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Wie meine Familie das Sprechen lernte

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»Behalte für dich, was du gesehen hast, und sprich nicht über Dinge, die du nicht gesehen hast«, besagt ein alevitisches Sprichwort. Als der 29-jährigen Alev klar wird, dass auch ihre Familie, Angehörige der unterdrückten religiösen Minderheit der Aleviten in der Türkei, lange nach diesem Sprichwort gelebt hat, möchte sie das Schweigen brechen – und beginnt zu fragen. Warum migrierte ihr Vater als linksaktivistischer Student in den siebziger Jahren nach Köln? Was zerschlug das erfolgreiche Textilunternehmen ihres Onkels Cem in Istanbul? Alev, die in Köln wohnt, und bisher jeden Sommer beim türkischen Teil ihrer Familie verbracht hat, fragt und sammelt die O-Töne ihrer Verwandten, während sich zeitgleich die politische Lage in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 zuspitzt.

Wie meine Familie das Sprechen lernte ist der traurig-schöne Beweis dafür, dass das Unmögliche sich beschreiben lässt: Die Gefühle und Verletzungen einer Familie. Leyla Bektaș begibt sich in die Leerstellen, die Fragen, den Schmerz und die Rätsel. Ihre Sprache ist klar und nimmt sich Stück für Stück den nötigen Raum für eine Geschichte, die erzählt werden muss.


  • Erscheinungstag: 02.10.2024
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013432
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Serdar Amca (1956 – 2022)

Behalte für dich, was du gesehen hast,
und sprich nicht über Dinge,
die du nicht gesehen hast.

Alevitisches Sprichwort

Köln, 2017

Ich bin noch ein Kind, da bringe ich dir die Zahlen auf Deutsch bei. Du sprichst mir nach, Zahl für Zahl.

Ein sewei derei vier funf sechs sibben ach neun ssen

Mit den Jahren vergisst du die eine oder andere Zahl. Deinen Rekord erreichst du, als ich etwa acht Jahre alt bin. Da kommst du fast bis zwanzig.

Ich denke an das Marmorschild auf deinem Schreibtisch, in das dein Name kunstvoll eingraviert ist. Meine Scham, nachdem man mich durch die unterirdischen Hallen eurer Textilfabrik geführt hat und ich mir vierundsechzig Teile ausgesucht habe.

Altmış dört, sagt die Assistentin zu meinem Vater. Vierundsechzig Teile?, fragt mich mein Vater, verärgert. Deine besänftigende Geste.

Die endlose Rückfahrt im Auto mit eurem Chauffeur. Wir kehren zurück in euer abgeschlossenes Paradies. Gefühlte Stunden über die Autobahn, schleppender Verkehr, bis wir endlich am Pförtnerhäuschen ankommen, wo man uns schon kennt und reinwinkt.

All die süßen Sachen, die wir aus Deutschland für euch mitbringen, darunter immer Diätschokolade und Diätpralinen für dich.

Deine Freude an gutem Essen. Durch dich lernen wir Sushi kennen und Teppanyaki, du lädst uns ein in die neuen Restaurants in Istanbul. Die Unmengen an Essen, die wieder zurückgehen, weil wir schon von den Vorspeisen satt geworden sind.

Mein Vater hört nach kurzer Zeit auf zu übersetzen. Ich sinke in ein schläfriges Nichts mit vollem Magen. Eingehüllt in die Sprache, von der ich nach ein paar Floskeln nichts mehr verstehe.

Als Jugendliche bewundere ich deine Vitrine mit Absolut-Vodka-Flaschen. Eine umfangreiche Sammlung, von der einige Sorten fluoreszieren.

Ich schlafe im Accessoirezimmer von Selen, in dem sie lediglich Gürtel, Taschen und Schuhe von italienischen Designern aufbewahrt. Euer Reichtum bringt eine Extravaganz mit sich, die uns alle fasziniert.

Auch wir lassen uns die Haare und Make-up machen für die pompösen Hochzeiten. Danach schauen wir uns im Spiegel an, verwandelt und etwas beschämt.

Vor dem Çırağan-Palast am Bosporus, dessen Türen schon Kaiser Wilhelm II. bewunderte und sie daraufhin geschenkt bekam, dem Palast, der etliche Male verfiel, wiederaufgebaut und zuletzt in ein Luxushotel verwandelt wurde, stehst du mit Selen, ihr verteilt Küsschen an die etwa fünfhundert geladenen Gäste. Ihr strahlt, glänzt. Du trägst einen weißen Anzug mit schwarzer Fliege. Selen ein paillettenbesetztes Kleid und das üppigste Collier, das ich je in meinem Leben gesehen habe.

An diesem Punkt hielt ich uns für unbesiegbar. Es gab kein Gestern oder niemanden, der uns daran erinnerte.

Dann sitze ich an einem verregneten Sommertag mit meinem Vater im Auto. Wir fahren über die Rheinuferstraße, und er sagt mir, dass du festgenommen wurdest.

Warum? Ich weiß es bis heute nicht.

Da war mit einem Mal alles vorbei.

Alles, was danach kam, verschwindet in einem Dunst. Obwohl es noch nicht lange zurückliegt, kann ich mich nicht erinnern. Doch eins weiß ich. Unsere Zeit hat schon damals aufgehört. Nicht erst im letzten Sommer, als Militärflugzeuge über dem Parlament in Ankara kreisten. Nicht erst, als das Parlament seiner eigenen Auflösung zugestimmt hat, das ist erst wenige Wochen her.

Doch seitdem sitzt die Angst in jeder Faser, in jedem Atemzug.

Es ist jetzt eine Woche her, genau eine Woche. Du bist am Steuer zusammengebrochen, wie durch ein Wunder gerade noch an den Straßenrand gefahren. An der Schwelle zum Krankenhaus warst du klinisch tot. Man hat dich reanimiert, dein Herz wieder zum Schlagen gebracht. Jetzt liegst du im Koma. Niemand weiß, ob du daraus wieder erwachst.

Während du auf der Intensivstation liegst, stehe ich am Fenster, höre das Rauschen der Autos auf der Kyotostraße, ein alltägliches Geräusch, das heute so viel näher wirkt. Die Zeit titelt, das türkische Parlament sei nun ein Mausoleum. Ich stehe hier und frage mich, warum ich dich eigentlich nie Amca genannt habe. Dieses Wort, so einfach zu artikulieren und eindeutig in seiner Bedeutung. Amca. Onkel väterlicherseits. Sicher hätte es dich gefreut, wenn ich in all den Jahren mal Amca zu dir gesagt hätte. Trotzdem kam es mir nie über die Lippen.

Seit einer Woche stelle ich fest, dass ich Sehnsucht habe nach etwas, das es nicht mehr gibt. Dass ich täglich Heimweh habe und nicht weiß, wohin.

Amca, alles, was ich weiß –

Du darfst jetzt nicht sterben.

Köln, 1978

Mithat läuft über die Brücke. Er schaut auf den breiten grauen Fluss, der die Stadt in zwei Hälften trennt. Rechtsrheinisch, linksrheinisch, zwei Wörter haben sie dafür erfunden. Der Rhein erstaunt ihn jedes Mal, wenn er über die Brücke läuft, vielleicht weil er das so nicht kennt aus Ankara, der Stadt ohne Fluss. Aus dem staubigen Boden hat Mustafa Kemal sie stampfen lassen, um Istanbul die Stirn zu bieten. Die Straßenbahn rattert an Mithat vorbei.

Es ist früher Abend, der Himmel bedeckt. Mithat sieht zu den anderen Brücken hinüber, die parallel zu dieser verlaufen. Von hier aus kann man den Dom und die erhaltenen Teile der Altstadt gut sehen. Vor ein paar Tagen erst hat Hüsnü ihm Fotos vom alten Köln gezeigt. Wie schön war diese Stadt vor dem Krieg. Auf einem Foto lag die alte Hohenzollernbrücke abgebrochen im Rhein.

Bei den mintgrünen Brückenmasten fliegen die Tauben auf. Mithat denkt an seinen Vater, der jetzt bestimmt etwas zum Füttern für sie dabeihätte, in seiner Manteltasche sammelte er immer harte Brotkrumen. Er fütterte die Tauben auf dem Weg zur Arbeit, und selbst an Feiertagen ging er manchmal raus zu ihnen. Ob er das wohl noch immer macht, kommt es Mithat in den Sinn, und gleichzeitig wundert er sich über den Gedanken. Warum sollte er diese Gewohnheit im letzten Jahr aufgegeben haben? Auch wenn sich so vieles verändert hat, seit er gegangen ist.

Man hat diese Stadt den Autos geschenkt, denkt er, während er auf einem schmalen Fußgängerstreifen neben einer mehrspurigen Fahrbahn läuft. Er erinnert sich noch gut an die ersten Autos in Ankara, an die Chevrolets und Dodges, die alle halbe Stunde mal die Straße herunterkamen. Und dann fuhr ihn eins an.

Die Autos sahen immer so harmlos aus, scheinbar leicht und langsam tuckerten sie die Straßen herunter, doch diese Wucht, mit der das Auto seinen Körper rammte, er erinnert sich bis heute an sie, und an das Nichts, das darauf folgte. Er muss ungefähr sechs Jahre alt gewesen sein, sie waren gerade nach Ankara gezogen. Alles, was davor geschah, scheint wie ausgelöscht. Seine Kindheit ist eine verschlossene Tür.

Vielleicht beginnen seine frühesten Erinnerungen wegen dieses Unfalls in Ankara, in der Wohnung mit dem gelben Sofa.

Mithat erreicht den Barbarossaplatz, er ist abgesperrt, überall liegen die Gleise für die neue Straßenbahn. Die Bauarbeiter haben Feierabend. Er ist froh, dass er bisher noch nicht auf dem Bau arbeiten musste. Die harte Arbeit liegt ihm nicht. Deine Hände sind zart, hatte Hatun Ebe mal zu ihm gesagt. Zuletzt arbeitete er in einer Glaswollfabrik in Bergisch Gladbach. Die kleinen Glaswollpartikel legten sich auf die Haut und juckten, danach musste man die Arbeitskleidung absaugen und direkt duschen. Aber daran möchte er jetzt gar nicht denken.

Er liebt es, durch Köln zu laufen, die Menschen anzuschauen, die unterwegs sind, ihre Kleidung, ihre Blicke in sich aufzusaugen, mit einer Zigarette in der Hand. Er bläst den Rauch in die kalte Luft. In Ankara war es nicht möglich, einfach so von Viertel zu Viertel zu laufen, sich treiben zu lassen. Zumindest nicht für ihn, als Aleviten und Linken.

Am Zülpicher Platz angekommen, dämmert es bereits, Mithat nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarette.

Im Arbeiter- und Studentenverein riecht es nach Rauch und altem Papier. In der Mitte des Raumes steht ein großer Tisch, der ein bisschen an einen Konferenztisch erinnert. Hier stehen noch die Teegläser der letzten Versammlung, hier stapeln sich türkische Tageszeitungen. Milliyet und Cumhuriyet, daneben die leeren Zigarettenschachteln und Aschenbecher. Überall verstreut liegen Bücher. Lyrik und Theorie, Lenin, Nâzım Hikmet, Ahmed Arif, Yaşar Kemal, Dostojewski und die türkische Ausgabe des Kapital. Bei der letzten Versammlung haben sie Teile daraus gelesen – oder es zumindest versucht. Am Ende haben sie dann doch nur wieder über die alten Themen gesprochen.

Mithat schaut sich um. Hüsnü scheint noch nicht da zu sein. Stattdessen entdeckt er Haydar, seinen Cousin, der in einer Ecke sitzt und seine Saz stimmt. Haydar winkt ihn zu sich. Er weist auf den Mann neben sich.

»Mithatçiğim, ich möchte dich mit Ali bekannt machen. Er arbeitet bei Klöckner. Kannst du ihm helfen, die Formulare für die Behörde auszufüllen, damit seine Frau und Kinder nachkommen können?«

»Tabii ki«, antwortet Mithat fast schon automatisch. Solidarität ist das, was sie zusammenhält.

»Mein Cousin wird dir eine große Hilfe sein, Abi. Er kann viel besser Deutsch als ich, obwohl ich schon länger hier lebe«, sagt Haydar und lacht. »Er wird bald anfangen zu studieren.«

Ali nickt. Er ist deutlich älter als Mithat, aber hat etwas Demütiges in seinem Blick.

»Du bist sicher begabt, mein Junge. Weißt du, ich hätte auch gerne studiert, aber meine Eltern konnten sich das Gymnasium für mich nicht leisten. Ich komme aus einem kleinen Dorf in Malatya. Aber wenn meine Kinder hierherkommen, sollen sie auch studieren können.«

Mithat nickt. Er ist nicht ganz bei der Sache. Er hält nach seinem Bruder Ausschau, aber kann ihn nirgends entdecken.

Die ersten Klänge erfüllen den Raum. Haydar schlägt die Saiten der Saz an, klopft parallel dazu auf den Bauch seines Instruments.

Es ist ein bekannter Rhythmus. Ein Lied von Pir Sultan Abdal, dem Helden der Aleviten und Oppositionellen, und alle singen innerhalb kurzer Zeit mit. Mithat vergisst einen Moment seine Nervosität. Ein warmes Gefühl steigt in ihm auf. Auf einmal sitzt er mit seinen Geschwistern und seinen Eltern zu Hause auf dem gelben Sofa, sein Vater spielt Saz, die anderen singen.

Schweig, Nachtigall, in meinem Garten herrscht Trauer

Da du, mein Freund, dort bist und ich fern von dir

Mein Docht ist verbrannt, mein Wachs ist zerschmolzen

Freund, dein Leid entflammt in mir.

Ich bin der Fluss, der sich im Meer verloren hat.

Ich bin die Rose, vor der Zeit erblüht und verwelkt.

Ich bin kalte Asche, das Feuer ist lang erloschen.

Freund, dein Leid entflammt in mir.

»Genossen, ihr alle kennt dieses Lied, ihr kennt es gut, zu gut. Wir alle haben einen fernen Freund, an den wir denken, dessen Leid wir teilen, wenn wir diese Zeilen singen. Und jetzt sitzen wir hier in unserem kleinen Verein, weit weg von der Heimat, und vielen von euch wird beim Singen die Seele schwer. Wir denken an unsere Brüder, die ihre besten Jahre im Gefängnis verbringen, während auf der Straße Mittellose und Revolutionäre angegriffen, verhaftet und erschossen werden, ohne dass die Übeltäter je zur Rechenschaft gezogen werden …«

Haydar spricht mit Inbrunst, seit der Gründung ist er so etwas wie der Chef des Vereins geworden, während Hüsnü sich immer weiter rausgezogen hat, seit er mit Sabine zusammen ist. Mithat bewundert seinen Cousin, auch wenn er ihn gleichzeitig nicht versteht. Haydar lebt in Köln, aber im Herzen kämpft er für einen Systemwechsel in der Türkei. Haydar ist noch immer Devrimci, ein echter Revolutionär.

Das Verrückteste daran ist, denkt Mithat, dass Haydar glaubt, diesen Systemwechsel von hier aus, von ihrem kleinen Kölner Arbeiter- und Studentenverein aus, mit initiieren zu können. Natürlich würde er das seinem Cousin gegenüber nie so äußern.

Haydar spricht gefasst, ruhig und unerschrocken. Der Vollbart verleiht ihm Autorität.

»Ich gebe euch die Worte unseres Nâzım wieder, möge er in Frieden ruhen …« Und während Haydar das sagt, weiß Mithat bereits, welches Gedicht jetzt folgt.

Ja, ich bin ein Vaterlandsverräter, wenn ihr Patrioten seid, wenn ihr die Heimat liebt, bin ich ein Vaterlandsverräter, ein Verräter der Heimat.

Wenn die Heimat euer Grund und Boden ist,

wenn Heimat das ist, was in euren Tresoren und Scheckheften steckt,

wenn Heimat bedeutet, entlang der Landstraßen zu krepieren vor Hunger,

wenn Heimat bedeutet, im Winter zu zittern wie ein Straßenköter,

wenn Heimat das Einführungsbuch in den Islam ist, wenn Heimat der Polizeiknüppel ist

Mithat schaut zur Tür, sieht Haydars engste Freunde dort stehen, unter ihnen Ibrahim, den alle einfach nur Saatçı nennen, den Uhrenmacher. Saatçı hört Haydar aufmerksam zu, während er das Gedicht rezitiert, auch wenn Haydar es sicher schon unzählige Male vorgetragen hat. Saatçıs Blick hat etwas Ehrfürchtiges, seine Augen glänzen. Mithat hat gehört, dass Saatçı darüber nachdenkt zurückzukehren. Zurück in die Türkei, zurück nach Maraş, wo er herkommt.

Jemand legt Mithat die Hände auf die Schultern. Es ist Hüsnü. Endlich. Alle stimmen in die letzte Zeile des Gedichts mit ein.

Nâzım Hikmet vatan hainliğine devam ediyor hâlâ

Mithat betrachtet seinen Bruder aus dem Augenwinkel. Es scheint noch nicht lange her, dass Hüsnü von der Arbeit nach Hause kam, auf dem gelben Sofa Platz nahm und der ganzen Familie Gedichte von Ahmed Arif oder Nâzım vortrug, er konnte sie alle auswendig. Mithat versteht manchmal, warum Hüsnü nicht mehr in den Verein kommt. In der Türkei hatten wir keine andere Wahl, denkt er. Er beneidet seinen Bruder ein bisschen, Sabine ist wie ein Fenster hinaus aus dieser Welt.

In diesem Moment stimmt Haydar ein weiteres Lied an. Hüsnü bittet Mithat mit einer Geste, ihm in die Küche zu folgen. Dort kann man ungestört und geschützt miteinander sprechen und dennoch den Raum im Blick behalten.

Hüsnü stellt sich mit dem Rücken zum Konferenztisch und zieht einen weißen Umschlag aus seiner Jackeninnentasche. Darin steckt Mithats Pass – mit dem druckfrisch ausgestellten Visum. Mithat fällt ein Stein vom Herzen. Er umarmt Hüsnü stürmisch und küsst ihn auf die Wange. Alles, einfach alles hat er seinem Bruder zu verdanken!

Hüsnü drückt ihn fest und bedeutet ihm gleichzeitig, nicht zu sehr auf sich aufmerksam zu machen.

»Glückwunsch, Mithatçiğim. Du hast Grund zu feiern.« Hüsnü lächelt, dann wird er auf einmal ernst. »Hör zu. Jetzt, wo du den Pass hast, treib dich nicht mehr so viel hier rum.«

»Wo soll ich denn sonst hingehen, Hüsnü Abi? Ich habe keine Sabine.«

»Ich meine es ernst. Die Lage zu Hause ist schlecht. Es sterben zu viele. Wer weiß, wo das«, Hüsnü dreht den Kopf in Richtung des Konferenztisches, »alles noch hinführt.«

Mithat hält die Worte seines Bruders für übertriebene Vorsicht, wir sind doch hier in Deutschland, möchte er zu ihm sagen, doch er sagt nichts. Er denkt an Hüsnüs Schnittwunde am Bein, die sie ihm während seiner Lehrerausbildung zufügten, damals, in Kırşehir. Die Narbe sieht man heute noch.

»Ich mein nur, yani«, sagt Hüsnü. »Pass auf dich auf. Konzentrier dich auf das Deutschlernen, auf die Prüfungen. Auf dein Studium.«

Hüsnü klopft ihm auf die Schulter. »Es war schön, dich zu sehen, Mithatçiğim. Ich fahre jetzt zu Sabine.« Und weg ist er.

Später stolpert Mithat auf den Zülpicher Platz, der zu dieser Uhrzeit einer anderen Sphäre angehört. Überall Leute, die getrunken haben, die einfach und unbeschwert Spaß haben wollen. Mithat sieht auf die Disco gegenüber, da spielen sie die Rolling Stones, Brown Sugar, das kennt er, das Lied haben die Nachbarsjungen in Ankara damals auf Platte aus Deutschland mitgebracht und damit angegeben. Das wäre was, da einfach mal reinzugehen und zu tanzen, denkt er, warum nicht heute, zur Feier des Tages, ganz allein? Aber er spürt den Pass mit dem Visum in seiner Hosentasche und steuert die Straßenbahnhaltestelle an.

Köln, 2017

Alev schaut auf ihren türkischen Pass. Ein abgegriffenes Dokument, das sie stolz in ihrem Geldbeutel mit sich herumträgt, ohne es je an irgendeiner Stelle zu benutzen. Bei keiner einzigen Einreise in die Türkei oder sonstigen offiziellen Stelle hat sie ihn je vorgezeigt. In letzter Sekunde zieht sie immer lieber den deutschen Reisepass hervor, aus Angst, auf Türkisch angesprochen zu werden und nicht zu verstehen.

Auch in Deutschland zieht Alev es vor, ihre doppelte Nationalität zu verschweigen. Wenn sie ihr Handy auf der Weidengasse reparieren lässt, gibt sie manchmal Jonas’ Nachnamen an, um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden.

Türk müsün? So oft schon hat sie auf diese freudig überraschte und neugierige Frage, immer an eine bestimmte Erwartung geknüpft, nur stotternd antworten können.

Alev kennt die Ernüchterung, die das Gespräch dann sofort bestimmt. Den Wechsel zurück in die kalte Sprache, die Sprache der Behörden. Der Zug ist abgefahren.

Eine Weile glaubte Alev, sie habe illegalerweise zwei Pässe. Es kursierten Gerüchte, man müsse einen der beiden im Alter von 23 Jahren abgeben. Alev wartete, bis sie 23 wurde, sie wartete auf ein Schreiben, in dem sie freundlich darauf hingewiesen würde.

Aber dieser Moment kam nicht. Heute ist sie 29 und im Besitz zweier Nationalitäten. Manchmal fühlt sich das ungerecht an, dass sie, ausgerechnet sie, das darf.

Köln, 1978

Das Postfach quillt über. Zwischen den Werbeanzeigen steckt ein Brief, an ihn adressiert. Möglicherweise liegt er schon seit Tagen im Postfach, Mithat erinnert sich nicht, es in der letzten Zeit geleert zu haben, und weiß nicht, ob Haydar es manchmal leert.

Mithat geht vorbei an den leeren Stockbetten. Am Vormittag dauert es Ewigkeiten, bis auch der Letzte aufgestanden ist, doch am Nachmittag sind alle ausgeflogen, bis auf einige wenige, die ihre Nachtschicht ausschlafen. Mithat läuft in die Küche, öffnet den Brief mit einem Messer.

AUSLÄNDERBEHÖRDE KÖLN

Bei der Durchsicht unserer Unterlagen mussten wir feststellen, dass Sie am 3. August 1977 mit einem Touristenvisum eingereist sind, das am 3. Dezember 1977 seine Gültigkeit verloren hat. Ihr am 15. Januar 1978 ausgestelltes Studentenvisum

Mithat überfliegt beunruhigt die Zeilen –

Somit haben Sie sich 43 Tage illegal in diesem Land aufgehalten. Ihr Studentenvisum verliert dadurch seine Gültigkeit. Sie sind dazu verpflichtet, auszureisen und ggf. aus Ihrem Heimatland Ihr Studentenvisum erneut zu beantragen.

Als Haydar in die Küche kommt, starrt Mithat immer noch auf den Brief.

»Was ist los?«, fragt Haydar leicht verschlafen, während er den Samowar zum Kochen bringt.

»Ich habe einen Brief bekommen«, sagt Mithat. »Vom Ausländeramt.«

Haydar schaut kurz auf den Brief.

»Setz dich erst mal, mein Lieber. Um diese Briefe zu verstehen, muss man doch mindestens fünf Jahre Deutsch gelernt haben«, sagt er und setzt Mithat ein Glas Tee vor.

Als Mithat nicht reagiert, fügt er hinzu. »Am besten, du rufst deinen Bruder an. Bestimmt kann er etwas für dich tun.«

Hüsnü steht dort, wo Mithat am Nachmittag stand. Er übersetzt den Brief für Mithat und Haydar. Er schüttelt den Kopf.

»Sie erklären es einfach für ungültig. Wegen ein paar Tagen. Dabei haben sie uns so lange warten lassen.«

»Was bedeutet das?«

»Das bedeutet, du musst das Studentenvisum von der Türkei aus neu beantragen.«

»Zurück in die Türkei?«

»Das geht nicht, Hüsnü Abi«, sagt Haydar. »Kann man von hier aus nichts machen?«

Hüsnü überlegt. Er schaut wieder in den Brief.

»Ich fürchte nein«, sagt er.

Später, als er wieder allein ist, liegt Mithat auf seinem Bett und schaut auf das rostige Gitter, auf dem Haydars Matratze liegt. Er denkt an seinen Koffer unter dem Bett, an diesen schweren unhandlichen Koffer mit Lederriemen, den Onkel Halit ihm für die Abreise geschenkt hatte. Es kommt Mithat so vor, als sei es gestern gewesen, dass er diesen Koffer in das Wohnheim schleppte, seine wenigen Habseligkeiten in seinem Teil des Schrankes verstaute und den Koffer unter das Bett schob.

Er hatte nie an eine Rückreise gedacht. Und wenn er an eine Rückreise dachte, dann stellte er sich vor, wie er den Koffer voller Geschenke laden würde, genauso wie Hüsnü, der damals mit einem Koffer voller Jeans und Shampooflaschen nach Hause gekommen war und für jeden in der Familie ein Geschenk dabeihatte. Immer war diese Vorstellung auf eine spätere Zukunft gerichtet gewesen, wenn er schon Geld verdient und einige Semester studiert hätte.

Mithat schließt die Augen. Ein anderer Geruch steigt ihm in die Nase. Tagescreme und frische Laken. Der Geruch seiner Mutter, den sie für immer verloren haben.

Mithat öffnet die Augen. Daran möchte er nicht denken.

Ankara, 1978

Pestil. Pestil wird ihr eine Freude machen. Cem läuft durch Aydınlıkevler. Es ist noch früh am Morgen, keine Menschenseele unterwegs. Die Häuser stehen da wie Streichholzschachteln aneinandergereiht. Cem schaut in Richtung Himmel, um diese Uhrzeit weder dunkel noch hell.

Cem hasst dieses Viertel. Aydınlıkevler, das wissen alle, ist in den Händen der Grauen Wölfe. Cem lebt hier, seit sie Gazimahallesi verlassen haben, die schöne Wohnung in der Nähe des Waldes, den Atatürk anlegen ließ, nachdem er Ankara zur Hauptstadt erklärt hatte.

Wie zwei Welten wirken diese zwei Stadtviertel in Cems Wahrnehmung, obwohl beide zu Ankara gehören. Sie sind voneinander abgeschnitten durch das, was zwischen ihnen liegt, gehören zu einem Davor und einem Danach. Da ist die Wohnung mit dem gelben Sofa, die Zeit, in der die ganze Familie noch vereint war. Danach, nach Mutters Tod, brach die Familie auseinander.

Cem betritt den kleinen Laden. Er kann seine Großmutter nicht besuchen, ohne ihr irgendeine Köstlichkeit aus der Stadt mitzubringen. Pestil ist eingedickter Fruchtsaft, meist aus Traubensirup hergestellt, leicht ledrig und zuckersüß. Die Verkäuferin wiegt die goldbraune Süßigkeit, und Cem bedeutet ihr, ruhig etwas mehr auf die Waage zu legen.

Cem geht diesen Weg fast täglich. So oft er kann, besucht er Hatun Ebe, um seine freien Stunden zu füllen, wenn er nicht in der Bank arbeitet oder mit seinen Freunden Bier trinken geht, aber es ist, als hätte sich eine Trägheit über die Stadt gelegt, viele trauen sich nicht mehr, das Haus zu verlassen. Gehen nur noch die nötigsten Wege.

Manchmal, wenn Cem sich treiben lässt durch die eintönigen Straßen, wohl wissend, dass es immer ein Risiko darstellt, sich draußen aufzuhalten, dann fühlt sich ganz Ankara für ihn an wie eine Geisterstadt. Ob es daran liegt, dass Mutter nicht mehr da ist, dass seine Brüder das Land verlassen haben, er mit seiner Schwester Sevim zu den Zurückgebliebenen zählt oder daran, dass sie all ihre Hoffnungen mit Deniz Gezmiş schon vor sechs Jahren an den Galgen hängten.

Deniz Gezmiş war einer der klügsten Köpfe des Landes gewesen. Zusammen mit Yusuf Aslan und Hüseyin İnan wurde der Studentenführer vor sechs Jahren im Zentralgefängnis von Ankara öffentlich hingerichtet. Cem versteht, dass damals alle gehen wollten.

Als Erster ging Hüsnü. Hüsnü hat es nicht ausgehalten, denkt Cem, er war von uns allen immer schon der größte Idealist.

Hatun Ebe sitzt still und unbeweglich auf dem gelben Sofa und knackt Walnüsse. Onkel Halit und Aysan Abla sind nicht da, wie sie fast nie da sind, weil beide rund um die Uhr arbeiten. Wie immer, wenn Cem die Wohnung betritt und Hatun Ebe sieht, überkommt ihn ein kurzer Anflug von Melancholie.

»So früh habe ich nicht mit dir gerechnet, mein Junge«, sagt Hatun Ebe. Cem reicht ihr die Papiertüte.

»Wofür gibst du dein Geld aus, mein Junge«, tadelt Hatun Ebe ihn. »Wenn du alt bist, sollst du noch genug Geld haben, um in Ruhe zu altern.«

Sie öffnet die Tüte. »Pestil«, sagt sie und leert den Inhalt auf einen Glasteller. Cem greift beherzt zu.

»Ganz frisch«, sagt er.

Hatun Ebe lächelt. Immer wenn sie lächelt, bewegt sich ihr Mund, aber ihre Augen bleiben traurig. Hatun Ebe ist fast achtzig Jahre alt, so alt wie das Jahrhundert.

Ihre Finger halten einen Moment das Papier in den Händen. »Weißt du, mein Junge, immer wenn ich Pestil sehe, denke ich an deinen Großvater. Von seiner letzten Reise wollte er uns Pestil mitbringen …«

Cem nickt. »Erzähl mir von Hüsnü Çavuş, erzähl mir von seiner Zeit im Sultanspalast«, sagt er kauend. Eigentlich eine zähe Angelegenheit, Pestil. Wäre es nur nicht so köstlich.

»Dein Urgroßvater war der Kutscher von Sultan Abdülhamid. Sultan Abdülhamid mochte deinen Urgroßvater sehr. Als dein Großvater geboren wurde, hat er ihm einen Sack Gold geschenkt und zu ihm gesagt: ›Dein Sohn soll Hüsnü heißen‹. Er sollte an der Offiziersschule studieren und ein Treuer des Sultans werden, genau wie sein Vater. Aber wie du ja weißt, kam alles anders …«

Es ist ein altbekanntes Spiel zwischen den beiden. Natürlich kennt Cem alle Geschichten, die Hatun Ebe erzählt, aber Cem weiß, dass Hatun Ebe ihre Erzählungen in der Gegenwart halten. Er stellt Fragen, um die Verbindung zu ihr aufrechtzuerhalten.

»Erzähl weiter, Hatun Ebe, was wurde aus Hüsnü Çavuş?«

»Die Zeit der Sultane ging vorüber. Hüsnü Çavuş ging von Istanbul nach Hacıbektaş, er wurde Kutscher der Ulusoys und ein großer Anhänger von Atatürk. Er sagte immer: Der Paşa hat unser Land modern gemacht. Er bewunderte die Anzüge des Paşa, seine Hüte … Hüsnü Çavuş verließ das Haus nie ohne Hut. Auch nicht auf seiner letzten Reise nach Arguvan.«

»Welches Jahr war das, Hatun Ebe?«

»Es war das Jahr, in dem es endlich wieder regnete. Der Efendi, das Familienoberhaupt der Ulusoys, der mächtigsten Familie des Dorfes, wollte eine Reise nach Arguvan machen und fragte deinen Großvater, den Kutscher, ob er ihn begleiten würde. Weißt du, die Leute beschenkten den Efendi auf seinen Reisen immer üppig. Es war ein günstiger Zeitpunkt, um zu reisen. Der Regen hatte die Ernte reich gemacht. Die Gaben würden großzügig ausfallen. Also bat der Efendi Hüsnü Çavuş, ihn zu begleiten.

Ich weiß noch, wie Hüsnü Çavuş fluchend nach Hause kam. Er war ja schon über sechzig. Es war ein heißer Sommer, und die weite Reise würde anstrengend für ihn werden. Er wollte nicht gehen, er wollte nicht lange von seinen Kindern getrennt sein. Deine Mutter war ja damals schon krank und mit deiner Schwester schwanger … Ach, ach …

›Allah soll den Ulusoys die Augen stopfen‹, fluchte Hüsnü Çavuş.

›Leise‹, sagte ich. ›Über die Ulusoys spricht man nicht schlecht. Sayılı gün gelir geçer, gezählte Tage gehen schnell vorbei. Los, geh dich verabschieden von deinen Kindern.‹

Am nächsten Tag reisten sie ab.«

Hatun Ebe hält inne. Einen kurzen Moment glaubt Cem, dass sie gleich anfängt zu weinen. Aber ihr Blick verliert sich an einem Punkt außerhalb des Fensters, in der Welt, in der sie nichts verloren hat, dem Viertel der Botschaften und Diplomaten im Anzug. Hatun Ebe verlässt das Haus nur selten. Wenn sie es dennoch einmal tut, in ihren geblümten Kleidern und ihrem locker gebundenen dunklen Kopftuch, dann erinnert alles an ihr an Dorf.

»Warum wollte der Efendi ausgerechnet Hüsnü Çavuş mitnehmen, wo er doch sicher auch jüngere Kutscher hatte?«

»Der Efendi hat deinen Großvater als Reisebegleitung sehr geschätzt. Durch die Kutschfahrten ist er viel rumgekommen in seinem Leben. Seine Kindheit verbrachte er in Istanbul, sogar bis nach Edirne und Thessaloniki ist er gekommen. Sein Kopf war voll von diesen Orten, er trug sie immer mit sich herum.

Wenn er von ihnen erzählte, dann war es, als wäre man selbst dort gewesen. Ich zum Beispiel habe das Gefühl, schon einmal in Istanbul gewesen zu sein, obwohl ich nie dort war. Aber ich sehe die Möwen, die Paläste und die Schiffe vor mir, als hätte ich sie mit eigenen Augen gesehen. Dank Hüsnü Çavuş.

Und der Efendi, der liebte diese alten Geschichten aus Istanbul und aus der Sultanzeit. Deshalb wollte er niemand anderen als deinen Großvater als Reisebegleitung dabei haben.«

»Warum ist er gestorben, Hatun Ebe?«

»In Arguvan blühten die Aprikosenbäume. Es war das Jahr, in dem es endlich wieder regnete. Und es war am Vorabend der Wahlen, bei denen Atatürks Partei zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Mehrheit verlieren würde.

In Arguvan wurden der Efendi und Hüsnü Çavuş von einem Mufti zum Mittagessen eingeladen. Aus Höflichkeit gingen sie hin. Der Mufti hat dann angefangen, schlecht über Atatürk zu sprechen. Es war am Vorabend der Wahlen. Du weißt ja, dass die meisten Sunniten die demokrat partisi wählten, weil Atatürk in ihren Augen die Religion zu sehr geschwächt hatte.

Das konnte Hüsnü Çavuş nicht auf sich sitzen lassen. Er sagte: ›Wer in meiner Anwesenheit etwas Schlechtes über Atatürk sagt, dem schneide ich die Zunge ab!‹ Der Mufti hat daraufhin sein Gewehr gezückt und deinen Großvater erschossen. Hüte deine Worte, wenn du einem Mufti zu nahe kommst! Merk dir das, mein Junge. Immer noch liegt dein Großvater in Arguvan begraben … Ach, ach …«

Hatun Ebe knackt weiter Walnüsse, wie mechanisch bewegen sich ihre Hände.

»Erzähl mir von dem Jahr, in dem du nach Hacıbektaş zu den Ulusoys kamst«, sagt Cem nach einer Weile. »Welches Jahr war das, Hatun Ebe?«

»Ach, mein Junge«, weicht Hatun Ebe aus. »Ich weiß doch nicht einmal, welches Jahr wir heute haben, wie soll ich wissen, welches Jahr wir damals hatten?«

»Erzähl mir, wie es bei den Ulusoys war!«

»Ich war noch ein junges Mädchen, als ich zu den Ulusoys kam, die gute Familie nahm mich auf. Mein Junge, stell dich immer gut mit deinen Vorgesetzten, das Leben wird es dir danken! Arbeiten, arbeiten, nur so kannst du etwas erreichen. Weil die Ulusoys meine Arbeit zu schätzen wussten, schlugen sie mich Hüsnü Çavuş vor, und ich wurde seine Frau. Die guten alten Ulusoys …«

»Erzähl mir von der Zeit, bevor du zu den Ulusoys kamst.«

»Ach, mein Junge, ich erinnere mich doch kaum an die Zeit davor. Ich kam mit meiner Nichte, sie war noch jünger als ich.«

»Wo habt ihr vorher gewohnt, Hatun Ebe?«

»In Sivas, mein Junge, in Sivas.«

»Und deine Eltern, Hatun Ebe?«

Hatun Ebe schweigt, dann wiegelt sie ab. »So viele Fragen, mein Junge, ich bin schon ganz müde vom Erzählen. Ich möchte mich hinlegen.«

»Ich richte dein Bett, Hatun Ebe, warte.«

Cem verschwindet in das Schlafzimmer, Hatun bleibt allein zurück. Vor ihr liegt ein Berg geknackter Walnüsse.

Cem betritt Hatun Ebes Zimmer. Er legt ein Bündel Geldscheine auf Hatun Ebes Kommode, unter eine Schatulle, in der sie den wenigen Schmuck aufbewahrt, den sie besitzt.

Während Cem ihr Bett richtet – etwas, was er schon immer getan hat –, denkt er darüber nach, dass Hatun Ebes Leben immer mit den Ulusoys beginnt. Allem, was davor geschehen ist, weicht sie aus. Stundenlang kann sie von den Ulusoys erzählen, Hüsnü Çavuş’ Leben und seinem Tod. Aber über das, was sie selbst und ihre eigene Herkunft angeht, schweigt sie.

Hatun Ebe kommt den Flur heruntergelaufen. Eines ihrer Beine ist länger als das andere, weshalb ihr Gang immer leicht humpelnd wirkt. Während sie das Zimmer betritt, sagt sie: »Mein Junge, kennst du die Geschichte vom Nasreddin Hoca und der Pelzjacke?«

»Als der Hoca eines Tages zu einer Feier ging, ließen ihn die Bediensteten nicht rein. Der Hoca ging wieder hinaus. Draußen fand er eine Pelzjacke. Damit ging er noch einmal zur Feier. Dieses Mal ließen ihn die Bediensteten rein. Der Hoca setzte sich an den gedeckten Tisch. Auf dem Tisch befanden sich viele Leckereien. Der Hoca lud sich den Teller voll, und während er aß, sagte er immer wieder: ›Iss mein Fell, iss mein Fell.‹

Da fragten die Leute den Hoca erstaunt: ›Was ist los, Hoca, warum sagen Sie immer wieder Iss mein Fell?‹.

Der Hoca erwiderte: ›Vorhin kam ich ohne Pelzjacke, und ihr habt mich nicht reingelassen, dann kam ich mit Pelzjacke, und ihr habt mich sofort reingelassen. Offenbar liegt der Zauber nicht in mir, sondern in meiner Pelzjacke!‹«

Cem lacht. Er liebt es, wenn Hatun Geschichten vom Hoca erzählt. Er greift seiner Großmutter unter die Arme und hilft ihr ins Bett.

»Erhol dich gut, Hatun Ebe. Halit Dayı und Aysan Abla sind heute Abend auf einem Kongress, sie kommen erst spät nach Hause.«

Zum Abschied küsst Cem ihre Hand, weich wie Watte, und hält ihren Handrücken an seine Stirn, als Zeichen des tiefen Respekts. Als er gehen will, hält sie seine Hand fest.

»Mein Junge, versprich mir, dass du dich immer bedeckt hältst. Ich selbst habe nur überlebt, weil ich immer hart gearbeitet und mich bedeckt gehalten habe.«

»Ich verspreche es dir, Hatun Ebe«, sagt Cem.

Köln, 2017

Alev vergräbt sich unter der Bettdecke. Eine seltsame Leere am Samstagmorgen. Draußen hört es nicht auf zu regnen. Eigentlich müsste Alev aufstehen und sich an den Artikel setzen. Sie hat zugesagt, ihn in den nächsten Tagen abzuschicken. Doch heute kann sie sich nicht motivieren.

Die Anfrage kam aus heiterem Himmel. Bisher hatte Alev zu anderen Themen geschrieben. Zu ganz anderen. Dann kam Kranzler auf sie zu.

»Sie als Deutschtürkin«, sagte er zu ihr. »Sie haben doch sicher eine fundierte Meinung zu all dem, was gerade in der Türkei los ist. Können Sie nicht etwas dazu schreiben, einen kurzen Kommentar, Maximum 2000 Zeichen?«

Alev wusste nicht, ob sie sich geehrt oder beleidigt fühlen sollte. Sie war es gewohnt, sich in ihren Artikeln an Fakten festzuhalten, nicht an ihrer eigenen Biografie. Doch sie sagte zu. Etwas würde sie schon zu Papier bringen, dachte sie.

Die Wohnung ist ruhig, Jonas schon aus dem Haus. Alev nimmt den Laptop zur Hand, der neben ihr auf dem Bett liegt. Sie schaut auf die am Abend zuvor geöffneten Tabs.

Erdoğan unterzeichnet umstrittene Verfassungsreform

Welt-Reporter Deniz Yücel in Polizeigewahrsam

Das türkische Parlament ist ab jetzt ein Mausoleum

Bis zu seiner Anfrage war Alev nicht klar gewesen, dass Kranzler sie so sah, als Deutschtürkin. Es lag wohl an ihrem Namen. Aber gab ihr Name ihr die Autorität, über etwas zu schreiben, mit dem sie sich nie richtig auseinandergesetzt hatte? Es war Alev unangenehm, dass sie nicht längst eine fundierte Meinung parat hatte, die sie allen auf die Nase binden konnte.

Die Türkei war das Land der Vergangenheit ihres Vaters. Nie hatte ihr Vater ihr zu verstehen gegeben, dass die Türkei etwas mit der Zukunft zu tun haben könnte, erst recht nicht mit ihrer Zukunft. Ihre beruflichen Perspektiven lagen in anderen Sprachen, in anderen Ländern. Das hatte immer außer Frage gestanden.

Zwei Wochen hat Kranzler ihr gegeben. Eine davon ist bereits vergangen, ohne dass Alev etwas geschrieben hat. Das an sich wäre kein Grund zur Besorgnis. Eher der normale Lauf der Dinge.

Auch heute fliegt Alevs Blick über die Schlagzeilen, aber sie schafft es nicht weiterzulesen. Sie erkennt die Buchstaben, die Wörter, aber sie ergeben für sie keine Bedeutung. Ihre Gedanken schweifen ab, sie hört die Stimme ihrer Mutter.

Onkel Cem liegt im Sterben, Alev.

Alev schaut auf ihr Handy. Ihr Vater hat sich noch nicht gemeldet, seitdem er in Istanbul ist. Alev weiß, dass er darauf wartet, ihr positive Nachrichten zu schicken, Nachrichten, die es nicht gibt.

Ankara, 1978

Es war Glück im Unglück, dass Mithat mit Saatçı nach Ankara fahren konnte. Mithat hatte noch keinen Führerschein, und das Flugticket hätte er sich nicht ohne Weiteres leisten können.

Sie fuhren in Saatçıs VW-Käfer, den Saatçı mit seinem in Köln verdienten Geld gekauft hatte. Damit würde er zu Hause in Maraş angeben können, dachte Mithat, falls Saatçı dafür der Typ war. Saatçı hatte den kleinen Kofferraum vollgeladen mit Geschenken für seine Familie. Spielsachen, Schokolade, Jeans, Kosmetikprodukte, Küchengeräte. Auch Mithat hatte in letzter Minute noch ein paar Geschenke für die Familie besorgt. Es war nur eine kleine Tasche, aber für jeden etwas dabei.

Saatçı hatte mit seinem Entschluss, zurück nach Maraş zu gehen, ausschließlich Respekt unter den Kölner Freunden und im Verein geerntet. Der Akt der Rückkehr war bemerkenswert, vielleicht schon an sich revolutionär.

Saatçı war ein sicherer Autofahrer, manchmal fuhr er etwas schneller, aber er überschätzte sich nicht. Mithats Anspannung löste sich nach und nach, und er begann sich auch ein wenig zu freuen, vor allem auf seine Geschwister und seinen Vater. Saatçı war keiner, der Fragen stellte, und Mithat traute sich lange Zeit nicht, ihm welche zu stellen.

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