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We Are Like the Wind

Als Buch hier erhältlich:

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Hast du den Mut, deiner Sehnsucht zu folgen?

Der Profisportler Ethan droht unter dem Leistungsdruck zusammenzubrechen, weshalb er kurz vor der Kitesurf-Weltmeisterschaft in ein Ferienhaus auf Malcolm Island flieht. Doch auch auf der kleinen kanadischen Insel kommt er nicht zur Ruhe. Die Erwartungen seiner Fans und das Pflichtgefühl gegenüber seiner Familie verfolgen ihn, und in ihm wächst die Angst zu versagen. Nur wenn er mit der zurückhaltenden, aber dennoch schlagfertigen Bibliothekarin Laina zusammen ist, schweigen die quälenden Gedanken. Je mehr Zeit er mit ihr verbringt, desto stärker spürt er, dass er etwas ändern muss. Doch findet er die Kraft dazu, bevor er an seiner einstigen Leidenschaft zerbricht? Und kann Laina ihm beistehen?

Eine Liebe, so ungezähmt wie der Wind – das Finale der »Like Us«-Trilogie

»Ich bin verliebt in die atmosphärische Stimmung und die authentischen Charaktere. Eine Reihe, die man unbedingt lesen muss!« SPIEGEL-Bestsellerautorin Antonia Wesseling

»Von Mut, Liebe und Träumen, die selbst die stärksten Stürme überstehen. Die Like Us-Reihe nimmt das Leser*innenherz von der ersten bis zur letzten Seite im malerischen Kanada gefangen. Eine Empfehlung für alle, die sich nach Ruhe und Hoffnung sehnen.« Justine Pust


Dieses Buch ist unabhängig von den anderen Teilen lesbar.


  • Erscheinungstag: 22.08.2023
  • Aus der Serie: Like Us
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745703382

Leseprobe

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser Geschichte.

Euer Team von Mira

Break me my bounds, and let me fly

A Career, Paul Laurence Dunbar

Für Sarah
Das hier ist das Ende eines Anfangs,
den es ohne dich so nicht gegeben hätte.
Danke für alles!

Playlist

Adrian Ström, LissA – Pensée Sur L’amour

Glass Animals – Heat Waves

half alive – Pure Gold

Imagine Dragons – Lonely

Beach Weather – Sex, Drugs, Etc.

Sir Sly – All Your Love

half alive – Hot Tea

Angus & Julia Stone – Heart Beats Slow

Ocie Elliott – Fame (Reimagined)

Hayley Williams – Over Those Hills

Bastille – No Bad Days

Run River North – Hummingbird

Akine – No Gold

half alive – Move Me

Glass Animals – I Don’t Wanna Talk (I Just Wanna Dance)

ABBA – Gimme! Gimme! Gimme! (A Man After Midnight)

Liza Anne – I Love You, But I Need Another Year

Mogli, Kilian & Jo – Strobe Lights

Noah Cyrus, Billy Ray Cyrus – Noah (Stand Still)

Billie Eilish – NDA

Bastille – Plug In…

Adele – Rumour Has It

PJ Harding, Noah Cyrus – Dear August

Fewjar – Up For Good

Glass Animals – It’s All So Incredibly Loud

PJ Harding, Noah Cyrus – The Worst of You

Noah Cyrus – Ready to Go

Bastille – Give Me the Future

Edward Sharpe & The Magnetic Zeros – Home

Kapitel 1

ETHAN

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Ein Kamerateam? Die Presse? Eine Horde von Fans mit gezückten Smartphones? Alles, bloß keinen leeren Parkplatz. Das Fischerdorf Sointula empfängt uns mit offensichtlichem Desinteresse.

»Die Siebziger haben angerufen«, witzelt Phil hinter mir. »Sie wollen ihre Häuser zurück.«

Chance gluckst belustigt, doch ich ignoriere ihre Scherze und ziehe unbeirrt meinen Koffer von der Fähre. Zugegeben, der geteerte Platz direkt am Meer wirkt alles andere als modern. Unkraut kämpft sich an einigen Stellen durch den Asphalt, und ein paar Meter weiter befindet sich ein Gebäude, das dringend einen neuen Anstrich bräuchte. Brenda’s Choice steht in altmodischen bunten Lettern auf der Schaufensterscheibe. Die Holzhäuser an der Straße sehen nicht viel besser aus. Zu unserer Linken jedoch, direkt am Kiesstrand, gibt es ein schickes Café mit gläserner Fensterfront und frisch gestrichener Fassade. Die Chocolate Dreams Bakery wirkt, als hätte sie sich mit allen Mitteln dagegen gewehrt, sich an den Rest des Dorfes anzupassen. Fast sieht es aus, als hätte man sie nachträglich mit Photoshop eingefügt.

»Wie in Stranger Things«, behauptet Phil weiter. »Wenn’s hier Schattenmonster gibt, bin ich aber angepisst, E. So hab ich mir unseren Urlaub nicht vorgestellt.«

Schnaubend werfe ich einen Blick über meine Schulter. »In dem Fall hoffe ich, dass es dich als Erstes frisst. Dann ist wenigstens endlich mal Ruhe.«

Phil schürzt beleidigt die Lippen. Chance lacht und boxt ihm freundschaftlich in die Seite. Kopfschüttelnd wende ich mich wieder dem Dorf zu.

Ich habe im Moment keine Energie für ihre Späße. Die ganze Anreise habe ich damit verbracht, meine Mauern hochzufahren und mich für unsere Ankunft zu wappnen. Nachdem ich bei der Buchung meinen echten Namen angegeben habe, war ich der festen Überzeugung, es heute zu bereuen. Dass dem nun nicht so ist, fühlt sich merkwürdig an. Entgegen meinen Erwartungen hat sich offenbar nicht herumgesprochen, dass ich heute hier aufkreuze. Entweder das, oder es interessiert wirklich niemanden. Den Gebäuden nach zu urteilen, wohnen hier ohnehin nur Senioren, die nicht mal wissen, was Social Media ist. Und Scheiße …

Diese Realisation ist so endlos befreiend.

Zum ersten Mal seit Monaten habe ich das Gefühl, wieder unbeschwert atmen zu können.

Endlich ein bisschen verdammte Freiheit.

»Wo ist jetzt diese Lavender?«, will Phil wissen und strubbelt mir über die kurz geschorenen Haare. »Holt sie uns mit ihrem Rollator ab? Ich hoffe, sie hat uns Kekse gebacken.«

Ich wehre seine Hand ab und wende mich den beiden zu. Hinter ihnen trennt uns das Meer von Vancouver Island. Die bewaldeten Berge heben sich bei diesem Wetter klar vom Horizont ab. »So alt wird sie schon nicht sein«, behaupte ich. Dabei bin ich mir da selbst nicht so sicher. Wir haben nur per Mail geschrieben, und dieses Kommunikationsmittel traue ich einer Rentnerin gerade noch zu.

»Schön, aber wehe in dem Ferienhaus mieft es nach Mottenkugeln und alter Oma.«

Ich hebe eine Braue und verschränke die Arme vor der Brust. »Wie war das, einem geschenkten Gaul …? Du kannst auch gerne wieder zurückfahren. Auf eigene Kosten, versteht sich.«

Phil verdreht die Augen. »Boah, war doch nur ein Scherz!«, behauptet er. »Spielst du jetzt eigentlich zwei Wochen lang diese Gönnerkarte?«

»Nur wenn du mich nervst«, erwidere ich grinsend.

Chance grunzt. »Also immer.«

»So ungefähr.« Widerwillig hole ich mein Smartphone aus der Hosentasche und schaue darauf. Fünf verpasste Anrufe von Roy, und das allein in den letzten zwei Stunden. Aber keine Nachricht von unserer Gastgeberin. Ich stecke das Handy wieder weg.

»Sie hat mir nicht geschrieben«, lasse ich die anderen wissen. »Ich würde sagen, wir warten fünf Minuten, und wenn sie dann noch nicht da ist, rufe ich …«

Ich bringe den Satz nicht zu Ende. Ein uralter Golf hält direkt neben uns auf dem Platz. Eine junge Frau steigt aus, etwa in unserem Alter, Anfang zwanzig. Sie hat helle Haut, Sommersprossen, lange lilafarbene Haare und die blausten Augen, die ich jemals gesehen habe. Ein Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus, als sie mir eine Hand entgegenstreckt. Verwirrt ergreife ich sie.

»Hi«, grüßt sie uns und schüttelt auch den anderen beiden die Hände. »Tut mir leid, wartet ihr schon lange? Der Wagen ist mal wieder nicht angesprungen.«

»Hä?«, macht Phil und fasst damit auch meine Gedanken erstaunlich treffend zusammen. Das ist Lavender Whitcomb? Die Besitzerin unseres Ferienhauses? Ich hatte zwar nicht wirklich mit einer Oma gerechnet, aber dass sie so jung ist, überrascht mich dann doch.

»Äh, nein, kein Problem«, versichere ich ihr. »Es waren nicht mal fünf Minuten.«

»Okay, ein Glück. Dann aber jetzt nichts wie los.«

Wir verstauen das Gepäck im Kofferraum ihres Wagens. Ich steige auf der Beifahrerseite ein, Phil und Chance beanspruchen die Rückbank. Als Lavender den Motor startet, gibt dieser ein bedenkliches Grollen von sich, und es dauert einige Sekunden, bis wir uns ruckelnd in Bewegung setzen.

»Nette Karre«, kommentiert Phil, und ich werfe ihm über meine Schulter hinweg einen finsteren Blick zu.

»Sie tut uns einen Gefallen. Du kannst gerne auch laufen.«

»Mann, war doch nur ein Witz!« Er fährt sich durch die kurzen dunklen Haare. »Spielverderber …«

»Schon gut«, lacht Lavender. »Der Wagen ist leider nicht mehr der Jüngste. So, wie es aussieht, muss ich mich bald von ihm verabschieden. Mein Freund wollte ihn ein bisschen auf Vordermann bringen und ist dabei zu der Überzeugung gelangt, dass er eine Todesfalle auf Rädern ist. Angeblich kann ich froh sein, dass er überhaupt noch fährt.«

»Sehr beruhigend«, witzelt Chance. »Falls wir in Flammen aufgehen, rettet den Koffer mit der Konsole!«

Phil lacht. Ich verdrehe belustigt die Augen. Irgendwie sind die beiden seit der Highschool nicht erwachsener geworden. Daran werde ich mich erst wieder gewöhnen müssen. Bisher hatte ich nicht viel Zeit, um mich mit der Tatsache auseinanderzusetzen.

»Keine Sorge«, beteuert Lavender. »Letztes Jahr hat er mich sogar noch von Edmonton bis hierher gebracht. So schlimm, wie Jonne tut, kann es gar nicht sein. Wie war euer Flug?« Sie wirft mir einen verstohlenen Seitenblick zu, und ich verkrampfe mich ungewollt. Sie weiß genau, wer ich bin, oder? Sie überspielt es nur, vermutlich aus Höflichkeit. Hoffentlich gibt es auf dieser Insel keinen geheimen Ethan-Gold-Fanclub, der nur darauf wartet, dass ich mich hier sicher fühle.

»War angenehm«, erwidere ich ruhig. »Ist ja nur eine Stunde von Vancouver hier hoch, und das Wetter ist gut.«

»Stimmt. Ausnahmsweise mal nicht so windig.« Sie nickt und biegt von der Straße, die uns am Meer entlanggeführt hat, auf einen Schotterweg ab. Am Ende der Einfahrt kommt das Haus in Sicht, das ich bereits aus dem Internet kenne. Die Fassade ist frisch gestrichen, auf der Veranda steht ein gemütlich wirkendes Outdoorsofa.

Unsere Gastgeberin parkt im Hof und hilft uns dabei, das Gepäck auszuladen. Dann sperrt sie uns die Haustür auf, und wir betreten das Erdgeschoss.

Es ist ein offener Raum mit einer kleinen, aber gemütlichen Küche auf der linken und einem Wohnzimmer auf der rechten Seite. Hinten führt eine Treppe nach oben zu den Schlafzimmern. Eine Terrassentür gibt den Blick auf einen ordentlichen Garten frei, in dem unzählige Rosen blühen. Live ist es noch schöner als auf den Bildern, die ich gesehen habe.

»Gefällt es euch?«, will Lavender wissen und beißt sich auf die Unterlippe. Als hätte sie gemerkt, was sie tut, gibt sie sie schnell wieder frei.

»Ja, es sieht toll aus«, erwidere ich, bevor meine Freunde anderes behaupten können. Es ist keine Luxusunterkunft, wie sie es sich vielleicht von mir erhofft hätten. Doch ich wollte etwas … Heimeliges. So wie das hier. Schick, aber nahbar. Nicht altbacken, wie Phil befürchtet hat.

Eine der Wände ist in hellem Salbeigrün gestrichen, das sich auch in den Vorhängen wiederfindet. Die dunkelgrüne Couch und die gleichfarbigen Küchenfronten verbinden die hellen Wände stilvoll mit dem dunklen Holzparkett. Über das Sofa sind einige Kissen und Decken drapiert, und gegenüber davon steht ein Flachbildfernseher, der in den nächsten Wochen vermutlich im Dauerbetrieb sein wird. Das hier ist ein Urlaub für vier. Phil, Chance, ich und die Nintendo Switch.

»Das freut mich.« Wieder lächelt Lavender. »Dann lasse ich euch mal in Ruhe. Hier sind die Schlüssel. Wo der Laden und die Bäckerei sind, habt ihr ja gesehen. Bis zum Hafen ist es auch zu Fuß nicht weit, aber es steht noch ein altes Fahrrad im Schuppen, das ihr gern benutzen könnt. Und falls ihr sonst irgendwas braucht, schreibt mir einfach, okay? Ihr seid unsere ersten Gäste, das Haus ist gerade frisch renoviert. Also … Das ist alles noch neu für mich, aber ich denke, wir kriegen das schon zusammen hin.« Ein Stück weit schwingt Unsicherheit in ihren Worten mit, doch gleichzeitig wirkt sie auch überzeugt.

»Bestimmt«, grinst Chance. Er legt mir einen Arm um die Schultern und zieht mich an sich. »Wir sind total pflegeleicht. Nicht wahr, E?« Er reibt mir mit den Knöcheln über den Kopf, und ich schiebe ihn schnaubend von mir.

»Ja, total. Danke, dass du uns hergebracht hast.« Ich nehme den Schlüsselbund von Lavender entgegen und stecke ihn in meine Hosentasche.

Sie lächelt. »Kein Problem! Viel Spaß auf Malcolm Island!«

Kaum dass sie sich verabschiedet hat, steuert Phil zielsicher auf den Kühlschrank zu. »Leer«, stellt er nach einem Blick hinein verdrossen fest.

»Was hast du erwartet?«, frage ich. »Dass sie uns drei Sixpacks Bier kalt stellt?«

»Eigentlich ja steinharte Oma-Kekse, aber da sie doch nicht so alt ist, wäre wenigstens Alkohol schön gewesen.« Er schaut die Küchenschränke durch, als würde er eine Bestandsaufnahme der Kochutensilien machen. Dabei wissen wir alle, dass der Kerl den gesamten Urlaub keinen Topf anrühren wird. Höchstens mal eine Pfanne, um sich ein paar Fertig-Chicken-Nuggets aufzuwärmen. Der Einzige, der hier kochen wird, bin ich.

»Okay, erst ’ne Runde zocken?«, schlägt Chance vor und öffnet bereits den Koffer, in dem die Konsole untergebracht ist.

»Zocken ohne Snacks?«, beschwert Phil sich, und Chance hält inne.

»Okay, hast recht. Das geht gar nicht. Also erst einkaufen.« Er richtet sich auf und bindet sich seine Locs zu einem Zopf zusammen.

»Habt ihr euch schon überlegt, was ihr heute Abend essen wollt?«, werfe ich ein und krame meinen Geldbeutel aus meinem Rucksack.

»Alles, was wir essen wollen würden, steht nicht auf deinem heiligen Ernährungsplan«, behauptet Chance mit ernster Miene. »Insofern ist es wohl das Einfachste, wenn du aussuchst, und wir hoffen, dass wir nicht verhungern.«

»Kann man sich hier irgendwo ’ne Pizza bestellen, falls du scheiße kochst?«, fragt Phil.

»Oder Burger«, seufzt Chance.

»Von mir aus könnt ihr euch jeden Tag mit Fast Food vollstopfen. Dann koche ich eben nur für mich.« Ich kann nicht verhindern, dass man die Anspannung aus meinen Worten heraushört. Das Thema ist ein wunder Punkt. Und es pisst mich jetzt schon an, weil ich weiß, dass sie mich damit nicht in Ruhe lassen werden, während wir hier sind.

Leider kann ich es nicht ändern. Mein Training zu vernachlässigen, ist eine Sache. Aber gleichzeitig auch noch meinen Ernährungsplan zu ignorieren und damit jahrelang hart antrainierte Disziplin in den Wind zu schießen, eine andere. Irgendwo muss ich eine Grenze ziehen, wenn ich nicht wirklich alles gegen die Wand fahren will. Ich riskiere schon zu viel.

Als hätte Roy diesen Gedanken gehört, vibriert mein Handy erneut. Missmutig ziehe ich es aus der Hosentasche und schaue darauf. Man sollte meinen, mein Manager hätte Besseres zu tun, als mir den ganzen Tag hinterherzutelefonieren, aber nope. Es scheint seine neue Lieblingsbeschäftigung zu sein.

Wie schon die Male zuvor warte ich einfach ab, bis er wieder auflegt. Ihn wegzudrücken, würde ihn vermutlich Blut wittern lassen. Danach schalte ich das Smartphone aus. Jetzt, da wir im Ferienhaus angekommen sind und mit Lavender alles geklärt ist, muss ich nicht mehr erreichbar sein. Und kaum dass das Display schwarz wird, fällt ein schweres Gewicht von mir ab. Tief atme ich durch und lege das Gerät auf die Küchenzeile.

Mir entgeht nicht, dass Chance mich dabei beobachtet, die Stirn leicht gerunzelt. Ich tue so, als wäre nichts, und gehe voraus zur Haustür. Hoffentlich Zeichen genug für ihn, dass er mich nicht darauf ansprechen soll. Das Thema hat in diesem Urlaub nichts verloren.

Ich will wenigstens zwei Wochen, in denen ich mich wieder genauso unreif benehmen darf wie er und Phil. Zwei Wochen, in denen ich mich nicht permanent von Millionen von Menschen beobachtet fühle. Zwei Wochen, die nur mir gehören, weil sich hier niemand sonst für mich interessiert.

So zumindest die Hoffnung. Ob dem wirklich so ist, werden wir wohl erst sehen, wenn wir den restlichen Bewohnern dieser Insel über den Weg laufen. Belastungstest Nummer eins: Supermarkt.

Ich straffe die Schultern und weise mit dem Kinn in Richtung Hof. »Kommt ihr? Je früher wir zurück sind, desto schneller könnt ihr endlich diese Konsole auspacken.«

Kapitel 2

LAINA

Ich komme von der Arbeit nach Hause und finde Mom genau so vor, wie ich sie heute Mittag zurückgelassen habe. Sie liegt auf dem Sofa und scheint zu schlafen. Der Fernseher läuft, und auf dem Couchtisch häufen sich die Sachen, die ich ihr zur Verpflegung bereitgestellt habe. Getränke, Snacks, Mittagessen und jede Menge Schmerzmittel.

Obwohl es logisch ist, dass sie sich nicht wegbewegt hat, kann ich trotzdem nicht anders, als mich darüber zu wundern. Mein ganzes Leben war es eine Seltenheit, dass meine Mutter überhaupt mal still sitzt. Sie ist immer auf dem Sprung, am Planen, am Machen. Dementsprechend schwer fällt es mir, mich an den Anblick von ihr mit hochgelegten Beinen zu gewöhnen.

»Hey«, grüße ich sie leise und setze mich neben ihr auf die Armlehne.

Müde blinzelt sie zu mir hoch und seufzt. »Ach je … schon Feierabend?«

»Ja. Wie geht’s dir? Wirken die Schmerzmittel?« Vielleicht bilde ich mir das ein, aber es kommt mir so vor, als wäre ihre Haut noch heller als sonst, geradezu käsig.

Ächzend richtet sie sich auf und verzieht dabei das Gesicht. »Ja. Das Teufelszeug … Das macht hundemüde.«

»Solang es hilft.«

Vor drei Tagen hat sie sich das Bein gebrochen, und das vergangene Wochenende hatte sie trotz der Tabletten starke Schmerzen. Heute Morgen habe ich ihr extra noch mal andere Schmerzmittel besorgt, um sie während der Arbeit mit gutem Gewissen allein lassen zu können.

Ich verkneife mir ein Seufzen. Das alles wäre nicht passiert, würde Mom mal einen Gang runterschalten. Aber nein. Sie hat sich am Freitag in den Kopf gesetzt, unbedingt noch schnell die Oberschränke in der Küche abstauben zu müssen, bevor der Besuch kommt. Ich war nur kurz auf der Terrasse, und das Nächste, was ich höre, ist der Lärm der umfallenden Leiter und Moms Schmerzensschrei.

Mir wird immer noch schlecht, wenn ich daran zurückdenke. Dass Mom sich in ihrem Übereifer irgendwelche Verletzungen zuzieht, ist keine Seltenheit, aber so ernst war es bisher nie.

Ich zupfe ein paar ihrer grauen Locken zurecht, die wild von ihrem Kopf abstehen, und schenke ihr ein Glas Wasser ein.

»Danke.« Sie trinkt einen Schluck und schaltet dabei den Fernseher aus. »Ich habe übrigens nachgedacht.« Mom gibt mir das Glas zurück und zieht ihren Terminkalender unter dem Sofakissen hervor, auf dem eben noch ihr Kopf lag.

Entnervt stöhne ich auf. »Im Ernst? Sag bloß, du bist allein die Treppe hoch, um den zu holen? Ich hab dir gesagt …«

»Ganz ruhig«, beschwichtigt sie mich. »Jonne war vorhin kurz da und hat ihn mir gebracht.«

Ich verziehe dennoch das Gesicht. Mom soll sich ausruhen und nicht ihren Terminkalender strukturieren. »Okay. Na gut.«

»Jedenfalls kann ich hier ja nicht monatelang faul rumliegen und darauf warten, dass dieser Bruch wieder zusammenheilt.«

Ich öffne bereits den Mund, um ihr eine Standpauke zu halten, doch Mom hebt die Hand und spricht einfach weiter.

»Zumindest nicht, ohne dass mich jemand vertritt. Ich bin die Bürgermeisterin! Das klingt vielleicht arrogant, aber ohne mich bricht hier das Chaos aus.«

Ich klappe meinen Mund wieder zu. Das stimmt leider. Mom hält auf Malcolm Island alles zusammen. Und auch wenn sie sich ruhig erst eine Woche hätte ausruhen können, bevor sie nach Vertretungen sucht, hat sie wohl oder übel recht.

»Den Papierkram kann ich ja weiterhin selbst übernehmen«, fährt sie fort.

Jetzt unterbreche ich sie doch. »Nichts da. Du bist krank. Du arbeitest nicht, auch an keinem Papierkram.«

Mom übergeht meinen Kommentar einfach. »Aber ich habe ja auch noch andere Verpflichtungen. Da wäre der Dorfrat, die Besuche bei unseren Senioren, die Kommunikation mit den Partnergemeinden, die Touristenbetreuung, das Sommerfest …«

Ich nicke nur unbeeindruckt, während sie ihren Aufgabenkatalog herunterrattert. Mir braucht sie das nicht erzählen. Mir ist klar, wie viel Mom für dieses Dorf tut. »Okay. Und an wen hast du gedacht? Brenda vielleicht?« Die Besitzerin unseres Supermarkts ist bestens vernetzt.

»Ach, bitte. Wenn ich Brenda den Dorfrat leiten lasse, zwingt sie am Ende alle dazu, gemeinsam ihre Kreuzworträtsel zu lösen. Und wenn sie die Senioren nach ihrem Wohlbefinden fragt, wollen die sicher nicht, dass am nächsten Morgen das ganze Dorf ihre Wehwehchen brühwarm zum Wocheneinkauf serviert bekommt.«

»Hm, auch wieder wahr. Saana vielleicht? Gemeinsam mit Jari?«

»Die Aaltons arbeiten viel zu viel. Die brauchen nicht noch einen Vollzeitjob neben dem Architekturbüro. Aber ich habe schon eine Lösung.«

Erwartungsvoll schaue ich sie an.

Mom lächelt. »Ich möchte, dass du meine Aufgaben übernimmst.«

Ich … Das habe ich jetzt falsch verstanden, oder?

»Welche Aufgaben?«, frage ich perplex.

»Alle. Bis auf den Papierkram, wie gesagt.«

Mir entweicht ein gestresstes Schnauben. Allein der Gedanke … »Mom, ich habe auch einen Job, schon vergessen?«

»Die Bibliothek gehört aber ebenfalls zum Dorf und ist nicht ansatzweise so wichtig, Laina.«

»Aber … Mom!«

»Bitte diskutier jetzt nicht mit mir. Wir wissen beide, dass es unnötig ist, sechs Stunden am Tag geöffnet zu haben, wenn ohnehin nur alle drei Tage jemand kommt, um etwas auszuleihen. Du kannst die Öffnungszeiten reduzieren, die Leute passen sich an.«

»Aber ich baue das gerade auf! Das Interesse wächst schon, und ich bin immer noch dabei, alles auszumisten, neu zu sortieren und …«

»Laina«, unterbricht Mom mich. Nicht ruppig, aber doch bestimmt. »Du bist nicht explizit als Bibliothekarin angestellt, das weißt du. Du arbeitest offiziell für die Gemeinde, und das bedeutet, deine Aufgaben können sich auch ändern, wenn es nötig ist. So wie jetzt. Und ehrlich gesagt finde ich es keine schlechte Idee, wenn du mal zwischen all den Büchern hervorkommst und dich an neue Herausforderungen wagst. Versteh mich nicht falsch, dass dir die Bücherei so ans Herz gewachsen ist, ist wundervoll. Aber wir brauchen dich gerade anderweitig. Und es ist eine gute Vorbereitung.«

»Vorbereitung?«, stoße ich aus. In mir hat sich bereits alles verkrampft.

»Für die Zukunft. Irgendwann wirst du schließlich meinen Posten übernehmen. Dementsprechend wird es Zeit, dass du beweist, dass du dem auch gewachsen bist, und lernst, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung für die Menschen hier, nicht nur für ein paar Bücher.«

Mir wird schlecht. Ich soll … ich meine … jetzt schon? Ich dachte, ich hätte noch mindestens fünfzehn Jahre, bevor meine Mutter in Rente geht und ich mich mit diesem Thema befassen muss.

»Aber Mom …«, jammere ich. Mehr fällt mir nicht ein.

»Sieh es als Beförderung, hm? Außerdem bist du doch nicht allein. Ich stehe dir weiter mit Rat und Tat zur Seite, und ich bin sicher, Saana und Brenda werden dich auch ein wenig unterstützen, wenn wir sie darum bitten. In Ordnung?«

Missmutig verziehe ich das Gesicht, widerspreche jedoch nicht weiter. Es hat keinen Sinn. Mom von ihrer Meinung abzubringen, ist eine Sache der Unmöglichkeit, erst recht, wenn man wie ich keine Verhandlungsbasis hat. Das Dorf zahlt mein schmales Gehalt. Und Mom ist im Prinzip das Dorf. Das heißt, sie gilt auch als meine Arbeitgeberin und kann mir somit auf mehr als mütterlicher Ebene sagen, was ich zu tun und zu lassen habe.

»Können wir die Aufgaben nicht aufteilen?«, versuche ich, mich zu retten. »Den Dorfrat könnte doch Saana leiten, die Treffen finden nicht so oft statt, und sie kennt die Leute besser.«

»Wie gesagt, sie wird dich sicher gern dabei unterstützen.«

»Und die Seniorenbesuche …«

»Oh, die werden sich freuen, dich mal wieder zu sehen!«

»Außerdem habe ich doch keine Ahnung von unseren Partnergemeinden!«, winde ich mich weiter. »Oder von Tourismus. Ich …«

»Apropos!«, fällt sie mir wieder ins Wort. »Bevor ich es vergesse, du hast heute noch einen Termin.«

Ich fühle mich gleichermaßen verwirrt und hilflos. »Heute? Es ist schon halb sechs! Ich dachte, ich koche dir jetzt was.«

Mom winkt ab. »Das kann noch ein bisschen warten. Ich habe wegen der Medikamente sowieso keinen Hunger. Oder wir bestellen später einfach eine Pizza, dann musst du dir die Arbeit nicht auch noch machen.«

Schon wieder eine Diskussion, die ich verloren habe, bevor sie richtig begonnen hat.

Ich presse kurz die Lippen zusammen und akzeptiere mein Schicksal. »Schön. Was ist dieser Termin?«

»In Lavenders Ferienhaus sind heute die ersten Gäste angekommen. Wir müssen sie begrüßen und auf der Insel willkommen heißen.«

Jetzt veräppelt sie mich, oder? »Wozu? Das machen wir doch sonst auch nicht.«

Moms blaue Augen leuchten förmlich. Das kann nichts Gutes bedeuten. »Ja. Aber dieses Mal haben wir prominenten Besuch! Ethan Gold. Er ist ein berühmter Kitesurfer und hat fast zwei Millionen Follower auf Instagram.«

Für einen Moment bringt sie mich völlig aus dem Konzept. Hat meine Mutter eben ernsthaft die Worte Follower und Instagram in den Mund genommen, ohne zu fragen, ob man das essen kann? Und dieser Ethan ist doch nicht wirklich hier?!

Als Lavender uns das vor einer Woche erzählt hat, dachte ich, da hätte sich jemand einen Scherz erlaubt. Wieso sollte ein Typ, der sein Leben zwischen Luxushotels und Werbekooperationen verbringt und jeden Tag ein neues oberkörperfreies Foto von sich auf Instagram postet, ausgerechnet hier Urlaub machen? Allein diese Bilder nerven mich schon. Riven hat uns sein Profil gezeigt. Er macht einen auf authentisch, mit angeblich nicht gestellten Fotos, aber seltsamerweise sieht jedes davon aus wie von einem Profifotografen geschossen. Finde den Fehler.

Sicher ist der Typ nur hier, um ein bisschen Unruhe zu stiften, und denkt, er könnte die Insel zu seinem persönlichen Freizeitpark umfunktionieren. Nicht mit mir.

»Und was genau soll es bringen, Ethan Gold zu begrüßen? Soll ich dir ein Autogramm besorgen?«

»Was? Nein, natürlich nicht.« Wie so oft scheint Mom unfähig, meine Ironie als solche zu erkennen. Oder vielleicht macht sie das auch absichtlich, um mir keine Angriffsfläche zu bieten. »Aber wir könnten ein bisschen mehr Publicity für Sointula gebrauchen. In letzter Zeit haben wir weniger Touristen, und wenn, dann nur Tagesbesucher. Unsere Pensionen und Hotels haben offenbar an Beliebtheit eingebüßt. Lavender meinte, sie habe bisher noch keine weiteren Anfragen für das Haus und mit Ethan abgemacht, dass er einige Wochen bleiben kann, falls er das will. Und je länger er bleibt, desto besser. Wenn er ein paar nette Instagram-Fotos macht und seinen Fans zeigt, wie schön es hier ist, ist das kostenlose Werbung!«

»Aha. Und inwiefern ändert es etwas, ob ich ihn begrüße oder nicht?«

»Wenn er sich hier wohlfühlt, wird er auch mehr posten. Und natürlich müssen wir etwas offensiver rangehen. Das Begrüßen ist nur der erste Schritt.«

Ich runzle besorgt die Stirn. »Mom … Was hast du vor?«

»Du musst ihm die Insel schmackhaft machen, Laina! Biete ihm eine Führung an. Erzähl ihm, was für eine spannende Geschichte wir haben und was man hier im Umkreis für tolle Sachen machen kann! Whale Watching fände er sicher super.«

»Du weißt aber schon noch, mit wem du hier redest, oder?«, will ich wissen. Ich bin sicher nicht die Richtige, um jemandem spannende Attraktionen zu verkaufen. »Und er kommt aus Vancouver. Er ist sicher nicht hergefahren, um zum dreihundertsten Mal in seinem Leben Whale Watching zu machen. Und danach zeige ich ihm in Port McNeill die Riesenmaserknolle, oder was?«

»Wenn du so an die Sache rangehst, wird das natürlich nichts«, beschwert Mom sich. »Ich weiß, dass dich das Überwindung kostet, aber davon wirst du im Leben noch einiges brauchen, also gewöhn dich besser daran. Kann ich mich auf dich verlassen oder nicht?«

Ich ziehe eine Grimasse. Als könnte ich jetzt Nein sagen. Erst recht, wenn sie hier mit einem eingegipsten Bein vor mir liegt.

»Na gut«, gebe ich mich geschlagen. »Ich werd’s versuchen.«

Aber ich kann definitiv nichts versprechen.

Als ich wenig später vor dem Haus an der Kaleva Road stehe, bin ich froh, dass Mom mich nicht auch noch dazu verdonnert hat, Ethan Gold einen Fresskorb oder Ähnliches zu überreichen. Sie war schon kurz davor. Beim Wort Willkommensgeschenk habe ich fluchtartig das Haus verlassen.

Widerwillig löse ich meine verschränkten Arme und klingele. In dem Sommerkleid und der Jeansjacke fröstelt es mich jetzt, da die Sonne nicht mehr vom Himmel brennt, aber ich wollte Mom auch nicht glauben lassen, ich würde mich extra für diese Aufgabe sogar umziehen.

Die drei Touristen sind jedenfalls zu Hause. Eins der Fenster muss gekippt sein, denn ich höre den Fernseher und ihr Gezanke.

»E, mach die Tür auf, ist dein Haus!«

»Dann drück auf Pause!«

»Nö, wieso? Ist doch nicht mein Problem.«

»Alter!«

»Du segnest hier eh gleich das Zeitliche. Akzeptier endlich dein Schicksal, Mann.«

Ein Schnauben ertönt. »Wie wär’s, wenn du mal aus deinem Kackversteck kommen würdest, statt mich wie ein Feigling mit Pfeilen abzuschießen, von denen du sowieso neunzig Prozent danebenschießt?«

»Kannst ja herkommen und mich holen, wenn du dich traust.«

»Na warte.«

Genervt verdrehe ich die Augen und klingle erneut. Genau in dem Moment wird die Tür geöffnet, und ein Kerl in meinem Alter steht vor mir. Er ist ein Stück größer als ich und hat braune Haut. Seine schwarzen Locs hat er zusammengebunden, ein silberner Ring ziert seinen linken Nasenflügel, und er nimmt einen Schluck Bier, während er mich mustert.

»Wenn ich dich erwische, du Kackvogel!«, ertönt es jetzt klar und deutlich aus dem Haus. Darauf folgt ein Lachen, das in einem schmerzerfüllten Keuchen endet.

Der Typ vor mir wirft einen abschätzigen Blick über seine Schulter und lässt die Bierflasche sinken. »Könntet ihr aufhören, euch zu prügeln, Jungs? Wir haben Besuch.«

Ich unterdrücke den Drang, erneut die Augen zu verdrehen. Wozu bin ich hier? Soll ich ernsthaft drei betrunkene Poser begrüßen, nur damit sie was zu lachen haben?

»Ich bin Chance«, meint er mit einem gewinnenden Lächeln und streckt mir eine Hand hin.

»Hi«, murmle ich und ergreife sie. »Laina.«

»Au!«, schreit jemand. »Nein! Du Bastard!« Eine Art Explosionsgeräusch ertönt, und kurz darauf verkündet der Fernseher den Sieg von Kirby. Wer auch immer das ist.

»Die spielen Super Smash«, erklärt Chance und deutet mit dem Kopf hinter sich in Richtung der Küche. »Willst du ein Bier?« Mein skeptischer Gesichtsausdruck entgeht ihm wohl nicht. »Oder vielleicht ’ne Cola?«

Normalerweise hätte ich dieses Angebot sofort abgelehnt. Aber leider habe ich nach wie vor Moms Stimme im Ohr, die mich beschwört, höflich und charmant zu sein und die drei möglichst lange zuzulabern. Charmant. Ich. Sie hat offenbar vergessen, wie sehr ich es hasse, mit Fremden zu reden. Aber kein Problem. Das ist ja erst seit meiner Geburt so. Zwanzig Jahre sind natürlich eine sehr kurze Zeit, um sich so etwas zu merken.

»Cola klingt gut«, murmle ich trotzdem und folge Chance nach drinnen. Er geht zum Kühlschrank, aber ich kann mich nicht davon abhalten, einen Blick nach rechts zum Wohnzimmer zu werfen. Auf dem Sofa rangeln zwei junge Männer miteinander und nehmen sich gegenseitig in den Schwitzkasten. Einer mit beiger Haut und glatten dunklen Haaren, der andere mit dunkelbrauner Haut und einem fast schwarzen Buzz Cut. Letzterer schaut ausgerechnet jetzt hoch und begegnet meinem Blick.

Mist.

Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass seine Bilder übermäßig bearbeitet sind. Doch leider sieht er wirklich so gut aus wie auf Instagram. Als wäre er direkt einer dieser Männerparfüm-Werbungen entsprungen. Ethan Golds Gesicht ist ziemlich schön, auch wenn ich ihn nicht leiden kann. Und er hat unverkennbar die Statur eines Profisportlers.

Es ist mir seltsam unangenehm, ihn anzuschauen. Vielleicht, weil ich das Gefühl habe, mir jeden einzelnen seiner Muskeln unter diesem schwarzen Shirt realitätsnah vorstellen zu können, nur weil ich drei seiner Insta-Fotos gesehen habe.

Ethan hält mitten in der Rangelei inne und starrt mich an. Seine braunen Augen erinnern an einen süßen Hundewelpen, und trotzdem wird mir heiß. Eilig wende ich mich ab und nehme von Chance eine kalte Dose Cola entgegen.

Ich muss mich räuspern. »Danke«, bringe ich heraus.

»Kein Ding. Was führt dich her?« Er lehnt sich mit der Hüfte gegen den Esstisch und mustert mich, als würde mein Outfit ihm mehr über mich verraten.

Hinter mir höre ich Getuschel, dann Schritte.

»Hey?« Die tiefe Stimme, die ich eben noch durchs Fenster gehört habe, klingt fragend, beinahe erwartungsvoll, und ich glaube zu wissen, wem sie gehört.

Widerwillig drehe ich mich um.

Ethan Gold steht vor mir, die Hände in den Taschen seiner grauen Jogginghose vergraben. Ich muss den Kopf ein wenig in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht schauen zu können, und schlucke nervös. Sein Kumpel quetscht sich unterdessen an ihm vorbei zum Kühlschrank.

Ich komme mir lächerlich vor, wie ich hier stehe, mit einer Cola in der Hand und ohne jeglichen Plan, was ich eigentlich sagen soll. Wie soll ich dieses Gespräch einfädeln? Schon jetzt spüre ich, wie ich rot werde. Und Ethan schaut mich nach wie vor an, als würde er versuchen, meine Gedanken zu lesen. Kann er bitte damit aufhören?

»Hi«, presse ich hervor. »Sorry für die Störung, ich soll euch von der Bürgermeisterin herzlich auf der Insel willkommen heißen.«

»Die Bürgermeisterin?«, fragt Ethan und hebt eine Braue, als würde er mir kein Wort glauben. »Bist du ihre Assistentin oder so?« Und warum klingt seine Stimme so verdammt melodisch?

»Kann man so sagen«, erwidere ich zerknirscht. »Sie ist meine Mutter. Eigentlich wäre sie gern selbst hergekommen, aber sie hat sich am Freitag das Bein gebrochen, und ich vertrete sie die nächsten Wochen.«

»Oh, Shit. Gute Besserung.«

»Danke.«

»Ich bin übrigens Ethan. Und der unhöfliche Typ dahinten ist Phil.«

»Laina«, erwidere ich knapp.

»Wie ich sehe, hat Chance dich schon eingeladen.« Er weist mit dem Kinn auf das Getränk in meiner Hand, und vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber er wirkt, als würde meine Anwesenheit ihm nicht in den Kram passen.

»Ich will euch gar nicht weiter stören«, sage ich schnell und stelle die Dose ungeöffnet auf dem Tisch ab. »Aber falls ihr eine Inselführung braucht oder so, sagt Bescheid.«

Er schnaubt. »Eine Inselführung. Klar.«

Sein spöttischer Tonfall irritiert mich, ebenso wie das Grinsen auf seinen Lippen. »Was ist daran so lustig?«, rutscht es mir heraus. Mir war schon klar, dass er von der Idee nicht gerade begeistert sein wird. Aber mich dafür auszulachen, ist ein neues Level an Unhöflichkeit.

»Nichts«, beteuert er belustigt, und ich funkle ihn an. »Ich meine nur, wenn du ein Autogramm willst, kannst du auch einfach danach fragen.«

Ich glaube, ich höre nicht richtig. Wie aufgeblasen kann man sein? Ethan schaut mich erwartungsvoll an, und ich bemühe mich, meine Stimme neutral zu halten, obwohl ich maßlos angepisst bin. »Wie kommst du auf die Idee, ich würde ein Autogramm von dir wollen?«

Okay, das klang doch ziemlich bissig.

»Ouhh«, machen Chance und Phil gleichzeitig. Ethan wirft ihnen einen Blick zu. Sie verziehen sich zurück aufs Sofa und starten das nächste Spiel, jedoch nicht, ohne uns auf dem Weg dorthin neugierig zu beobachten.

»Na komm«, meint Ethan schulterzuckend. Weiterhin weicht dieses nervige Grinsen nicht von seinem Gesicht. »Warum solltest du sonst die Fremdenführerin spielen? Die Bürgermeisterin, ist klar.«

»Ich spiele sie nicht, ich werde dafür bezahlt.« Freundlich bleiben, Laina. Aber ich fürchte, der Zug ist abgefahren. Ethan mustert mich jetzt sehr viel interessierter als eben. Ich glaube, er merkt, dass ich keinen Bock auf ihn habe, und jetzt nutzt er es, um mich zu reizen. Vermutlich, um sein fragiles Ego vor meiner Laune zu beschützen.

»Okay«, sagt er schlicht und nimmt die Hände aus den Hosentaschen. Er verschränkt die Arme vor der Brust, wodurch sein Shirt um die Schultern spannt. Sicher weiß er genau, wie er dabei aussieht. Verdammter Poser. »Wann ist die Führung?«, fragt er mit einem charmanten Lächeln.

Ich blinzle, reiße meinen Blick von seinen Oberarmen los und schaue ihm wieder ins Gesicht. »Was?«, rutscht es mir heraus.

»Die Inselführung, die du uns angeboten hast. Wann ist sie?«

»Im Ernst, E?«, tönt es aus Richtung des Sofas. Ethan ignoriert es, aber ich stelle mir dieselbe Frage. Was soll das? Er hat keinen Bock auf diese Führung! Und jetzt will er sie trotzdem, nur um mir eins auszuwischen? Oder will er mir doch noch ein Autogramm andrehen?

Großartig. Ich dachte, mit einer lahmen Begrüßung wäre mein Job hier getan.

Ethan legt den Kopf schief. Meine Antwort lässt zu lange auf sich warten, das ist mir klar. »Es gibt doch eine Führung?«, versichert er sich scheinheilig. Er glaubt ernsthaft immer noch, ich hätte das erfunden, um ein Autogramm zu kriegen?

»Ja«, presse ich hervor und zwinge ein falsches Lächeln auf meine Lippen. »Morgen früh um acht?«

»Mach Mittag draus.« Er zwinkert mir zu. »Phil und Chance kriegst du vor elf nicht aus dem Bett.«

Aber ihn schon, oder was?

»Schön.« Kein Entkommen mehr, was? Juhu. Vielen Dank auch, Mom. »Dann um zwölf?«

»Klingt gut.«

Nein, das tut es wirklich nicht. »Soll ich euch hier abholen?«, biete ich widerwillig an. Mom hat mir diese höfliche, zuvorkommende Art eingebläut. Nicht nur vorhin, sondern schon mein ganzes Leben. Das habe ich jetzt davon.

»Das wäre super«, behauptet Ethan und schmunzelt mich an. Es wirkt lange nicht mehr so aufgeblasen wie vorhin, und mein Herz macht einen kleinen Hüpfer, als wollte es mich daran erinnern, wie attraktiv er doch ist. Danke, aber nein danke.

»Okay, dann sehen wir uns morgen.« Ich wende mich bereits zum Gehen.

»Warte. Was ist, wenn ich noch Fragen habe?«

»Fragen?«, wiederhole ich irritiert und schaue ihn wieder an. »Was für Fragen?«

Er zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Kann ja sein, dass mir noch was einfällt. Oder dass Phil und Chance heute Nacht spontan ein Saufgelage veranstalten und morgen nicht ansprechbar sind. Dann müssten wir es verschieben, und es wäre ja Mist, wenn du trotzdem extra herkämst.«

Das ist doch alles nicht sein verdammter Ernst. Ich tue einfach weiter so, als wüsste ich nicht, worauf er hinauswill. »Das heißt?«

»Vielleicht gibst du mir besser deine Nummer«, schlägt er vor und senkt den Kopf ein wenig. Er setzt einen perfekten Welpenblick auf, der ihm sicher schon so einige Türen geöffnet hat. Nicht besonders schwierig mit diesen großen braunen Augen.

Ich glaub’s nicht. Der Kerl ist noch aufgeblasener, als ich dachte. Erst unterstellt er mir, ich würde nur ein Autogramm wollen, dann versucht er, an meine Handynummer zu kommen.

»Klar«, erwidere ich mit einem aufgesetzten Lächeln. »Hast du einen Zettel?«

Ethan schaut sich um und geht zum Sideboard neben der Haustür, wo er zumindest einen Kugelschreiber findet. »Hier.« Er reicht ihn mir und hält mir seinen Unterarm hin.

Ich rühre mich nicht. »Ähm …«

»Hab mein Handy nicht da«, behauptet er. »Und keine Ahnung, wo in diesem Haus ein Zettel ist.«

Und wenn das keine Masche ist, fresse ich einen Besen.

Widerwillig notiere ich die Nummer auf seiner Haut, dabei darauf bedacht, ihn möglichst wenig zu berühren. Es reicht schon, dass er jetzt noch näher vor mir steht als zuvor. Ich kann ihn riechen. Ethan duftet … teuer. Und leider auch verdammt gut.

»Hier«, murmle ich, gebe ihm den Stift und trete einen Schritt zurück.

Stirnrunzelnd betrachtet er mein Werk. »Das ist keine Handynummer«, stellt er fest.

»Nein. Das ist unser Festnetz. Dann bis morgen.«

Bevor er noch auf weitere komische Ideen kommt, verlasse ich das Haus. Großartig. Jetzt hat dieser Angeber meine Telefonnummer, und ich kann morgen nicht wie geplant in die Bücherei. Aber Letzteres wird in den nächsten Wochen wohl häufiger der Fall sein, was? Ich hasse diese Vertretung jetzt schon.

Kapitel 3

ETHAN

Ich komme nicht darüber hinweg, wie egal ich ihr bin.

Als Laina gestern plötzlich in unserem Haus stand, war meine erste Reaktion Ärger. Über sie und über Chance, der eigentlich wissen sollte, dass er nicht einfach wildfremde Leute reinlassen kann, die ohne Erklärung an der Tür klingeln. Ich dachte ernsthaft, sie wäre ein übergriffiger Fan und würde sich nur nicht trauen, mir das ins Gesicht zu sagen. Doch anscheinend hat Vancouver mich zu einem eingebildeten, arroganten Arschloch gemacht.

Laina hat wirklich keinerlei Interesse an mir. Sie hat mir ihre verdammte Festnetznummer aufgeschrieben und scheint diese Inselführung genauso sehr zu hassen wie Phil und Chance, die mit Sonnenbrillen und Kater hinter uns hertrotten.

Das Wetter ist typisch für einen Sommer in der Region. Knapp über zwanzig Grad und windig. Nur, dass es nicht regnet, ist ungewöhnlich. Wie schon gestern ist heute kaum eine Wolke am Himmel, was dafür sorgt, dass uns die Maisonne erbarmungslos auf die Köpfe scheint. Das Licht bringt Lainas Locken dazu, golden zu leuchten, und zieht immer wieder meinen Blick zu ihr. Sie übt eine seltsame Faszination auf mich aus. Die Führung jedoch war bisher alles andere als spektakulär.

Laina hat uns noch einmal den Supermarkt und die Bäckerei am Hafen gezeigt und uns die Schokobrötchen dort empfohlen. Leider stehen die definitiv nicht auf meinem Ernährungsplan, auch wenn ich plötzlich einen unerklärlichen Heißhunger auf Süßgebäck habe.

Mittlerweile laufen wir die Hauptstraße entlang Richtung Norden. Laina schweigt die meiste Zeit, nur hin und wieder deutet sie auf ein Gebäude und erläutert knapp, was es ist. Hotel. Grundschule. Postamt. Alte Feuerwache, in der jetzt Dorfversammlungen stattfinden. Alles sterbenslangweilig.

»Das ist die Bücherei«, verkündet sie soeben. »Und hier sind auch das Museum und der Secondhandladen. Riven verkauft vintage Designerklamotten, aber gerade hat sie geschlossen. Ihre Öffnungszeiten sind sehr begrenzt.«

»Im Ernst, ein Museum?«, witzelt Phil. »Was habt ihr da drin ausgestellt? Alte Fische und Treibholz?«

Laina wirft ihm einen finsteren Blick zu, der so gar nicht zu ihrem strahlenden Äußeren passt. »Sointula wurde von finnischen Minenarbeitern gegründet. Unsere Geschichte verbindet mehrere Kontinente und einen utopischen Gemeinschaftsansatz. Abgesehen davon gibt es auch viel über die Indigene Bevölkerung dieses Gebiets zu lernen.«

Okay. Das ist offenbar ein wunder Punkt. Zumindest hat Laina bisher selten Sätze von sich gegeben, die aus mehr als vier Wörtern bestanden. Verstohlen mustere ich sie von der Seite, doch sie bemerkt es nicht. Sie ist weiterhin damit beschäftigt, Phil niederzustarren.

»Aha«, brummt dieser unbeeindruckt.

»Hat es geöffnet?«, frage ich.

Nun trifft ihre Skepsis mich. »Ja. Wieso?«

»Na dann. Zeigst du es uns?« Dass ich das mal fragen würde … Aber mir ist jede Ablenkung recht. Mein Smartphone liegt weiterhin ausgeschaltet im Ferienhaus, doch ich erwische mich trotzdem immer wieder dabei, mir auszumalen, wie viele verpasste Anrufe wohl schon darauf sind. Allein der Gedanke daran verursacht ein Engegefühl in meiner Brust.

Ich reibe mir mit der flachen Hand über den Brustkorb, in der Hoffnung, dass es so verschwindet, und gehe an Laina vorbei auf den Eingang zu.

Phil und Chance stöhnen auf. »Im Ernst, Mann?«, fragt Letzterer.

»Ich bin neugierig«, behaupte ich und halte Laina die Tür auf. »Nach dir.«

Sie taxiert mich mit einem argwöhnischen Blick, dann geht sie voraus. Drinnen ist es warm und ein wenig stickig. Es gibt keinen Eingangsbereich oder Ähnliches. Stattdessen steht man direkt in etwas, das aussieht wie eine übergroße Rumpelkammer. Der Raum ist über und über vollgestopft mit … ich weiß auch nicht. Dem Hausrat meines Großvaters? Auf den ersten Blick wirkt es, als stünden hier einfach nur alte Möbel und Zeug, das jemand nicht mehr gebrauchen konnte. Nicht unbedingt das kulturelle Erlebnis, das Laina uns versprochen hat.

Ich behalte meine Gedanken für mich und schaue mich um. Phil jedoch kann wie immer seine große Klappe nicht halten.

»Das soll ein Museum sein?«, fragt er.

»Ich weiß, der Begriff Kultur ist euch ein Fremdwort«, zischt Laina, bevor sie abrupt den Mund zuklappt. Sofort schießt Röte in ihre hellrosa Wangen. Bilde ich es mir ein, oder war ihr das peinlich?

Phil kratzt sich am Kopf und schnaubt. »Sagt die, die wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben ein Taxi gesehen hat.«

Lainas Gesichtsfarbe wird noch eine Nuance dunkler, aus ihren Augen schießen regelrechte Blitze in seine Richtung. »Im Gegensatz zu dir kann ich Taxi wenigstens buchstabieren.«

Mir entweicht ein ersticktes Lachen.

»Ouuuh«, macht Chance und legt Phil einen Arm um die Schultern. »Schach und Matt, Phillyboy.«

Dieser verdreht die Augen, schüttelt unseren Freund ab und stapft tiefer in das Labyrinth aus Gerümpel. Chance folgt ihm leise lachend.

»Muss man nichts bezahlen?«, frage ich Laina.

Missmutig schaut sie zu mir hoch. »Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil wir wollen, dass jeder Zugang zu unserer Geschichte hat.«

»Aber ist auch niemand hier, der … aufpasst?« Bis auf uns scheint der Raum leer zu sein.

»Selten. Während der Tourismussaison schon hin und wieder. Wer eine Führung will, muss zu den ausgeschriebenen Zeiten kommen.«

»Verstehe. Aber was, wenn jemand was klaut oder kaputt macht?«

»Dann ist die Person ein Arsch.« Laina folgt den anderen beiden tiefer ins Museum. Sie sind um eine Ecke verschwunden, und als sie wieder in unser Blickfeld geraten, machen sie sich gerade lautstark über eine Sammlung alter Bierflaschen lustig.

»Schau, Phil, aus deiner Wohnung könnte man auch ein Museum machen. Du musst nur öfter abstauben und mal aufräumen, damit man die Flaschen findet.«

»Ich seh nur zwei Flaschen«, murmelt Laina kaum hörbar, und mir entweicht ein Schnauben. Immerhin keine drei. Heißt das, von mir hält sie mehr? Oder wollte sie mich nur nicht beleidigen, während ich direkt neben ihr stehe?

»Ihr vertraut also einfach Fremden eure … Schätze an?«, frage ich weiter und mustere einen Tisch voller alter Wahlscheibentelefone.

»Die meisten Menschen, die hierherkommen, haben auch Interesse an unserer Geschichte und respektieren sie dementsprechend.« Sie wirft mir einen abschätzigen Blick zu, der mir deutlich sagt, dass sie uns aus dieser Beschreibung ausnimmt.

»Okay. Aber das kommt mir trotzdem ziemlich …«

»Es ist Teil unserer Philosophie«, unterbricht sie mich.

»Eure Philosophie?«

Lainas Mundwinkel zuckt. »In Sointula steht die Gemeinschaft über allem. Der Name bedeutet Ort der Harmonie. Zusammenhalt ist den Leuten hier wichtig. Und man kann keine Gemeinschaft sein, wenn man anderen nicht vertraut und immer nur vom Schlimmsten ausgeht. Willst du dich jetzt umschauen oder nicht?«

Ich betrachte sie für einen Moment und schiebe langsam die Hände in meine Hosentaschen. »Ehrlich gesagt finde ich es spannender, dir zuzuhören«, gestehe ich.

Laina blinzelt und streicht sich nervös die Locken zurück. Ob sie weiß, dass ihre Ohren gerade rot anlaufen? Wie süß ist sie eigentlich? »Ich hab nichts mehr zu sagen«, behauptet sie und weicht meinem Blick aus.

»Du redest nicht gern, was?«

Geradezu vorsichtig schaut sie mich wieder an. »Ist das so offensichtlich?«

Ich zwinkere ihr zu. »Kaum. War wild geraten.«

»Haha.« Sie verschränkt die Arme vor der Brust.

»Hast du eigentlich kein Handy?«, wechsle ich das Thema. Ich muss das endlich wissen.

Laina stutzt. »Was?«

»Muss ich die Frage wiederholen?«

»Warum fragst du mich das?«

»Weil du mir deine Festnetznummer gegeben hast? Und ich irgendwie nicht glauben kann, dass es noch Menschen ohne Smartphone gibt.«

Sie runzelt die Stirn. »Natürlich habe ich eins. Aber warum sollte ich einem Fremden meine Handynummer geben?«

Wow. Sie hat wirklich keinen Bock auf mich. Trotzdem setze ich ein Schmunzeln auf. »Glaubst du, ich würde dich stalken oder so?«

»Woher soll ich das wissen? Wie gesagt, Fremder

»Wie war das mit dem Vertrauen?«

Sie presst einen Moment lang frustriert die Lippen zusammen. »Du bist nicht von der Insel. Also gilt diese Regel für dich nicht.«

»Die anderen Touristen sind doch auch nicht von hier.«

»Die kriegen auch nicht meine Handynummer.«

»Das heißt, ich muss mir dein Vertrauen erst erarbeiten?«, hake ich nach, und das Schmunzeln wächst zu einem Grinsen.

Laina ist anzusehen, wie sehr diese Unterhaltung sie nervt. »Das sollte keine Challenge für dich sein, nur damit das klar ist.«

»Das ist mir bewusst.« Leider sieht ein Teil von mir das anders. Der Teil, der dringend Ablenkung von Roys Anrufen und meinen finanziellen Einbußen braucht und sich dafür sogar freiwillig in ein Museum begibt. Wenn man so frei ist, es so zu nennen.

Laina reißt sich von meinem Blick los. Ich öffne bereits den Mund, um noch etwas zu sagen, da macht sie einen Schritt von mir weg. »Das sind Ausstellungsstücke!«

»Was?«

Sie weist mit einer Kopfbewegung auf Phil und Chance, die sich lachend je einen alten Bauhelm aufgesetzt haben. Natürlich müssen sie sich vor Laina von ihrer besten Seite zeigen. Was auch sonst.

Sie funkelt die beiden an, macht aber keine Anstalten, zu ihnen zu gehen. Was hält sie zurück? Eben war sie doch auch direkt genug, um Phil die Leviten zu lesen.

Egal, das ist dann wohl meine Chance, sie ein bisschen von mir zu überzeugen.

»Ich kümmer mich drum«, verspreche ich und bahne mir einen Weg durch das Museum. Besser, wir gehen weiter. Die zwei hier drin zu lassen, kommt vom Betreuungsaufwand dem einer Kindergartengruppe gleich. Hoffentlich hat Laina noch ein paar Stationen geplant. Ansonsten muss ich mir wohl etwas anderes überlegen, um sie länger für mich zu beanspruchen.

Kapitel 4

LAINA

»Na, Frau Bürgermeisterin?«

Ich schaue von dem Stapel Bücher auf, den ich eben sortiert habe, und sehe Leevi durch die Bücherei auf mich zukommen. Er trägt noch Arbeitsklamotten, seine Jacke ist offen, seine Haare sind vom Wind auf dem Boot völlig zerzaust. Laut eigener Aussage muss er dringend mal wieder zum Frisör. Seine Freundin Riven und ich sind da anderer Meinung. Bei dieser Haarlänge kommen Leevis Locken raus, und die sind ziemlich niedlich.

»Bitte erinner mich nicht dran«, murre ich und hebe den zweiten Bücherstapel von dem Stuhl neben mir, damit er sich setzen kann. Bis auf uns ist die Bücherei leer. Wie immer. Für Mom ist das ein Argument, die Öffnungszeiten zu reduzieren. Ich hingegen liebe es, hier allein zu sein, mit tausend duftenden Büchern als Gesellschaft.

Erschöpft seufzend lässt Leevi sich neben mich sinken und legt mir einen Arm um die Schultern. »Schlimm?«, fragt er sanft und mustert mich von der Seite.

Ich schüttle nur mürrisch den Kopf und ziehe das nächste Buch zu mir heran. »Was soll’s …«

»Sieh’s positiv, deine Mom wird sich nicht länger als ein paar Wochen von diesem Beinbruch aufhalten lassen. Bevor du dich’s versiehst, tanzt sie beim Sommerfest auf den Tischen, und du kannst wieder Vollzeit deine Nase in Bücher stecken.«

»Mir wäre es lieber, sie würde das mit dem Tanzen lassen …« Und ja, Mom wird vermutlich nicht lange ausfallen, so wie ich sie kenne. Wobei das Sommerfest in ein paar Wochen wohl doch zu optimistisch ist. Aber ich beginne zu bezweifeln, dass danach alles wieder wie vorher wird. Wenn ich erst mal angefangen habe, all die Aufgaben einer Bürgermeisterin zu übernehmen, wird sie mich nicht mehr vom Haken lassen. Bald bin ich offiziell ihre Stellvertretung, und dann habe ich keine Chance mehr, mich hier zwischen den Büchern zu verstecken.

»Kann’s sein, dass du heute Ethan Gold und seine Freunde durchs Dorf geführt hast?«, will Leevi wissen.

Mürrisch schaue ich ihn an. »Woher weißt du das schon wieder?«

»Tommy hat euch wohl von der Bäckerei aus gesehen. Er hat eine merkwürdige Obsession mit dem Kerl entwickelt, seit er weiß, dass Auri ihn heiß findet. Sehr verdächtig, wenn du mich fragst.«

»Das einzig Verdächtige ist, dass die zwei immer noch so tun, als wären sie nur Freunde.«

Leevi räuspert sich und schmunzelt verlegen. »Dagegen kann ich persönlich leider nichts mehr sagen.«

Ich verdrehe gespielt genervt die Augen. »Bei dir und Riven war das anders. Das waren ein paar Monate und keine Jahre.«

»Stimmt auch wieder. Wie war Ethan denn jetzt drauf? Hat er zufällig was von einer Vorliebe für Käse erzählt? Vielleicht sind er und Auri ja ein Traumpaar.«

Mir entweicht ein Schnauben. Ich weiß nicht mal wieso. Es spricht theoretisch nichts dagegen, dass Ethan und Auri etwas miteinander anfangen. Aber allein der Gedanke …

Einfach nein.

»Ich bezweifle, dass der Kerl mit irgendwem ein Traumpaar abgeben würde. Er ist so was von unausstehlich.«

»Okay, was hat er getan, um deinen Zorn auf sich zu ziehen? Bücher beleidigt?«

Ich stoße ihn leicht in die Seite und schüttle den Kopf. »Er ist nervig und eingebildet. Er dachte, ich will ein Autogramm von ihm.« Und dann hat er versucht, mich anzubaggern. Vermutlich auch nur zum Spaß. Einfach, um etwas zu lachen zu haben, wenn ich darauf eingehe, oder für ein bisschen Zeitvertreib. Nicht mit mir.

»Du hättest Auri eins besorgen können«, gibt Leevi grinsend zu bedenken und fängt sich erneut einen Hieb von meinem Ellbogen ein. »Ah! Okay, schon gut. Themawechsel. Du brauchst was für die Website?«

»Ja. Die Öffnungszeiten müssen angepasst werden, und ich hätte gern einen Infokasten dafür.«

»Okay. Geht klar.« Ich erwarte, dass Leevi weiter nachfragt, aber stattdessen steht er auf. »Kannst du mir schreiben, wie genau du es willst? Ich bau es dann später noch ein.«

»Gehst du schon wieder?«

»Tut mir leid, gleich gibt’s Abendessen, Riven und ihr Dad warten auf mich. Wir schreiben, ja?« Er reibt mir zum Abschied über den Rücken, lächelt mir zu und verschwindet ebenso schnell, wie er eben gekommen ist.

Schon bin ich wieder allein. Allein mit meinen Büchern. Doch nun macht sich Enttäuschung in mir breit. Es ist okay, sage ich mir. Leevi hat viel zu tun mit dem Job als Fischer und dem Webdesign-Fernstudium. Dazu noch eine Beziehung und Rivens demenzkranker Vater, um den er sich mit ihr kümmert … Es ist kein Wunder, dass ich da kaum noch mit reinpasse. Trotzdem hätte ich mir mehr gewünscht als fünf Minuten Small Talk, während sich mein Leben ungewollt um hundertachtzig Grad dreht.

Aber es ist wirklich okay. Er kann nichts dafür. Und wo er gerade vom Abendessen geredet hat … Ich muss dringend nach Hause. Mom hatte vorhin Besuch von Saana, also konnte ich sie guten Gewissens noch ein paar Stunden allein lassen, aber die dürfte mittlerweile gegangen sein.

Ich suche meine Sachen zusammen, schalte alle Lichter aus und sperre die Bücherei ab. Zum Glück wohnen wir wortwörtlich nur ein paar Meter entfernt. Nichts, was ich Ethan heute unter die Nase reiben wollte, aber wir sind sogar an meinem Haus vorbeigelaufen.

»Naaa?«, begrüßt Mom mich überschwänglich, kaum dass ich das Wohnzimmer betrete, und reckt den Hals, um mich aus ihrer liegenden Position heraus sehen zu können. »Wie war dein Tag?«

Misstrauisch bleibe ich am Esstisch stehen und runzle die Stirn. Was soll dieser Tonfall? »Gut, wieso?«

»Nur so.« Sie lächelt. »Wie war die Führung?«

Ah. Darum geht es. »Na ja. Ganz okay, schätze ich. Ich glaube aber, sie fanden es nicht besonders interessant.«

»Nicht? Da habe ich anderes gehört.«

Verwirrt ziehe ich die Brauen zusammen. »Wie? Von wem?«

»Ethan hat angerufen.« Sie wedelt mit unserem schnurlosen Telefon. »Er fand es unglaublich spannend, was du ihm alles über die Dorfgeschichte erzählt hast.«

Er hat bitte was getan? Und was genau soll ich ihm erzählt haben? Die paar Infos, die ich rausgerückt habe, hätte er genauso gut googeln können, hätte es ihn interessiert. Normalerweise macht man das vor einem Urlaub, oder nicht? Er will mich doch verarschen!

»Ich finde es so schön, dass du unsere Geschichte weitergibst, Laina. Das macht mich sehr stolz.«

Ich weiß nichts darauf zu erwidern. Was soll ich auch sagen? Danke? Selbst das würde sich falsch anfühlen, weil ich faktisch wirklich nichts gemacht habe.

»Jedenfalls hat Ethan gefragt, ob du ihnen nicht auch Port McNeill zeigen würdest. Er dachte, du weißt sicher einiges darüber, und das konnte ich ihm bestätigen. Ihr trefft euch morgen um elf an der Fähre.«

Ich stehe da wie eingefroren und starre Mom an. Nicht ihr Ernst? Nicht Ethans Ernst?!

»Was genau soll ich ihnen dort zeigen?«, frage ich schnaubend. »Den Baumarkt? Den Reifenladen? Oder den Fachhandel für Lkw-Teile?«

Mom lacht. »Die Maserknolle natürlich! Und den Hafen, die Restaurants, die Brauerei … Ihr findet schon was, ihr jungen Leute!«

»Klar«, rutscht es mir heraus. »Ich bin sicher, Ethan Gold hat schier unermessliches Interesse an der weltgrößten Maserknolle!«

Wer weiß, vielleicht hat er das ja wirklich. Wir könnten sie mit der Größe seines Egos vergleichen.

Mom seufzt, angelt nach ihren Krücken und müht sich von der Couch hoch. Sofort eile ich zu ihr und greife ihr unter die Arme. »Musst du aufs Klo?«, frage ich.

»Nein, nur mal kurz ein paar Schritte gehen. Mein Rücken bringt mich um. Und ich weiß, dass du keine Lust auf meine Vertretung hast, Laina, aber es gehört nun mal zu deinem Job.«

Ein Job, auf den ich zumindest in dieser Form ebenso wenig Lust habe. Aber diese Aussage verkneife ich mir. »Tut mir leid«, brumme ich nur.

»Und es ist doch großartig, dass unsere Gäste so großes Interesse an der Umgebung haben!«, meint sie weiter und humpelt in Richtung der Terrassentür. »Je mehr Ethan sich anschaut, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass auch ein paar seiner Follower hierherkommen.«

»Mhm«, mache ich.

Nur hat Ethan leider mit Sicherheit keinen Bock auf die Umgebung. Er versucht nur, mich zu ärgern. Und weil ich Mom nicht enttäuschen will, bleibt mir nichts anderes übrig, als sein Spiel mitzuspielen.

Eins zu null für Team Gold.

Kapitel 5

ETHAN

»Nichts für ungut, E …« Chance’ Mund ist so voll, dass die Worte kaum verständlich sind. Leider hält ihn das nicht davon ab, weiterzusprechen. »… aber wir sind nicht mitgefahren, um uns irgendwelche ranzigen Dörfer anzuschauen.« Er schluckt runter, beißt erneut in sein Schokobrötchen und schließt genüsslich die Augen. Ihm klebt Schokolade im Mundwinkel, und die sub...

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