Kapitel 3
Chris
Respect von Aretha Franklin.
Die Wucht dieser Hymne traf mich, als ich gemeinsam mit Jacob und Sam, einem guten Freund von uns, das House of Soul betrat.
Mein Fehler bei der Behandlung von Mrs. Forster lastete noch immer schwer auf mir, und anscheinend konnte man mir das auch ansehen. Denn als ich nach der Arbeit mit Jacob nach Hause gelaufen war, hatte er vorgeschlagen, den Abend heute hier zu verbringen, um »auf andere Gedanken zu kommen«. Eigentlich hatte ich keine Lust darauf gehabt, doch vermutlich war es besser, als in meinem Zimmer zu hocken und wieder und wieder über den Vorfall nachzudenken.
Und jetzt, wo ich hier war, musste ich zugeben, dass es wirklich guttat. Es war seltsam, wie die Musik, die hier gespielt wurde, einen bewegen und etwas in einem verändern konnte. Seltsam, und doch genau das, was ich gerade brauchte.
Drinnen wurden wir von Brook und Sky von der Bühne aus mit einem kleinen Winken begrüßt. Wir gingen vorbei an runden Tischen, die von hölzernen Stühlen gesäumt wurden, bis wir an der kleinen Sitznische in der Nähe der Bühne ankamen, die unser Stammplatz war. Dort nahmen wir Platz, legten unsere Sachen ab, und ich fragte Jacob und Sam, was sie trinken wollten. Dann lief ich quer durch den Raum zur Bar, hinter der sich ein Regal imposant bis zur Decke emporzog. Kurz schaute ich mich nach einem Barkeeper um, als Cohen, der vermutlich gerade das Bierfass unter der Theke gewechselt hatte, aufstand und sich in mein Sichtfeld schob.
»Hey, Chris.«
»Hey, Cohen.« Ich schenkte ihm ein freundliches Lächeln zur Begrüßung, doch wie gewohnt erwiderte er es nicht.
Cohen und ich kannten uns bereits seit einiger Zeit, weil er ein Freund von Sky war, die wiederum mit Sam zusammen war. Trotzdem beschränkten sich unsere Gespräche meistens auf eine Begrüßung und einen Abschied.
Cohen sprach nie viel. Aber irgendwie machte ihn genau das aus.
»Was bekommst du?«, wollte er wissen, während er ein paar herumstehende Gläser wegräumte, um seine Arbeitsfläche geordnet zu halten.
»Erst mal nur drei Bier. Die anderen warten schon.«
»Wer?«
»Sam und Jacob.«
»Okay. Setz dich ruhig, ich brauch kurz ’ne Minute.« Er deutete auf einen freien Barhocker, und ich nahm Platz. Dann griff er nach einem Stofftuch und trocknete die frisch gespülten Biergläser ab.
Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht anders, als ihm dabei zuzusehen. Das glatte dunkelbraune Haar fiel ihm hin und wieder in Strähnen in die Stirn, die er wie beiläufig mit den Fingern zur Seite kämmte. Der Dreitagebart betonte seinen markanten Kiefer, und das weiße Hemd spannte sich über seinen muskulösen Körper. Cohen war nicht einfach nur breit gebaut. Er lebte für den Kraftsport, und das sah man ihm an. Vermutlich waren das und sein schönes Gesicht der Grund, weshalb ihm jeden Abend mindestens drei Frauen ihre Telefonnummer zusteckten.
Doch trotz all dessen waren es seine Augen, die mich am meisten faszinierten. Blaugrau, wie schwere Gewitterwolken, die nur darauf warteten, einen Sturm zu entfesseln. Augen, die aussahen, als hätte sich jahrelange Trauer in ihnen zusammengebraut.
»Alles in Ordnung?«, fragte Cohen.
Ertappt wandte ich den Blick ab, auch wenn es dafür jetzt zu spät war. »Ja … ich … sorry.«
»Schon okay.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Cohen das erste Bier zapfte.
Doch statt erleichtert aufzuatmen, weil er nicht genauer nachhakte, ärgerte ich mich über mein eigenes Verhalten. Ich wusste, dass Cohen es hasste, wenn man ihn angaffte und ihm gegen seinen Willen Handynummern auf feuchten Cocktailservietten notiert rüberschob. Trotzdem hatte ich ihn in diesem Moment auf genau diese Art und Weise angesehen: begierig.
Heute war einfach nicht mein Tag. Ich nahm jedes Fettnäpfchen mit, das ich finden konnte, und wünschte mir gerade nur, der Tag wäre endlich vorüber.
Ein erschöpftes Seufzen glitt über meine Lippen, bevor ein Bierglas mit einem lauten Knallen neben mir abgestellt wurde.
Cohen stand mir gegenüber. Sein Blick aus blaugrauen Augen traf mich und hielt mich an Ort und Stelle. Er sah mich ernst an, und doch war da etwas in seinem Ausdruck, was ich bisher noch nicht von ihm kannte. Es sah aus wie … Sorge.
»Alles okay bei dir? Du wirkst irgendwie ein wenig neben der Spur.«
Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich seine Nachfrage wunderte. »Ja, schon gut. Heute läuft es einfach nicht so.«
»Hm, verstehe. Ist irgendwas Besonderes vorgefallen?«
Einen kurzen Moment rang ich mit mir, ob ich ihm von meinem ersten Arbeitstag erzählen sollte. Zwar kannten wir uns durch gemeinsame Freunde schon länger, hatten aber nie eine besonders tiefgehende Bindung zueinander aufgebaut.
Doch bevor ich eine Entscheidung treffen konnte, nahmen Sam und Jacob sie mir ab, indem sie sich links und rechts von mir auf einem Barhocker niederließen und das Thema wechselten.
»Wir dachten schon, du bist verloren gegangen«, sagte Jacob und klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter.
Ich hatte keine Ahnung, woran das lag, aber mit einem Mal war da ein Hauch von Enttäuschung in mir. Weil ich gerne herausgefunden hätte, wohin das Gespräch mit Cohen hätte führen können. Auf einer tieferen Ebene hatten wir noch nie miteinander geredet.
»Alles gut. Ich hab mich nur kurz mit Cohen unterhalten.«
»Oh, hey«, grüßte Jacob ihn, als hätte er ihn gerade erst bemerkt.
Cohen erwiderte den Gruß mit einem Nicken, ehe er sich der Zapfsäule zuwandte.
Nur wenige Augenblicke später standen zwei weitere Biergläser vor uns. Wir stießen an, und ich nahm einen kühlen Schluck.
»Wie war dein erster Tag in der Praxis?«, wollte Sam wissen und rammte damit das Messer unwissentlich tiefer in die noch immer blutende Wunde.
Aber vielleicht war es ganz gut, darüber zu sprechen, um es besser verarbeiten zu können. »Nicht gerade berauschend. Habe einen ziemlich dummen Fehler gemacht, der auf Kosten meiner Patientin ging.«
Sam verzog das Gesicht zu einer Grimasse und fuhr sich durch das blonde Haar. Er musterte mich aufmerksam mit seinen stechend blauen Augen. »Klingt übel.«
»War es auch.«
»Aber das hätte jedem passieren können«, erinnerte mich Jacob zum wahrscheinlich hundertsten Mal.
»Das stimmt«, pflichtete Sam ihm bei, obwohl er gar nicht wusste, was genau vorgefallen war. »Ich hab heute auch einen ziemlich dummen Fehler bei der Arbeit gemacht. Wir richten ja gerade eine Villa am Stadtrand für ein superreiches Ehepaar ein, und ich hab die falschen Marmorplatten für die Kücheninsel geordert. Es ist zwar grundsätzlich kein Problem, sie wieder zurückzuschicken und die richtigen zu bestellen, aber es verzögert den ganzen Prozess um mehrere Tage, was zu ziemlich viel Krawall mit den Auftraggebenden führen könnte.«
»Oh. Na ja, Mann, war schön, dich gekannt zu haben«, scherzte Jacob, woraufhin ihm Sam seinen Bierdeckel entgegenschleuderte – und ihn am Oberarm traf.
»Das ist nicht witzig. Ich bin schon den ganzen Tag unfassbar mies gelaunt deswegen.« Er seufzte tief und nahm dann noch einen Schluck von seinem Bier.
»Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass die deshalb Ärger machen«, versuchte ich, ihn zu beruhigen. »Wie ihr schon gesagt habt, Fehler können jedem passieren. Außerdem, wenn sie sich eine Riesenvilla leisten können, können sie es sich im Notfall ebenfalls leisten, drei Tage im Hotel zu verbringen, falls sie sonst nichts in der Gegend haben.« Wobei solchen Leuten bestimmt Dutzende Immobilien in der Gegend gehörten.
»Ja, vermutlich hast du recht. Umbringen wird es sie nicht.«
»Und außerdem solltest du dir den Job, für den du so hart gearbeitet hast, nicht durch einen einzigen Kunden versauen lassen. Immerhin hast du dir bisher noch nichts zuschulden kommen lassen.«
Sam hatte im selben Semester mit Jacob und mir angefangen zu studieren. Doch anders als wir hatte er sich für Interior Design entschieden. Gleichzeitig mit Jacob war er als Innenarchitekt in die Berufswelt eingestiegen, und ich wusste genau, wie sehr er seinen Job liebte.
Leider hatten aber auch schöne Jobs ihre Schattenseiten: Druck, Ansprüche, Perfektionismus.
»Du hast recht«, gab er zu. »Das weiß ich ja auch. Manchmal ist es irgendwie nur schwer, daran festzuhalten.«
Ich nickte zustimmend. »Ja, weil wir oft zu Momentaufnahmen neigen. Wir sehen immer nur das, was gerade ist, obwohl das Gesamtbild eigentlich viel größer ist.«
Jacob grinste.
Stirnrunzelnd begegnete ich seinem Blick. »Was ist los?«
»Die ganzen Tipps, die du Sam gibst, ’ne?«
»Was ist damit?«
»Tausch mal in deinem Kopf die Rolle mit ihm. Dann hast du eigentlich dein eigenes Problem gelöst.«
Da war was dran.
Ich steckte in meiner eigenen kleinen Momentaufnahme fest. Immer wieder war da nur Mrs. Forster, die vor meinen Augen litt. Meinetwegen. Weil ich einen Fehler begangen hatte.
Dabei hatte ich heute so vielen anderen Patienten geholfen. So viele, auf die ich mich aus irgendeinem Grund nicht fokussieren konnte.
Vielleicht lag das in unserer Natur als Menschen. Vielleicht konzentrierten wir uns immer so sehr auf die intensiven Augenblicke, dass sie uns viel schlimmer vorkamen, als sie waren. Sie waren nur ein Kratzer auf einem sonst makellosen Gesamtbild, und doch taten wir so, als wären sie ein tiefer, alles zerstörender Krater.
Jacob, der anscheinend sehen konnte, was in meinem Kopf vorging, grinste immer breiter, bevor er überschwänglich den Arm um meine Schulter legte und mich zu sich heranzog. »Siehst du?«
Ein kurzes Lachen glitt über meine Lippen, bevor ich mich von ihm losmachte, um mein Bier auszutrinken. »Ich verstehe.«
»Dein Glas ist leer«, stellte Jacob fest. »Wird wohl langsam Zeit für die nächste Runde.« Er sah sich suchend um, bis sein Blick Cohen fand. »Hey, Cohen. Können wir noch mal drei Bier haben?«
Statt Jacob anzusehen, traf Cohens Blick mich. Ich hatte keine Ahnung, was genau es war, doch mit einem Mal erkannte ich eine tiefe Finsternis zwischen den Gewitterwolken.
Sekunden, die sich wie tonnenschwere Minuten anfühlten, vergingen.
Dann wandte Cohen sich Jacob zu und gab ihm mit einem knappen Nicken zu verstehen, die Bestellung registriert zu haben.
War alles okay bei ihm?
Sam und Jacob wechselten das Thema und führten ein derart belangloses Gespräch, dass ich mich zwischendurch kurz fragte, ob ich mir den Moment mit Cohen bloß eingebildet hatte. Wäre er wirklich gewesen, hätten Sam und Jacob das doch sicher kommentiert, oder war er vielleicht gänzlich an ihnen vorbeigegangen?
Ich hatte keine Ahnung. Das Einzige, was ich wusste, war, dass Cohen beim Zapfen unseres Biers fast schon bewusst versuchte, nicht in meine Richtung zu sehen.
Und als er mir mein Glas dann mit einem lauten Knallen vor die Hände stellte und daraufhin verschwand, ohne mich eines Blickes zu würdigen, fühlte sich das wie eine Antwort auf meine Frage an.
Cohen
Keine zwei Stunden später verschwanden Chris, Jacob und Sam endlich. Die ganze Zeit über hatte ich das Gefühl gehabt, dass Chris mich beobachtete, aber ich konnte es ihm nicht verübeln. Ich war ziemlich abweisend gewesen. Allerdings hatte ich das zu diesem Zeitpunkt nicht richtig unter Kontrolle gehabt.
Da war einfach nur diese … Wut gewesen.
Auf Chris, weil es ihm schlecht ging und er lieber den Seelsorger für Sam gespielt hatte, statt sich um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern.
Auf Sam, weil er Chris nicht zugehört, sondern sich selbst in den Mittelpunkt gespielt hatte.
Wenn ich ehrlich war, wusste ich, dass meine Wut im Augenblick vielleicht ein wenig irrational war. Allerdings kannte ich das Gefühl, dass niemand einen sah, obwohl man so viel zu sagen hatte, nur zu gut. Wenn die eigenen Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse in den Hintergrund rückten, damit die anderer befriedigt wurden.
Ich versuchte, all diese Gedanken von mir abzuschütteln, während ich durch das House of Soul ging und leere Gläser einsammelte. Der Geruch nach abgestandenem Bier schlug mir in die Nase, als sie sich auf meinem Tablett stapelten.
»Und, wie lief’s bei dir?«, fragte Amy, nachdem sie von der Bühne geklettert war und auf die Bar zulief, hinter der ich gerade das Geschirr spülte.
Ich zuckte mit den Schultern. »So wie immer, würde ich sagen. Bei euch?«
Sky schloss zu uns auf, stellte sich neben Amy und legte ihr einen Arm um die Schulter. »Ziemlich gut.«
»Wohl eher großartig«, korrigierte Amy sie mit einem frechen Funkeln in den grauen Augen. Mit den Fingern kämmte sie durch ihre platinblonden schulterlangen Haare, die sich im Laufe des Abends leicht verknotet hatten, weil sie auf der Bühne immer alles gab. »Wir waren echt fantastisch. Aber das hast du ja selbst gehört.«
Ich grinste. Es gab nicht viele Menschen, die so von ihrem eigenen Können überzeugt waren wie Amy.
»Fantastisch trifft es wirklich ganz gut.« Ich drehte mich um und fischte zwei saubere Gläser aus dem Regal hinter mir. »Was wollt ihr trinken?«
Amy fasste sich mit gespielter Arroganz an den Hals. »Für die heiligen Stimmbänder bitte nur ein stilles Wasser.«
Ich biss mir auf die Lippe. »Und du, Sky?«
Sie zog sich einen Haargummi vom Handgelenk und band ihre braunen Locken zu einem hohen Zopf, damit sie ihr nicht ständig ins Gesicht fielen. Ich wusste, wie sehr sie das hasste. »Mir reicht auch ein Wasser. Danke, Cohen.«
»Klar doch.« Während ich ihnen ihr Wasser einschenkte, nahmen sie auf den Barhockern mir gegenüber Platz. »Wo habt ihr eigentlich Brook gelassen?«, fragte ich und reichte ihnen ihre Gläser.
»Sie hat sich heute freigenommen, um bei ihren Eltern nach dem Rechten zu sehen. Ziemlich schwere Grippe. Die liegen schon seit Tagen flach, und Brook wollte heute mal für sie einkaufen gehen und ihnen ein paar Vorräte für die Woche vorkochen.«
»Verstehe.«
»Sie meinte, sie ist ab morgen wieder da«, ergänzte Sky und nahm einen Schluck. »Hoffentlich bleibt es dabei.«
»Selbst wenn nicht, zweistimmig klingen wir auch toll.«
Sky lachte. »Ich glaube, du findest dich auch einstimmig ganz gut.«
Amy nickte selbstzufrieden, und selbst ich konnte in diesem Moment mein Lachen nicht mehr zurückhalten.
Es war schön, wie meine Freundinnen mich ablenkten, ohne es zu merken. Wie sie mich selbst die Wut vergessen ließen, die sich in den letzten Stunden in mir angesammelt hatte. Solche lockeren Gespräche waren manchmal genau das, was man brauchte.
Ich war froh, Sky, Amy und Brook kennengelernt zu haben, als ich meinen Job im House of Soul angefangen hatte. Obwohl die drei sich bereits durch ihr gemeinsames Musikstudium gekannt und eine Einheit gebildet hatten, hatten sie mich sofort in ihren Reihen aufgenommen und mir seitdem nie das Gefühl gegeben, nicht dazuzugehören.
Wir redeten und redeten und hörten auch dann nicht damit auf, als der letzte Gast durch die Tür nach draußen verschwand. Ich räumte noch Kleinigkeiten auf, und Amy und Sky unterstützen mich dabei.
Als wir dann rund eine halbe Stunde später auf der Straße vor der Bar standen, sah Sky uns auf eine fast schon sehnsuchtsvolle Art und Weise an.
»Ich finde es so toll, dass ich mit euch zusammenarbeiten kann, Leute.«
Gespielt angeekelt schob Amy Sky von sich weg. »Du bist so … sentimental, seit du mit Sam zusammen bist. Vielleicht solltet ihr euch doch trennen.«
Sky funkelte sie böse an. »Wir sind doch schon seit zwei Jahren zusammen.«
»Na und? Ich erinnere mich noch an die guten alten Zeiten, wo er nicht war. Mann, war das super.«
»Mein armer Freund.«
»Lass sie ruhig reden«, unterstützte ich Sky. »Wir wissen doch alle, dass Amy von all deinen Freundinnen am besten mit Sam auskommt.«
»Weil ich ein sehr pflegeleichter Mensch bin, Leute. Das hat nichts mit Sam zu tun. Ich komme mit jedem zurecht.«
Ungläubig sah ich sie an. »Du? Pflegeleicht? Du hast dich letztens von der Bühne aus fast mit einem Gast angelegt, weil er nicht deine Schokoladenseite fotografiert hat.«
Sie machte einen Schritt auf mich zu und bohrte mir den Zeigefinger in die Brust. »Da ging es nicht darum, von welcher Seite er mich fotografiert, sondern darum, dass meine besten Züge für Fremde ganz sicher nicht unter meinem Rock sind.«
»Oh.« Ich ballte die Hand zu einer Faust. »Wieso hast du nichts gesagt? Ich hätte ihn rausgeworfen.«
Amy schenkte mir ein weiches, dankbares Lächeln. »Ich weiß, aber ich wollte nicht, dass du ihm wehtust und dafür in Schwierigkeiten gerätst. Außerdem habe ich mich selbst darum gekümmert.«
»Damit meint sie, dass sie nach dem Song zu dem Kerl hin ist, ihm das Handy aus der Hand geschlagen und es mit dem Absatz ihres High Heels zertrümmert hat«, klärte Sky mich auf.
»Verdient. Mit mir sollte man sich besser nicht anlegen.«
»Sonst wird die pflegeleichte Lady zum Drachen, nicht wahr?«, neckte ich sie.
»Für einen sonst so schweigsamen Mann reißt du die Klappe heute echt weit auf.« Ihre Faust traf auf meinen Oberarm, doch ich spürte den Hieb kaum.
Sky lachte. »Manchmal fühlt es sich mit dir noch immer wie auf dem College an, Amy.«
»Ich bin halt jung geblieben.«
»Wohl eher kindisch«, stichelte ich und fing ihren nächsten Faustschlag ab, bevor er mich treffen konnte.
Ein Ton, der einer läutenden Glocke ähnelte, erklang. Sky zog ihr Handy aus der Tasche, las die Nachricht und sagte: »Okay, Sam ist mittlerweile auch wieder zu Hause und fragt schon, wo ich bleibe. Wie wär’s, wenn wir den Rest des Gesprächs auf morgen Abend verschieben? Wir haben doch alle die frühere Schicht oder ganz frei, und ich könnte noch Brook, Jacob und Chris fragen, ob sie Zeit für einen Pizzaabend haben. Es ist schon so lange her, dass wir alle was zusammen unternommen haben.«
Ich konnte nicht genau sagen, was es war, doch bei der Erwähnung von Chris’ Namen rührte sich etwas in mir. Vielleicht war es der leise Wunsch danach, das Gespräch mit ihm an der Stelle weiterzuführen, wo wir unterbrochen worden waren. Herauszufinden, was es gewesen war, das ihn so belastet hatte, um ihm diesmal die Möglichkeit zu geben, darüber zu sprechen.
Damit er nicht auch zu einem Menschen wurde, dessen Inneres ungesehen blieb.
»Klingt gut«, sagte Amy. Dann sah sie mich auffordernd an.
»Ich bin auch dabei.«