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Wegen Wersai

Als Buch hier erhältlich:

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Die zwölfjährige Katharina wächst in der Schweiz der Sechzigerjahre auf. Da ihre Mutter schwer erkrankt ist, lebt das Mädchen vorwiegend bei der Pflegemutter ›Tantelotte‹, einer verhärteten Frau, die die Erfahrungen aus ihrer entbehrungsreichen Kindheit während der NS-Zeit sogar noch Jahrzehnte später ihr Pflegekind spüren lässt. Katharina versucht, die sie umgebenden Erwachsenen zu verstehen, stellt Fragen und bemüht sich, Zusammenhänge herzustellen, doch nur selten erhält sie eine Antwort. Um sich selbst zu schützen, errichtet sie eine Fassade der Anpassung, während sie die Lügen und Verzerrungen der Erwachsenen immer deutlicher durchschaut.


  • Erscheinungstag: 27.12.2024
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013524

Leseprobe

Schon wieder hat sie mich ausgesperrt. Nur weil sie nicht will, dass ich plötzlich im Flur stehe und sie sich so grausam erschreckt.

Ich drücke kräftiger auf die Klingel. Sie telefoniert weiter. Also nochmals: Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. SOS. Das kann sie am allerwenigsten ausstehen.

»Tschüss, schön, hast du angerufen«, höre ich sie flüstern. Dann ihre harten Schritte und ihren harschen Ton: »Hetz mich nicht, ich komme ja gleich!«

Jetzt steht sie vor mir: Tantelotte, groß und breit, blonde Lockenwicklerhaare, die rot-weiß karierte Schürze umgebunden, auf dem Brustlatz Trautes Heim – Glück allein aufgestickt, damit ich ein für alle Mal weiß, wie Kreuzstiche gehen. Ihr Gesicht ist gerötet wie bei einem Sonnenbrand. Aber wahrscheinlich kommt es vom Telefonieren.

Auf meinem Teller schwabbeln graue Würmer mit einem zottigen Rücken. Die meisten sind so lang wie meine Finger. Die Würmer schwimmen in einem trüben Blutbrei. Ich will wegschauen, geht nicht.

»Jetzt stell dich bloß nicht an. Den ganzen Morgen war ich in der Küche, habe alles fein säuberlich in schmale Streifen geschnitten, nicht schon geschnetzelt gekauft, wie andere das machen.«

»Tantelotte, ich kann diese Würmer …«

»Das sind keine Würmer, das sind Kutteln. Kutteln an einer feinen Tomatensoße.«

»Ich kann das nicht essen, ich würde schon, wenn ich könnte.«

»Mein Gott, was wären wir froh gewesen, hätten wir überhaupt etwas zu essen gehabt.«

»Ich weiß, Tantelotte, der Krieg.«

Sie schöpft sich nach, während ich die Gabel noch nicht einmal angefasst habe. Sie wird mich zwingen, alles aufzuessen. Jetzt oder später.

Wenigstens gibt es Brot auf dem Tisch. Und in der hintersten Ecke meines Bettumbaus versteckt, noch einen Rest Schokolade. Die mit den ganzen Haselnüssen. Meine Lieblingsschokolade. Das sieht man dir an, Katharina, hat der Schwimmlehrer gestern gesagt. Den Kopfsprung mussten wir üben. Bauch einziehen, einziehen, nicht rausstrecken! Die Hände über dem Kopf gefaltet. Ich getraute mich nicht, blieb mit steifen Beinen vornübergebeugt am Beckenrand stehen, zögerte, stand und stand und rührte mich nicht, bis mich der Lehrer von hinten ins Bassin schubste. Ein Ränzler, voll auf dem Bauch gelandet. Ausgelacht von allen, sogar von Monika.

»Darf ich jetzt vom Tisch?«

»Meinetwegen, am Abend stelle ich dir den Teller einfach wieder hin.«

Ich hab’s ja gewusst, trotzdem wird sie mich nicht dazu bringen, die Würmer zu essen. Es ist mir egal, wenn sie während des Krieges fast verhungert wäre. Und auch noch hungern musste, als der Krieg längst vorbei war. Wenn das überhaupt stimmt.

»Nächstes Mal sag ich’s deinen Eltern, wie störrisch du bist«, ruft sie mir hinterher. Es macht ihr Freude, mir Angst einzujagen. Dann: »Der Staubsauger steht schon in deinem Zimmer. Alles schön sauber machen, picobello, zum Schluss die Fransen richten und mit der Stärkedose besprühen. Hast du gehört, Katharina?«

»Jahaah!«

Den anderen in meiner Klasse stellt die Mutter immer alles bereit. Kocht, räumt auf, spült das Geschirr. Tantelotte ist eben nur fast eine Mutter. Eine gemietete, sagt Papa. Besser, du wohnst bei ihr als in einem Heim, zudem ist es günstiger. Wegen Mama haben wir schon Auslagen genug.

Ich drehe den Staubsauger auf das Maximum. Es wird so laut, dass ich Tantelotte nicht mehr hören kann. Lustig, wie der Elefantenrüssel alles einsaugt: die herumliegenden Heuhalme und Haferflocken, kleine Glasperlen, die mir beim Auffädeln hinuntergefallen sind, Holzkringel vom Anspitzer, ein glitzerndes Haargummi. Bestimmt würde er auch die Kuttelwürmer verschlingen. Muss ich mir merken.

Als hätte es jemand befohlen, bewegt sich das Saugrohr plötzlich zum Meerschweinchenkäfig hinüber, hebt ab und zielt geradewegs auf Pico. Ha, dich haben wir! Er strampelt mit den Beinen und quiekt wie am Spieß. Flüssiger Kot rinnt aus seinem Hintern. Selbst schuld, hast du dich nicht rechtzeitig versteckt.

Soll ich den Motor ausschalten?

Nicht sofort.

Eins – zwei – drei – vier – viereinhalb – vierdreiviertel – fünf.

Pico plumpst auf den Boden und bleibt platt liegen. Jetzt, da es ruhig ist, lugt Pepsi hervor, trippelt herbei, stupst Pico mit der Schnauze an. Es vergeht ein Weilchen, bis er seinen Kopf hebt. Schließlich kommt er doch auf die Beine und schleppt sich hinter Pepsi in die Kuschelröhre.

Pico ist das größere meiner beiden Meerschweinchen. Ich wollte von Anfang an zwei haben, weil Meerschweinchen immer zu zweit sein müssen, mindestens. Kinder eigentlich auch. Tommy ist aber im Internat.

Ich bin erst zwölf. Wenn ich groß bin, will ich keine Teppiche in meiner Wohnung. Keinen einzigen. Auch keine Fußmatte vor der Tür. Vielleicht werde ich gar nie groß? Auf dem Friedhof gibt es viele Kindergräber. Zu Tode geschimpfte Mädchen und Jungen. Weil sie nicht schön aufgegessen haben. Weil ihre Zimmer nicht picobello aufgeräumt waren. Weil sie am Kiosk um ein Eis bettelten, keins bekamen und dann erst recht eins wollten.

Am Mittwoch ist mein schulfreier Nachmittag. Wenn wir an der Reihe sind, muss ich Tantelotte bei der großen Wäsche helfen. Stunden verbringen wir unten in der düsteren Waschküche, wo der Kupferbottich mit dem siedend heißen Laugenwasser steht. Als Erstes drückt Tantelotte die weiße Wäsche hinein, dann stöpselt sie mit dem Holzruder energisch darin herum. Schweißtropfen rinnen ihr über die Wangen. Schweißtropfen, keine Tränen. Ich würde sie gerne mal heulen sehen. Weil es ihr leidtut, dass sie oft so böse zu mir ist.

Bei sonnigem Wetter hängen wir die Wäsche draußen auf. Sie riecht so besser, sagt Tantelotte und schimpft auf die verschimmelten Kellergewölbe. Von Hand waschen, pah, wer macht das denn heutzutage noch. Alle anderen haben schon längst Waschmaschinen, nur wir mal wieder nicht.

Dann geh doch heim, wenn es dir hier nicht gefällt. Ich denke es nur. Lorenzos Mutter wäscht auch von Hand. In den Holzbaracken, wo sie mit vielen anderen Familien wohnen, hat niemand eine Waschmaschine.

Die Leintücher hängen wir zu zweit auf, die kleineren Sachen mache ich alleine. Weil wir sparen müssen, hat Tantelotte die dünn gewordenen Leintücher in der Mitte getrennt und die noch intakten Seiten wieder zusammengenäht. Ich schlafe meistens auf Betttüchern mit einer Naht in der Mitte. Die Naht ist genau dort, wo es am weichsten sein sollte.

Im Wäschekorb liegen nur noch wenige Teile.

»Tantelotte, warum haben die beiden Unterhosen hier vorne eine Öffnung?«

»Es gibt eben solche und solche.«

»Vielleicht weiß es Mama?«

»Nein«, ruft Tantelotte vom anderen Ende der Wäscheleine herüber, und es hört sich an, als hätte sie gerade etwas erschreckt. »Das lässt du lieber. Deine Mutter ist schwer krank und sollte nicht mit solch belanglosen Dingen belästigt werden.«

Multiplesklerose, obwohl es mit Rose überhaupt nichts zu tun hat. Multiplesklerose, schon längst kann ich es ohne zu stottern sagen. Als Einzige in meiner Klasse, wir haben das mal ausprobiert.

Ich werde Mama trotzdem fragen. Das kann mir Tantelotte nicht verbieten.

Gerade als das letzte Frotteetuch an der Leine hängt, ertönt von überallher lautes Gejaule von an- und abschwellenden Tönen. Wenn wir das hören, hat die Lehrerin heute früh gesagt, bräuchten wir keine Angst zu haben. Es sei nur ein Probealarm, kein Krieg.

Ich schaue mich um, will herausfinden, woher genau der Sirenenlärm kommt, und sehe noch knapp, wie Tantelotte eilig im Haus verschwindet, ihre Hände auf die Ohren gepresst.

»Nein!«, schreit sie, »nein, bitte nicht!«

Ich renne ihr nach. Die Treppen hoch, hinein in die Wohnung.

»Nein!«, schreit sie wieder, sinkt auf das Sofa und schlottert, als wäre es mitten im Winter. Aber sie weint nicht. Trotzdem habe ich ein bisschen Mitleid mit ihr.

Heute Abend kommt Papa zu uns. Mama muss für eine Untersuchung ins Krankenhaus. Wenn Mama weg ist, kann ich geradeso gut zu euch kommen, um wieder einmal nachzuschauen, ob mit Tante Lotte und dir alles in Ordnung ist, sagte Papa am Telefon. Zuerst habe ich mich gefreut, dann fiel mir ein, dass sie mich bestimmt verpetzt wegen der Würmer, die ich auch am Abend nicht gegessen habe. Im Putzschrank steht der Teppichklopfer. Wenn Papa mir die Unterhose hinunterzieht und den nackten Hintern verdrischt, kneife ich mir so fest in den Arm, dass ich von beidem zusammen fast ohnmächtig werde. Irgendwann tut es dann nicht mehr weh.

Papa will über Nacht bleiben, damit er sicher sein kann, dass ich auch wirklich gut durchschlafe. Nicht wie früher, als ich noch bei ihnen wohnte und mitten in der Nacht aufstehen musste, um zu pieseln. Und Angst hatte. Papa weiß das nicht. Immer habe ich Angst, dass sie Mama abholen und sie auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt.

Geschirrgeklapper und Kaffeegeruch aus der Küche. Gestern Nacht habe ich meine Zimmertür einen Spaltbreit offen gelassen, weil ich besser einschlafen kann, wenn andere im Wohnzimmer noch miteinander reden. Nein, es war nur ein Traum, Mama liegt zusammengekrümmt an einem Flussufer. Nackte Füße, zerschlissener Pullover. Ihr Gesicht grau und aufgedunsen. Meine Nase ist zu, auf dem Kopfkissen spüre ich eine feuchte Stelle.

Papa ist immer noch hier. Ich höre, wie er sich bei Tantelotte für alles bedankt. Der Schlüsselbund schlägt gegen die Wohnungstür und klingt noch ein wenig nach.

Beim Frühstück ist Tantelotte lieb zu mir. Sie rührt so lange in meiner heißen Schokoladenmilch, bis sie nur noch lauwarm ist und ich sie gut trinken kann. Sie streicht mir ein Butterbrot mit einer dicken Schicht Erdbeermarmelade. Sogar mein Schatz sagt sie zu mir. An anderen Tagen muss ich mich noch vor dem Frühstück vor sie hinstellen, damit sie meine Fingernägel kontrollieren kann, den Pullover, den Rock. Zusammen gehen wir in mein Zimmer. Wenn ich mein Bett schön gemacht habe, die Decke glatt gestrichen ist und im Schrank alle Wäschestücke haargenau aufeinanderliegen, erhalte ich einen grünen Punkt in mein Ordnungsheft. Unordnung macht sie wütend, so wütend, dass sie mit dem Herausreißen der Wäsche aus dem Schrank ein noch viel größeres Durcheinander anrichtet und immer noch lauter schimpft. An solch einem Morgen esse ich nichts und renne sofort in die Schule. Wäre die Schule bloß weit weg in Afrika. Und Tantelotte in Gelsenkirchen.

Ab und zu schenkt sie mir einen Zweifränkler. Das Geld ist für die Spardose, sagt sie. Ich nicke und denke an den Kiosk, wo ich mir von dem Geld die Haselnussschokolade kaufen werde.

Ich musste lange betteln, bis mir Tantelotte den Schlüssel zu meiner Spardose überließ. Es ist schließlich mein Geld, meine Spardose, und dazu gehört auch der Schlüssel. Ich glaube, sie schüttelt die Dose heimlich, wenn ich in der Schule bin. Jedenfalls habe ich schon bemerkt, dass sie verschoben auf meinem Bücherregal stand, obwohl ich die richtige Stelle mit einem Bleistiftkringel markiert hatte. Wenn man genau hinschaut, sieht man im Dosenschlitz die ineinandergreifenden Metallzacken. Die Zacken gehen nur dann auseinander, wenn von oben ein Geldstück hineingeschoben wird. Was drin ist, bleibt drin. Wenn man keinen Schlüssel hat.

Zwei Tafeln Haselnussschokolade. Das Geld, das dann noch übrig bleibt, werfe ich wirklich in die Spardose. Ich spare so lange, bis ich groß bin und eine eigene Wohnung habe. Ohne einen einzigen Teppich. Und dann werde ich Kinderärztin.

Tantelotte strickt alles in Blau und Weiß.

»Züricher Farben, blau-weiß, wie die Trikots von Schalke 04.«

»Es heißt Zürcher Farben, ohne i«, sage ich.

»Dann halt. Ewig her, dass die Knappen Deutscher Meister geworden sind. Die erfolgreichen Dreißiger-und Vierzigerjahre sind leider, leider vorbei. Momentan kämpfen sie sogar um den Ligaerhalt. – Zwei links zusammenstricken – zwei Maschen rechts. Der Langner kann einem schon leidtun. Eine Masche abheben. – Fußball ist halt in der Schweiz nicht so wichtig wie bei uns. Mein Papi hat sogar mich als Mädchen manchmal in die Glückauf-Kampfbahn mitgenommen.«

Für Babys blau-weiße Mützchen, Strampler und winzige Söckchen, für größere Kinder Jacken und Pullis, auf die Tantelotte meistens noch ein schwarzes Hündchen stickt, das aussieht wie Struppi. Die Mützchen hat sie immer schnell fertig, Strampler sind viel komplizierter. Die über Monate anwachsenden Strickberge türmen sich auf der Kommode im Wohnzimmer. Am Weihnachtsbasar der Pfarrei verkauft sie alles. Schwupps geht alles weg. Das Geld spendet sie für die armen Negerli in Afrika. Mützchen und Strampler könne man dort sowieso nicht brauchen, sagt Monika, deren Mutter auch haufenweise strickt.

»Ein Jäckchen«, antwortet Tantelotte auf meine Frage. »Vorder- und Rückenteil habe ich schon.«

»Und woran bist du jetzt?«

»Am Ärmel. – Da, lies nur, wer weiß, ob ich noch hier bin, wenn du selbst einmal ein Baby hast. Oder sogar mehrere Kinder. Was ich dir wünschen würde.«

Sie hält mir die zerfledderte Strickanleitung hin: Für den Ärmel werden 40 Maschen angeschlagen. Auch er beginnt wieder mit dem Blendenmuster und geht dann mit dem Grundmuster weiter. Dabei wird zunächst siebenmal in jeder 3. Reihe jeweils eine Masche zugenommen. Danach kommt 15-mal in jeder 2. Reihe eine neue Masche dazu. Am Ende besteht der Ärmel somit aus 84 Maschen und wird mit einer Gesamthöhe von 16 cm abgekettet. Der zweite Ärmel wird genauso gearbeitet. –

»Ich kapier gar nichts.«

»Siehst du«, sagt Tantelotte genüsslich. »Eine Geheimsprache für dich, wie? Auch das wirst du noch lernen.«

Ob ich das später wirklich einmal können möchte? Ich setze mich mit den Brüdern Löwenherz aufs Sofa und suche die Stelle, wo ich gestern vor dem Einschlafen aufgehört habe zu lesen.

Da beginnt Tantelotte über ihrem Strickzeug zu summen. Plötzlich singt sie sogar leise, so leise, dass ich die Worte gerade noch verstehen kann.

Blau und Weiß, wie lieb ich dich.

Blau und Weiß, verlass mich nicht.

Blau und Weiß ist ja der Himmel nur –

Hab ich noch nie gehört. Etwa ein Lied über Zürich, wegen Blau und Weiß? Jetzt summt sie einige Takte, dann singt sie wieder leise:

Tausend Feuer in der Nacht

Haben uns das große Glück gebracht

Tausend Freunde, die zusammenstehn,

zusammenstehn

Dann wird der FC Schalke niemals untergehn.

Schade, nicht über Zürich, sonst hätte ich es mal Frau Simonis vorgesungen.

Mit einem entschlossenen »So – das hätten wir vorerst« legt sie das Strickzeug auf den Salontisch und nimmt die freie Nadel, um sie zwischen Nacken und Blusenkragen zu schieben. »Ach, wie gut das tut!«

Was wir einmal werden möchten, hatte uns die Lehrerin letzte Woche gefragt.

»Springreiterin, natürlich!«, rief Monika als Erste. Zu Weihnachten wünscht sie sich ein Pferd. Wahrscheinlich bekommt sie keines, obwohl sie mit ihrer Oma oft an Pferderennen geht. Die Oma wettet gerne und hat schon mehr als einmal gewonnen. Leider noch nie ein Pferd, immer nur Geld.

Weil Klaras Mutter Kioskverkäuferin ist, will auch Klara Kioskverkäuferin werden.

»Erika?« – »Krankenschwester.«

»Heinz?« – »Lastwagenchauffeur.«

»Werner?« – »Pilot. Wie mein Vater. Bei der Swissair.«

»Lorenzo – was ist dein Berufswunsch?«

»Weiß nicht. Ich möchte mit Mama und Papa zurück zu meiner Nonna.«

»Gefällt es dir denn nicht bei uns?«

»Nein«, sagte Lorenzo leise. »Immer werde ich geplagt. Ich will endlich zu meiner Nonna.«

Wie ich. Ich werde auch immer geplagt, von Tantelotte, und möchte viel lieber bei Mama sein.

»Wirklich?«, fragte Frau Simonis. »Das ist mir neu. Möchtest du nach dem Unterricht noch einen Moment bleiben? Dann könntest du es mir genauer sagen. – Und du?«, hatte sie schließlich auch mich gefragt. Mir wurde brennend heiß im Gesicht. Mein Berufswunsch ist aufgeblasen, findet mein Vater. Vielleicht findet das Frau Simonis auch.

»Na, Kathi, sag schon.«

»Ich –«

»Nun?«

»Ärztin.«

Endlich hatte ich es herausgebracht.

»Das ist ein schöner Beruf. Und ein wichtiger dazu.«

Meine Angst war weg. »Eigentlich Ärztin für Erwachsene, weil meine Mutter so krank ist. Kinderärztin gefällt mir trotzdem besser. Da sieht man, wenn es einem Kind schlecht geht, und kann ihm helfen.«

Wie wird man das überhaupt? Hatte ich mir noch nie überlegt. Ich streckte auf, schnippte sogar mit den Fingern, was Frau Simonis gar nicht mag.

»Kathi?«

»Frau Simonis, ich möchte Sie etwas fragen.«

»Nur zu. Hat es mit deinem Berufswunsch zu tun?«

Ich nickte. Mein Schnippen hatte sie zum Glück überhört.

»Wissen Sie, wie man das wird?«

»Du meinst Kinderärztin?«

»Ja.«

»Zuerst kommt die Matura, anschließend studiert man an der Universität Medizin. Das ist kein Problem für dich, du bist eine sehr gute und aufmerksame Schülerin.«

»Trotzdem, Frau Simonis.«

»Wieso trotzdem?«

»Tantelotte wäre dagegen, und mein Vater auch. Sie sind gegen die Studierten.«

»Ach, das gibt sich schon. Später musst du niemanden mehr fragen. Mir jedenfalls gefällt dein Berufswunsch. Und deiner Mutter vielleicht ja auch?«

»Ich weiß nicht. Am liebsten möchte sie mit Ärzten gar nichts zu tun haben.«

Seither spielen wir in der Pause oft Unfall. Heinz ist mit seinem Lastwagen voll in eine Mauer gekracht. Er blutet überall. Erika und ich wickeln einen dicken Verband um seinen Kopf. Dazu muss ich ihn fest anpacken, ziemlich fest sogar, wie ich es von Tantelotte kenne, wenn ich mit aufgeschürften Knien und zerschlissener Hose nach Hause komme.

Oder Monika stürzt vom Pferd, braucht unbedingt eine Spritze in das Bein und einen Schleckstängel, den Klara ihr zum Trost schenkt. Also, sie tut nur so, weil ihre Mutter ihr nie welche nach Hause bringt.

Lehrerin will niemand werden. Das enttäuscht Frau Simonis. Ich glaube, sie meint es ernst. Bei den Erwachsenen bin ich mir meistens unsicher, ob sie etwas ernst meinen oder nicht. Auch bei Frau Simonis. Ich gehe ja erst seit letztem Jahr zu ihr in die Schule. In der ersten bis dritten Klasse hatten wir einen Lehrer mit einer Donnerwetterstimme und schweren schwarzen Lederschuhen. Wenn er ein Kind in die dunkle Höhle unter seinem Pult sperrte und dann eins um andere Mal trat, durfte sich niemand etwas anmerken lassen, schon gar nicht zu Hause davon erzählen. Weil man sonst selbst drankommt, sagte der Lehrer. Eines Tages war er plötzlich weg und ein anderer Lehrer da. Vielleicht hat eine Kinderärztin bei einem Kind blaue Flecken entdeckt, und es plauderte alles aus. Was ich niemals tun würde.

Nach Braunwald. Diesmal geht’s nach Braunwald. Sogar mit Tommy. Und schon wieder mit Tantelotte. Einen Ausflug machen wir immer am letzten Wochenende im Monat, wenn ich bei Mama und Papa übernachten darf. Viel lieber wäre mir das erste, weil es sich anhört, als käme es rascher. Wir fahren schon am Samstag weg, damit Papa am Sonntag das Autorennen am Fernsehen schauen kann.

Papa schimpft, weil wir erst nach langem Herumkurven und ziemlich weit von der Talstation entfernt einen freien Parkplatz finden.

»An diesem herrlichen Tag wollen halt alle hinauf in den Bergfrühling«, beschwichtigt Mama. »Die Blumenpracht genießen.« Sie will nicht, dass wir uns streiten. Streit in der Familie bringt sie um.

Die ersten Male auf der Standseilbahn hatte Tantelotte fürchterlich gezittert. Sie musste die Augen schließen, damit sie die steilen Abhänge nicht sah. So hohe Berge gibt es dort nicht, wo sie herkommt. Und darum auch keine Standseilbahnen.

Wenn man oben aussteigt, ist es überall noch steiler. Mama kommt deshalb nur die wenigen Schritte bis zum Hotel Alpenblick mit. Dort hört sie dem Nachmittagskonzert zu und trinkt einen Tee. Manchmal gönnt – gönnt? – sie sich auch ein Stück Kuchen. Dass sie zur Musik nicht mehr tanzen kann, macht sie traurig.

Wir andern schultern die Rucksäcke. Mein Vater nennt das so, schultern. Ohne uns nochmals umzuschauen, marschieren wir los. Auch das nennt mein Vater so. Vorwärts. Aufwärts.

An manchen Häusern steht Fremdenzimmer.

»Für wen sind eigentlich diese Zimmer, Papa?«

Das wollte ich schon lange mal wissen, weil Lorenzo Fremdarbeiter sagt, wenn er von seinen beiden Onkeln redet, die auf einer Baustelle arbeiten, irgendwo hoch oben in den Bergen.

»Für die Fremden, es steht doch auf der Tafel.«

»Also für Leute aus anderen Ländern als der Schweiz?«

»Nein, nicht nur. Jeder, der nicht hier geboren wurde, ist in diesem Dorf ein Fremder.«

»Wir also auch, Papa?«

»In Braunwald würde ich keine Ferien machen wollen.«

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