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Wege, die zur Liebe führen

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Social Media Managerin Selma hat ihren Job in einer hippen Münchner Werbeagentur satt – sie möchte nicht länger den Menschen eine Welt vorgaukeln, die es nicht gibt. Mit all ihren Ersparnissen kauft sie sich einen altersschwachen VW-Bus und macht sich gemeinsam mit ihrer Labradorhündin Mary Puppins auf eine Reise an die irischen Westküste, doch bereits in Connemara macht das Fahrzeug schlapp. Die einzige Werkstatt weit und breit repariert eigentlich nur Boote, und da Selma außerdem das Geld für die Ersatzteile fehlt, geht sie einen Deal mit Callum, dem Besitzer der Werkstatt, ein: Sie bringt sein Büro auf Vordermann, und er repariert dafür ihren Camper. Selma weckt Callums alte Abenteuerlust wieder, und im Gegensatz zu ihm hat sie sich nicht davon abbringen lassen, ihre Träume zu verwirklichen. Doch die Vergangenheit holt Callum ein …


  • Erscheinungstag: 15.04.2025
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908554
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julie Larsen

Wege, die zur Liebe führen

Roman

HarperCollins

Kapitel 1

Zwischen der größten Dummheit und dem größten Erfolg deines Lebens liegt nur das Gelingen. Die Lebensweisheit, die sie irgendwann einmal gelesen hatte, kam Selma in genau dem Moment in den Sinn, als ihr VW-Bus mit einem markerschütternden Rumms in eines der vielen Schlaglöcher auf der Straße krachte. Sie umklammerte das Lenkrad fester, kämpfte darum, die Spur zu halten. Irgendwas im Motorraum schepperte. Es klang, als hätte sich etwas gelöst, das lieber hätte fest bleiben sollen. Mary Puppins jaulte.

Sobald sie den Wagen wieder unter Kontrolle hatte, löste Selma eine Hand vom Lenkrad und tätschelte ihrer Labradorhündin den Kopf.

»Nicht mehr lange, okay? Im nächsten Ort machen wir eine ausgedehnte Pause. Dann kannst du rennen und meinetwegen jeden einzelnen Grashalm markieren. Aber lass uns bitte nur in der Zivilisation ankommen. Hörst du nicht den Motor?« Sie machte eine kurze Pause, und wie aufs Stichwort gab der Wagen ein ungesundes Husten von sich. Nur die Angst, im Straßengraben zu landen oder erneut ein Schlagloch zu übersehen, hielt sie davon ab, in purer Verzweiflung die Augen zu schließen.

Von Gelingen war ihr Aussteigertraum momentan jedenfalls meilenweit entfernt. Dabei hatte alles so gut angefangen. Bereits zwei Tage nachdem sie Justus die Kündigung überreicht hatte, war sie über die Anzeige für einen VW-Bus gestolpert. Trotz eines Alters von über dreißig Jahren hatte der Verkäufer ihr den Van als vollkommen funktionsfähig angepriesen. Damals war ihr das wie ein Wink des Schicksals vorgekommen. Natürlich hatte sie sofort zugeschlagen. Den Ausbau zum Camper hatte sie selbst übernommen. Endlich einmal was mit ihren Händen zu tun und dabei zuzusehen, wie Stück für Stück ihr Zuhause auf Rädern entstand, hatte sich großartig angefühlt und sie jeden Tag aufs Neue von der Richtigkeit ihrer Entscheidung überzeugt. Leider hatte der Ausbau deutlich mehr ihres Ersparten verschlungen, als in ihrer Ursprungskalkulation veranschlagt. Dafür hatte ihr Bus jetzt nicht nur jede Menge Stauraum, sondern auch ein einheitliches Farbkonzept in Seekiefer und Grau-Grün mit Textilien in Rosé, Braun und einigen neonfarbenen Akzenten. Voller Vorfreude war sie aufgebrochen. Einmal den kompletten Wild Atlantic Way abfahren, lautete das Vorhaben. Zweitausendsechshundert Kilometer spektakulärste Küstenstraße entlang der irischen Westküste vom Süden des County Cork bis hin zur Halbinsel Inishowen im Norden des County Donegals, und das ganz ohne Hetze und Verpflichtungen. Nur sie und Mary und viel Zeit, um hundert Prozent sie selbst zu sein.

Die Probleme hatten direkt nach ihrer Ankunft in Irland begonnen. Ein geplatzter Reifen in Rosslare und eine Panne in Bantry Bay hatten weitere Löcher in ihren Geldbeutel gefressen. Bereits der Mechaniker in Bantry hatte anklingen lassen, dass sich ihr Bus keineswegs in einem – wie es der Verkäufer bezeichnet hatte – ›soliden‹ Zustand befand. Seiner Einschätzung nach trennte nur noch ein letzter Kratzer ihn von einem wirtschaftlichen Totalschaden. Ohne Bus gäbe es allerdings keinen Roadtrip. Ohne Bus wäre sie keine Reisebloggerin mehr, sondern nur eine gescheiterte Existenz. Alle, die von Anfang an der Meinung gewesen waren, ihr Vorhaben sei die größte Dummheit ihres Lebens, hätten recht.

Wieder winselte Mary P., und diesmal unterstrich sie ihre Unzufriedenheit, indem sie mit der Pfote am Fenster kratzte.

»Gleich.« Selma biss die Zähne zusammen. »Halt noch kurz aus. Ich versprech’s dir. Sobald wir ein bisschen Zivilisation um uns haben, darfst du raus.«

Mary ließ sich von Selmas aufgesetzt zuversichtlichem Tonfall nicht täuschen. Sie wandte ihr den Kopf zu und betrachtete ihr Frauchen mit hochgezogener Augenbraue, ehe sie tröstend Selmas kompletten Unterarm abschleckte.

»Ewwww!« Selma tat ihr Bestes, um den Arm vor der schlabbernden Hundezunge zu retten, lachte aber dabei. Das war die wahre Magie von Hunden. Selbst wenn eine Situation alles andere als optimal war, vermochten es diese wunderbaren Wesen, einem ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Blieb nur noch das Problem mit dem Bus.

Wenn sie das Ding doch nur mit bloßem Willen am Laufen halten könnte! Sie brauchte diese Reise. Sie brauchte den Erfolg mehr als ein warmes Abendessen, ein gemütliches Bett oder einen regelmäßigen Gehaltsscheck. Sie brauchte diese Reise, um der Welt, aber vielmehr sich selbst, zu beweisen, dass es ein Ziel gab, für das es sich zu kämpfen lohnte. Auch wenn niemand ihr das glauben wollte, ihre Kündigung war mehr gewesen als die Trotzreaktion einer verwöhnten Mittzwanzigerin. Wäre sie nur einen einzigen Tag länger ein Teil des Spiels um Verblendung, Falschheit und Schein gewesen, hätte sie nicht nur eine Arbeitsstelle verloren, sondern den Respekt vor sich selbst. So glich der Blick auf ihr Konto zwar einem Trauerspiel, vor dem Blick in den Spiegel graute ihr dafür nicht mehr.

Nach der nächsten Kurve weitete sich die Straße. Die Wiese fiel nun flacher zum Meer hin ab, war jedoch von zahlreichen niedrigen Mauern durchzogen. Immer noch gab es weit und breit kein Zeichen von Zivilisation, die Mauern begrenzten nichts. Ihr einziger Zweck schien zu sein, aus der Landschaft eine Patchworkdecke verschiedener Grün- und Brauntöne zu machen. Insgeheim verfluchte Selma die Entscheidung, schon vor Kilometern von der N59 abgebogen zu sein, um den Streckenabschnitt inmitten unberührter Natur zu genießen. Selbst die Strommasten sahen aus, als wären sie seit Jahrzehnten nicht mehr gewartet worden. Windschief begrenzten sie die Straße. Immer wieder passierte sie Ruinen von halb verfallenen Cottages, und selbst die bewohnten Häuser, an denen sie vorbeikam, wirkten eher, als wären sie aus dem Boden gewachsen statt von Menschenhand gebaut.

Das wilde Herz Irlands nannte man die Region Connemara. Vor der Windschutzscheibe zeigte sich ein Wechselspiel zwischen Wildnis und Einsamkeit. Beschützt von den mächtigen Twelve-Bens-Bergen am Horizont erstreckte sich ein Fleckenteppich aus Moorlandschaft, Wiesen und Seen. Oft ließ sich nicht sagen, wo ein See aufhörte und das Meer begann. Selma atmete ein, atmete aus, nahm mit jedem Atemzug die Schönheit der Landschaft in sich auf und versuchte, sich zu entspannen. Das hier war gut. Alles war gut. Sie würde trotz Scheppern im Motor den nächsten Ort erreichen. Sie würde jemanden finden, der nach ihrem Bus sehen und ihr versichern würde, dass sie keine Angst vor einer Panne mitten im Nirgendwo haben müsste. Sie würde …

Wieder ging ein Ruck durch den Bus, begleitet von einem ohrenbetäubenden Knall, und diesmal war sich Selma sicher, kein Schlagloch übersehen zu haben. Ein paarmal noch hustete der Motor, dann verstummte er, und der Wagen rollte aus. Alles, was Selma tun konnte, war, das Gefährt so weit an den Straßenrand zu manövrieren, dass andere Autos an ihm vorbeikämen.

»Verdammt!« Mit beiden Händen schlug sie auf das Lenkrad ein. Das Ding gab etwas nach, und einen Moment lang fürchtete sie, dass sie es womöglich abgerissen hatte, aber zum Glück hielt es fest. In der Stille nach ihrem Ausbruch hörte sie das Blut in ihren Ohren rauschen.

Nicht mal auf hündischen Trost konnte sie diesmal bauen. Mary P. interpretierte den stehenden Wagen offenbar als Zeichen, dass ihr nächster Gassigang unmittelbar bevorstand. Ihr ganzer Körper wackelte, weil sie mit dem Schwanz wedelte, auf dem sie saß. Sie hechelte und quietschte und untermalte das ulkige Tänzchen mit einem Kratzen an der Tür.

»Okay, okay, okay«, gab Selma nach. »Ich muss eh nach dem Motor schauen.« Was sie zu sehen hoffte, wenn sie den Motor gefunden hatte, wusste sie selbst nicht genau. Die einzigen Fehler, die sie würde erkennen können, waren »Motor weg« und »Motor brennt«, und obwohl ihr Optimismus in den letzten Tagen einen gehörigen Dämpfer abbekommen hatte, war sie zuversichtlich, dass beides nicht zutraf.

Sie schnappte sich Mary P.s Leine von der Ablage zwischen den Bänken, umrundete die Front des Wagens und öffnete die Beifahrertür.

»Jetzt zufrieden?«, fragte sie die Hündin. »Pass nur auf, wenn du aussteigst. Die Autos kommen hier von der anderen Seite.« Sie löste den Hundeanschnallgurt und wollte gerade die Leine einhaken, doch Mary P. war schneller. Sie wand sich wie ein Blitz unter Selmas Arm hindurch und sprang mit einem für eine Labradorhündin außerordentlich eleganten Sprung auf die Straße.

»Stopp!« Normalerweise war das eines der Kommandos, die Mary P. verlässlich beherrschte, doch diesmal war der Ruf der Natur lauter. Schnurstracks setzte die Hündin auf die Wiese zu.

»Mary, stopp!«, versuchte es Selma noch einmal. Erfolglos.

Sie ließ die Beifahrertür zuknallen und hastete Mary P. nach. Statt sich am erstbesten Grashalm zu erleichtern, raste sie im gestreckten Galopp von Selma weg. Mit jedem Sprung vergrößerte sich der Abstand zwischen ihnen.

Mit ihren vier Pfoten fiel es Mary P. deutlich leichter als Selma, das unebene Terrain zu meistern. Grashalmspitzen schnitten ihr in die Waden, immer wieder verfing sie sich in Flechten oder musste Steinbrocken ausweichen, die wie Warzen aus dem Boden wuchsen, doch sie gab ihr Bestes und lief Mary P. nach.

»Wo, zum Henker, willst du eigentlich hin?«, rief sie ihr nach Luft schnappend hinterher. Jetzt rächte sich, dass sie viel zu selten ins Fitnessstudio ging. Weder Dauerlauf noch Sprint gehörten zu ihren Paradedisziplinen.

Ihr Herz machte einen Satz, als Mary P. hinter einer Senke verschwand, ehe ein lautes Platschen verriet, was Mary P.s Ziel gewesen war. Ernsthaft, dieser Hund war besser als jede Wünschelrute, wenn es darum ging, Wasser aufzuspüren.

Selma verlangsamte ihre Schritte. Wenn Mary Puppins einen Wasserlauf gefunden hatte, gab es ohnehin kein Zurück mehr. Die Chancen standen gut, dass die Hündin irgendwas in diesem Wasser finden würde, ohne das sie keinesfalls zurück zum Van gehen konnte. Sei es ein Stock, ein Stein oder ein alter Gummistiefel. Im Finden von vermeintlichen Schätzen war Mary P. beinah genauso gut wie im Aufspüren von Wasser. Blieb nur abzuwarten, was es diesmal war. Verrücktes Hundemädchen. Manchmal konnte Selma selbst kaum glauben, wie hoffnungslos vernarrt sie trotz allen Unfugs, den Mary Puppins anstellte, in ihre tierische Begleiterin war. Sie zückte ihr Handy und aktivierte die Kamera. Mary P. beim Planschen würde sicher ein süßes Foto oder Filmchen abgeben. Das konnte sich dann zu den über zehntausend anderen süßen Fotos und Filmchen auf Selmas Cloud gesellen. Wie gesagt: Hoffnungslos verschossen. Nur gut, dass ihre Followerinnen Mary Puppins in Action fast genauso liebten wie sie.

***

Sobald Callum die Paddel anhob, war da nur noch Ruhe. Seelentröstende, beruhigende, wohltuende Ruhe. Sacht pladderte das Wasser gegen die Kanuwand. Im Ufergras tschilpten ein paar Vögel. Die Sonne spiegelte sich in goldenen Pfützen auf der Wasseroberfläche. Wenn ein Windhauch durch den Strandhafer am Ufer fuhr, raschelten die Blätter wie unsichtbare Cimbalen.

Er atmete die frische Luft ein, ließ sich ein paar Meter einfach nur treiben, dann setzte er zum nächsten Paddelschlag an. Sofort spürte er die Bewegung in den Oberkörpermuskeln. Aus Erfahrung wusste er, dass er am Abend seinen gesamten Körper auf eine Weise fühlen würde, die nur das Kanufahren schenkte. Die meisten Tage rauschten an ihm vorbei. Arbeit, Mam, Schlafen, Arbeit – je weniger er darüber nachdachte, was er tat, desto weniger musste er daran denken, was er nicht machte. Er baute keine Jachten für Menschen, die das Besondere suchten. Er bereiste nicht die Welt und sammelte Eindrücke wie andere Menschen kostbare Münzen. Stattdessen saß er auf demselben Stückchen Land fest, auf dem schon die Großväter seiner Großväter gelebt hatten, hatte einen Job, der zwar genug Geld zum Leben brachte, aber keine echte Erfüllung, und statt in einer eigenen Wohnung wohnte er immer noch in seinem alten Kinderzimmer in dem Haus, das sein Großvater ihm vererbt hatte. Nur auf dem Wasser mochte er, wer er war. Mit jedem Paddelschlag fiel die Anspannung von ihm ab und breitete sich Zufriedenheit in ihm aus. Wer brauchte die weite Welt, wenn er das hier hatte? Die Lochs und Flüsse und Küsten seiner Heimat. Maler, Dichter, Schriftsteller und Filmemacher hatte diese Landschaft inspiriert. Endlose Flächen aus weißem Strand, Gezeitenbecken, in denen das Leben pulsierte. Graureiher auf der Jagd nach Fischen. So viele verschiedene Arten von Seealgen, dass es nicht genug Worte dafür gab. Wenn er mit dem Kanu unterwegs war, die Gedanken ruhig wurden und sein Kopf ganz leer, dann genügte das hier. Dann konnte er die Augen schließen und ein paar Minuten lang glücklich sein.

Ein lautes Platschen riss ihn aus seiner Trance. Er öffnete die Augen, suchte nach der Quelle des Geräuschs. Es hatte geklungen, als wäre ein großes Tier ins Wasser gefallen.

Während er noch immer die Umgebung scannte, tauchte am Ufer die Gestalt einer jungen Frau auf. Sie rief etwas, doch der Wind kam aus der anderen Richtung, sodass er die Worte nicht verstand. Die Aufmerksamkeit zurück aufs Wasser richtend, erkannte er einen Schatten, der auf ihn zu paddelte. Er war groß und ziemlich schnell, und bevor Callum begriff, was passierte, hatte der Schatten die kurze Leine am Bug des Kanus in den Fang genommen und zerrte das Boot mitsamt Callum darin in Richtung Ufer.

»He!« Callums erster Impuls war, mit dem Ruder nach dem Vieh zu schlagen. Er hatte das Paddel noch nicht einmal angehoben, da verwarf er den Plan, schließlich war er kein Tierquäler.

»Mary P.!«, hörte er jetzt die Frau am Ufer rufen. »Lass sofort das Kanu los. Wir entführen keine Kanufahrer!«

Sein Deutsch war gut genug, um zumindest den groben Sinn des Kommandos zu verstehen.

»Macht sie das öfter?«, rief er ebenfalls auf Deutsch zurück. Die Rufende musste die Besitzerin des Terroristenhundes sein.

»Es tut mir so leid!«, versicherte sie, und dann noch einmal: »Aus, Mary P.! Aus!«

Mary P. – was für ein seltsamer Name für einen Hund! – ließ sich von ihrer Besitzerin nicht aus der Ruhe bringen. Meter um Meter zerrte sie das Kanu zum Ufer und ließ die Leine erst los, als das leise Schaben von Kies an der Bootshaut verriet, dass er auf Grund gelaufen war. Die Hündin schien ihre Aufgabe vollendet zu haben und trottete zurück an Land. Ihr Fell glänzte schwarz vor Nässe. Ein sachtes Zittern lief durch den Hundekörper, dann ein Beben, und schließlich schüttelte sie sich mit so viel Inbrunst, dass nicht nur Callum, sondern auch die Besitzerin eine Dusche abbekam.

»Mary P.! Was soll das?« Mit einer Hand zog die Fremde sich das durchtränkte T-Shirt vom Leib. In der anderen hielt sie ein Handy.

Aus dem Nichts mischte sich ein Funken Wut in Callums Verwirrung. »War das alles ein abgekartetes Spiel?«

Die Fremde zog die Augenbrauen zusammen. Er deutete auf das Handy in ihrer Hand.

»Haben Sie Ihren Hund etwa abgerichtet?«

»Abgerichtet?« Sie sah aus, als ob sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie lachen oder den psychiatrischen Notdienst alarmieren sollte. »Das ist eine Labradorhündin.«

»Was hat die Rasse damit zu tun, dass Sie ihm beigebracht haben, ahnungslose Wassersportler zu belästigen?«

»Sie glauben, ich habe sie darauf trainiert, Kanufahrer abzuschleppen?« Das beseitigte die Zweifel endgültig, und sie entschied sich für Lachen. »Hören Sie mal! Ich reise zwar allein, das heißt aber noch lange nicht, dass ich Männer nicht allein abschleppen könnte, wenn mir der Sinn danach stände. Und um das mal gleich klarzustellen: Momentan steht mir der Sinn nicht danach. Ihre Tugend ist nicht in Gefahr.«

Seine Tugend? Er schnaubte. Um ehrlich zu sein, hätte er gegen ein bisschen Tugendgefährdung nichts einzuwenden. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann er zum letzten Mal mit einer Frau zusammen gewesen war. Romantik gab sein Leben einfach nicht her.

»Na dann.« Er wischte sich Wassertropfen aus dem Bart und griff nach dem Paddel.

Am Ufer spitzte der Hund die Ohren. Kaum stieß Callum sich mit dem Paddel vom Ufer ab, gab er ein leises Grummeln von sich. Callum holte das Paddel zurück ins Boot und hob kapitulierend beide Hände.

»Ho, ho, die klingt ja gemeingefährlich! Bist du dir sicher, dass du sie nicht auf Entführungen trainiert hast?« Vor Nervosität war er unbewusst ins Englische übergegangen. Nicht, dass er vor Hunden Angst hatte. Er doch nicht. Aber ein großer schwarzer gefährlich knurrender Hund ließ ihn nicht kalt. Selbst dann nicht, wenn dieser Hund einer Rasse angehörte, der man nachsagte, sie würde keiner Fliege etwas zu Leide tun. Ausnahmen bestätigten immer die Regel. »Auf mich wirkt das, als wollte er unbedingt verhindern, dass ich zurück aufs Wasser komme.«

»Gott!« Nur mit großer Mühe brachte die Hundehalterin die einzelne Silbe zwischen ihrem glucksenden Kichern heraus. »Das tut mir wirklich so leid. Mary Puppins liebt apportieren. Wenn sie etwas sieht, was sie haben will, kennt sie keine Grenzen. Bisher hat sie allerdings vor Menschen haltgemacht. Aber scheinbar denkt sie sich: Immer mal etwas Neues.« Sie griff das Halsband der Hündin. »Ich halte sie fest, okay? Dann kannst du zurück aufs Wasser.«

»In Ordnung.« Er hob das Paddel.

»Warte!«

»Was?« Er ließ das Paddel sinken.

»Weißt du vielleicht …« Sie brach ab, setzte neu an. Zum ersten Mal schien sie aus dem Takt zu kommen. »Kannst du mir sagen, wo hier die nächste Werkstatt ist? Oder hast du vielleicht sogar eine Notrufnummer, die ich anrufen kann?«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst.«

»Was?«

»Du willst mir ernsthaft sagen, dass das Zufall ist?« Weil er ohnehin schon wusste, wie diese Unterhaltung ausgehen würde, machte er sich daran, aus dem Kanu zu steigen. Dies war beileibe nicht das erste Mal, dass er während einer seiner seltenen Auszeiten zu einem Notfall gerufen wurde. Dass sich jemand dazu herabließ, ihn wortwörtlich an Land zu zerren, um sich irgendeinen kaputten Motor anzusehen, war allerdings eine Premiere. Warum ließ er so etwas immer wieder mit sich machen? Aisling hatte recht, wenn sie behauptete, er hätte einen Helferkomplex, den er dringend unter Kontrolle bringen musste.

»He, he!« Diesmal war sie es, die abwehrend die Hände hob und ein paar Schritte vor ihm zurückwich. Und der Höllenhund? Statt sein Frauchen, das offensichtlich Angst vor dem bösen bärtigen Mann hatte, zu beschützen, entwand er sich ihrem Griff und begrüßte Callum schwanzwedelnd an Land. Komisches Tier.

Die Frau ergriff wieder das Wort. »Was soll das? Du willst mir nichts tun, oder? So sauer kannst du nicht auf mich sein. Ich hab doch nur eine Frage gestellt. Und ich verspreche, ich habe nichts mit Mary P.s Kidnapping-Aktion zu tun. Mein Bus ist liegengeblieben. Zuerst hat der Motor so komische Geräusche gemacht, dann hat er gehustet und vielleicht auch ein bisschen geraucht, da bin ich mir nicht sicher. Möglich, dass ich mir das nur eingebildet habe. Jedenfalls hat es dann noch mal einen Knall gegeben, also aus dem Motorraum, und dann ist der Bus stehengeblieben. Jetzt weiß ich nicht, wie ich den Van von der Straße bekomme. Es reicht vollkommen, wenn du mir eine Nummer gibst. Oder mir den Namen des örtlichen Mechanikers sagst und mir verrätst, wie Mary P. und ich dorthin kommen. Oder wenn du nicht mit mir reden willst, dann deute einfach in die Richtung. Wir finden uns schon zurecht.«

»00353-19552611979

»Was?« Sie zog die Stirn in Falten. Süß war das. Mindestens so süß wie ihr nervöses Geplapper. Überhaupt, wenn man bereit war, über ihre Zuneigung für straffällige Vierbeiner hinwegzusehen, war die Fremde insgesamt eine Frau, der er auch ohne Hilferuf einen zweiten Blick zugeworfen hätte. Blonde Strähnen zauberten Leben in das mausbraune Haar, das sie an den Seiten geflochten hatte, aber sonst offen trug. Ihre Lippen waren voll und gerade so weit geöffnet, dass er die Spitzen der oberen beiden Schneidezähne hervorblitzen sah. Sie war ein ganzes Stück kleiner als er, aber ihre Körperhaltung verriet innere Größe. Vor ihm stand keine Frau, die sich die Butter vom Brot nehmen ließ, das hatte selbst seine kurze Konfrontation mit ihr ihm schon gezeigt. Ihm Kontra zu geben, kostete sie etwas, aber sie tat es trotzdem. Diese Art von Mut machte ihn noch viel neugieriger auf sie als ihre unbestreitbare Attraktivität.

»Wähl die Nummer. Ich weiß, du hast ein Handy dabei.« Er nickte zu dem Gerät in ihrer Hand.

Für die Dauer eines Atemzugs schien sie protestieren zu wollen, dann gab sie nach. Sie zückte das Smartphone und warf ihm einen fragenden Blick zu.

»00353«, wiederholte er deutlich langsamer. »19552611979

Ihr Daumen tippte auf das Display. Sie konnte von Glück reden, dass sie hier draußen Empfang hatte. Sobald sich die Verbindung aufgebaut hatte, klingelte sein eigenes Mobiltelefon.

Mit hochgezogenen Augenbrauen fischte er es aus der Seitentasche seiner Shorts und nahm den Anruf an.

»Burke’s Boatsworks, Callum am Telefon. Was kann ich für dich tun?«

»Ich …« Die Fremde nahm das Handy vom Ohr und sah ihn verwirrt an. »Was soll das?«

»Du hast nach dem örtlichen Mechaniker gefragt. Das bin ich.« Auch er beendete das Telefongespräch. Stattdessen streckte er ihr die Hand zum Gruß hin. »Callum Burke. Eigentlich repariere ich eher Boote, aber Motor ist Motor. Wenn du willst, kann ich mir deinen Bus mal anschauen.«

Sie blinzelte. Einmal. Zweimal. Es wirkte, als ob sie den Sinn seiner Worte erst verarbeiten musste, letztendlich wischte jedoch ein Lächeln alle Vorbehalte von ihrer Miene, und Callum hatte das Gefühl, er sähe nach Tagen voller Regen zum ersten Mal die Sonne.

»Mary Puppins ist ein Genie! Von allen möglichen Dingen, die sie hätte anschleppen können, hat sie sich ausgerechnet für dich entschieden. Du, Callum Burke, bist genau das, was ich brauche.«

Es war nur so dahingesagt. Natürlich war es das. Eine leere Floskel, wie Menschen sie eben von sich gaben, wenn sie besonders erleichtert oder besonders froh oder besonders angespannt waren. Warum also machte sein Herz einen verräterischen kleinen Salto dabei?

Kapitel 2

Callum Burke hatte einen festen Handschlag. Schwielen an den Fingerballen verrieten, dass er es gewohnt war, mit den Händen zu arbeiten. Ein Schauer durchrieselte ihren Körper. Sie zog die Hand zurück und verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Es war schon beinah lächerlich, wie sehr ihr Retter in der Not ihrem Typ entsprach. Seit sie als Teenagerin einen E-Reader geschenkt bekommen und sich von da an ganz ungeniert durch sämtliche Liebesromane hatte lesen können, ohne von zweideutigen Covern verraten zu werden, hatte sie eine heimliche Vorliebe für Bad-Boy-Romanzen entwickelt. So wie Callum Burke aussah, könnte er ohne Weiteres der Titelheld einer Motorradclub-Romanze sein. Dunkles, fast schwarzes Haar, das an den Seiten zwar kurz, am Oberkopf dafür so lang war, dass einige Strähnen ihm in die Stirn fielen. Ordentlich gestutzter Vollbart und Augen, die tief in den Höhlen lagen. Sein verwaschenes Muscleshirt war mehr Armausschnitt als Stoff und früher wahrscheinlich einmal schwarz gewesen. Mittlerweile hatte es eine grau melierte Farbe und betonte auf beinah unanständige Weise die Rundung seiner Oberarme und die kunstvollen Tattoos, die nicht nur die Arme bedeckten, sondern auch am Hals hervorblitzten.

Erwartungsvoll sah er sie an.

Sie starrte zurück.

Er räusperte sich. »Dein Name?«

Erst seine Frage riss sie aus der Trance.

»Selma«, antwortete sie. »Selma Lambrecht.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Selma Lambrecht.« Schon erstaunlich, was ein Lächeln – selbst eines, das sich zu acht Zehnteln in einem Bart versteckte – mit einem Gesicht machen konnte. In einem einzigen Wimpernschlag verwandelte es Callum von mürrischem Gangsterboss zu hilfsbereitem Hipsterjungen. »Wollen wir jetzt nach deinem Bus schauen?«

»Ja, äh, ja, klar. Was ist mit deinem Kanu?« Sie warf dem schlanken Boot einen skeptischen Blick zu.

»Das ziehe ich noch ein bisschen weiter ans Ufer, dann kann es so bleiben.«

»Wenn du meinst. Mary P.!« Während Callum sein Kanu und das Paddel sicherte, kam Mary Puppins, die die Zeit genutzt hatte, um die Uferlinie nach weiteren Fundstücken abzusuchen, folgsam angetrottet.

»Es ist nicht weit«, informierte Selma Callum. »Gleich da oben an der Straße. Normalerweise lasse ich Mary P. nicht ohne Leine rumlaufen, aber sie ist mir entwischt, kaum dass ich die Tür aufgemacht habe. Ich glaube, sie ist fast geplatzt, so dringend musste sie pinkeln.« Und warum genau erzählte sie das Callum?

»Ah.« Kein Wunder, dass er nicht mehr dazu zu sagen hatte. Das Problem war nur: Wenn Menschen in ihrer Umgebung nichts sagten, neigte sie dazu, zu viel zu sagen. Auf Partys war sie deshalb immer ein gern gesehener Gast. »Unsere Partyhexe«, hatte Melina sie oft genannt. Spätestens da hätten Selma die Augen aufgehen sollen, aber sie hatte es ja vorgezogen, nur das zu sehen, was sie sehen wollte. In puncto Menschenkenntnis war sie echt eine Niete. Was nicht nur das Debakel mit Melina bewies, sondern auch der kaputte Bus. Auch da hatte sie sich von den netten Worten und Versicherungen des Verkäufers täuschen lassen.

»Und was machst du so, wenn du nicht gerade Kanu fährst, Touristinnen in Nöten hilfst oder arbeitest?«

»Nichts.«

Nun, wie es aussah, war auch das nicht das richtige Thema. Zum Glück tauchte in diesem Moment der Bus in ihrem Sichtfeld auf. Sie klickte Mary P.s Leine an das Brustgeschirr. Noch einmal würde sie nicht riskieren, dass ihre Ausreißerin sie überlistete.

Der Anblick des Wagens schien auch Callum Auftrieb zu geben. Zielsicher öffnete er die Heckklappe des T3 und beugte sich über den Motor. Nachdenklich kratzte er sich den Bart.

»Zündkabel und Keilriemen scheinen in Ordnung zu sein. Kannst du den Wagen mal anlassen?«

»Klar.« Etwas hilflos schaute sie auf ihr Ende der Hundeleine. Normalerweise beherrschte Mary P. das Kommando »Bleib« recht zuverlässig. Doch dass Hunde keine Roboter waren, hatte ihre Hündin heute schon einmal bewiesen. Sicher war sicher. Sie schlang das lose Ende der Leine um einen der windschiefen Stromleitungsmasten und kletterte in den Wagen.

Statt zu starten, gab der Motor nur ein trauriges Eiern von sich.

»Noch mal!«, rief Callum ihr vom Heck des Busses zu.

Sie trat die Kupplung, drehte den Schlüssel erneut. Das Ergebnis blieb dasselbe.

»Okay.« Im Rückspiegel konnte sie sehen, wie Callum einen Schritt vom Motor zurücktrat und die Haube vorsichtig zufallen ließ. »Du kannst wieder rauskommen.«

Das Schwanzwedeln, mit dem Mary P. sie begrüßte, wirkte deutlich freundlicher als Callums Blick. Keine Frage also, zu wem sie sich stellte. Sie ging in die Hocke, um ihre Hündin zu umarmen, schwelgte eine Sekunde lang in dem tierischen Trost, dann wagte sie sich an die Frage, die sie eigentlich nicht stellen wollte.

»Und?«

Von unten herauf sah sie Callum an.

»Bist du sicher, dass genug Benzin im Tank ist?«

Abrupt stand sie auf. »Hey, ich bin zwar eine Frau, aber ich weiß durchaus, dass ein Verbrennungsmotor Treibstoff braucht, um zu funktionieren. Dafür muss ich keine Mechanikerin sein. Ich hab diesen Trip geplant, okay? Natürlich gehört da auch dazu, dass ich regelmäßig tanke.«

»Es war nur eine Frage. Lass meinen Kopf dran, in Ordnung?«

»So wie du meinen Kopf dran gelassen hast, als ich vorhin nach einem Mechaniker gefragt habe. Erzähl du mir nichts von übertriebenen Reaktionen.«

»Sieht aus, als hätten wir beide hier und da eine wunde Stelle. Frieden?«

Sie gab nur vor, nachzudenken, nickte dann jedoch. »Okay, Frieden.«

»Ein leerer Tank kann also nicht das Problem sein?«

»Unmöglich.« Vehement schüttelte sie den Kopf.

»Dann beschreib mir doch mal, was genau passiert ist, bevor der Bus liegen geblieben ist.«

Das machte sie. Sie berichtete von dem Schlagloch und dem Scheppern und schließlich von dem Knall, als der Motor versagt hatte.

Je mehr sie redete, desto nachdenklicher wirkte er. »Was für ein Knall war das?«

Machte er sich über sie lustig? Sie musste ihn genauso verwirrt angesehen haben, wie sie sich fühlte, denn er spezifizierte: »War es mehr ein ›Wumms‹ oder ein ›Krach‹ oder ein ›Bumm!‹?«

Er machte sich über sie lustig. »Es war ein Knall, Callum.«

»Du kannst das Geräusch nicht näher beschreiben?«

Langsam, aber sicher ging ihr die Geduld aus. Der Typ verarschte sie doch.

»Nein, Callum, ich kann nicht genau beschreiben, ob der Knall ein Wumms, ein Krach oder ein Bumm war. Vielen Dank für nichts.« Sie wandte sich ab, um Mary P. von der Stromleitung zu befreien. Dann würde sie eben Onkel Google nach dem nächstbesten Abschleppdienst fragen. Wahrscheinlich hätte sie das von Anfang an tun sollen. Immer wieder lief es bei ihr auf fehlende Menschenkenntnis hinaus.

»Selma!« Die Art, wie Callum ihren Namen aussprach, ließ sie innehalten. »Ich will dir wirklich helfen.«

Hätte nur das allerkleinste Muskelzucken in seinem Gesicht darauf hingewiesen, dass er es nicht absolut ernst meinte, hätte sie sich nicht aufhalten lassen. So aber blieb sie stehen und sah ihn auffordernd an.

»Die Frage war blöd, das gebe ich zu. Aber so war es nicht gemeint. Nach dem, was ich gehört habe, klingt das alles nicht besonders vielversprechend. Was genau los ist, kann ich aber nicht am Straßenrand rausfinden. Dazu muss der Bus auf die Bühne. Wenn es in Ordnung für dich ist, rufe ich einen Kumpel an. Der kann dich abschleppen, und ich schaue mir deinen Bus in der Werkstatt noch mal genauer an. Vielleicht kriege ich sogar von irgendwoher ein Diagnosegerät. Das kann ein paar Tage dauern, macht die Fehlersuche aber einfacher.«

Sie rieb mit den oberen Schneidezähnen über die Unterlippe und überlegte. Sollte sie ihrem Bauchgefühl trauen? Sollte sie wirklich darauf bauen, dass Callum sein Hilfsangebot ernst meinte und das hier nicht mal wieder eine Falle war, in die sie mit Anlauf hineinsprang? Vage konnte sie sich an eine Zeit erinnern, in der sie nicht jede Entscheidung auf die Goldwaage gelegt, in der sie sich selbst und ihren Instinkten vertraut hatte. Ein einziger bitterer Verrat hatte alles verändert.

Schließlich war es Mary Puppins, die den Entschluss für sie fasste. Auffordernd stupste sie Selma mit ihrer feuchten Nase in Richtung Callum. Selma lächelte. Andere hatten vielleicht eine funktionierende innere Stimme, dafür hatte sie Mary Puppins.

»Wenn du das machen könntest, wäre es wirklich super. Vielen Dank, Callum.«

***

Selma und ihr haariges Monster saßen auf dem Beifahrersitz. Callum hatte von sich aus angeboten, den Platz auf der Rückbank zu nehmen, während Charlies Schwager Taran hinter dem Steuer des Busses saß. Selma war sich unsicher gewesen, ob sie mit der Lenkung zurechtkam, wenn der Bus am Abschleppseil hing. So traf es sich gut, dass Charlie Taran mitgebracht hatte. Womit Callum bei dem ganzen Arrangement allerdings nicht gerechnet hatte, waren die Blicke, die ihm Charlie so ungehindert über den Rückspiegel zuwerfen konnte.

Wahrscheinlich musste er von Glück reden, dass sein Kumpel und Mitarbeiter nicht vor Selma damit herausplatzte, was er von Callums Rettungsaktion hielt. Nicht nur Aisling war der Meinung, dass Callum seinen Helferkomplex in den Griff bekommen sollte. Dem Funkeln in Charlies Augen nach zu urteilen, war er außerdem nicht der Meinung, dass es Callum in erster Linie um den kaputten Bus ging. Seit Charlie vor einigen Jahren in Portugal seine große Liebe Shannon kennengelernt hatte, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, Callum zu verkuppeln. Jedes Mal, wenn eine Frau Burke’s Boatsworks betrat, blitzten in Charlies Augen kleine Herzen auf. Sehr zum Leidwesen von Callum. Er hätte es besser wissen müssen, als ausgerechnet Charlie in die Sache hineinzuziehen. Kaum saßen sie alle im Jeep seines Kumpels, der Bus sicher am Abschleppseil hinter ihnen, begann Charlie mit seiner Inquisition.

Er richtete sich an Selma. »Und was genau hat dich und dieses süße Fellknäuel in unsere schöne Gegend getrieben?«

Innerlich stöhnte Callum. Ein begnadeter Heiratsvermittler war Charlie jedenfalls nicht. Dafür fehlte ihm die Raffinesse. Trotzdem spitzte er die Ohren. So peinlich ihm die Frage war, die Antwort interessierte ihn sehr wohl.

»Das Abenteuer.« Zwar konnte er Selmas Gesicht nicht sehen, aber in ihrer Stimme lag ein Lächeln. »Ich hab dringend eine Auszeit von meinem Leben gebraucht, und da schien mir ein Roadtrip entlang des Wild Atlantic Way wie das Richtige. Viel Natur, wenig Menschen – genau die passende Umgebung, um über ein paar wichtige Dinge nachzudenken.«

»Wichtige Dinge wie zum Beispiel, ob du den Heiratsantrag deines Liebsten annehmen sollst?«

Subtilität, dein Name lautet Charlie Higgins – nicht!

Selma lachte. »Was? Sehe ich aus wie eine Braut, die sich nicht traut?«

»Im Gegenteil. Du siehst aus wie eine Frau, die mutig genug ist, auf Konventionen zu pfeifen und das zu tun, was für sie richtig ist. Da wäre es nur logisch, wenn das jemand erkannt hat und es möglichst schnell offiziell machen will.«

Callum wurde es zu bunt. Er hatte Charlie gebeten, Selmas Bus abzuschleppen, nicht die Frau! »Da vorne links.« Als ob Charlie nicht genau wüsste, wo es lang ging. Schließlich lebte sein Kumpel ebenso wie Callum seit seiner Geburt in Meadowvale, einem der zahlreichen winzigen Townships, die zur Gemeinde Rossaveal gehörten. Er versuchte zu retten, was noch zu retten war.

»Zieh den Bus am besten gleich in den Hof, ich will mir den Motor schnellstmöglich anschauen. Sicher möchte Selma bald weiter.«

»Aye, aye, Sir.« Im Rückspiegel funkelten Charlies Augen vor Schalk.

»Mit einer geplatzten Hochzeit hat die Reise jedenfalls nichts zu tun«, nahm Selma den Gesprächsfaden wieder auf.

Am liebsten hätte er sie vor Erleichterung geküsst. Nicht, weil sie nicht verlobt war. Ganz sicher nicht. Einzig und allein, weil er Charlie mit seinen idiotischen Andeutungen nicht mehr aushielt.

»Ich hab mich nur einfach nicht mehr wohl gefühlt mit dem Status quo. Mein Job, meine sogenannten Freunde, mein ganzes Leben hat sich angefühlt wie ein Kleidungsstück, das überall kneift und ziept.« Sie legte eine Hand auf Mary Puppins’ Kopf. »Hört sich wahrscheinlich ziemlich doof an.«

Hätte er seiner Stimme in diesem Moment vertraut, hätte er ihr versichert, wie wenig doof sich ihr Geständnis anhörte. So zog er es vor, die Zähne zusammenzubeißen. Zu bekannt kam ihm das vor, was sie beschrieb.

Zum Glück tauchten in diesem Moment die ersten Gebäude von Rossaveal vor ihnen auf. Der Ort bestand aus nicht mehr als ein paar lose entlang den Straßen angeordneten Häusern und Cottages. Das einzig Bemerkenswerte war der Hafen. Von hier aus legten die Fähren zu den Aran-Inseln und in die Galway Bay ab. Doch nicht nur die großen Schiffe, auch jede Menge Fischer- und Sportboote lagen in der örtlichen Marina. Für eine Ein-Mann-Werft wie Burke’s Boatsworks, die sich auf die Reparatur und Instandhaltung von Booten spezialisiert hatte, die andere längst aufgegeben hatten, war der Hafen von Rossaveal genau der richtige Standort.

Routiniert navigierte Charlie den Jeep mitsamt seinem Anhängsel durch das Gewühl an parkenden Autos an der Hauptstraße. Die Lagerhallen und Werften gaben nicht das idyllischste Bild von Irland ab, doch Callum liebte das geschäftige Treiben, den Geruch nach Diesel und Fisch und das Rattern der Bootsmotoren. Schon als kleiner Junge war der Hafen ihm vorgekommen wie das Tor in die große weite Welt. Wer von hier aus aufbrach, dem standen alle sieben Weltmeere offen.

Burke’s Boatsworks befand sich im hintersten Teil des Areals. Ein unscheinbares zweistöckiges Gebäude im typischen irischen Baustil, dessen kanariengelber Anstrich schon von Weitem sichtbar war. Türen und Fenster waren in einem dunklen Grün gestrichen und bildeten einen hübschen Kontrast zur Fassade. Das Holzschild mit der Aufschrift »Burke’s Boatsworks« hatte noch Callums Großvater anfertigen lassen, was man dem Design durchaus ansah. Trotzdem hätte er es niemals fertiggebracht, das alte Schild durch ein neues zu ersetzen. Die kleine Werft war der Anker, der ihn in Rossaveal hielt. Er gab ihm Sicherheit, ebenso wie er ihn zurückhielt.

Wie abgesprochen zog Charlie den Bus auf den der Mole abgewandten Hof der Werkstatt. Er stoppte den Motor.

»Da sind wir«, erklärte Callum.

Charlie dabei zu helfen, das Abschleppseil zu entfernen und den Bus durch das offen stehende Garagentor ins Innere der Werkstatt zu schieben, war leicht. Seine Hände erfüllten ihre Aufgaben wie von selbst. Schwierig hingegen war, sich nicht von Selma ablenken zu lassen. Sie hatte Mary Puppins an die Leine genommen und sah sich interessiert um.

In seinem ganzen Leben hatte Callum noch keine Werkstatt gesehen, die hundert Prozent ordentlich war, und obwohl er sich bemühte, Burke’s Boatsworks stets in einem einwandfreien Zustand zu halten, war das auch bei ihm nicht anders. Mehrere Boote standen auf Trailern im Hof. Im Inneren hing Werkzeug an den Wänden, waren Ersatzteile auf Regalen sortiert, standen rostige Rollwagen vor Hebebühnen oder Arbeitsgräben. Ausgebaute Motoren warteten auf seine Aufmerksamkeit. Bretter, Bleche, Plastikwannen – überall lag etwas herum. Es roch nach Diesel, Motoröl und Metallspänen. Alte Blechschilder mit Pin-up-Girls im Fünfziger-Jahre-Look hingen neben Auftragsplänen und Notrufnummern an den Wänden. Selma mit ihrem sonnengesträhnten Haar, den ausgetretenen Chucks und der weiten cremefarbenen Flatterhose wirkte an diesem Ort wie ein Hauch frischer Luft.

»Das wird also Mary P.s und mein Wohnort für die nächsten Tage.« Sie lachte ein bisschen. »Nicht ganz die Art von Idylle, die ich im Sinn hatte, als ich nach Irland aufgebrochen bin, aber ich bin dir trotzdem dankbar, dass du dich des Problems angenommen hast.«

Mit etwas Verspätung sickerte ihre Aussage zu ihm durch. Er fuhr zu ihr herum. »Du kannst hier nicht wohnen!«

»Mein Bus …«

Er unterbrach sie. »Du kannst unmöglich hier auf dem Gelände schlafen«, wiederholte er. »Allein aus versicherungstechnischen Gründen geht das nicht. Was, wenn du dich hier verletzt? Was, wenn ein Feuer ausbricht oder jemand einbricht oder sonst irgendwas passiert?«

Allein die Vorstellung von dem Papierkrieg, der dann auf ihn zukommen würde, verursachte ihm Panik. Auch so schon wusste er oft genug nicht, wo ihm der Kopf stand, und jeder einzelne Tag war ein verdammter Kampf. Eine einzige Komplikation mehr, und seine mühsam erhaltene Fassung würde endgültig verlorengehen. Und was dann? Er schloss kurz die Augen, atmete gegen die Enge in seiner Kehle an. Nicht jetzt, flehte er im Stillen. Nicht hier.

»Ich hatte dich nicht für einen solchen Schwarzmaler gehalten.«

Wenn sie wüsste. Darin, sich die allerschlimmsten Was-wäre-wenns auszudenken, war er Profi. Dass sie das nicht ahnte, war offensichtlich. In ihrer Stimme schwang ein Schmunzeln mit. Er konzentrierte sich darauf, konzentrierte sich auf das Außen. Drei Dinge, die du hörst: Selmas Stimme. Mary Puppins’ Hecheln. Das leise Schlagen des Garagentors in den Angeln. Langsam zog die aufsteigende Panik die Krallen ein.

Er versuchte es mit Vernunft. »Ich verdiene hier meinen Lebensunterhalt. Ich kann nichts riskieren.«

Sie verzog die Mundwinkel nach unten. »Verstehe.« Pause. »Dann muss ich wohl nach einem Bed & Breakfest suchen. Oder einem Hotel oder …« Wieder dieses freudlose Lachen. Mit der Hand strich sie sich ein paar lose Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ganz schön teuer, so eine verdammte Panne.« Noch eine Pause, ein hoffnungsvoller Blick unter halb gesenkten Augenlidern.

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