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Weihnachten kann kommen

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Schneeflockengestöber und jede Menge familiäre Verstrickungen

Das Weihnachtsfest der Familie Miller ist legendär – eine perfekte Feier, von der die Werbefachfrau Lucy bisher nur gelesen hat. Bis jetzt. Denn dieses Jahr muss sie Ross Miller für einen neuen Vertrag gewinnen. Und weil er ihre Anrufe nicht entgegennimmt, will sie die familiären Vorbereitungen unterbrechen, Ross' Unterschrift einholen und dann verschwinden, bevor ihr Neid auf die grandiose Familie zu stark wird. Doch es kommt alles anders, weil die Millers sie für Ross' neue Freundin halten. Ehe sie sich versieht, ist Lucy eingeladen, über die Feiertage bei ihnen in den verschneiten schottischen Highlands zu wohnen. Ihr vermeintlicher Freund ist wütend, aber die Chemie zwischen den beiden ist ebenso heftig wie überraschend. Entweder steht Lucy das schlimmste Weihnachtsfest aller Zeiten bevor, oder die Verwechslung entpuppt sich als der beste Fehler ihres Lebens.

»Morgan ist eine meisterhafte Geschichtenerzählerin ... Für Fans von Jojo Moyes, Taylor Jenkins Reid und Stacey Ballis.« Booklist


  • Erscheinungstag: 26.09.2023
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905911
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Familie zum Dank
für all die wunderbaren Weihnachtsfeste

1. KAPITEL

LUCY

Lucy Clarke schob sich durch die gläserne Drehtür und stürmte weiter zum Empfangstresen. Noch im Laufen streifte sie Schal und Mantel ab. Das wichtigste Meeting ihres Lebens, und sie kam zu spät.

„Da bist du ja endlich! Ich hab dich immer wieder angerufen! Gib her, lass mich das machen …“ Rhea, die Rezeptionistin, erhob sich von ihrem Stuhl und nahm ihr den Mantel ab. „Wow, du siehst ja umwerfend aus! Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, dem Weihnachtspullis stehen. Wo hast du den aufgetrieben?“

„Meine Großmutter hat ihn gestrickt. Sie meinte, mit dem Glitzergarn zu arbeiten, sei der reinste Albtraum gewesen. Ich persönlich find es ja eher unpassend, ihn ausgerechnet heute zu tragen. Aber Arnie hat darauf bestanden, dass wir weihnachtlich aussehen sollen. Tja, und da dachte ich mir, warum nicht für ein bisschen Lamettastimmung sorgen? Haben sie schon angefangen?“ Sie hatte gehofft, es vielleicht doch noch rechtzeitig zu schaffen, aber die Arbeitsplätze um sie herum waren allesamt leer.

„Ja, und jetzt rein da mit dir.“

Lucy tauschte ihre Laufschuhe gegen Wildlederstiefel und hüpfte dabei auf der Stelle. Ihre Finger waren so klamm, dass sie unbeholfen an den Reißverschlüssen herumfummelte. „Tut mir leid, ich hab meine Handschuhe vergessen.“ Sie warf Rhea ihre Tasche zu, die sie unter dem Tresen verstaute.

„Was war los? Ist dein Zug ausgefallen?“

„Signalstörung. Musste laufen.“

„Du bist gelaufen? Hättest du nicht einfach ein Taxi nehmen können?“

„Alle schon weg. Offenbar hatten die Idee vor mir noch hundert andere.“ Sie legte ihren Schal auf den Empfangstresen. „Wie ist die Stimmung?“

„Die Vorfreude auf Weihnachten hält sich in Grenzen, schließlich befürchten wir alle, demnächst keinen Job mehr zu haben. Nicht mal die Weihnachtspullover entlocken irgendwem ein Lächeln. Dabei trägt Ellis aus der Buchhaltung sogar etwas, das aussieht wie ein Weihnachtsbaum aus Wolle und das so kratzig ist, dass ich ihm eine Antihistamin-Tablette geben musste.“

„Wir werden unsere Jobs behalten.“

„Das kannst du nicht wissen“, sagte Rhea. „Allein letzten Monat haben wir zwei wichtige Kunden verloren. Ich weiß schon, das war nicht unsere Schuld. Aber am Ende kommt es aufs Gleiche raus.“

„Dann müssen wir eben neue Kunden finden.“

„Sosehr ich deinen Optimismus auch bewundere, ich mache mir da keine falschen Hoffnungen. Ich liebe meinen Job. Es behaupten ja viele Unternehmen von sich, dass sie wie eine große Familie sind, was in den meisten Fällen absoluter Quatsch ist. Aber hier fühle ich mich wirklich wie zu Hause. Na ja, du brauchst dir ja sowieso keine Sorgen zu machen. Bei deinem Genie findest du problemlos was Neues.“

Lucy wollte aber keinen neuen Job. Sie wollte diesen hier.

Sie dachte daran, wie viel Spaß sie bei der Arbeit hatten. Wie oft sie miteinander lachten. Mitten in der Nacht Pizza bestellten, wenn sie einen Pitch vorbereiteten. Die knallenden Korken am Freitag, wenn es etwas zu feiern gab. Dachte an die Freundschaften, den Zusammenhalt. Sie würde nie vergessen, wie sehr ihre Kolleginnen und Kollegen sie in der schlimmsten Zeit ihres Lebens unterstützt hatten.

Und dann war da natürlich noch Arnie selbst. Sie hatte ihm mehr zu verdanken, als sie in Worte fassen konnte. Er hatte ihr all das Selbstvertrauen zurückgegeben, das man ihr in ihrem ersten Job genommen hatte. Hatte sie aufgesammelt, als sie am Boden lag. Sechs Jahre arbeitete sie nun schon für Arnie, und immer noch lernte sie täglich von ihm dazu. Was vermutlich auch so bleiben würde, weil die Agentur klein und agil war und alle Angestellten gleichermaßen ermutigt wurden, sich einzubringen, ganz egal, wie viel oder wenig Erfahrung sie mitbrachten. Wenn sie in einem der großen Läden anfinge, wäre es damit vorbei.

„Sehe ich halbwegs akzeptabel aus?“

Rhea strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du wirkst entspannter als wir alle zusammen. Hier regiert die blanke Panik. Maya hat doch gerade erst eine Wohnung gekauft. Und Ted dürfte jede Minute zum ersten Mal Vater werden.“

„Stopp! Wenn du mich weiter daran erinnerst, was alles auf dem Spiel steht, ist es mit der Entspanntheit direkt wieder vorbei.“ Sie legte sich die Hände an die brennenden Wangen. „Den letzten Kilometer bin ich gerannt. Sei ehrlich: Sehe ich aus wie eine Tomate?“

„Sagen wir, dein Gesicht passt farblich zum Thema Weihnachten.“

„Tannengrün oder Weihnachtsmannrot?“

„Los, rein da mit dir.“ Rhea schob sie in Richtung Konferenzraum, und Lucy hastete los.

Die anderen hatten sich um den Tisch versammelt. Am Kopfende stand Arnie in demselben roten Pullover, den er immer trug, wenn es weihnachtlich zugehen sollte.

Arnie, der die Agentur vor über dreißig Jahren gegründet hatte. Arnie, der vor zwei Jahren seine private Weihnachtsfeier mit seiner Familie verlassen hatte, um Lucy im Krankenhaus zur Seite zu stehen, als ihre Großmutter im Sterben lag.

Sie stieß die Glastür auf, und dreißig Köpfe fuhren zu ihr herum.

„Tut mir leid, dass ich zu spät bin.“

„Kein Problem, wir haben gerade erst angefangen.“ Arnies Lächeln war warm, aber die dunklen Schatten unter seinen Augen konnte man nicht übersehen. Die Situation war für alle Beteiligten schwer, aber ihn traf sie besonders hart. Der unerwartete Verlust ihrer beiden wichtigsten Auftraggeber bedeutete, dass er einige unangenehme Entscheidungen treffen musste, und die brachten ihn ganz offensichtlich um den Schlaf.

Neulich erst hatte er bis Mitternacht an seinem Schreibtisch gesessen und auf die Zahlen gestarrt, als könnte er sie mit reiner Willenskraft ändern. Kein Wunder, dass er erschöpft war.

Sie setzte sich auf einen freien Platz und versuchte zu ignorieren, wie sich ihr Magen vor Sorge schmerzhaft zusammenzog.

„Es soll eine Weihnachtskampagne werden.“ Arnie nahm den Faden direkt dort wieder auf, wo er ihn durch ihr Hereinplatzen verloren hatte. „Glitzerndes Funkeln, Weihnachtsbäume, Schnee. Fotos von flackerndem Kaminfeuer, kuschligen Decken, dampfenden Bechern voll heißer Schokolade und Marshmallows – und Lichterketten. Lichterketten überall. Das ist die Richtung, in die wir denken sollten. Die Bilder müssen so festlich und ansprechend sein, dass selbst eingefleischte Weihnachtshasser in Stimmung kommen. Vor allem aber müssen wir ihnen das Gefühl geben, dass Weihnachten nur dann wirklich Weihnachten ist, wenn sie sich selbst und jedem, den sie kennen, ein Paar …“ Arnie sah sich fragend um. „Wie heißt das Produkt noch mal?“

Lucys Blick glitt zu der Schachtel auf dem Tisch. „Fingerflauschis“, half sie aus.

„Richtig, ein Paar Finger…flauschis schenken.“ Arnie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, sodass es wild von seinem Kopf abstand. Das war eine seiner zahlreichen liebenswerten Marotten. „Wer auch immer ihnen bei der Namensfindung geholfen hat, sollte seine Berufswahl lieber noch mal überdenken. Aber das ist nicht unser Problem. Unser Problem ist es, Fingerflauschis zu dem Must-have unterm Weihnachtsbaum zu machen. Trotz des Namens. Und obwohl wir keine Zeit mehr haben, eine Breitenkampagne auf die Beine zu stellen. Uns bleibt nur eine Möglichkeit: Social Media. Direkter, wirksamer Zielgruppenkontakt. Zeigt Leute, die es warm und gemütlich haben. Hat irgendwer hier die verdammten Dinger schon mal ausprobiert? Lucy, da du als Letzte reingekommen bist und ständig deine Handschuhe vergisst … wärst du bitte so nett?“

Pflichtbewusst schob Lucy eine Hand in einen Fingerflauschi und schaltete ihn ein.

Das gesamte Team beobachtete sie erwartungsvoll.

Arnie breitete die Hände aus. „Und? Wird es schon warm und gemütlich? Jubelst du innerlich ob dieser kuschligen Offenbarung?“

Von Jubel war sie weit entfernt. Wenn überhaupt, war ihr ein bisschen übel. Und leicht deprimiert war sie auch. Aber das war beides nicht auf den Fingerflauschi zurückzuführen. „Er braucht etwas, um warm zu werden, Arnie.“

Ted wirkte irritiert. „Das ist doch einfach nur … ein Handschuh!“

„Mag sein.“ Arnie stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte und beugte sich vor. „Aber Laufschuhe waren auch einfach nur Laufschuhe, bis wir die Menschen davon überzeugt haben, dass sie dieses eine bestimmte Modell zu ganz neuen Menschen macht. Es gibt doch kaum noch wirklich originelle Produkte da draußen. Nur originelle Kampagnen.“

Das war so typisch Arnie mit seiner unverbesserlichen Begeisterung.

Der Kloß in Lucys Hals wurde dicker. Arnie hatte mit einem solchen Haufen gewaltiger Probleme zu kämpfen, und trotzdem stand der Kunde für ihn immer noch im Vordergrund. Selbst wenn es ein so kleiner Kunde war wie dieser hier.

„Langsam wird er warm“, sagte sie. „Wer weiß, vielleicht helfen die Dinger ja gegen die Frostbeulen, die ich mir auf dem Weg hierher eingefangen habe.“

Arnie nahm ebenfalls einen Fingerflauschi aus der Packung. „Der perfekte Inhalt für den Weihnachtsstrumpf. Warme Hände in klirrend kalten Winternächten – langsam bekomme ich ein Gefühl für das Produkt. Gibt es die in verschiedenen Größen? Können die auch von Kindern benutzt werden? Sind sie ungefährlich? Nicht, dass ein Kind zu Schaden kommt.“

„Ja, die können auch Kinder anziehen, und, ja, es gibt verschiedene Größen.“ Lucys Finger wurden immer wärmer. „Ich glaube, ich habe gerade zum ersten Mal in meinem Leben warme Hände. Fingerflauschis könnten meine neuen Dauerbegleiter werden.“

„Wir brauchen Fotos, die Kinder ansprechen. Besser gesagt die Eltern der Kinder. Das volle Programm, alles, was Eltern zu Weihnachten mit ihrem Nachwuchs machen. Eis laufen, Rentiere – Rentiere sind dem Kunden ausgesprochen wichtig. Also Rentiere, die …“ Er geriet ins Stocken und sah sich hilflos um. „Was macht man eigentlich mit so einem Rentier? Keine Ahnung. Ich weiß noch nicht mal, wo man überhaupt welche findet, abgesehen von denen auf Alisons Pullis natürlich. Aber wenn man eins findet – was dann? Reitet man darauf? Ja! Ja, die Idee gefällt mir.“ Einer der zahlreichen Gründe, aus denen Arnie in der Welt der Kreativagenturen als Legende galt, bestand darin, dass seiner Fantasie keine Grenzen gesetzt waren. Manchmal erzielte er mit diesem Ansatz bemerkenswerte Erfolge. Und manchmal …

Blicke wurden gewechselt, Popos rutschten auf Stühlen herum. Dreißig Augenpaare wanderten zu Lucy.

Sie sah ihn unverwandt an. „Ich finde die Idee, Rentiere einzusetzen, kreativ und vielversprechend, Arnie. Da stecken eine Menge toller Bilder drin. Vielleicht ein Kind mit einem Haufen hübsch verpackter Geschenke neben einem Rentier? Das Gesicht strahlt vor Vorfreude, Schneeflocken rieseln vom Himmel, warme Hände …“ Sie ließ ihrer Vorstellungskraft freien Lauf. „Alles maßgeschneidert auf die Zielgruppe, viel Identifikationspotenzial.“

„Aber du findest nicht, dass jemand auf dem Rentier reiten sollte?“

„Nein, Arnie, das finde ich nicht“, sagte sie ganz offen.

„Wieso nicht? Der Weihnachtsmann macht das doch auch!“

„Aber der Weihnachtsmann ist eine Ausnahme. Abgesehen davon, dass er meistens in seinem Schlitten sitzt.“ Fand dieses Gespräch gerade ernsthaft statt?

Einen Moment lang drohte die Stimmung zu kippen, dann lachte Arnie auf, und alle Anwesenden waren erleichtert.

„Stimmt. Ach …“ Arnie winkte ab. „Werdet einfach kreativ, macht was draus. Du hast grünes Licht für alles, das der Kampagne deiner Meinung nach das gewisse Weihnachts-Extra verleiht, Lucy. Mach mich stolz. Ach, was sag ich. Als hättest du je was anderes getan.“

„Ich soll das Projekt übernehmen?“ Lucy sah sich im Konferenzraum um. Außer Arnie und ihr waren noch neunundzwanzig weitere Personen anwesend. „Vielleicht sollte das besser jemand anders …“

„Nein, ich will dich für den Job. So spät im Jahr noch die Influencer an Bord zu holen, ist praktisch unmöglich – und du bist unsere Spezialistin dafür, Unmögliches möglich zu machen.“ Er rieb sich die Brust, und Lucy hielt besorgt inne.

„Alles in Ordnung mit dir, Arnie?“

„Geht so. Ich war gestern mit einem unserer Konkurrenten essen. Martin Cooper, CEO von Fitzwilliam Cooper. Hat den halben Abend damit angegeben, dass er so viele Aufträge hat, dass er kaum mehr hinterherkommt. Kein Wunder, dass mir das auf den Magen geschlagen ist. Kann aber auch das Lamm gewesen sein. Es war viel zu scharf, das vertrag ich nicht so gut.“ Er hörte auf, sich die Brust zu reiben, und zog eine finstere Miene. „Der Mann hat allen Ernstes die Unverfrorenheit besessen, mich zu fragen, ob er deine Kontaktliste haben kann, Lucy. Ich hab ihm gesagt, dass ihm die auch nicht helfen wird, weil dein Umgang mit diesen Kontakten das Entscheidende ist. Du bist die Zauberzutat, mit deinem Talent, Leute davon zu überzeugen, Dinge zu tun, die sie nicht tun wollen und für die sie eigentlich auch gar keine Zeit haben.“

Lucy entschied sich, nicht zu erwähnen, dass sie im vergangenen Monat zweimal von einer Personalerin von Fitzwilliam Cooper kontaktiert worden war, die ihr einen Job anbieten wollte.

Besser, sie wechselte das Thema. „Mitten in London ein Rentier zu finden, könnte …“

„In Finnland und Norwegen gibt es welche, aber dafür haben wir weder die Zeit noch das Budget. Aber … Oh, Moment!“ Arnie hob eine Hand. „Schottland! In Schottland gibt es auch Rentiere, das hab ich erst kürzlich gelesen. Ich bitte Rhea, den Artikel aufzutreiben und dir zu mailen. Schottland, perfekt. Ich liebe diesen Job! Ihr nicht auch?“

Seine Frage wurde mit nervösem Grinsen quittiert. Denn, ja, nahezu ausnahmslos alle Anwesenden liebten ihren Job tatsächlich. Umso mehr bangten sie nun, dass sie ihn nicht mehr lange behalten würden.

Lucy dagegen war voll und ganz mit einem dringlicheren Problem beschäftigt: Wie um Himmels willen sollte sie eine Reise nach Schottland in ihren Terminkalender quetschen?

„Es sind nur noch zwei Wochen bis Weihnachten, Arnie.“

„Du weißt ja, was ich immer sage. Nichts …“ Er legte eine Hand ans Ohr und wartete.

„… fördert die Konzentration besser als eine Deadline“, riefen sie alle im Chor, und Arnie strahlte wie ein Dirigent, dessen Orchester gerade eine virtuose Darbietung geliefert hatte.

„Ganz genau. Du schaffst das schon, Lucy, das weiß ich. Erstens, weil du unsere Feuerwehr bist, die bisher noch jedes Projekt gerettet hat, und zweitens, weil Weihnachten dein Spezialthema ist.“ Er machte eine ausladende Geste, als hätte er ihr gerade ein ganz besonderes Geschenk überreicht. „Das Projekt gehört dir, stell dir dein Team zusammen.“

Lucy rang sich ein schiefes Lächeln ab. Arnies Enthusiasmus und Wärme waren einfach zu mitreißend, um Nein zu sagen. Selbst wenn man es eigentlich wollte.

Und was hätte sie auch sagen sollen?

Weihnachten und ich, das hat sich erledigt. Nein, das konnte sie nicht bringen. Anfangs, als der Schmerz und die Trauer noch grell und stechend gewesen waren, hatte sie sich mit all ihrem Gewicht auf die anderen gestützt. Aber seitdem war viel Zeit ins Land gegangen, und sie konnte ja schlecht für den Rest ihres Lebens ein Häuflein Elend bleiben. Ganz gleich, wie sehr ihr die Weihnachtszeit zu schaffen machte. Sie musste lernen, sich zusammenzureißen. Nur dass sie bislang noch keine Ahnung hatte, wie sie das anstellen sollte, denn es gab immer wieder Tage, an denen sie das Gefühl hatte, noch ganz am Anfang zu stehen.

Aber im Augenblick hatte das Überleben der Agentur Priorität, was bedeutete, dass sie nach Schottland reisen musste. Außer es gelang ihr, ein Rentier aufzutreiben, das weniger weit weg lebte. Vielleicht im Zoo? Und wenn sie versuchte, den Kunden zu überreden, es statt mit einem Rentier mit einem Lama zu versuchen? Oder einem Alpaka? Oder einem sehr, sehr großen Schaf? Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf, bis das Pingen eines Handys sie wieder in den Konferenzraum zurückkatapultierte.

Ted sprang so panisch auf, dass seine Unterlagen durch die Luft segelten. Er starrte auf die eingegangene Nachricht, dann wurde er leichenblass. „Es geht los! Es kommt! Das Baby, meine ich. Das Baby kommt! Mein Baby. Unser Baby! Ich muss ins Krankenhaus. Sofort!“ Das Handy fiel ihm aus der Hand, er bückte sich, um es aufzuheben, und knallte dabei mit dem Kopf an die Tischkante.

Lucy verzog das Gesicht. „Autsch! Ted …“

„Alles bestens.“ Er rieb sich die Stirn und grinste verlegen. „Ich werde Papa.“

Maya grinste. „Ach, sag bloß!“

„Sophie braucht mich jetzt, ich …“ Ted ließ das Handy ein zweites Mal fallen, aber diesmal war Alison schneller, sie hob es auf und reichte es ihm.

„Atmen nicht vergessen, Ted.“

„Ja, richtig, guter Hinweis. Atmen. Das haben wir viel geübt. Also, natürlich ist das eigentlich Sophies Aufgabe, aber es kann sicher nicht schaden, wenn ich mitmache.“ Ted schob sich die Brille den Nasenrücken hoch und warf Arnie einen entschuldigenden Blick zu. „Ich …“

„Geh schon.“ Arnie wedelte mit der Hand in Richtung Tür. „Und vergiss nicht, uns auf dem Laufenden zu halten!“

Ted wirkte hin- und hergerissen. „Aber das hier ist ein wichtiges Meeting, und …“

„Nichts ist wichtiger als die Familie“, sagte Arnie fest. „Du musst jetzt bei Sophie sein. Aber halt uns auf dem Laufenden, ja?“

Ted stürzte aus dem Konferenzraum, kam aber eine Sekunde später zurück, um die Jacke zu holen, die er vergessen hatte. Und dann noch einmal wegen seiner Laptoptasche.

„Ach so, da war ja noch was.“ Heftig atmend blieb er in der Tür stehen. „Ich habe eine Spielzeugeisenbahn bestellt, die müsste heute hier ankommen. Kann bitte jemand das Paket entgegennehmen?“

Maya hob ihre perfekt geformten Augenbrauen. „Eine Spielzeugeisenbahn?“

„Ja, für das Baby, zu Weihnachten.“ Teds Stimme brach, und Arnie umrundete den Tisch, um ihm beruhigend die Hand auf die Schulter zu legen.

„Eine Spielzeugeisenbahn ist garantiert genau das Richtige. Wir kümmern uns um das Paket. Und jetzt auf mit dir! Rhea soll dir ein Taxi rufen. Du musst so schnell wie möglich zum Krankenhaus.“

„Ja, danke.“ Ted hastete zum Empfang, allerdings nicht, ohne mit der Schulter am Türrahmen hängen zu bleiben.

Maya zuckte zusammen. „Hoffentlich verpassen sie ihm in der Klinik ein Beruhigungsmittel oder so. Und glaubst du wirklich, dass ein Taxi schneller ist als die Bahn?“

„In Teds aktuellem Zustand bestimmt, mit der Bahn verfährt er sich am Ende noch“, sagte Arnie. „Das Taxi setzt ihn zumindest direkt vor der Tür ab. Mit etwas Glück sogar unverletzt und samt all seiner Habseligkeiten.“

„Eine Spielzeugeisenbahn?“ Der Praktikant Ryan grinste. „Aber er weiß schon, dass ein Baby damit noch nicht spielen kann, oder?“

„Ich gehe schwer davon aus, dass Ted derjenige sein wird, der damit spielt“, erklärte Arnie. „Aber so aufregend das alles auch ist, wir sollten uns wieder dem Geschäftlichen widmen. Wo waren wir? Ach ja, die Fingerflauschis. Und, Lucy? Bist du an Bord?“

„Klar bin ich an Bord, Arnie.“ Sie würde schon eine Möglichkeit finden, auch dieses Produkt von seiner apartesten Seite zu präsentieren. Eine Last-Minute-Weihnachtskampagne auf die Beine stellen. Irgendwo ein Rentier auftreiben. Und bei ihren sämtlichen Kontakten Gefallen einlösen – bei all den Influencern mit hoher Reichweite und aktiven Followern, mit denen sie in der Vergangenheit bereits zusammengearbeitet hatte. Irgendwie würde sie das alles schon hinbekommen, und irgendwie würde es ihr sogar gelingen, dabei hin und wieder die Tatsache zu vergessen, dass ihre Arbeit manchmal ganz schön albern sein konnte.

Arnie räusperte sich, und Lucys Blick schoss zu ihm.

Ihm war anzusehen, dass nun der Teil des Meetings bevorstand, vor dem sich alle fürchteten.

„Kommen wir zu einer weniger schönen Angelegenheit. Wie ihr alle wisst, haben wir im vergangenen Monat zwei wichtige Kunden verloren. Das war nicht unser Fehler. Eines der beiden Unternehmen muss sich verkleinern, weil die Umsätze stark gesunken sind, ein anderes will Kosten einsparen und hat sich für eine günstigere Agentur entschieden. Ich habe zwar versucht, ihnen klarzumachen, dass Qualität ihren Preis hat, bin damit aber auf taube Ohren gestoßen. Zwei so große Verluste innerhalb so kurzer Zeit sind ein schwerer Schlag.“ Er räusperte sich. „Da will ich euch nichts vormachen.“

„Nun rück schon raus mit der Sprache, Arnie. Hast du dich entschieden, wen du entlassen wirst?“ Wie so oft war es die für ihre direkte Art bekannte Maya, die laut aussprach, was alle Anwesenden gerade dachten.

„Ich will niemanden entlassen.“ Arnie atmete tief durch. „Und das nicht nur, weil ihr so ein ulkiger Haufen seid, wenn ihr mich nicht gerade in den Wahnsinn treibt.“

Alle versuchten, sich ein Grinsen abzuringen.

„Danke, Arnie.“

„Die Wahrheit lautet, ohne gute Leute gewinnen wir keine neuen Kunden. Und ohne gute Leute können wir auch keine Projekte betreuen. Aber ich muss diese guten Leute bezahlen können, und wenn es uns nicht gelingt, in absehbarer Zeit einen dicken Fisch an Land zu ziehen, stecken wir ganz schön in der Tinte.“ Er legte die Hände auf die Tischfläche und verstummte. Dann fuhr er fort: „Ich war immer ehrlich zu euch und will es auch jetzt sein. Das hier ist die schwierigste Phase, die diese Agentur seit ihrer Gründung vor dreißig Jahren durchlebt hat. Aber es gibt noch Hoffnung. Ich habe ein paar neue Kunden an der Angel und werde in allen Fällen persönlich am Ball bleiben. Und dann gibt es da noch etwas, das wir ausprobieren werden. Bislang ist es reine Spekulation, aber einen Versuch ist es trotzdem wert. Eine riesige Sache. Wenn daraus etwas wird, sind wir aus dem Schneider.“

Aber was, wenn nicht?

Lucy dachte an Ted und sein Baby. Sie dachte an Maya, die sich gerade eine Wohnung gekauft hatte, und wie großen Respekt sie davor gehabt hatte, einen Kredit in dieser Höhe aufzunehmen. Und natürlich dachte sie an sich selbst. Daran, wie sehr sie diesen Job liebte und wie sehr sie ihn brauchte. In der ersten Zeit nach dem Tod ihrer Großmutter war für sie die Arbeit der einzige Grund gewesen, überhaupt aufzustehen. Ihr Job war das Einzige, was ihr Sicherheit gab – sowohl finanziell als auch emotional.

Er war das Wichtigste in ihrem Leben.

Ihre Brust zog sich schmerzhaft zusammen.

Sie konnte keine weiteren Veränderungen mehr ertragen. Keinen weiteren Verlust.

Sie sah durch die Fensterfront des Konferenzraums und zwang sich, ruhig und langsam zu atmen. Hier vom zwanzigsten Stock aus wirkte es so, als würde sich London unter ihr ausbreiten wie ein gewaltiger Teppich. Dort war die Kuppel der St. Paul’s Cathedral, da die Themse, die sich unter der Tower Bridge hindurchwand. Drei rote Doppeldeckerbusse schoben sich durch den dichten Verkehr, und die Gehwege waren voller Menschen, allesamt in Eile und den Blick fest auf ihre Handys gerichtet.

Der Kloß in ihrem Hals war wieder da.

Ob sie wegziehen musste, falls sie ihren Job in der Agentur verlor? Aber sie wollte nicht wegziehen! Hier war sie doch groß geworden, bei ihrer Großmutter, die London über alles geliebt hatte. Und die ihre Begeisterung für die Stadt bereitwillig mit ihrer Enkelin teilte.

Sieh mal da, Lucy, Pudding Lane! Hier begann 1666 der große Brand von London.

Sie hatten den Tower of London besucht, einen von Lucys Lieblingsorten. Waren Hand in Hand durch die Parks geschlendert und mit dem Boot über den Serpentine gerudert. Hatten auf feuchtem Rasen gepicknickt und Enten gefüttert. Jedes Jahr zu Weihnachten waren sie gemeinsam ins Royal Opera House gegangen, um sich den Nussknacker anzusehen. Jede Straße, jede Sehenswürdigkeit, ganz gleich ob berühmt oder unbekannt, war verknüpft mit Erinnerungen an ihre Großmutter.

Und auch Lucy liebte London. Sie gehörte hierher. Manchmal fühlte es sich an, als hätte die Stadt ebenso fest ihre Arme um Lucy geschlungen, wie ihre Großmutter es damals so oft getan hatte, in jener ersten Zeit nach dem Tod ihrer Eltern.

Die Weihnachtszeit war besonders hart. Während der Feiertage war es unmöglich, nicht an ihre Großmutter zu denken. Unmöglich, sich nicht zu wünschen, dass sie zurückkam. Sich nicht zu wünschen, mit ihr durch die Stadt zu schlendern und die funkelnden Schaufensterauslagen zu betrachten. Danach in einem gemütlichen Café heiße Schokolade zu trinken. Es gab nichts, worüber sie nicht hatten reden können. Lucy hatte ihrer Großmutter niemals etwas verheimlicht, nicht einmal Kleinigkeiten. Diese Vertrautheit vermisste sie vielleicht am meisten. Offen reden zu können, ohne befürchten zu müssen, jemandem mit ihren Problemen zur Last zu fallen.

Bedingungslose Liebe. Eine Liebe, auf die sie bauen konnte. Das war es, was ihr fehlte. Aber dieses Geschenk war ihr entrissen worden. Und seitdem fühlte sie sich schutzlos und allein. Kalt.

Die Erinnerungen drohten sie zu überwältigen. Doch dann fiel ihr Blick auf Arnie, und sie kam sich selbstsüchtig vor, weil sie nur an sich dachte, während er gerade durch die Hölle ging. Denn er sorgte sich nicht nur um seine eigene Zukunft, sondern um die jedes einzelnen Mitglieds seines Teams.

Sie mussten einfach einen großen Kunden an Land ziehen. Es ging gar nicht anders.

Arnie redete immer noch. „Wir dürfen das Positive nicht aus dem Blick verlieren. Konzentrieren wir uns auf unsere Stärken: Wir nutzen die Macht der sozialen Medien und revolutionieren so die Kommunikation zwischen Marke und Kunden. Wir sind Experten im Influencer-Marketing. Wir verändern die Gewohnheiten der Konsumenten und …“

Lucy machte sich ein paar Notizen.

Keine Minute später hatte sie eine Liste von rund einem Dutzend Influencern aufgestellt, die ihr behilflich sein konnten. Leute, zu denen sie eine Beziehung aufgebaut hatte. Leute, die sich sogar noch freuen würden, ihr einen Gefallen tun zu dürfen, weil sie wussten, dass sie dafür in Zukunft etwas bei ihr gut-hatten.

„Wir müssen bekannter werden, uns ein hochkarätiges Profil zulegen. In diesem Sinne bitte ich um einen kräftigen Applaus für unser Covergirl Lucy!“ Arnie deutete auf einen dicken Stapel der neusten Ausgabe eines Hochglanz-Marketingmagazins. „Das Gesicht des modernen Marketings. Tolles Foto, Lucy. Und ein fantastisches Interview. Wahnsinnswerbung für die Agentur. Wer den Artikel noch nicht gelesen hat, sollte das nachholen. Lucy, wir sind stolz auf dich, und was den Rest von euch betrifft: Wir brauchen mehr davon! Wir müssen sichtbarer werden.“

Es folgten ein paar „Bravo, Lucy!“-Rufe und kurzes Klatschen.

Lucy musterte mit einem verlegenen Lächeln das Cover. Sie erkannte sich kaum wieder. Vor dem Shooting hatte sie eine Stunde in der Maske verbracht und sich danach kein bisschen mehr wie sie selbst gefühlt. Was sie allerdings gar nicht mal so übel fand. Die Lucy auf dem Bild sah nämlich so aus, als hätte sie ihr Leben im Griff. Die Lucy auf dem Bild stand morgens nicht hyperventilierend vor dem Badezimmerspiegel, weil sie solche Angst hatte, dass heute womöglich der Tag gekommen war, an dem sie die Kontrolle verlieren und in aller Öffentlichkeit einen Nervenzusammenbruch erleiden würde. Cover-Lucys Gefühle waren keine tickende Zeitbombe, die jederzeit ohne Vorwarnung explodieren konnte. Die echte Lucy dagegen litt seit dem Verlust ihrer Großmutter an Angstzuständen. Hangelte sich ohne Netz und doppelten Boden durch den Alltag.

Und jetzt stand auch noch Weihnachten vor der Tür. Wenn es eine Zeit gab, die einem unter die Nase rieb, dass man keine Familie hatte, dann diese. Das Schlimmste daran? Dass sie Weihnachten immer schon geliebt hatte. Es war eine Zeit gewesen, auf die sie sich das ganze Jahr über gefreut hatte. Bis zu jenem grauenvollen Weihnachten vor zwei Jahren, als sie die Feiertage am Krankenhausbett ihrer Großmutter wachend verbracht hatte. Seitdem bedeutete Weihnachten für sie nicht mehr Tannenbäume und Lametta, dicke Schals und Christmette, sondern piepende Maschinen, Ärzte mit ernsten Gesichtern und die zarte, von blauen Flecken übersäte Hand ihrer Großmutter in ihrer eigenen. Ein schwerer Schlaganfall, hatten sie gesagt. Dennoch hatte sie bis zum 31. Dezember durchgehalten, ehe sie Lucy verließ, die das neue Jahr daraufhin allein hatte meistern müssen. Dieses und alle, die folgen würden. Ohne den Menschen, den sie am meisten liebte. Den Menschen, der ihr gleichzeitig Großmutter und Elternersatz gewesen war. Den einzigen Menschen, der sie wirklich gekannt und bedingungslos geliebt hatte.

Letztes Jahr – es war ihr erstes Weihnachten allein gewesen – hatte sie sich gezwungen zu feiern. Wobei feiern wohl nicht das richtige Wort war. Sie hatte sich einen Baum besorgt und ihn mit all dem Schmuck behängt, den ihre Großmutter und sie im Lauf der Jahre zusammengetragen hatten. Siehst du, Gran? Ich lass mich nicht unterkriegen. Du wärst stolz auf mich. Aber es war hart gewesen. Ihr Herz hatte sich angefühlt, als wäre sie barfuß und bergauf einen Marathon gelaufen. Weihnachten war für sie immer eine verzauberte Zeit gewesen. Doch nun war dieser Zauber fort, und sie wusste nicht, wie sie ihn wiederherstellen sollte. Die Wahrheit lautete, dass es ihr vor Weihnachten graute und sie es am liebsten einfach ignorieren würde, wenn sie denn eine Wahl gehabt hätte.

Panik stieg in ihr auf und schlug ihre scharfen Krallen in ihre Brust.

„Das ist der Punkt, an dem ihr alle gefordert seid“, sagte Arnie gerade. „Glaube ich an Wunder? Kann schon sein. Denn ich spekuliere auf den Hauptgewinn. Einen Kunden, der all unsere Probleme auf einen Schlag lösen würde. Den größten Fisch im Becken. Na, kommt jemand drauf?“ Er sah sich erwartungsvoll um. „Moment, ich geb euch einen Hinweis: Fitness und Sportswear.“

Ein Grund mehr für sie, in Panik zu verfallen.

Bitte kein Sport. Alles, nur das nicht.

Fitnessstudios machten ihr Angst, und für Sportbekleidung gab es in ihrem Leben keinerlei Bedarf. Ihr Trainingsprogramm bestand darin, durch London zu rennen, um sich mit Kunden und Influencern zu treffen und coole neue Locations für ihre visuellen Kampagnen zu suchen.

Wäre nur Ted noch da gewesen! Sport war genau sein Ding. In Gedanken ging Lucy die größeren Marken durch und sortierte direkt diejenigen aus, die ihres Wissens bereits fest mit anderen Agenturen zusammenarbeiteten.

Eigentlich kam nur eine einzige infrage.

„Meinst du etwa Miller Active? Der CEO ist Ross Miller.“

„Kennst du ihn etwa?“

„Nur vom Hörensagen. Seiner Familie gehört Glen Shortbread.“ Ihre Großmutter hatte das Buttergebäck des Traditionsunternehmens immer als „Trost aus der Keksdose“ bezeichnet. Es war ihre liebste Weihnachtsleckerei gewesen.

„Ist Glen Shortbread das in diesen hübschen Dosen?“ Maya kaute auf ihrem Stift herum. „Die jedes Jahr anders aussehen? Letztes Jahr waren verschneite Berge und ein See drauf. Ich liebe die, echt lecker! Ich schenke meiner Mum jedes Jahr eine Dose. Beim bloßen Anblick der Dinger wird mir immer ganz weihnachtlich zumute.“

„Ja, genau die.“ Lucy hatte selbst immer noch drei leere Dosen zu Hause, obwohl ihre Wohnung eigentlich viel zu klein war, um unnütze Dinge aufzuheben. Aber sie brachte es einfach nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Also benutzte sie sie zur Aufbewahrung. Zwei waren voller alter Fotos, und in der dritten befanden sich die Briefe, die ihre Großmutter ihr während des ersten Collegejahrs geschickt hatte. Damals hatte sie solches Heimweh gehabt, dass sie kurz davor war, ihr Studium abzubrechen.

„Gleiche Millers, anderes Unternehmen.“ Erneut rieb sich Arnie die Brust. „Ross ist der Sohn und hat einen anderen Weg eingeschlagen.“

„Ross, der Rebell“, murmelte Lucy. Arnie sah sie fragend an. „Ich hab mal einen Artikel über ihn gelesen. Letztes Jahr müsste das gewesen sein. Das war der Titel. ‚Ross, der Rebell‘. Es ging vor allem darum, dass er seit Generationen der Erste ist, der nicht ins Familienunternehmen einsteigt. Er wollte sich selbst beweisen. Es wurde angedeutet, dass sein Vater und er um das Territorium kämpfen wie zwei Platzhirsche. Bei dem Wachstum, das Miller Active vorgelegt hat, gehe ich allerdings davon aus, dass Ross Millers Entscheidung inzwischen nicht mehr angezweifelt wird. Insgesamt ging es viel um die Familie. Da ist die Großmutter … wie hieß die noch mal? Jane? Nein, Jean! Dann gibt es den Vater Douglas, der bis heute über Glen Shortbread regiert. Die Mutter Glenda, die immer mal wieder im Familienunternehmen mitgemischt hat. Ich weiß allerdings nicht, ob das immer noch so ist. Und die drei Kinder. Natürlich Ross, den Ältesten. Dann Alice, die Ärztin geworden ist. Und eine Nachzüglerin namens Clemmie. Keine Ahnung, was die macht.“

Maya starrte sie mit großen Augen an. „Wie merkst du dir das alles?“

„Ich habe ein gutes Gedächtnis für unnützes Wissen“, log sie. Die Wahrheit behielt sie lieber für sich: Der Artikel war ihr deshalb so gut im Gedächtnis geblieben, weil sie einen schweren Anfall von Neid auf das Familienleben der Millers erlitten hatte.

Es waren Fotos vom Familiensitz in den schottischen Highlands abgebildet gewesen. Uralte Bäume, Rehherden und das feudale Herrenhaus, die Miller Lodge, weitläufige Gartenanlagen, die sich bis ans Ufer eines Sees erstreckten. Dazu Hochglanzbilder von der Familie, die sich vor einem lodernden Kaminfeuer versammelt hatte. Auf einem Tischchen stapelte sich ihr weltberühmtes Shortbread auf einem antiken Porzellanteller. Wer genau war noch mal auf dem Foto zu sehen gewesen? Sie wusste es nicht mehr, war zu beschäftigt damit gewesen, neidisch zu sein auf diese große, glückliche Familie mit ihrem perfekten Leben. Alle hatten gelächelt. Sogar die Hunde wirkten zufrieden. Das Bild sendete eine klare Botschaft in die Welt hinaus: Ganz gleich, was im Leben auch schiefgehen mochte – diese Menschen hier hatten einander und dieses wunderschöne Zuhause. Nachdem sie das Bild eine Weile lang sehnsüchtig gemustert hatte, hatte sie die Seiten aus der Zeitschrift gerissen und in den Mülleimer verfrachtet, weil es nichts brachte, sich Dinge zu wünschen, die man nicht haben konnte. Jetzt wünschte sie, sie hätte den Artikel behalten. Er wäre eine gute Ausgangsbasis für ihre Recherchen gewesen.

„Ich bin beeindruckt.“ Arnie schien ihre Reaktion ermutigend zu finden. „Hintergrundwissen ist wichtig, das wissen wir aus Erfahrung. Kontext. Woher kommt der Kunde, wo will er hin? Was braucht er? Das sind die Fragen, die wir uns stellen müssen. Die Fragen, die ihr alle euch stellen müsst, wenn euch Ideen für neue Kampagnen kommen. Das ist die große Herausforderung. Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass Ross Miller ein paar Agenturen kontaktiert hat. Er sucht neue Impulse für sein Label.“

„Hat er uns eingeladen zu pitchen?“

„Das nicht.“ Arnie fummelte an seinen Unterlagen herum. „Würde er aber, wenn er wüsste, wie gut wir sind. Wir müssen es irgendwie schaffen, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Wir müssen es sein, die ihm geben, was er braucht.“

Lucy dachte wieder an den Artikel. Eigentlich hatte es so gewirkt, als hätte Ross Miller längst alles, was er brauchte.

„Arbeitet Miller Active nicht mit Fitzwilliam Cooper zusammen?“

„Ja, aber ich fand die letzte Kampagne einigermaßen einfallslos. Miller Active hat zwar einen starken Kundenstamm, aber ihr Wachstum stagniert. Anfang des Jahres werden sie sich umhören und anfangen, Preise zu vergleichen. Sie brauchen uns. Und es ist unser aller Aufgabe“, Arnie machte eine ausladende Geste, die das gesamte Team umschloss, „sie davon zu überzeugen. Ich möchte, dass ihr die kommenden Wochen nutzt, um euch etwas einfallen zu lassen, das sie vom Hocker haut. Dann brauchen wir nur noch eine Möglichkeit, Ross Miller unsere Konzepte auch vorzustellen. Das wird unsere Prio Nummer eins für das kommende Jahr.“

„Klarer Fall für Ted“, sagte Lucy. „Er wohnt praktisch im Fitnessstudio.“

Maya lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Das er von jetzt an eine ganze Weile nicht mehr zu Gesicht bekommen wird, wenn er verhindern will, dass Sophie ihn vierteilt.“

„Wir müssen ohne Ted planen. Aber ich bin mir sicher, dass wir das auch ohne seine Hilfe hinbekommen.“

„Ich liebe die Sportleggings von Miller, falls das was hilft“, sagte Maya. „Das sind die einzigen, die nicht verrutschen, wenn man den herabschauenden Hund macht. Wobei ich bezweifle, dass das ausreicht, um eine ganze Kampagne darauf aufzubauen.“

„Uns fällt schon noch was ein.“ Arnie sammelte seine Unterlagen und seinen Laptop ein. „Das Timing kommt uns entgegen – im Januar versuchen viele Leute mit neuem Elan, wieder fit zu werden. Während der Feiertage haben sich alle mit Weihnachtsgänsen und Entenbraten vollgestopft, sind von Familienfest zu Familienfest gefahren …“

Von wegen.

Lucy bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. „Es stimmt, dass Gesundheit und Fitness im Januar wichtige Themen sind.“

„Jetzt müssen wir nur noch den besonderen Dreh finden. Und das ist es, was wir am besten können.“

Vielleicht. Aber ein Kunde aus dem Sportbereich? Ausgerechnet?

Wenn eine Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio die einzige Möglichkeit war, Arnies Agentur zu retten, war Lucy verdammt.

Außer natürlich …

Ihr kam eine Idee, schlagartig und wie aus dem Nichts. Womöglich sogar die … perfekte Idee?

Sie öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Vielleicht war die Idee doch nicht so perfekt. Sie musste darüber nachdenken, sich alles genau durch den Kopf gehen lassen. Aber trotzdem …

Sie war da an etwas dran, das spürte sie.

Ross Miller hatte auf einem derart umkämpften Markt kein erfolgreiches Unternehmen etablieren können, indem er vorhersehbar handelte. Als er anfing, hatte er gegen Reichweite und Einfluss der großen Marken keine Chance gehabt. Also hatte er sie überlistet – eine Taktik, mit der sein Unternehmen über alle Erwartungen hinauswuchs.

Arnie hatte recht. Egal, was sie sich am Ende einfallen ließen, es musste kreativ sein. Und die Idee, die gerade in ihrem Hinterstübchen vor sich hin brodelte, hob sich eindeutig von allem ab, was man sonst so zu sehen bekam.

Nach und nach verließen die anderen den Konferenzraum, bis auf Arnie, der mit seinem Handy beschäftigt war.

Lucy stand auf und lief zur Kaffeemaschine, schenkte zwei Tassen ein und stellte eine vor ihm ab. Jetzt, wo sie so dicht vor ihm stand, konnte sie sehen, wie blass er war. „Hast du irgendwas gegen deine Magenprobleme genommen? Möchtest du vielleicht lieber ein Glas Wasser statt Kaffee?“

„Nein, her mit dem Kaffee. Mein Magen beruhigt sich schon wieder, da bin ich sicher.“ Er nahm die Tasse und sah zu Lucy hoch. „Was?“

„Ich mache mir Sorgen um dich.“

„Kein Grund dazu, mir geht’s bestens.“

Es war anstrengend, ständig gute Miene zu bösem Spiel zu machen. Niemand wusste das besser als Lucy.

„Die anderen sind alle weg. Wir sind unter uns, du kannst ehrlich sein.“

Er sank in sich zusammen. „Du lässt nicht locker, was? Ja, es stimmt, unsere Situation macht mir zu schaffen. Aber uns bleibt keine Wahl, wir müssen einfach unser Bestes geben. Heute Nachmittag mobilisiere ich noch ein paar Kontakte. Das wird schon, da bin ich sicher. Nächstes Jahr wird alles besser. Es muss einfach.“

„Was Ross Miller betrifft …“

„Keine Sorge, ich weiß, dass Sport nicht dein Thema ist“, sagte Arnie. „War ja auch nur eine Idee. Im Augenblick klammere ich mich an jeden Strohhalm. Selbst wenn wir einen sensationellen Einfall hätten – Ross Miller ist eine harte Nuss. Ich bezweifle, dass wir überhaupt einen Termin bekämen, um unseren Pitch vorzustellen. Er hat immer nur mit den ganz großen Namen zusammengearbeitet. Wir stehen nicht auf der Liste der Agenturen, die für ihn infrage kommen.“

„Dann müssen wir uns eben einen Platz auf dieser Liste verschaffen.“

Arnie hatte recht: Sie würde nicht lockerlassen. Und sie würde auch nicht zulassen, dass er lockerließ.

„Wir kriegen das hin, Arnie.“

„Das wollte ich hören.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Aber du brauchst keine Angst zu haben, Lucy. Wenn tatsächlich der Ernstfall eintreten sollte, telefoniere ich ein bisschen herum, und du hast einen neuen Job, ehe du ‚arbeitslos‘ sagen kannst.“

„Ich will aber keinen neuen Job.“

„Ich weiß.“ Er stellte den Becher wieder ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben. „Dich und mich verbindet eine lange Geschichte, Lucy. Und ich muss dir ganz offen sagen, dass mich das mehr belastet als alles andere. In dieser Agentur arbeiten so viele fantastische Leute, und ich hab das Gefühl, euch alle im Stich zu lassen. Wir hätten uns viel breiter aufstellen sollen. Uns nicht auf ein paar dicke Kunden verlassen, sondern auf zahlreiche kleinere bauen sollen. Dadurch haben wir uns verletzlich gemacht, und das ist ganz allein meine Schuld.“

Es war typisch für Arnie, die ganze Verantwortung auf sich zu nehmen. Sich selbst die Schuld zu geben, anstatt sie auf andere abzuwälzen.

„Du kannst nichts für die wirtschaftliche Gesamtsituation und die Weltlage, Arnie. Du bist ein toller Chef.“

„Na, ganz so toll kann ich ja wohl nicht sein.“ Er warf ihr ein müdes Lächeln zu. „Aber genug davon. Wie geht es dir, Lucy? Ich weiß, die Weihnachtszeit ist für dich auch ohne all diese zusätzlichen Probleme schon schwer genug.“

„Danke, mir geht’s gut.“ Jetzt war es zwar sie, die gute Miene zu bösem Spiel machte, aber das war schon in Ordnung so. Das Letzte, was Arnie jetzt brauchen konnte, war ein Vortrag über ihren persönlichen Kummer. „Du hast zu hart gearbeitet. Vielleicht solltest du besser nach Hause gehen.“

„Zu viel zu tun.“ Wieder rieb er sich die Brust. „Ich muss rumtelefonieren, die ersten Ideen für Januar ausarbeiten.“

„Klar.“ Aber wenn im neuen Jahr die großen Agenturen ihre Ideen vor Miller Active präsentierten, dann musste Arnie es schaffen, vorher an Ross Miller heranzukommen. Der Mann war ein berüchtigter Workaholic. So jemand verschwendete doch bestimmt keine Zeit damit, im Weihnachtspulli unterm Tannenbaum zu faulenzen, oder?

Sie verließ den Konferenzraum. Als sie sich noch einmal umsah, saß Arnie zusammengesunken auf seinem Platz am Kopfende des langen, leeren Tischs, das Gesicht in den Händen vergraben.

Der Anblick brach ihr fast das Herz. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Sache in den Griff zu bekommen. Und zwar nicht nur, weil dieser Job die einzige positive Konstante in ihrem Leben war.

Sie legte einen Zwischenstopp beim Wasserspender ein, wo Maya an der Wand lehnte und in einem Zug ein ganzes Glas Wasser herunterstürzte. „Oh, Entschuldigung.“ Sie machte Lucy Platz. „Angst macht mich durstig. Ich tu einfach so, als wäre da Gin drin. Was sollen wir denn nur machen?“

„Uns neue Kunden suchen, angefangen bei Miller Active. In Panik auszubrechen lassen wir lieber bleiben.“ Zumindest äußerlich. Innerlich war Lucy selbst nämlich gerade die Panik in Person.

„Wenn du das mit Miller Active ernst meinst, ist Panik aber durchaus eine angemessene Reaktion. Hast du auch nur den leisesten Schimmer, mit wem du dich da einlässt? Ross Miller hat einen schwarzen Gürtel in drei verschiedenen Kampfsportarten. Er kann Ski fahren. Und er ist ein hervorragender Boxer. Der Mann ist über den Atlantik gesegelt. Und er hat Muskeln. Überall da, wo man welche haben sollte.“

„Woher weißt du so viel über seine Muskeln?“

„Ich habe Fotos gesehen.“ Maya stellte ihr Glas ab. „Letzten Sommer hat er bei ein paar Fitness-Challenges für den guten Zweck mitgemacht. Glaub mir, bei dem Anblick zücke sogar ich gern meine Kreditkarte.“

„Deine Kreditkarte ist überzogen. Außerdem weiß ich nicht, was das alles mit unserem Pitch zu tun haben soll.“

„Lucy, du weißt, dass ich dich vergöttere. Aber dein Fitnessprogramm besteht darin, zwischen Sofa und Küche hin- und herzulaufen. Wenn du halbwegs glaubhaft rüberkommen willst, müsstest du schon zur Sportfanatikerin werden. Glaubst du ernsthaft, das schaffst du bis Januar?“

„Ich muss keine Sportfanatikerin werden.“

Maya runzelte die Stirn. „Wieso? Das Unternehmen stammt aus dem Fitessbereich. Der Auftrag lautet, den Kundenstamm zu erweitern. Ich mein’s ja nicht böse, Lucy, aber hast du je in deinem Leben Sportleggings angehabt?“

„Nein. Doch in diesem Fall ist das von Vorteil.“ Lucy schenkte sich ein Glas Wasser ein. „Überleg doch mal. Ross Miller will neue Kunden dazugewinnen. Und wie sehen potenzielle neue Kunden aus? Jedenfalls nicht so wie Ted, denn der ist ja schon sportbegeistert. Millers neue Kunden sind Leute wie ich. Leute, die noch nie ein Fitnessstudio von innen gesehen haben. Was müsste passieren, damit ich mir ein sexy Sportoutfit zulege und jeden Morgen zum Spinningkurs erscheine?“

„Da bin ich tatsächlich überfragt“, entgegnete Maya trocken. „Aber so, wie ich dich kenne, müsste es schon was Bahnbrechendes sein.“

„Miller als Kunden zu gewinnen, ist bahnbrechend.“

„Lucy. Bei aller Liebe. Lass uns realistisch bleiben. Die größten Agenturen der Stadt werden pitchen. Das ist ein Riesending! Wie willst du dich gegen die behaupten?“

„Indem ich schlauer bin als sie und ihnen einen Schritt voraus.“

„Aber es ist Weihnachten.“

„Genau. Die beste Zeit zum Arbeiten.“

„Für dich vielleicht. Aber den meisten Leuten geht das anders. Inklusive Ross Miller.“ Maya überlegte kurz, dann fuhr sie fort: „Übrigens, was Weihnachten betrifft … Ich hab dir ja schon gesagt, dass Jenny und ich uns freuen würden, wenn du bei uns feierst. Es ist unser erstes Weihnachtsfest in der neuen Wohnung. Jennys Bruder und ihre Mutter kommen auch. Ihr Dad nicht, er hat immer noch nicht ganz verkraftet, dass seine Tochter mit einer Frau zusammen ist, und ich hatte keine Lust, die Feiertage mit Magengrimmen zu verbringen.“

„Tut mir leid.“

„Muss es nicht. Die Wahrheit lautet, ich bin so glücklich wie nie, und ich bin gern bereit, dafür mit ein bisschen Familienknatsch zu bezahlen. Und wir fänden es wirklich schön, wenn du auch kämst.“

„Danke, das ist lieb von euch. Aber ich kann das nicht annehmen.“ Weihnachten würde ihr schwer zu schaffen machen, und sie wollte mit ihrem Elend niemandem den Tag verderben. Doch auf Dauer war es einfach zu anstrengend, ständig so zu tun, als sei alles in Ordnung, obwohl sie innerlich litt. Deshalb würde sie sich selbst zu Weihnachten schenken, dass sie sich ausnahmsweise mal einfach nur elend fühlen durfte.

Maya seufzte. „Lucy …“

„Ich komme schon zurecht, ehrlich! Ich muss sowieso die ganze Zeit arbeiten.“ Ihr Gespräch mit Arnie erwähnte sie in weiser Voraussicht nicht. Wenn die übrigen Teammitglieder erfuhren, wie besorgt er war, würden sie noch panischer werden als ohnehin schon. Es war niemandem geholfen, wenn sie der gesamten Agentur die Weihnachtszeit verdarb. Besser, sie kehrten allesamt ausgeruht und optimistisch aus den Feiertagen zurück. „Ich lass mir was einfallen, wie wir Ross Miller dazu kriegen, uns präsentieren zu lassen.“

„Ich finde die Vorstellung, dass du Weihnachten ganz allein mit Arbeiten verbringst, ziemlich schrecklich.“

„Aber ich freu mich aufs Arbeiten! Dadurch wird der ganze Rest für mich viel leichter.“

Es war das zweite Weihnachtsfest, das sie allein verbrachte. Das dritte, wenn sie das dazuzählte, das sie bei ihrer Großmutter im Krankenhaus gewacht hatte. Wobei ihr damals Arnie zur Seite gestanden hatte. Sie hatte diese beiden Feste überlebt, also würde sie auch dieses Jahr irgendwie hinter sich bringen. Und Arbeit war genau die Ablenkung, die sie brauchte.

„Lucy …“

„Weihnachten ist nur ein Tag im Jahr, Maya. Und diesmal werde ich so viel um die Ohren haben, dass ich kaum etwas davon mitbekomme.“

Sie fürchtete sich schrecklich vor Weihnachten – aber wenigstens hatte sie jetzt etwas Wichtiges zu tun. „Ich werde alles in Erfahrung bringen, was es über die Millers im Allgemeinen und Ross Miller im Speziellen zu wissen gibt. Und dann werde ich dafür sorgen, dass er uns einen Termin gibt, ehe die anderen Agenturen auch nur ihren Gänsebraten angeschnitten haben. Und dann hauen wir ihn mit unseren genialen Ideen einfach aus den Latschen.“

Maya wirkte nicht sonderlich überzeugt. „Unsere Konkurrenten sind die ganz Großen in der Branche. Und sie wollen diesen Kunden.“

Lucy dachte an Arnie. Wie er dagesessen hatte, das Gesicht in den Händen vergraben. Sie dachte an Ted und sein Baby. An Maya, die ihr erstes Weihnachtsfest in ihrer neuen Wohnung feiern würde. Dachte an ihre eigene Situation. „Ich will diesen Kunden nicht nur. Ich brauche ihn.“ Brauchte ihn für Arnie, für ihr Team. Für sich selbst.

„Das ist ja alles schön und gut“, sagte Maya. „Aber wie willst du es schaffen, überhaupt an Ross Miller ranzukommen?“

„An dem Punkt arbeite ich n…“ Lucy brach ab, als sie Rhea ihren Namen rufen hörte. Sie fuhr herum. „Was ist los?“

„Komm schnell!“ Rhea war aschfahl und außer Atem. „Arnie ist umgekippt. Ein Rettungswagen ist schon unterwegs. Oh Gott, Lucy, das ist alles so furchtbar.“

2. KAPITEL

GLENDA

„Sie bringt ihn mit!“ Glenda platzte in die Küche. Gut möglich, dass dies die beste Neuigkeit war, die sie das ganze Jahr über gehört hatte. „Hast du die E-Mail schon gelesen?“

„Ich frühstücke gerade. Ich lese keine E-Mails, während ich frühstücke. Das ist schlecht für die Verdauung.“ Douglas legte seinen Löffel beiseite. „Um wen geht’s überhaupt?“

„Alice! Alice hat Nico eingeladen, mit uns Weihnachten zu feiern.“ Glendas Gedanken überschlugen sich förmlich. „Ich bin ja so aufgeregt!“

„Du findest es aufregend, einen Gast mehr durchfüttern zu müssen?“

„Ich bin aufgeregt, weil unsere Workaholic-Tochter endlich eine Beziehung hat. Und es scheint etwas Ernstes zu sein. Sie hat uns noch nie jemanden vorgestellt! Verstehst du denn nicht, was das bedeutet? Endlich gibt es in ihrem Leben noch etwas anderes als Arbeit. Das ist eine große Sache, Douglas.“ Ihr war bewusst, dass sie sich viel zu viele Sorgen um ihre Kinder machte, war aber machtlos dagegen. Und sie kannte Alice. Ihre älteste Tochter war eine unverbesserliche Perfektionistin. Schon in ihrer Kindheit hatte die bloße Vorstellung, zu versagen, sie dazu gebracht, sich nächtelang in ihren Schulbüchern zu vergraben, bis Glenda irgendwann eingriff.

„Workaholic?“ Er runzelte die Stirn. „Du sagst das so, als sei das verkehrt. Was bitte soll an harter Arbeit verkehrt sein?“

„Vielleicht nicht an der harten Arbeit selbst, aber daran, dass Alice ansonsten kaum ein Leben hat. Es muss doch ein Gleichgewicht geben, anders geht es nicht. Das soll natürlich kein Vorwurf sein, sie ist, wie sie ist. Ross ist ja genauso. Scheint in den Genen zu liegen.“

Sie warf Douglas einen vielsagenden Blick zu, obwohl sie zugeben musste, dass er seit seinem Herzanfall vor einem Jahr den Fuß beträchtlich vom Gas genommen hatte. Er hatte abgenommen, trieb Sport. Am besten wäre es, wenn er auch noch sein Arbeitspensum reduzieren würde, aber sie wusste, dass das zu viel verlangt war.

„Gibst du etwa mir die Schuld daran? Clemmie ist schließlich auch meine Tochter, wie erklärst du das?“

„Clemmie kommt eben eher nach mir.“ Glenda lächelte. „Ich bringe die beiden in dem Zimmer mit Seeblick unter. Ich will es sowieso schon seit einer Weile auf Vordermann bringen. Glaubst du, wenn Fergus mir hilft, schaffen wir das in einer Woche?“

Douglas schnaubte. „Der Junge ist Tischler und nicht Amor. Außerdem hat er alle Hände voll damit zu tun, sein eigenes Haus und unsere Stallanlagen umzubauen.“

„Das Seezimmer ist wichtiger als dein Stalltrakt. Und ja, er ist Tischler, aber wie du weißt, ist er auch sehr begabt, was alles andere Handwerkliche angeht.“ Sie schnappte sich ihr Handy und verfasste eine Nachricht an Fergus. „Ich bin sicher, dass er mir hilft. Er gehört ja praktisch zur Familie. Als Kinder waren Clemmie und er unzertrennlich.“

„Das ist Jahre her. Inzwischen sind sie erwachsen. Außerdem verstehe ich nicht, warum sie nicht einfach in Alice’ altem Zimmer schlafen können.“

„Das ist doch viel zu klein für zwei. Bestimmt wollen die beiden zwischendurch ein bisschen Privatsphäre. Einen Ort, an dem sie auch mal ungestört sein können.“ Glenda schickte die Nachricht ab und legte ihr Handy beiseite. „Außerdem ist das Seezimmer viel romantischer. Ich will, dass alles perfekt für sie wird. Wieso habe ich mich nicht schon im Sommer darum gekümmert?“ Sie war wütend auf sich, schließlich plante sie die Renovierung schon seit Ewigkeiten, hatte sie aber immer wieder aufgeschoben. „Das hier ist ein besonderer Anlass, und der braucht eine besondere Umgebung. Ich kann es gar nicht abwarten, Alice’ Freund kennenzulernen. Was glaubst du, was er für einer ist?“

„Jedenfalls muss er tolerant sein“, brummte Douglas. „Sonst würde er Alice nicht aushalten.“

Glenda ignorierte seinen Kommentar. „Er ist Herzchirurg. Bei Ärzten weiß ich nie so richtig, was ich sagen soll. Hoffentlich ist er nicht hochnäsig. Weißt du noch, wie ich mich neulich mit diesem einen Arzt über meine Augen unterhalten habe, als ich so starke Sehschwierigkeiten hatte? Ich hab mich gefühlt, als wäre ich wieder sechs Jahre alt. Himmel, war der von oben herab! Hoffentlich ist Nico nicht so. Was, wenn er uns nicht mag? Oder das Haus?“ Sie sah sich um, versuchte, sich vorzustellen, wie ihr geliebtes Zuhause wohl auf einen Fremden wirken mochte. Woran lag es nur, dass man all die Mängel in einem Haus nicht mehr richtig wahrnahm, wenn man darin lebte? All die Kratzer auf dem Küchentisch, die Delle in der Wand, die entstanden war, als Ross damals mit dem Fahrrad durchs Haus gesaust war. Es war ein Haus, in dem gelebt wurde. Das geliebt wurde. Ein Heim. Und sie würde nicht härter mit seinem Äußeren ins Gericht gehen als mit ihrem eigenen. Eine Falte? Ein paar Silberfäden im Haar? Das gehörte zum Leben nun mal dazu. Hatte sie jedenfalls immer gedacht. Aber jetzt war sie sich da nicht mehr so sicher. Nun wäre es ihr am liebsten, das Haus würde sich von seiner schönsten Seite zeigen. Hin und wieder renovierten sie durchaus ein bisschen, aber meistens fanden sie Sinnvolleres, das sie mit ihrer Zeit und ihrem Geld anstellen konnten. Das Haus war groß, alt und zugig, und es schluckte Geld wie ein Verdurstender Wasser. „Glaubst du, es ist ihm hier zu unordentlich?“

„Kann ich mir kaum vorstellen, wo er ja mit Alice zusammen ist. Das Mädchen weiß doch gar nicht, was Ordnung überhaupt ist.“

„Sie ist kein Mädchen mehr, sondern dreißig, Douglas. Und Ärztin. Sie rettet Tag für Tag Leben.“ Ihre Tochter hatte immer schon Ärztin werden wollen, und Glenda war furchtbar stolz darauf, dass sie ihre Träume wahr gemacht hatte. Als Kind hatte Alice ihre Puppen operiert und auch ihre Geschwister regelmäßig in ihrer „Klinik“ verarztet. Glenda hatte irgendwann aufgehört zu zählen, wie oft sie Clemmie von dicken Verbandsschichten befreien musste. Und wie es nun mal ihre Art war, hatte Alice fleißig und unbeirrbar ohne Rücksicht auf Verluste auf ihr Ziel hingearbeitet.

Alice war so anders als sie selbst. Glenda war achtzehn gewesen, als sie Douglas heiratete, und hatte direkt nach der Hochzeit angefangen, für Glen Shortbread zu arbeiten. Niemand – auch nicht sie selbst – wäre auf die Idee gekommen, sie könnte einen anderen Weg einschlagen. Es war ein Familienunternehmen, und sie gehörte zur Familie. Und nach Ross’ Geburt hatte sie freiwillig aufgehört zu arbeiten, eine Entscheidung, die sie nie bereut hatte.

Douglas musterte sie über seinen Brillenrand hinweg. „Sie mag Ärztin sein, aber sie gehört zur Familie, und das bedeutet, dass ich die Wahrheit sagen darf. Und die Wahrheit lautet: Ich hoffe stark, im Umgang mit ihren Patienten ist sie etwas besser organisiert als hier zu Hause. Sonst sehen deren Überlebenschancen nicht besonders rosig aus.“

„Das ist sie sicher. Aber ich weiß natürlich, was du meinst.“ Manchmal war es schier unmöglich, die eigenen Kinder als erwachsene Menschen zu betrachten. Wie sollte sie sich vorstellen, dass Alice Tag für Tag um das Leben von Menschen kämpfte, wo sie ihre Tochter doch immer noch so deutlich mit Zahnspange und Zöpfen vor Augen hatte? Auch damals hatte Alice schon denselben Ehrgeiz an den Tag gelegt wie heute. Das schaffe ich allein. Ich brauche eure Hilfe nicht.

„Es wird die ganze Familiendynamik durcheinanderbringen, wenn ein Fremder dabei ist. Bist du sicher, dass dir das nichts ausmacht?“

„Aber für Alice ist er kein Fremder, und für uns wird er hoffentlich auch nicht lange einer sein. Das wird schön! Ich liebe Weihnachten, und dass endlich eins unserer Kinder eine richtige Beziehung hat, ist für mich das Sahnehäubchen. Apropos …“, sie schnappte sich Stift und Zettel von dem Haufen am Tischende und machte sich ein paar Notizen, „… ich muss mich noch um den Kuchen kümmern. Und einen größeren Truthahn bestellen.“

Douglas beobachtete sie. „Glaubst du, es ist ihr wirklich ernst? Muss ich den gestrengen Vater spielen? Ihn fragen, ob er auch gut genug für meine Tochter ist?“

„Wehe! Bring das Kind bloß nicht in Verlegenheit! Keine Babyfotos, keine Geschichten darüber, wie Alice bei der Schulaufführung von der Bühne gefallen ist oder wie sie sich früher mit ihrem Bruder gestritten hat.“ Sie sah von ihrer Liste auf. „Dieses eine Mal in deinem Leben wirst du dich benehmen, Douglas Fraser Miller.“

„Wo bleibt denn da der ganze Spaß?“ Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Außerdem möchte ich doch mal festhalten, dass du es warst, die das Weihnachtsschlamassel vor zwei Jahren angerichtet hat, weil du Alice unbedingt daran erinnern musstest, dass du in ihrem Alter schon zwei Kinder hattest, und schon mal vorsorglich darauf hingewiesen hast, jederzeit als Babysitter zur Verfügung zu stehen.“

„Ich gebe zu, das war keine meiner Sternstunden.“ Glenda wurde rot, wenn sie nur daran dachte. „Weißt du noch, wie sie aus dem Haus gestürmt ist?“

„Sicher. Schließlich war ich es, der den Bilderrahmen reparieren musste, der von der Wand gefallen ist, als sie die Tür hinter sich zugeknallt hat.“

„Eigentlich war das Ganze deine Schuld. Weil du mir diesen Gin Tonic gemacht hast, der mehr Gin als Tonic war.“

„Es war Weihnachten.“

„Und ich habe am Ende Dinge laut ausgesprochen, die ich mir normalerweise nur denke. Eben wie schrecklich gern ich Enkelkinder hätte, zum Beispiel.“ Was hätte sie gegeben, um das alles ungeschehen zu machen. „Ich kann nicht fassen, dass ich das wirklich gesagt habe. Dieses Jahr rühre ich an Weihnachten nicht einen Tropfen an.“

„Wie langweilig.“ Douglas’ Blick wurde ernst. „Was meinst du, will sie ihn heiraten?“

„Ich weiß es nicht, und ich habe auch nicht vor, sie zu fragen. Diese Lektion habe ich gelernt.“ Was natürlich nicht bedeutete, dass es sie nicht brennend interessierte. Denn welche Mutter wünschte sich nicht, dass ihre Kinder selbst eine Familie gründeten, ganz gleich, wie diese Familie aussah? Sie legte den Stift beiseite. „Wie sich die Zeiten doch ändern. Heutzutage brauchen die jungen Leute keine Urkunde mehr, um zu zeigen, dass sie zusammengehören.“

„Wenn man zusammengehört, gehört man zusammen. Da kann man es doch auch einfach offiziell machen.“

„Vielleicht sehen sie es genau andersherum: Wenn man zusammengehört, braucht man es nicht offiziell zu machen. Wenn wir die beiden im Seezimmer unterbringen, müssen wir dickere Decken besorgen. Da drin kann es im Winter empfindlich kalt werden.“ Sie angelte sich noch einmal den Stift und schrieb „dicke Decken“ als weiteren Punkt auf ihre Liste. Der Zettel war schon zur Hälfte voll. „Und die Kissen in der Sitzecke auf dem Fensterbrett brauchen neue Bezüge. Den Stoff habe ich letztes Jahr schon gekauft, aber dann bin ich einfach nicht zum Nähen gekommen. Neue Handtücher fürs Badezimmer müssen auch her.“

„Das ist hier kein Fünf-Sterne-Hotel, Glenda. Wieso können wir nicht einfach alles so lassen, wie es ist, und die beiden müssen sich damit abfinden?“

„Weil sie nicht irgendwer sind, sondern Teil unserer Familie. Und sie sollen es genießen, wieder zu Hause zu sein.“

„Die Familie ist es, die ein Zuhause ausmacht, nicht flauschige Duschhandtücher“, erwiderte er fast schon ein wenig schroff. „Außerdem, was erhoffst du dir davon? Dass eins unserer Kinder herausfindet, dass es nebelverhangene Berge und das Plätschern des Sees plötzlich doch ansprechender findet als die überfüllten, lärmigen Straßen von London? Versuchst du, sie davon zu überzeugen, für immer hierzubleiben?“

Ach, er kannte sie einfach zu gut.

„Du kannst mir nicht weismachen, dass du die Vorstellung nicht ebenso schön findest wie ich.“

„Natürlich würde mich das freuen. Aber es wird niemals so kommen. Die drei haben ihre Entscheidungen getroffen, sogar unsere kleine Stubenhockerin Clemmie.“

Clemmie, um die sie sich von all ihren Kindern am meisten sorgte. „Weißt du noch, wie sie auf dieser Pyjamaparty war und ...

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