater ebenso wenig zu kommen wie mit dem Kopi Luwak. Und das war tatsächlich auch gut so. In diesem Fall musste sie ihrem Vater sogar recht geben, eine derart teure Bohne war sicher nicht für eine Großrösterei geeignet.

Corinne hatte allerdings noch ein weiteres, für sie sehr wichtiges Argument, das einer Massenverarbeitung entgegenstand. Was die sprungartig gestiegene Nachfrage des Kopi Luwak für die Tiere bedeutete, war schlimm. Da die wild gesammelten verdauten Kaffeebohnen nicht mehr ausreichten, um den Bedarf zu decken, wurden die Schleichkatzen nun oft unter schrecklichen Bedingungen in Käfigen gehalten und mit Kaffeebohnen gefüttert. Der Gedanke daran machte Corinne das Herz schwer. So etwas sollte man keinem Tier antun, und sie würde das nie durch den Handel mit einer unter solch schlechten Bedingungen produzierten Ware unterstützen.

Corinne war froh, dass die Jacu Birds hier auf der Farm als freie Kolonie leben durften und nicht Gefahr liefen, eingesperrt zu werden. Um das weiterhin zu gewährleisten, sollte ein solcher Kaffee eine Spezialität bleiben, die von Natur aus begrenzt zur Verfügung stand.

Bei diesen Gedanken musste Corinne unwillkürlich lächeln. Da hatte die Sturheit ihres Vaters doch tatsächlich einmal etwas Gutes, auch wenn es dem Kaffeebaron sicher nicht um Tierschutz, sondern um Wirtschaftlichkeit ging.

Als hätten sie ihre Gedanken gehört, trug der Wind Jacu-Bird-Rufe bis zu Corinne. Die Vögel hatten sich vor der Erntetruppe ins Unterholz zurückgezogen, aber Corinne kannte ihren Klang. Erst gestern hatte Fernando Corinne die Tiere gezeigt. Sie waren leise durch den Wald gegangen und hatten sie beobachtet. Die Jacu Birds waren dunkelgrau bis schwarz, mit einer auffälligen roten Gurgel. Ausgewachsen hatten sie etwa die Größe eines Truthahns, aber Corinne fand sie um einiges hübscher.

Um möglichst viele Tiere bei sich auf der Plantage zu haben, sorgte Fernando für bestmögliche Lebensbedingungen für die Jacu-Bird-Kolonie. Er war stolz, dass die Vögel freiwillig bei ihm lebten und sich augenscheinlich wohlfühlten. Für ihn waren sie überaus wertvolle Mitarbeiter. Und die Tiere dankten es ihm mit vielen gefressenen und wieder ausgeschiedenen Kaffeekirschen. Dabei erwiesen sie sich als große Feinschmecker, was die herausragende Qualität der Bohnen gewährleistete. Für einen Jacu Bird kamen nur perfekt reife Kirschen als Mahl infrage, überreife oder unreife Früchte wurden verschmäht.

Schweren Herzens riss Corinne sich von dem Anblick der Landschaft los und kam mit ihren Gedanken zurück zu ihrer Aufgabe. Sie musste mitarbeiten, dafür war sie schließlich hier, und nicht um mit offenen Augen ihren Tagträumen nachzuhängen. Sie zog das locker gewordene Band aus ihren Haaren und knotete es mit geübten Handgriffen wieder fest.

Mit ihren dunklen Locken und ihrem sonnengebräunten Teint fiel sie unter den Einheimischen kaum auf. Wäre ihr Portugiesisch nicht so holprig, könnte sie direkt als eine von ihnen durchgehen – diese Vorstellung gefiel Corinne. Sie wollte hier nicht als die Tochter des Landverpächters und wichtigsten Ernteabnehmers wahrgenommen werden, sondern den Menschen auf Augenhöhe begegnen, mit ihnen ins Gespräch kommen und so das wahre Leben auf der Plantage kennenlernen.

Mit einem Seufzer auf den Lippen bog sie ihren schmerzenden Rücken durch und rieb sich die zerkratzten Hände – das war der Preis, wenn man dazugehören wollte. Sie seufzte noch einmal, und nahm sich den nächsten Kaffeestrauch vor. Schon seit den frühen Morgenstunden ernteten sie, doch ein Ende war nicht in Sicht. Natürlich hatte sie gewusst, dass die Arbeit der Erntehelfer beschwerlich war, doch zwischen Wissen und eigener Erfahrung bestand ein beträchtlicher Unterschied, davon erzählten ihre inzwischen hoffnungslos übersäuerten Muskeln.

Von Tag zu Tag wuchs Corinnes Hochachtung vor den Arbeitern, die nie müde zu werden schienen und so gelassen die schwere Arbeit bewältigten. Sie kämpfte tapfer, doch Corinne schaffte es nicht, das hohe Tempo mitzuhalten. Obwohl sie regelmäßig Sport machte, fehlte es ihr an Kondition, und auch ihre Geschicklichkeit ließ leider zu wünschen übrig. Damit hatte Corinne nicht gerechnet. Es sah so einfach aus, wenn die Hände der Erntehelfer über die Früchte gingen und sprichwörtlich im Handumdrehen die reifen – und nur die reifen! – Kirschen in deren Korb landeten. Bei ihr ging es nicht nur deutlich langsamer, sondern auch sehr viel unpräziser. Immer wieder streifte sie versehentlich auch unreife Kirschen von den Sträuchern. Diese musste sie dann mühsam aussortieren, denn sie würden die Qualität mindern, und Fernando duldete keine Schlamperei – auch nicht von ihr.

Künftig würde sie nie wieder eine Tasse Kaffee achtlos hinunterkippen, dessen war Corinne sich sicher. Die Arbeit auf der Plantage lehrte sie Respekt.

Trotz dieser Schwierigkeiten war Corinne auch nach den ersten Wochen noch immer vollkommen verzaubert von dem Land und den Menschen. Sie war glücklich, auf der Kaffeeplantage sein zu dürfen, und stolz auf sich selbst, dass sie diese Reise bei ihrem Vater hatte durchsetzen können. Es hatte sie einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, bis sie den Kaffeebaron von der Notwendigkeit dieses Praktikums überzeugt hatte. Aber letztlich waren ihm die Argumente ausgegangen – oder die Lust an den leidigen Debatten, die tagtäglich bereits am Frühstückstisch begannen. Jedenfalls hatte er Corinnes Reise nach Brasilien zugestimmt und ihren Aufenthalt auf der Kaffeeplantage in São Paulo organisiert.

Das Land gehörte den Ahrensbergs, sie hatten die Plantage bereits über Generationen an Fernandos Familie verpachtet und waren selbst der Hauptabnehmer für die Ernte aus dem flacheren Teil der Plantage, der mit Maschinen bearbeitet wurde. Der handgepflückte Kaffee interessierte den Kaffeebaron nicht, den verkaufte Fernando an kleinere Zwischenhändler. Der Jacu-Bird-Kaffee ging direkt an erlesene kleine Röstereien.

Von der ersten Sekunde an hatte Corinne sich wohlgefühlt in Südamerika. Sie liebte die offene Art der Brasilianer. Berührungsängste und förmliche Zurückhaltung gab es hier nicht. Fast alle begegneten ihr mit einem Lächeln und spürbarer Neugier. A alemã – die Deutsche, wurde sie von den meisten genannt, wenn sie über sie sprachen.

Obwohl die Menschen hier auf der Plantage ein viel härteres Leben führten, als Corinne das aus Deutschland gewohnt war, klagten sie nie. Oder Corinne hatte es bislang noch nicht mitbekommen. Es lag ihr viel daran, einen Blick hinter die Kulissen zu erlangen. Sie wollte die Abläufe, aber auch die Menschen besser kennenlernen, mit denen Ahrensberg-Kaffee – also auch sie irgendwann – zusammenarbeitete. Sie brauchte Argumente, wenn sie es schaffen wollte, neuen Wind in das Familienunternehmen zu bringen.

Auch wenn es körperlich und emotional sehr anstrengend war, genoss Corinne jede Sekunde, die sie hier in Brasilien auf der Kaffeeplantage sein konnte. Besonders aber freute sie sich, jetzt bei der Handernte mitmachen zu dürfen. Sie hatte das Gefühl, dem Geheimnis des Kaffees noch nie so nahe gekommen zu sein wie hier, zwischen den Bäumen, mit durchgeschwitzter Kleidung und zerkratzten Unterarmen.

Die letzten Wochen war sie unten in der Ebene gewesen und hatte die maschinelle Ernte kennengelernt. Die ganzen Kirschen wurden direkt nach der Ernte in großen Behältern gewaschen und danach zum Trocknen auf speziellen Matten ausgebreitet. Erst nach dem Trocknen, wenn das Fruchtfleisch eingetrocknet und braun verfärbt war, wurde es samt Pergamenthaut von den Kernen gelöst. Danach wurden die grünen Rohbohnen nach Qualitätsstufen sortiert und weltweit ausgeliefert.

In diesem Teil der Plantage war alles auf Masse und Geschwindigkeit ausgelegt. Corinne hatte sich, auch wenn sie glücklich war, hier sein zu können, etwas verloren gefühlt zwischen all den Maschinen und in der Arbeitshektik. Das alles hatte nicht viel mit ihrer romantischen Vorstellung vom Kaffeeanbau zu tun. Aber es war die Grundlage für die weltweite Versorgung der Menschen mit Kaffee. Und es war der Ausgangspunkt des Erfolges des Kaffeeunternehmens Ahrensberg, das konnte sie nicht von der Hand weisen.

Vielleicht musste die Romantik da zwangsläufig auf der Strecke bleiben. Vielleicht hatte auch ihr Vater recht, und sie war nur eine Träumerin, die irgendwann erwachsen werden musste. Hatte er am Ende deshalb dieser Reise zugestimmt, weil er wusste, dass die Gegebenheiten vor Ort sie ernüchtern würden? Corinne traute es ihrem Vater zu. Es wäre ein kluger Schachzug von ihm gewesen, und dass er ein kluger Mann war, stand für sie außer Frage.

Aber er hatte nicht mit dem anderen Teil der Plantage gerechnet. Nicht damit, dass Corinne am Ende doch noch ihr Kaffeeparadies finden würde. Vermutlich hatte er keine Ahnung, dass es dieses Paradies hier überhaupt gab. Das war für die Firma uninteressant, also kümmerte es ihn nicht. Doch Corinne kümmerte es. Und sie liebte es von ganzem Herzen.

Was für ein Unterschied war es doch zwischen der Kaffeefabrik, wie Corinne die große Plantage in Gedanken nannte, zu dem Anbau hier oben im Wald. Ob sich das wirklich rechnete? Für die Natur auf jeden Fall. Wenn es danach ginge, würde Corinne sich immer für eine gesunde Mischkultur aussprechen – aber es musste auch wirtschaftlich vertretbar sein. Die Qualität musste den hohen Ernteaufwand rechtfertigen, und selbst dann würde es schwierig werden, den Kaffeebaron zu überzeugen.

Corinne ahnte, dass hitzige Debatten notwendig sein würden, um bei ihrem Vater ein Umdenken zu erreichen. Er hielt biologisch-dynamischen Anbau und Handernte für Ideologien verblendeter Träumer. Für ihn zählten nur finanzielle Fakten. Ein möglichst hoher Ertrag mit möglichst wenig Aufwand und dabei ein trinkbares Ergebnis. Darum ging es ihm für das Familienunternehmen, damit war Ahrensberg-Kaffee groß geworden. Für den Kaffeebaron gab es keinen Grund, an dieser Firmenphilosophie etwas zu ändern.

Doch solch ein Denken war längst nicht mehr zeitgemäß, davon war Corinne fest überzeugt. In Zeiten von Klimawandel und Umweltschutz gab es ihrer Meinung nach so etwas wie eine unternehmerische Verantwortung.

Schon als klar war, dass sie für drei Monate nach Brasilien gehen würde, um den Kaffeeanbau von der Pike auf zu lernen, hatte sie deshalb den Plan gefasst, sich nicht nur um den Massenanbau zu kümmern. Es war ihr Glück gewesen, dass Fernando beides hatte. Die große Plantage in Zusammenarbeit mit dem Kaffeebaron und sein kleineres Herzstück, mit dem er sich seinen Traum erfüllte. Auch wenn es ein ziemlich anstrengender Traum war, wie Corinne seit heute klar war. Sie atmete noch einmal durch und betrachtete die vor ihr liegende Plantage mitten im Wald.

Die Kaffeesträucher standen saftig grün zwischen den Bäumen. Die Kirschen wirkten gesund und prall. Den ganzen Vormittag hatten fleißige Hände geschickt nur die reifen Früchte geerntet, sie waren gut vorangekommen. Dennoch lag noch ein gutes Stück Arbeit vor ihnen. Fernando wollte diesen Abschnitt heute beenden.

»Schau nicht so skeptisch. Ich habe die besten Erntehelfer der Region verpflichtet«, erklang nun Fernandos Stimme ein Stück seitlich von Corinne. »Die schaffen das heute.« Der Plantagenchef kam zu ihr hinüber. »Was ist? Bestehst du darauf, hier weiterzumachen, oder bist du bereit, von dem Gold zu kosten, das hier heranwächst?«

»Ich kann es kaum erwarten!«, antwortete Corinne und schenkte Fernando ein dankbares Lächeln. »Es muss einen guten Grund geben, dass du das hier auf dich nimmst.« Sie zögerte kurz, dann schob sie hinterher: »Und einen noch besseren Grund, um den Kaffeebaron zu überzeugen.« Ihr Vater würde ihr den Kopf abreißen, wenn er wüsste, was sie hier trieb. Er ging davon aus, dass Corinne sich ausschließlich auf den Massenanbau und alle damit zusammenhängenden Abläufe konzentrierte.

Fernandos Lachen perlte warm zu ihr hinüber. »Ich glaube, das ist immer wieder die Aufgabe der neuen Generation – die Alten von Neuerungen überzeugen. Mein Vater wollte den Wald roden und auch hier oben eine maschinenzugängliche Plantage aufbauen. Wir haben nächtelang diskutiert.«

»Was für ein Glück, dass du dich durchgesetzt hast«, antwortete Corinne.

»Glück ist relativ«, kam es von Fernando zurück. »Er ist gestorben, bevor er seine Pläne umsetzen konnte. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn hätte aufhalten können.«

Mitfühlend legte Corinne ihre Hand auf Fernandos Schulter. »Das tut mir leid«, sagte sie leise und ärgerte sich über ihre unbedachte Bemerkung.

»Schon gut. Das konntest du ja nicht wissen, und es ist lange her. Aber das war der Grund, weshalb ich bereits mit Anfang zwanzig, noch vor dem Ende meines Studiums, die Pacht übernommen habe. Ursprünglich wollte ich ein Jahr nach Deutschland, studieren und den Kaffeehandel von der anderen Seite kennenlernen. Aber das Leben schert sich nicht um Pläne.«

So wie ich, dachte Corinne, wir wollten beide die andere Seite des Geschäfts kennenlernen. Nur war es bei Fernando bei dem Wunsch geblieben. Wieder wurde ihr bewusst, wie dankbar sie für ihre Möglichkeiten sein musste.

»Wie wäre es denn, wenn du nach der Ernte für ein paar Wochen zu uns nach Deutschland kämest?«, fragte sie spontan.

»Wer weiß«, Fernando zwinkerte ihr zu. »Eines Tages packe ich vielleicht tatsächlich meine beiden Frauen, und wir erfüllen uns diesen Traum.«

»Eine Unterkunft ist euch gewiss«, versicherte Corinne. »In der Villa Ahrensberg ist genug Platz, und liebe Menschen sind uns herzlich willkommen.«

»Ob der Kaffeebaron das auch so sieht?« Fernandos Miene blieb skeptisch. Corinne wusste, weshalb, und sie wusste, dass er recht hatte. Ihr Vater hatte Fernando und die anderen Kaffeebauern nie auf Augenhöhe behandelt. Er war fair, aber hart, und er ließ keinen Zweifel, dass er sich aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke überlegen fühlte.

Aber die Villa war auch Corinnes Zuhause. Sie würde dafür sorgen, dass ihre Freunde, als solche betrachtete sie Fernando und dessen Familie, sich willkommen fühlten.

»Genug geträumt«, schwenkte Fernando von den Zukunftsideen weg. »Komm! Luciana wartet auf uns, und ich werde dir den ersten Vogelkaffee deines Lebens zubereiten. Du wirst staunen.«

Corinne lehnte den Kopf gegen die Holzwand des Hauses, vor dem sie zusammen mit Luciana saß. Die Sonne stand inzwischen hoch und wärmte ihr Gesicht. Von drinnen drang Fernandos zufriedenes Summen und das Klappern der Tassen zu ihnen hinaus. Ein sanfter Windhauch trug Kaffeearoma zu ihnen, Corinne hob schnuppernd die Nase. Da kam auch schon Fernando heraus und hielt ihr eine Tasse hin.

»Koste und sage mir, ob er die Rückenschmerzen und den Muskelkater wert ist«, forderte der Brasilianer sie auf.

»Obrigado, Fernando«, dankte Corinne und nahm ihm die Tasse aus den Händen.

Auch Luciana bekam eine Tasse des Luxuskaffees und bedankte sich mit einem Kuss bei ihrem Mann. Baby Katalina schlief in der Wiege neben Luciana und nuckelte im Traum an ihrer kleinen Faust.

Neugierig beugte Corinne sich über ihre Tasse und erschnupperte das Aroma des Kaffees. Das also war er, der Jacu-Bird-Kaffee. »Wie hast du ihn geröstet?«, fragte Corinne. »Sehr dunkel?«

Fernando schüttelte verneinend den Kopf. Er stand auf, ging ins Haus und kam gleich darauf mit einer kleinen Keramikdose zurück. Als er vor Corinne stand, hob er den Deckel. »Hier, sieh selbst, er ist ziemlich hell. Ich habe den Röstvorgang fast unmittelbar nach dem ersten Crack unterbrochen. Durch die Fermentation im Vogelmagen verändert der Kaffee seine Zusammensetzung. Er verliert Bitterstoffe und muss vorsichtig geröstet werden, um sein volles Aroma zu entfalten. Also, was sagst du?« Er zuckte mit seinem Kinn in Richtung der Kaffeetasse in Corinnes Händen.

Sie nahm einen ersten Schluck und spürte den Aromen nach. Ein zweiter Schluck folgte. Corinne hatte die Augen geschlossen, um sich ganz auf ihr Geschmacksempfinden konzentrieren zu können.

»Wow«, hauchte sie, öffnete ihre Augen und sah Fernando an. »So einen Kaffee habe ich wirklich noch nicht gekostet. Er ist so unglaublich mild und hat trotzdem kräftige Aromen. Ich schmecke Frucht, Trockenobst, und eine deutliche süße Note, Anis würde ich sagen.«

Fernando strahlte. »Du bist gut«, lobte er Corinnes Aromenanalyse. »Mach weiter«, forderte er sie auf.

Corinne nahm einen dritten Schluck und spürte dem Mundgefühl nach, das der Kaffee auslöste. »Er ist leicht sämig, aber nicht zu schwer. Das Aroma hält lange an. Fantastisch! Fernando, jetzt hast du mich überzeugt. Dieser Kaffee ist jeden schmerzenden Muskel wert. Wie schade, dass ich den nicht unseren Kunden anbieten kann.«

»Zum Glück ist der Absatz kein Problem«, erzählte Fernando, der sich inzwischen auch gesetzt hatte. »Wir könnten jetzt schon mehr verkaufen, als wir produzieren. Nur die Bürokratie macht mir Kopfschmerzen. Und die hohen Transportkosten. Das ist der Preis, wenn man direkt vermarktet und mit kleinen Röstereien zusammenarbeitet. Aber ich bin dennoch sehr zufrieden, es gibt mir ein Stück Freiheit.«

Corinne sah den Stolz in der Miene des Mannes und freute sich mit ihm. Gerade als sie ihn fragen wollte, ob er ihr vor ihrer Abreise ein Kilo verkaufen würde, klingelte das Telefon. Fernando entschuldigte sich und nahm das Gespräch an. Nach einem kurzen Austausch reichte er den Hörer an Corinne weiter. »Dein Bruder«, sagte er.

Alexander? Aber weshalb rief er auf dem Festnetz an und nicht auf ihrem Handy? Im nächsten Moment fiel Corinne ein, dass das Handy ausgeschaltet in ihrem Zimmer lag.

»Alexander?«, meldete sie sich und sie spürte, dass ihr Herz schneller schlug. Ein Anruf ihres Bruders war ungewöhnlich.

»Corinne, du musst umgehend nach Deutschland kommen. Der Kaffeebaron …«

»Papa?«, rief sie und sprang auf. Katalina begann zu weinen, Corinnes Ausruf hatte sie geweckt. Luciana nahm das Baby auf den Arm und wiegte es beruhigend.

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung dehnte sich aus, bis Corinnes Geduldsfaden riss. »Jetzt rede schon, Alexander. Was ist mit unserem Vater?«

»Er hatte einen Schlaganfall. Corinne … komm schnell, bitte. Ich glaube, es sieht nicht gut aus.«

Kapitel 2
Auf dem Heimweg

Aachen • Oche • Aix-la-Chapelle • Aken • Aquae Granni

Gegenwart: Oktober

Ungeduldig warf Corinne einen Blick aus dem kleinen Fenster neben ihrem Sitz. Sie trank den letzten Schluck ihres Tomatensaftes und verzog das Gesicht. Was würde sie jetzt für eine gute Tasse Kaffee geben – aber darauf musste sie warten, bis sie in Aachen war. Sie freute sich jetzt schon auf einen Besuch im Café Emotion. Was in Flugzeugen als Kaffee ausgeschenkt wurde, hatte so gar nichts mit Genuss zu tun, darauf verzichtete sie lieber.

Hinter Corinnes Stirn pochte es schmerzhaft, ihre Augen brannten. Sie war vollkommen übermüdet, und dennoch hatte sie es während des gesamten Flugs nicht geschafft, länger als immer wieder ein paar Minuten zu schlafen. Kaum war sie eingenickt, schreckte sie auch schon wieder hoch. Sofort waren ihre Gedanken in Aachen, bei ihrem Vater. Hoffentlich kam sie rechtzeitig. Hoffentlich ging es ihm schon besser. Hoffentlich war alles viel weniger schlimm, als Alexander es geschildert hatte. Hoffentlich!

Seit ihrer übereilten Abreise hatte sie keine neuen Nachrichten aus Deutschland bekommen. Sie hatte es mehrfach versucht, aber niemanden erreicht. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken seit Stunden nur um dieses »Hoffentlich«.

Gerade flog der Pilot eine Kurve. Der linke Flugzeugflügel senkte sich, und Corinne konnte sehr weit unten die ersten Häuser als kleine Punkte erspähen. In ein paar Minuten würden sie zum Landeanflug ansetzen. Allein dieses Wissen genügte, um Corinnes Puls ungut zu beschleunigen. Schlagartig wurden ihre Hände feucht und der Mund staubtrocken.

Es war immer das gleiche Spiel. Corinne kannte das schon und versuchte sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, um damit die vibrierenden Nerven zu beruhigen. In Gedanken spazierte sie durch den brasilianischen Regenwald, erntete Kaffee und sammelte Jacu-Bird-Kot. Das lenkte sie kurzfristig ab, doch die Stimme des Kapitäns, die nun aus den Lautsprechern schepperte, holte sie unsanft in die Wirklichkeit zurück.

»Verehrte Fluggäste, wir beginnen nun mit dem Landeanflug auf Düsseldorf. Bitte bringen Sie Ihren Sitz in eine aufrechte Position und klappen Sie Ihre Vordertische hoch. Das Wetter in Düsseldorf ist überwiegend sonnig bei angenehmen 16 Grad. Ich bedanke mich für Ihr Vertrauen in mich und meine Crew und in die Brazil Airwings. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt oder eine angenehme Weiterreise. Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein und bleiben Sie angeschnallt, bis das Anschnallzeichen über Ihren Köpfen erloschen ist. Auf Wiedersehen und good bye.«

Wie immer bei Ankündigung der Landung, stellten sich Corinnes Härchen auf den Unterarmen senkrecht, während sie die Finger so fest sie konnte in die Armlehne krallte. Der erste Bodenkontakt ging ihr durch und durch, ihr Magen krampfte sich zusammen. Am liebsten hätte sie den Kopf in den Schoß gelegt und sich mit den Armen geschützt, doch sie blieb tapfer gerade sitzen. Das Lächeln auf ihren Lippen war eingefroren, wer ihr jetzt in die Augen blickte, würde blanke Todesangst entdecken. Sie warf einen kurzen Blick zur Seite. Wie konnte ihr Sitznachbar nur so entspannt vor sich hinsummen, während sich in Corinnes Kopf die schlimmsten Szenarien abspielten?

Als die Räder der Maschine endgültig auf dem Rollfeld aufgesetzt hatten und das Flugzeug langsam ausrollte, blies Corinne erleichtert den Atem aus, den sie zwischenzeitlich, ohne es zu merken, angehalten hatte. Sie löste die um die Armlehne gekrampften Finger und spürte, wie das Blut wieder zirkulieren konnte. Sie hatte überlebt!

Jetzt konnte sie auch wieder lächeln und amüsiert den Kopf über sich selbst schütteln. Diese Panik bei Landungen war wirklich albern. Corinnes Verstand wusste das, leider schaffte sie es nicht, es auch ihrer Seele zu vermitteln.

Dabei liebte sie es, zu fliegen. Besonders Starts lösten richtiggehend Glücksgefühle in ihr aus. Wenn sie in den Sitz gedrückt wurde und die enorme Kraft spürte, die dabei auf sie wirkte, brandete eine unbändige Freude in ihr auf. In dieser Phase eines Flugs musste sie immer ein Juchzen unterdrücken, denn es hatte etwas von Neubeginn. Das sprichwörtliche Durchstarten wurde in solchen Momenten körperlich greifbar, und Corinne genoss das freudige Prickeln, das sie erfasste.

Bei den Landungen hingegen war es jedes Mal ein Drama.

Wie gut, dass Alexander jetzt nicht neben ihr saß. Er hätte sich nur über sie lustig gemacht – ältere Brüder konnten wirklich fies sein, selbst, wenn sie eigentlich schon erwachsen waren.

Ihre Landungspanik hatte sie für einen kurzen Moment von dem Anlass ihrer Reise abgelenkt. Mit der nun folgenden Entspannung schob sich die dunkle Wolke jedoch wieder mit Macht in ihr Bewusstsein. Hoffentlich! Da war es wieder, das Wort, das sie seit Stunden umtrieb.

Normalerweise genoss Corinne es, sitzen zu bleiben und in Ruhe abzuwarten, bis der Trubel weniger wurde. Diese Minuten gaben ihr auch immer Gelegenheit, sich nach dem Landungsstress in Ruhe zu sammeln. Nicht so an diesem Abend. Ungeduldig sprang sie schon Sekunden bevor das Fasten-Seatbelts-Schild erlosch auf und zerrte ihre Reisetasche aus der Ablage. Sie hatte nur das Nötigste eingepackt, ihren Koffer würde Fernando ihr nachschicken.

Mit vielen Entschuldigungen und einigen Remplern zwängte Corinne sich durch die Menge der Reisenden, die allesamt im Aufbruch waren, und erreichte als eine der Ersten den Ausgang. Sie steuerte auf den Mietwagenverleih zu und stürmte kurz darauf mit den Papieren und dem Autoschlüssel in der Hand weiter. Als sie im Slalom um die vielen Menschen herum die Gänge des Flughafens entlanghastete, klingelte ihr Handy. Endlich!

»Alexander, wie geht es Papa?«, rief sie, kaum, dass sie den Anruf angenommen hatte. Sie drückte das Telefon fest an ihr rechtes Ohr, und mit dem Zeigefinger gegen ihr linkes, um das Rauschen, das um sie herumwaberte, auszublenden.

»Unverändert«, antwortete ihr Bruder. Er klang erschöpft. »Sie haben ihn in ein künstliches Koma gelegt. Ich habe Mama nach Hause gebracht, damit sie sich etwas ausruhen kann. Wo bist du?«

»Gerade gelandet«, antwortete Corinne. Sie hatte die Haltestation des SkyTrains erreicht und stellte sich zu den Wartenden. »In einer guten Stunde bin ich da. Wo liegt er? In der Uniklinik? Treffen wir uns dort?«

»Komm nach Hause, Corinne. Es ist schon spät, sie lassen dich jetzt sicher nicht zu ihm.«

Spät? Corinne hatte überhaupt kein Zeitgefühl. Der Blick auf ihre Armbanduhr, die sich dank Funkübertragung der neuen Zeitzone bereits angepasst hatte, bestätigte Alexanders Worte. Es war schon fast zehn Uhr. Wirklich keine gute Zeit für einen Krankenbesuch. »In Ordnung. Ich beeile mich.«

Als sie endlich in die Auffahrt zur Villa einbog, strahlte das Haus ihr hell erleuchtet entgegen. Warm und behaglich wirkte es. Kaum vorstellbar, dass die Bewohner nicht gemütlich beieinandersaßen und den Abend genossen, sondern aufgewühlt und voller Sorgen waren. Gleich würde sie erfahren, wie es um ihren Vater stand. Gleich konnte sie ihre Ängste mit ihrer Familie teilen, gemeinsam würden sie das durchstehen, dessen war sie sicher.

Vor Erleichterung stiegen Corinne Tränen in die Augen. Sie hatte zwischendurch gezweifelt, ob sie die Strecke bis nach Hause überhaupt schaffen würde oder ob sie doch besser das Auto stehen lassen und sich ein Taxi nehmen sollte. Auch Sebastian anzurufen wäre eine Option gewesen. Ihr bester Freund seit dem Kindergarten hätte sich ganz sicher sofort ins Auto gesetzt und sie aufgelesen. Aber dann hätte sie sich am nächsten Tag um den abgestellten Leihwagen kümmern müssen oder jemanden bitten, das für sie zu übernehmen.

Allein die Überlegungen, wie sie das organisieren könnte, hatten sie schon überfordert. Sie hatte ja keine Ahnung, was sie zu Hause erwartete. Also hatte sie gekämpft und sich verbissen wachgehalten. Sie hatte laut gesungen und Grimassen geschnitten, alles nur um ja nicht hinter dem Steuer einzuschlafen.

Die Räder rutschten ein Stück über den Kies, als Corinne vor der Eingangstreppe scharf bremste. Sie zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und sprang beinahe gleichzeitig schon aus ihrem Wagen. Die Eingangstür öffnete sich, als Corinne, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch stürmte. Ihr Bruder stand mit ernster Miene im Portal.

»Hallo, Alexander. Wie steht es?« Corinne umarmte Alexander kurz und suchte dann seinen Blick. Sie hätte sich gern einen Moment in seine Arme geschmiegt, aber das Verhältnis zwischen ihnen, das früher so innig gewesen war, ließ das heute nicht mehr zu. Alexander hatte sich stark von Corinne und seiner Familie distanziert und sich ein eigenes Leben aufgebaut. Auch wenn ihn die jetzige Situation ganz offensichtlich mitnahm.

»Er lebt«, beruhigte ihr Bruder sie. Er zuckte mit den Schultern. Seine Stimme klang kraftlos. Müde sah er aus. Unter seinen Augen zeigten sich dunkle Schatten, und seine Frisur, auf die er normalerweise sehr viel Wert legte, war verstrubbelt. »Lass uns drinnen sprechen. Mama ist im Kaminzimmer.«

Kaum hatte er den Satz beendet, rannte Corinne auch schon los, an der breiten geschwungenen Treppe in der Eingangshalle vorbei zum zweiten Raum rechter Hand. Ungeduldig stieß sie die Tür auf und trat eilig ein.

»Mama!« Mit wenigen Schritten war Corinne bei ihrer Mutter, zog sie aus dem Ohrensessel und umarmte sie fest. Wie klein und schwach sie sich anfühlte, dabei war Esther Ahrensberg die stärkste Frau, die Corinne kannte. Obwohl sie diesen Sommer ihren sechzigsten Geburtstag gefeiert hatte, sprühte die Frau des Kaffeebarons normalerweise nur so vor Energie. Sie lachte gern und viel, liebte das Leben und bildete im Haus das Gegengewicht zur strengen Haltung ihres Mannes. Im Moment war von dieser Kraft allerdings nichts zu spüren. Müde lehnte Corinnes Mutter ihr Gesicht an die Schulter ihrer Tochter.

»Gut, dass du da bist, Löckchen.«

»Das ist doch wohl klar.« Normalerweise mochte Corinne es nicht, wenn ihre Mutter sie mit diesem Kosenamen aus ihrer Kindheit ansprach, doch im Moment war das unwichtig. Sie schob Esther auf den Sessel zurück und setzte sich selbst ihr gegenüber. Alexander legte zwei Scheite Holz nach. Bevor er sich zu ihnen setzte, fragte er: »Soll ich Klara rufen? Hast du Hunger?«

Fast gleichzeitig sagte ihre Mutter: »Du musst vollkommen erschöpft sein, Liebes. Konntest du im Flugzeug etwas schlafen?« Esther warf ihrer Tochter einen besorgten Blick zu.

Doch Corinne wehrte ab. Es war doch wirklich vollkommen unwichtig, ob sie genug Schlaf bekommen hatte, und der Hunger – den sie tatsächlich hatte – konnte auch warten. Auf Klara, die Haushälterin, war Verlass. Sicher hatte sie dafür gesorgt, dass Corinne nachher im Kühlschrank etwas zu essen finden würde. Vermutlich stand eine extra Portion Oma Lilo Bavaroise für sie bereit. Klara liebte es, »ihr Kindchen«, das Corinne für sie noch immer war, zu verwöhnen. Und Corinne liebte die Kaffeecreme, deren Rezept seit Generationen in der Familie gehütet wurde und der Überlieferung nach von ihrer Ururgroßmutter Lilo stammte. Aber bevor sie etwas essen konnte, brauchte sie Fakten.

»Erst einmal möchte ich wissen, was passiert ist und wie es Papa geht«, sagte Corinne deshalb in einem sehr bestimmten Tonfall.

Zusätzlich zu dem Licht des Kaminfeuers brannten auch die zwei Stehlampen und hüllten den Raum samt der gemütlichen Sitzgruppe in ihr warmes Licht. Corinnes Mutter hatte unverkennbar ein Händchen für Inneneinrichtung. Vor dem Kamin hatte sie einladend mehrere Sessel mit dunkelroter Polsterung und kleine Beistelltische mit geschwungenen Füßen aus Gusseisen und Platten aus Kirschholz arrangiert. Die Behaglichkeit dieser Szenerie stand in krassem Gegensatz zu Corinnes aufgewühltem Inneren.

Auf dem kleinen Tisch neben ihr standen eine Karaffe Zitronenwasser und Gläser bereit, Corinne goss sich ein. Gierig trank sie ein paar große Schlucke, während sie darauf wartete, dass ihre Mutter oder Alexander endlich das Wort ergriffen.

»Dein Vater hatte einen Schlaganfall«, erklärte ihre Mutter – allerdings erzählte sie damit nichts Neues, was Corinne ein leises ungeduldiges Schnauben entlockte.

»Und er hat ein Hirntrauma«, ergänzte Alexander, bevor Corinne nachhaken konnte. »Wie es aussieht, ist er wohl einfach so umgekippt und muss dabei sehr unglücklich mit dem Kopf gegen die Schreibtischkante geknallt sein. Dabei war nur Minuten vorher alles ganz normal. Beatrice meinte, er habe sich Kopfschmerztabletten von ihr geben lassen, aber das ist ja nun auch nichts Besonderes, oder? Ich meine, nur weil jemand Kopfschmerzen hat, denkt man doch nicht gleich an so etwas Schlimmes?« Alexander beugte sich nach vorn und fuhr sich mit den Händen durch die kurzen hellbraunen Haare.

»War jemand bei ihm?«, fragte Corinne. »Wurde er schnell versorgt?«

»Wir hatten kurz vorher eine Diskussion über den richtigen Führungsstil, du weißt schon, das Übliche eben. Ich war wütend und habe das Gespräch abgebrochen. Als es passiert ist, war ich in meinem Büro. Beatrice saß im Vorzimmer an ihrem Schreibtisch. Sie hat es poltern hören und ist zum Glück gleich rüber, um nachzusehen. Sie hat Vater am Boden liegend gefunden – ohnmächtig und blutend. Natürlich hat sie sofort Alarm geschlagen und erste Hilfe geleistet.« Zornig schlug ihr Bruder mit der flachen Hand auf die Sessellehne. »Wäre ich doch nur ein paar Minuten später gegangen. Vielleicht hätte ich ihn auffangen können. Aber ich war so sauer …« Alexander barg sein Gesicht in den Händen und verharrte in dieser Position.

»Alexander«, mischte sich nun ihre Mutter ein und legte ihrem Sohn die Hand auf die Schulter. »Der Streit hat nichts damit zu tun. Und selbst wenn du im Raum gewesen wärst, wie hättest du so schnell reagieren sollen? Hör auf, dich verrückt zu machen. Du hast gehört, was der Arzt gesagt hat, niemand hätte das vorhersehen oder verhindern können.«

Alexander hob den Kopf. Er blickte in das lodernde Kaminfeuer, und Corinne konnte sehen, dass Tränen in seinen Augen glitzerten. In diesem Moment war von der Distanz, um die Alexander sich immer bemühte, nichts zu spüren.

»Ich weiß«, sagte er nach einer Weile. »Natürlich weiß ich es. Aber ich will nicht, dass die letzte Erinnerung an meinen Vater ein Streit ist.« Jetzt knetete er seine Hände. Seine Stimme zitterte, als er weitersprach. »Es war noch nie leicht mit uns, aber so darf es nicht enden. Nicht so, bitte nicht.«

»Und so wird es auch nicht enden«, warf Corinne sehr bestimmt ein. Sie verlor langsam die Geduld. Sie war nicht um die halbe Welt gejagt, um nun hier mit ihrer Familie schwarzzumalen. Sie wollte sich an die Hoffnung klammern und gar keinen anderen Gedanken zulassen. »Was soll denn das? Papa lebt. Wenn ich euch richtig verstanden habe, wurde er schnell versorgt. Das ist bei einem Schlaganfall doch ein sehr entscheidender Faktor, oder? Papa kommt wieder auf die Beine, das wäre doch gelacht.« Sie zitterte. Bitte Papa, mach, dass ich recht habe, mach, dass du schnell wieder gesund bist, flehte sie in Gedanken.

Ihre Mutter lächelte ihr kurz zu, doch sie stimmte nicht in Corinnes Optimismus ein. »Wir hoffen es, Liebling, aber um ehrlich zu sein, der Arzt wirkte bei unserem Gespräch nicht sehr zuversichtlich. Niemand weiß, wie stark sein Gehirn geschädigt wurde. Besonders schwierig ist die Situation durch das doppelte Problem – einerseits der Schlaganfall und andererseits das Trauma durch den Sturz. Sie haben ihn in ein künstliches Koma gelegt, damit er sich erholen kann. Wir müssen abwarten.«

»Es gibt Hoffnung«, beharrte Corinne aufgebracht. »Das zählt.« Die Vorstellung, dass ihr Vater sterben könnte, raubte ihr den Atem. Egal wie schwierig er manchmal war, sie liebte ihn. Ohne ihn ging es nicht. Auf keinen Fall!

»Ja, das zählt«, stimmte ihre Mutter ihr zu.

»Trotzdem ist die Lage kritisch, wir dürfen uns nichts vormachen«, sagte Alexander. »Und ganz egal, wie es sich entwickelt, auf jeden Fall wird Vater lange ausfallen.«

Esther Ahrensberg wirkte sehr gefasst. Sie atmete tief ein und aus und drückte das Kreuz durch. Corinne beobachtete, wie ihre Mutter die Schwäche, die Corinne bei der Begrüßung gespürt hatte, energisch wegschob und ihre gewohnte Haltung wiederfand. Jetzt sah sie ihre Kinder ernst an. Erst Alexander, dann Corinne. »Wir müssen dafür sorgen, dass alles geregelt weiterläuft. Wir haben die Verantwortung für die Firma und für die Mitarbeiter. Ihr beide müsst für Eberhard einspringen. Ihr müsst kommissarisch die Firmenleitung übernehmen, bis euer Vater es wieder selbst kann.«

»Es ist doch selbstverständlich, dass ich einspringe«, beeilte sich Alexander, seine Mutter zu beruhigen. »Immerhin bin ich schon eine Weile in der Firma und kenne die Abläufe und Anforderungen. Corinne ist noch nicht so weit, aber das ist kein Problem, ich bin ja da.«

»Spinnst du?«, fuhr Corinne ihren Bruder etwas heftiger an als geplant. Der Ärger über Alexanders ständige Hochnäsigkeit ihr gegenüber und die Angst um ihren Vater entluden sich in diesem Moment wie ein gewaltiges Unwetter.

Was fiel ihrem Bruder nur ein? Und das ausgerechnet jetzt, in dieser Situation. Außerdem – nur weil sie das Nesthäkchen war, musste er sich nicht aufspielen wie der Platzhirsch. Früher war Alexander gern mit ihr zusammen gewesen, sie wusste nicht, weshalb er sie so sehr aus seinem Leben ausgeschlossen hatte, aber aus dem Familienunternehmen würde er sie nicht drängen. Außerdem war sie es ihrem Vater schuldig, dass sie sich auch einbrachte. »Selbstverständlich springe ich ebenfalls ein. Nach dem Praktikum bei Fernando wäre ich ohnehin in die Firma gekommen, jetzt beginne ich eben etwas früher.«

»Und gleich in der Chefetage, statt erst einmal die Abläufe kennenzulernen, wie es geplant war?« Alexander zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Stell dir das mal nicht zu einfach vor, Löckchen. Das ist ein beinhartes Geschäft. Die Konkurrenz schläft nicht.«

»Ich stelle mir nichts einfach vor, und hör auf, mich Löckchen zu nennen, wenn überhaupt, dann ist das Mama vorbehalten. Mein Name ist Corinne. Wir werden Papa gemeinsam vertreten und die Firma führen. Genau so, wie Mama es gesagt hat.« Corinne blitzte ihren Bruder wütend an. Das würde ihm so passen, den Chef zu spielen und sie Botengänge machen zu lassen. Aber da hatte er sich geschnitten. Sie ärgerte sich, dass er keinen Spitznamen hatte, mit dem sie kontern konnte. Ihre Mutter hatte ihn immer nur »mein Großer« genannt – das käme ihm gerade recht, wenn Corinne das übernehmen würde.

Gleichzeitig spürte sie einen schmerzhaften Stich. Alexander war so unnahbar, ganz anders als früher. Sie vermisste den liebevollen großen Bruder, der er während ihrer Kindheit für sie gewesen war. Sie beide waren sich trotz der sieben Jahre Altersunterschied immer sehr nah gewesen. Alexander hatte seine kleine Schwester vergöttert. Wann genau hatte er diese Mauer aus Distanziertheit um sich herum eigentlich errichtet? Corinne konnte es nicht genau sagen – es war ein schleichender Prozess gewesen.

Irgendwo auf seinem Weg von der Kindheit zum Erwachsensein hatten sie ihre innere Verbindung verloren. Sie gingen zwar höflich miteinander um, aber sie waren sich nicht mehr vertraut. Und jetzt versuchte er sie sogar ganz offen auszugrenzen. Corinne konnte es kaum fassen. Und sie war unfassbar traurig, die Angst um ihren Vater, der Jetlag und jetzt auch noch Alexanders Kampfansage – das war alles etwas zu viel für sie. Mühsam kämpfte sie gegen die Tränen an, die in ihre Augen drängten. Sie durfte jetzt nicht weinen, sie musste beweisen, dass sie stark war.

»Ihr seid die Kinder eures Vaters«, seufzte Esther. »Das könnt ihr wirklich nicht leugnen. Aber hört mal, ihr beiden, ich erwarte von euch, dass ihr euch vertragt. Geschwisterstreitereien dulde ich nicht, verstanden? Das heißt für euch: Alle Entscheidungen werden gleichberechtigt gefällt. Könnt ihr euch einigen, ist alles in Ordnung, dann lasse ich euch freie Hand. Falls es Probleme gibt, müsst ihr mich hinzuziehen. Ich halte die Anteile eures Vaters. Alles klar?« Ihre Mutter sah erst Corinne, dann Alexander fest in die Augen, bis beide ihrer Vorgabe mit einem Nicken zustimmten. Zufrieden nickte auch Esther. »Gut. Dann ist fürs Erste alles besprochen. Ich werde jetzt schlafen gehen. Morgen möchte ich gleich früh ins Krankenhaus, um zu sehen, wie es eurem Vater geht. Gute Nacht, Alexander. Gute Nacht, Löckchen.« Sie gab jedem einen Kuss, schenkte ihnen ein kurzes Lächeln und ging dann mit müden Schritten aus dem Raum.

Corinne sah ihrer Mutter hinterher. Es war wirklich erstaunlich, gerade vorhin hatte sie doch gedacht, wie klein und verletzlich sie wirkte, doch Esther Ahrensberg behauptete sich nicht umsonst seit Jahrzehnten an der Seite des Kaffeebarons. Wenn es darauf ankam, hatte Corinnes Mutter eine Stärke, die manch anderen in die Knie zwang.

Alexander schien es ähnlich zu empfinden, denn er grinste Corinne schief an. »Fast wie früher, wenn sie uns bei einem Streich erwischt hat und uns eine Standpauke hielt, oder?«

»Mama ist wirklich etwas Besonderes«, stimmte Corinne Alexander zu. Wie er sie so schelmisch ansah, fühlte es sich für einen Moment tatsächlich fast an wie früher – damals, als sie einander noch nahe gewesen waren. Doch diese Verbundenheit gab es nicht mehr, darüber konnte auch dieser kurze Augenblick der Nähe nicht hinwegtäuschen, das hatte Alexander ihr gerade eben sehr deutlich vor Augen geführt.

Sie saßen eine Weile schweigend in ihren Sesseln und sahen dem Feuer zu, wie es um die Holzscheite züngelte. Alexander hatte beschlossen, die Nacht in der Villa zu bleiben, das kam nicht mehr sehr oft vor, seit er eine eigene Wohnung am Rand der Innenstadt hatte. Er hatte sich einen Whisky eingegossen und auch Corinne davon angeboten. Doch sie hatte mit einem kurzen Kopfschütteln abgelehnt. Vermutlich würde schon der erste Schluck sie umhauen, so übermüdet und hungrig wie sie war. Der Jetlag und die Aufregung hatten Corinne im Griff. Obwohl sie so lange nicht richtig geschlafen hatte, fühlte sie sich wie elektrisiert.

Sie würde zusammen mit ihrem Bruder Ahrensberg Kaffee leiten. Das war eine enorme Verantwortung, dessen war sie sich bewusst, es war aber auch eine ungeahnte Chance. Vater würde sicher einige Wochen, vielleicht sogar länger, ausfallen. Sie konnte die Zeit nutzen, um sich einzuarbeiten und ihrem Bruder, aber auch ihren Eltern zu zeigen, dass sie das Zeug dazu hatte. Endlich würde sie dazugehören und hätte ein Mitspracherecht. Sie hatte so viele Ideen, die die Firma modernisieren und zu ihrer Weiterentwicklung beitragen könnten. Viele Strukturen waren doch reichlich antiquiert, der Kaffeebaron hatte sich immer gegen jede Neuerung gewehrt. Tradition ist verlässlich – das war von jeher sein Leitspruch gewesen.

Corinne hatte schon während ihres Studiums oft mit ihm diskutiert. Wenn ihr Großvater nur den Traditionen verhaftet gewesen wäre, gäbe es Ahrensberg Kaffee vermutlich gar nicht, hatte sie stets argumentiert, war jedoch gegen den unbeugsamen Willen ihres Vaters nie angekommen.

Corinne hatte ihren Großvater geliebt und vermisste ihn bis heute schmerzlich. Und es stimmte, hätte Eberhard Ahrensberg nicht immer wieder den Mut zu Neuerungen und Änderungen aufgebracht, wäre die Familienfirma nie so weit gekommen. Er hatte dafür gesorgt, dass Ahrensberg Kaffee ein Weltunternehmen wurde, in Deutschland sogar Marktführer. Doch diese Vormachtstellung war nicht in Stein gemeißelt, man musste mit der Zeit gehen – genau das, womit der Kaffeebaron sich entsetzlich schwertat.

Die Ideen wirbelten wild in Corinnes Kopf herum. Sie fühlte sich energiegeladen. Am liebsten hätte sie direkt losgelegt.

»Wir müssen das zusammen hinkriegen«, unterbrach Alexander Corinnes Gedanken. »Wir müssen Papa zeigen, dass wir das können. Und wir müssen dafür sorgen, dass er stolz auf uns ist.«

Erstaunt sah Corinne auf. Das waren ja ganz neue Töne.

»Wir werden Ahrensberg Kaffee voranbringen«, antwortete sie.

»Und zwar genau so, wie unser Vater das von mir erwartet. Es läuft alles stabil und zuverlässig, und ich werde dafür sorgen, dass das auch so bleibt«, ergänzte Alexander.

Corinne unterdrückte den Impuls, ihrem Bruder das restliche Zitronenwasser ins Gesicht zu schütten. Er hatte wieder nur von sich gesprochen. Sollte er ruhig erst einmal glauben, er habe die Zügel in der Hand. Sie würde ihn sehr schnell eines Besseren belehren und ihm zeigen, dass sie ihren Platz in der Geschäftsführung ebenso verdiente wie er.

Um nicht doch noch die Contenance zu verlieren, ergriff Corinne die Flucht.

»Ich gehe schlafen«, sagte sie deshalb nur, stand auf und stellte ihr halbvolles Wasserglas mit leisem Klirren auf den kleinen Tisch zurück. »Gute Nacht.«

Diesen Kampf würden sie in der Firma ausfechten, nicht hier und jetzt, völlig übermüdet und überrumpelt von der Situation.

Kapitel 3
Sicherheitstruppe

Euweiler • Euwiller

März 1943

Es dämmerte bereits. Nicht mehr lange und die Nacht würde sich über die Welt senken. Höchste Zeit für Eberhard, nach Hause zu kommen, wenn er keinen Ärger riskieren wollte. So spät hatte es eigentlich gar nicht werden sollen, er wusste ja, dass Jugendliche sich bei Dunkelheit nicht auf den Straßen tummeln sollten. Das wurde nicht gern gesehen, und normalerweise hielt Eberhard sich daran.

Kaum hatte er das gedacht, hörte er auch schon das verhasste scheppernde Lachen, das ihm augenblicklich die Haare zu Berge stehen ließ. Ausgerechnet jetzt mussten sie hier entlangkommen! Bevor die gefürchtete Truppe um die Ecke bog, konnte Eberhard sich eilig hinter der hohen Buchenhecke des nächsten Hauses in Sicherheit bringen.

Was für ein Glück, dass es überall diese Windschutzhecken gab. Kurz dachte er daran, wie oft er sich schon über den verhassten Eifler Wind geärgert hatte, jetzt war Eberhard dankbar. Alles ist für etwas gut, pflegte seine Mutter immer zu sagen.

Während er sich tief in den Schatten der Zweige drückte und hoffte, dass sie ihn nicht entdecken würden, raste Eberhards Herz. So fest er konnte presste er die Kiefer zusammen, damit seine Zähne nicht klapperten und ihn verrieten. Als sein Hals zu kratzen begann, flehte er Richtung Himmel. Bitte nicht! Bitte lieber Gott, hilf mir, dass ich jetzt nicht husten muss. Er versuchte so krampfhaft, den Hustenreiz zu unterdrücken, dass seine Augen zu tränen begannen. Die Sekunden zogen sich in die Länge, die Zeit schien stillzustehen. Eberhard atmete so flach wie möglich, um das Kratzen im Rachen nicht zu verschlimmern. Er hatte das Gefühl, jeden Moment ohnmächtig zu werden.

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