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Warum wir schwimmen

Als Buch hier erhältlich:

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»Ein Juwel von einem Buch, eine Hymne aufs Wasser und unseren Platz darin.«

James Nestor, Autor des SPIEGEL-Bestsellers »Breath. Atem«

Unsere Vorfahren schwammen, um zu überleben. Heute schwimmen wir in arktischen Gewässern und durchqueren breite Kanäle, weil wir die Herausforderung mögen. Schwimmen ist ein ruhiger und meditativer Sport in einer chaotischen Zeit. Schwimmen ist gesund, gemeinschaftsfördernd, existenziell. Jeder Mensch sollte es können.

Ob ein Schwimmclub im ehemaligen Palastbad Saddam Husseins in Bagdad, moderne Samurai-Schwimmer in Japan, verpflichtender Schwimmunterricht vollständig bekleidet in den Niederlanden, ein isländischer Fischer, dessen Physis einer Robbe gleicht, die ersten öffentlichen Schwimmbäder in Chicago und New York oder die Bajau-Seenomaden von Malaysia, deren Kinder es schon schaffen, bis zu 70 Meter in die Tiefe zu tauchen, ohne einmal Luft holen zu müssen.

Mit ihren kurzweiligen und wissenswerten Portraits über weltweite Schwimmkultur lässt uns die Literaturwissenschaftlerin und ehemalige Leistungsschwimmerin Bonnie Tsui tief abtauchen in die faszinierende Welt des Wassers, die uns nicht nur körperlich, sondern auch geistig und emotional bereichert.


»Eine großartige Geschichte. Ich liebe dieses Buch.« Christopher McDougall, Autor des Bestsellers Born to Run

»Absolut wundervoll.« The New York Times

»Warum wir schwimmen? Das Buch gibt eine Fülle von Antworten.« Der Tagesspiegel


»Die US-amerikanische Autorin Bonnie Tsui erzählt in ihrem Buch ›Warum wir schwimmen‹ spannende Geschichten über diese uralte Fortbewegungsart.« Kristian Teetz, RND


»Eine Perle unter den Sachbüchern, nicht nur für Menschen, die das Wasser lieben.« Radio Bremen Zwei



  • Erscheinungstag: 26.04.2022
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000267

Leseprobe

Überleben

Auf einer alten Karte aus der Zeit, als dieser Ort zum ersten Mal besiedelt wurde, erscheinen Ungeheuer, überall dort, wo das Festland sich im Meer verliert …

– CARL PHILLIPS, »SWIMMING«

1

Urzeitschwimmer

Die Abalone will sich nicht vom Felsen lösen. In fünf Metern Tiefe stoße ich das Muschelmesser unter die Schale, zwischen den Fußmuskel der Schnecke und den Felsen, an dem sie sich festkrallt, und hoffe auf das versprochene Ploppen. Nichts geschieht.

Ich versuche es noch einmal, die Atemluft blubbert mir aus der Nase, während ich versuche, mich gegen die Strömung zu stemmen, die mich vor und zurück wirft. Immer noch nichts. Diese Abalone spürt offenkundig meine Anwesenheit und hat sich fest verschlossen. Wenn das mal geschehen ist, so muss ich feststellen, dann wird es fast unmöglich, sie abzulösen.

Nach Abalonen, auch Seeohren genannt, zu tauchen ist ein spannender, aber gefährlicher Sport. Die Schnecken sind schwer zu finden; ich habe mich in den Gewässern des Salt Point State Park an der einsamen, mäandernden Sonomaküste zweieinhalb Stunden nördlich von San Francisco auf die Jagd begeben. Gefahren gibt es reichlich: kaltes Wasser, Rippströmungen, Felsen, Seegraswälder, heftige Brandung und Haie. Dennoch machen sich in jeder Saison von April bis November Tausende hoffnungsfroher Schwimmer an die Küste Nordkaliforniens auf, um ihr Glück bei der Jagd nach Abalonen zu versuchen. 6 Die wilde rote Abalone ist die größte der Welt, sie kommt nur an der nordamerikanischen Westküste vor. Hier kann ich in die Rolle einer prähistorischen Jägerin schlüpfen und ohne jede Erfahrung nach meinem Abendessen tauchen.

Ich besitze eine Lizenz zum Gerätetauchen, aber mit den Jahren habe ich gemerkt, wie mich die Gerätschaften einengen und behindern, wenn ich im Wasser bin. An diesem Küstenabschnitt sind Sauerstoffflaschen verboten, und wer hier nach Abalonen taucht, ist über seine Fähigkeiten im Schwimmen und Luftanhalten hinaus nur mit wenigen Werkzeugen ausgestattet. Diese Art der Jagd zurück zu den Wurzeln und reduziert auf Mensch gegen Natur führt allerdings auch dazu, dass jede Bucht an diesem Küstenabschnitt, wie die Ranger sagen, ein Friedhof ist. 7 Allein während der ersten drei Wochen der Saison 2015 starben vier Menschen beim Tauchen nach Abalonen. Auch erfahrene Taucher können nicht ewig die Luft anhalten, und Sportler, die es gewohnt sind, einen gut gefüllten Luftvorrat auf dem Rücken mit sich zu führen, geraten in Panik, wenn sie das merken. Zudem ist es schwer, in dem trüben Wasser die Orientierung nicht zu verlieren, und die Dünung unter Wasser kann einen gegen die Felsen schleudern und dann hinaus aufs Meer ziehen.

Trotzdem will ich es versuchen. Ich lerne, wie man die geriffelten Lippen aus schwarzem Gewebe, das Gehäuse der Schnecken, an einem schroffen Felsabhang erkennt. Mit einiger Anstrengung gelingt es mir, eine abzulösen, dann noch eine. Ein ganz alter, erbsengroßer Teil meines Gehirns wird zum Leben erweckt, als ich mit einer Klappmesserbewegung nach unten tauche, den Blick fest auf die Beute gerichtet, und schließlich eine drei Kilo schwere Abalone aus dem Wasser hebe. Ich brauche beide Hände, um sie hochzuhieven, und beide Füße, um mich vorwärtszustoßen, und noch ehe mein Kopf die Wasseroberfläche durchbricht, spüre ich schon, wie meine Lippen sich zu einem breiten Grinsen verziehen.

Noch nie habe ich das Bedürfnis verspürt, für das Frühstück einen Vogel zu erlegen oder für das Abendessen einen Hirsch zu jagen. Aber von dem Moment an, als ich die Schnecke erblicke, ist sofort der Anreiz da, mir mein Mittagessen zu ertauchen. Da gibt es noch etwas für mich über den Akt des Schwimmens zu begreifen, etwas Existenzielles, das mehr ist als bloße Bewegungsübung. Später bereite ich auf meiner Terrasse das Fleisch zu, säubere, schneide und klopfe es weich – ja, mit einem Stein –, gare es über einer Flamme und verköstige meine vierköpfige Familie mit einer Mahlzeit, die ich ganz allein mit meinen Händen, meinem Körper und meinem Atem besorgt habe. Es ist ein allgemein bekanntes Symptom des modernen Lebens, dass wir von unseren Nahrungsquellen entfremdet sind. Das Tauchen nach Nahrung lässt mich für einen Moment diese Verbindung wiederherstellen. Als ich abends meine Hände wasche und das Wasser im Waschbecken abfließen sehe, erinnere ich mich an das Wasser, das rhythmisch zwischen die Felsen an der Küste schoss, und an das Gefühl, zuzusehen, wie es wieder aufs Meer hinausgesogen wurde.

Die erste bekannte Darstellung von Schwimmern findet sich mitten in einer Wüste. 8 Irgendwo in Ägypten, nahe der libyschen Grenze, auf dem entlegenen und zerklüfteten Gilf-el-Kebir-Plateau, tummeln sich an einer Höhlenwand Brustschwimmer im Wasser.

Die »Höhle der Schwimmer«, 1933 von dem ungarischen Forscher Ladislaus (László) Almásy entdeckt, birgt diese prähistorischen Zeichnungen, die Figuren in verschiedenen Unterwasserpositionen darstellen. Archäologen zufolge sind die Bilder vor mindestens 4000 Jahren entstanden. Zu der Zeit, als Almásy die Höhle entdeckte, war die Vorstellung, dass die Sahara möglicherweise nicht schon immer Wüste war, eine radikale Idee. Die Theorien über einen Klimawandel, der eine gemäßigte Zone in eine dürre, hyperaride Wüste verwandeln könnte, waren so neu, dass der Herausgeber von Almásys Bericht Unbekannte Sahara aus dem Jahr 1934 sich veranlasst sah, das Buch mit Fußnoten zu versehen, in denen er seinen eigenen Zweifeln Ausdruck verlieh. Doch Almásy selbst war aufgrund der Zeichnungen überzeugt, dass es in der unmittelbaren Umgebung der Höhle ein natürliches Gewässer gegeben haben musste und die Schwimmer selbst die Zeichnungen angefertigt hatten, während das Seewasser um ihre Füße spielte. Wo jetzt ein Meer aus Sand ist, floss damals Wasser. Während das eine Medium flüssiges Leben war, schien das andere seine ausgetrocknete, felsige Antithese zu sein, so dachte Almásy – und doch war beides miteinander verbunden. 9

Wie sich herausstellte, hatte Almásy recht. Jahrzehnte später fanden Archäologen nicht weit von der Höhle ausgetrocknete Seen, die auf eine Zeit hinweisen, als die Sahara noch grün war. 10 Almásys Deutung der Schwimmer in der Wüste sollte durch eine bemerkenswerte Fülle geologischer Beweise bestätigt werden, die zeigten, dass diese Landschaft früher voller Seen war, bis hin zu den überraschenden Funden von Flusspferdknochen und Relikten vieler anderer Wasserlebewesen, darunter Riesenschildkröten, Fische und Muscheln. Diese Feuchtperiode wurde als »die grüne Saharazeit« bezeichnet.

Vor Kurzem las ich in einer alten Ausgabe des National Geographic über einen Paläontologen namens Paul Sereno, der ebenfalls Almásys Annahme bestätigte. 11 Im Herbst des Jahres 2000 suchte Sereno in einem anderen Teil der Sahara, am südlichen Ende in der von Konflikten heimgesuchten und wenig erforschten Region Niger, nach Dinosaurierknochen. Dort in der offenen Wüste, etwa 180 Kilometer von Agadez, der größten Stadt des Landes, entfernt, kletterte einer der Fotografen der Expedition eine abgelegene Gruppe von Dünen hinauf – und stieß auf eine große Zahl von Skeletten. Die stammten allerdings nicht von Dinosauriern oder Flusspferden.

Die ausgewaschenen, windgepeitschten Sanddünen gaben Hunderte menschlicher Skelette und Keramikscherben von Gefäßen frei, von denen manche bis zu 9000 Jahre alt waren. Einige der Gefäße waren mit Wellenlinien geschmückt, andere mit Punkten. Der Grabplatz, von Wissenschaftlern nach dem Tuaregnamen für diesen Ort Gobero genannt, gehört zu den umfangreichsten und ältesten urzeitlichen Grabfunden. Offenbar war die Sahara der »grünen Zeit« genau so ein Ort, wo die prähistorischen Schwimmer gelebt haben könnten.

An einem eiskalten Januarnachmittag treffe ich Paul Sereno in seinem Forschungslabor für Fossilien an der University of Chicago, wo er seit dreißig Jahren lehrt. Es gibt nicht viele auf urgeschichtliches Schwimmen spezialisierte wissenschaftliche Arbeiten, deshalb möchte ich ihn bitten, mir zur helfen, ein Bild von dieser prähistorischen Welt zu entwerfen. Sereno selbst ist kein großer Schwimmer, aber er hat viel Zeit darauf verwendet, über die Schwimmfähigkeit sowohl von Dinosauriern als auch von Menschen nachzudenken (er gehört zu den Wissenschaftlern, deren Forschungsergebnisse dazu führten, dass der Spinosaurus aegyptiacus als der erste bekannte schwimmende Saurier anerkannt wurde). 12 Sereno umweht ein Hauch von Indiana Jones – die Lederjacke und den rastlosen Enthusiasmus hat er auch und wurde schon einmal von der Zeitschrift People unter die »50 Most Beautiful People« gezählt. 13

Ich bitte Sereno darum, mir eine prähistorische Umgebung zu beschreiben, in der man schwimmen konnte. Er sagt, in der grünen Saharazeit vor zehntausend Jahren sei Gobero so etwas wie »Daytona Beach in der Wüste« gewesen: ein riesiges Gebiet miteinander verbundener flacher Gewässer, viele von ihnen nur etwa drei Meter tief mit Sandbänken, die es den Menschen erlaubten, in die Gewässer hinauszulaufen.

Wissenschaftler haben dieses Gebiet aus Steinzeitseen »Paläosee Gobero« genannt. Eine seiner entscheidenden geografischen Besonderheiten war eine Gesteinsverwerfung auf der einen Seite, die zwei Auswirkungen hatte. Zum einen staute sie das tiefe Grundwasser, sodass immer genug Wasser vorhanden war, selbst wenn es einmal lange Zeit nicht regnete. Zum anderen fungierte sie, wenn es regnete oder das Grundwasser stieg, als ein natürlicher Damm, der von Zeit zu Zeit überlief, wodurch der Wasserstand in den Seen reguliert wurde. Diese Flachwasserlandschaft entstand und verging wieder, aber sie war doch lange genug intakt, sodass Menschen viele Tausend Jahre an ihren Ufern leben konnten. Die Begräbnisstätte enthielt die Überreste zweier unterschiedlicher Populationen von Menschen, zwischen deren Auftreten die Region für einen Zeitraum von tausend Jahren nicht besiedelt war, weil die Seen verschwunden waren und die Menschen der ersten Population sich einen anderen Lebensraum suchten. Tausend Jahre später waren wieder Seen da, und eine andere, kleinwüchsigere Population besiedelte die Gegend. Dieses Erblühen und erneute Austrocknen der Sahara war, wie Sereno sagt, der umfassendste Klimawandel seit der letzten Eiszeit vor 12000 Jahren.

In Gobero stieß man auf große Haufen zerbrochener Muschelschalen – so viele, dass Sereno davon ausgeht, dass die Menschen dort nach Muscheln tauchten oder sie am Strand sammelten. Zudem weisen weitere Funde darauf hin, dass dies nicht die einzige Art war, wie sie sich Nahrung beschafften. Man fand geschnitzte Angelhaken und säuberlich geschliffene, aus Kieferknochen von Krokodilen gefertigte Harpunenspitzen mit Widerhaken. Sereno und sein Team fanden sogar vier Harpunen an einer Stelle, wo früher der Grund eines Sees gewesen war. »Wahrscheinlich hatten sie Boote«, meint Sereno. »Aber wir haben keine Ahnung, wie die aussahen oder woraus sie gemacht gewesen sein könnten. Und nachdem wir die Harpunen mitten im See gefunden haben, würde ich vermuten, dass die Fischer wahrscheinlich auch neben ihren Booten herschwammen.«

Serenos Team entdeckte auch schwere Steine mit flachem Boden – sie vermuten, dass dies Gewichte waren, um Buntbarsche und Welse mit Netzen zu fangen. In einem Raum des Labors, in dem die Forscher Gegenstände für Ausstellungen reinigen und vorbereiten, gibt er mir einen solchen ovalen Stein, glatt, braun gesprenkelt und mit einem ordentlichen Gewicht. Die prähistorischen Fischer harpunierten in diesem See beachtliche Mengen Fische und zogen sie an Land, so zum Beispiel den Nilbarsch, ein Süßwassermonstrum, das bis zu 1,80 Meter lang und mehr als 180 Kilogramm schwer werden kann. 14 Obwohl sein Bestand heute abnimmt, stellt dieser Fisch in vielen Teilen Afrikas immer noch eine wichtige Nahrungsquelle dar.

Im Labor des berühmten Paläontologen begegnet mir vieles, was mich überrascht. Sereno geht recht unbekümmert mit den Teströhrchen mit unschätzbar wertvoller DNA von Frühmenschen um, die schon eingetütet auf seinem Schreibtisch stehen (und darauf warten, zur Analyse versandt zu werden) und mit dem halb fertigen Dinosaurier einer neuen Art (der in seinem Schrank darauf wartet, einen Namen zu bekommen). Wahrscheinlich würde man selbst solche Dinge auch herumliegen lassen, wenn man von einer derart ausufernden Neugier beseelt wäre, die einen unablässig davon abhält, sich an die Schreibtischarbeit zu machen.

»Haben Sie schon einmal die Mumie eines Dinosauriers gesehen? Ich liebe Mumien!«, ruft er aus, als er mich einlädt, ein seltenes Dinosaurierfossil anzuschauen, das noch die Struktur der Haut erkennen lässt. Ich fahre mit den Fingern leicht über die Vertiefungen und Falten der Oberfläche. Sofort kommt mir das Wort Dinosaurierleder in den Kopf, und ich platze auch gleich damit heraus. Sereno erlaubt mir, alles im Labor anzufassen – von scharfen Pfeilspitzen und zerbrechlichen Tongefäßen über die Knochenplatte eines Stegosaurus und sogar die Überreste eines T. Rex! Die quasi körperliche Anwesenheit der Geschichte verbunden mit Serenos Enthusiasmus und seinen Erklärungen, die wie ein Wasserfall auf mich niedergehen, ist mehr als faszinierend. Ein kleiner Ausflug in die prähistorische Zeit.

Trotz aller Beweise können wir immer noch nicht sagen, wie die Menschen vom Paläosee Gobero geschwommen sind – das Frustrierende an der Untersuchung über das Verhalten der frühen Menschen am und im Wasser ist, dass sich davon keine Spuren erhalten haben. Was Sereno und sein Team zeigen können, ist, dass die Menschen der grünen Saharazeit ein Leben als Jäger und Sammler führten, wenn nötig auch ins Wasser stiegen und ansonsten am Ufer blieben.

Ich stelle mir gerne vor, dass diese Urmenschen ihre Muschelberge genauso ertauchten wie ich selbst meine Abalonen – durchaus strampelnd und zappelnd und keuchend, aber auch mit Staunen und Freude. Es ist nicht schwer sich vorzustellen, wie das vonstattenging – ich muss nur an meine eigenen Söhne denken, die nie glücklicher sind als bei Ebbe in Bolinas, einem kleinen Ort etwa eine Stunde nördlich von unserem Wohnort Berkeley in Kalifornien. Morgens hängt oft noch Bodennebel über der silbrig glänzenden Lagune. Die Jungen rennen in den matschigen Mulden herum, die das ablaufende Wasser hinterlassen hat, und springen über dunkel-sandige Rinnsale. Sie sausen bis zur Wasserlinie des rastlosen Meeres und zurück. Bewerfen einander mit Seetang. Bauen Sandburgen und erklären sich dabei gegenseitig in allen Details die Miniaturwelt, die sie gerade erschaffen haben, bevor sie dann alles in einer großen Sintflut untergehen lassen. Ich beobachte, wie sie in der Brandung tanzen und dabei ständig erproben, wie sicher sie sich fühlen. Beide lieben das Meer. Felix, der Ältere, kann schon seit längerer Zeit schwimmen, aber Teddy, der Jüngere, traut sich noch nicht recht in ein Wasser, das sich von selbst bewegt.

Vielleicht hat es vor vielen Tausend Jahren auch genauso begonnen. Ein Mädchen sucht Muscheln am Rande des Steinzeitsees. Seit sie denken kann, ist das ihre Aufgabe gewesen. Sie sieht die Muscheln dort, wo das Wasser tiefer wird. Vielleicht sind diese Muscheln größer als die, die sie im flachen Wasser erreichen kann. Eines Tages denkt sie, dass sie vielleicht die Luft anhalten könnte, um dorthin zu gelangen. Stück für Stück wagt sie sich hinein und wieder zurück, wieder hinein und wieder zurück, stößt sich mit den Zehen vom sandigen Boden ab und strampelt wie ein Frosch mit den Beinen, um den Kopf über Wasser zu halten. Wochen vergehen, vielleicht Monate. Strampeln und Keuchen gehen langsam in etwas über, was sie beherrschen kann. Nun weiß sie, wie sie sich problemlos über Wasser halten kann, wie sie dabei ihre Kräfte spart und wie sie dann ihren Körper zusammenklappen und in die Tiefe hinabschießen kann, wenn sie dort eine vielversprechende Muschel entdeckt hat. Sie hat erfolgreich Zugang zu einem neuen Lebensmittelvorrat gewonnen. Nun beginnen andere damit, ihre Schwimm-und-tauch-Methode nachzuahmen.

Solche greifbaren Gegenstände aus längst vergangenen Zeiten ansehen zu können hat etwas Magisches – Schau her! Hier haben sie gelebt, hier, wo wir gerade stehen. Auf einen geschwungenen Armreif aus Nilpferdelfenbein zu zeigen und zu sagen: Das hat sie getragen. Die gezackte Spitze eines Speeres in die Hand zu nehmen und sich vorzustellen, wie diese Jäger im Wasser tauchen, graben und schwimmen. Steinzeitmenschen! Genau wie wir!

Diese Urmenschen waren gewieft genug, um Flusspferden und Krokodilen auszuweichen, die in ihren Gewässern unterwegs waren, und sie hatten Zeit genug, das Schwimmen zu erlernen, weil sie nicht auf der Suche nach Wasser oder Nahrung die Gegend durchstreifen mussten. Der See und der darin enthaltene Reichtum an Tieren ermöglichten es diesen Gesellschaften, jahrtausendelang an seinem Ufer ein gedeihliches Auskommen zu finden. Vielleicht waren auch die Höhlenzeichner an einem anderen Ort während derselben Feuchtperiode in der grünen Zeit der Sahara Schwimmer.

Obwohl die frühesten Beweise für das Schwimmen von Menschen höchstens 9000 Jahre alt sind, wusste man wahrscheinlich schon viel früher, wie man schwimmt. Unser moderner Mensch, Homo sapiens, entwickelte sich ungefähr vor 200000 Jahren aus einer heute ausgestorbenen Menschenart. 15 Es gibt Beweise dafür, dass diese Urmenschen auch schon zur See fuhren. 16 Im Jahr 2008 entdeckte ein Forscherteam in Gesteinsschichtungen in der Nähe von Höhlen an der Südküste von Kreta Handäxte aus Quarzgestein, die Hunderttausende Jahre alt waren. Die groben Werkzeuge waren anders als alle, die man bisher dort gefunden hatte, und erinnerten stark an Gerätschaften, die der Homo erectus benutzt hatte, eine Menschenart, die in Afrika und auf dem europäischen Festland gelebt hatte. Nachdem Kreta schon seit mindestens fünf Millionen Jahren vom Festland getrennt war, mussten diese Vorfahren über das offene Meer auf die Insel gekommen sein. Dies war der Beweis dafür, dass Menschen im Mittelmeer schon Zehntausende Jahre früher zur See fuhren, als die Wissenschaftler bis dahin angenommen hatten. Solche Fahrten über das offene Meer sind aber schwer durchführbar, wenn man nicht schwimmen kann oder zumindest mit dem Wasser vertraut ist.

Sogar die Neandertaler, eine uns nahestehende, aber ausgestorbene Menschenart, könnten zur Nahrungssuche geschwommen sein. Ich frage den britischen Anthropologen Chris Stringer danach, der sich mit den Neandertalern beschäftigt und am National History Museum in London als Experte für den Ursprung des Menschen tätig ist. Die Funde seines Teams in Höhlen auf Gibraltar haben gezeigt, dass die letzten Neandertaler, die noch gleichzeitig mit dem modernen Menschen lebten, sich vor ungefähr 28000 Jahren auch aus dem Meer ernährt haben. 17 An einer Flussmündung sammelten die Neandertaler Muscheln, dort fingen und schlachteten sie Fische, Delfine und Robben, die sie dann in Höhlen schleppten, um sie über dem Feuer zuzubereiten. Wie fingen die Neandertaler diese Fische, Delfine und Robben? Wir wissen nicht, ob oder wie sie schwammen, aber die Verteilung der Gebeine von Meerestieren in den Schichten der Höhlen zeigt, dass die Neandertaler eine lange Tradition des Wissens und der Vertrautheit im Zusammenhang mit den Ressourcen des Meeres besaßen, wie man sie sonst vor dem Auftreten des modernen Menschen kaum nachweisen kann.

Aber wenn mich der Tauchgang nach den Abalonen etwas gelehrt hat, dann wie leicht einem das Schwimmen erscheinen kann – und wie schnell man die Gefahren vergessen kann. Sereno erzählt mir von der Entdeckung in Gobero, die ihn am meisten beeindruckte und die tatsächlich mit Schwimmen und Ertrinken zu tun hat. Es war eine anrührende Grabstelle am Rande des Paläosees, die sein Team die »Steinzeitumarmung« getauft hat: Drei Menschen, eine ungefähr dreißigjährige Frau und zwei etwa fünf und acht Jahre alte Kinder, lagen eng zusammen, die Hände ineinander verflochten.

»Es war eine spektakuläre Grabstelle, bei deren Freilegung drei Schädel zum Vorschein kamen«, erinnert sich Sereno an die heikle Ausgrabung. Das Team ging sehr umsichtig vor, weil die Umstände schwierig waren. Loser Sand verhält sich wie Wasser, immer wenn man ihn gerade weggefegt hat, fließt neuer nach.

Die besondere Stellung der Körper – die Arme ausgestreckt, die Hände ineinander verschränkt – berührte alle Expeditionsteilnehmer. Diese Anordnung ließ eindeutig auf eine zeremonielle Bestattung schließen, so Sereno. Wie eine entnommene Sandprobe später ergab, waren dort Blumen aus der Gattung Celosia (Brandschopf), die zur Familie der Fuchsschwanzgewächse gehört und in vielen verschiedenen Farben vorkommt, abgelegt worden. Unter den Körpern fand man aus versteinertem Holz gefertigte Pfeilspitzen. Sie wurden geröntgt und mit einem Elektronenmikroskop gescannt. Die Analyse ergab, dass sie unbenutzt waren und somit wahrscheinlich aus zeremoniellen Gründen bei den Toten platziert worden waren. Als man die Skelette untersuchte, zeigten Knochen und Zähne keinerlei Anzeichen von Verletzung oder Krankheit.

Sereno fragt mich, ob ich die Menschen von Gobero treffen möchte. Jetzt und hier. Er führt mich in die Ausstellung, wo die Ausgrabung der drei Toten dokumentiert ist, weist mich auf die Pfeilspitzen, die gesunden Zähne, die bewusste Anordnung der Körper hin. Obwohl die vielen handfesten paläontologischen Fundstücke, die mich hier umgeben – die Dinosaurier, die anderen urzeitlichen Wassertiere –, sehr beeindruckend sind, berührt mich die Begegnung mit den menschlichen Skeletten doch noch viel mehr. Ich spüre, dass die Geschichte, die dort mit ihnen begraben wurde, mich am meisten fasziniert. Die »Steinzeitumarmung« ist im Grunde etwas, was jeder von uns kennt: Die drei (eine Mutter und ihre Kinder?) starben zusammen, unerwartet (ertrunken?), und irgendjemand (ein liebender Ehemann und Vater?) nahm sich die Zeit, um ihnen ein aufwendiges Begräbnis zu schenken.

Sereno bestätigt einige meiner Vermutungen. »Wann kann man eine Leiche schon so herrichten? Man muss schließlich die Totenstarre und die Verwesung in der Sonne beachten«, erklärt er. »Es war also ein plötzlicher Tod. In der Nähe des Wassers. Ich vermute, dass die drei im Paläosee Gobero ertrunken sind.«

Es ist die zeitlose Geschichte vom schlimmsten Albtraum aller Eltern. Ich weiß, wie es ist, als Kind am Strand zu spielen und herumzutollen. Und ich weiß, wie es nun als Mutter ist, wenn ich meine zwei jungen Söhne dabei beobachte, wie sie schwimmen lernen und sich im Wasser erproben. Damals wie heute liegen das Schwimmen und das Ertrinken erschreckend nah beieinander. Und das wird auch so bleiben, egal wie gut wir gelernt haben zu schwimmen.

Die Feuchtperioden, unterbrochen von langen Dürreperioden, haben auch dazu geführt, dass die Zeugnisse aus der Vergangenheit bis in unsere Tage überdauert haben und wir sie finden konnten. In der Tragödie des dreifachen Begräbnisses liegt der Anfang von allem, und eine andere ewige Geschichte ist natürlich die von der untergegangenen Welt. Eine periodische Veränderung der Erdumlaufbahn lenkte den afrikanischen Monsunregen weiter nach Norden und ermöglichte die grüne Saharazeit; Gobero ist das einmalige Zeugnis der Menschen, die dort lebten. Die Relikte dieser Menschen haben für uns heute, da Meeresspiegel und Temperaturen höher steigen als je gemessen, eine besondere Aussagekraft.

Vielleicht werden auch wir bald vom Wasser überflutet, und diesmal ist unser eigenes Handeln für den dramatischen Wandel der Erdoberfläche verantwortlich. Im Jahr 2030 soll sich die Zahl derer, die von Hochwassern betroffen sind, verdreifacht haben. 18 In Kalifornien, wo ich lebe, könnte sich der Meeresspiegel bis zum Ende des nächsten Jahrhunderts um fast drei Meter anheben und damit mehr als die Hälfte aller Strände im Golden State mit sich davonspülen. 19 Weltweit könnte der Anstieg des Meeresspiegels Hunderte von Millionen Menschen zu Flüchtlingen machen. 20

2

Du bist ein Landsäugetier

Die meisten Säugetiere besitzen instinktiv die Fähigkeit zu schwimmen, der Mensch aber nicht. 21 Elefanten, Hunde und Katzen sind Schwimmer (wenngleich Letztere nur widerwillig), und sogar Fledermäuse können schwimmen (und zwar ziemlich gut). Menschen und andere große Primaten, wie etwa Schimpansen, müssen es erst lernen. 22 Einige Wissenschaftler vermuten, dies hinge damit zusammen, dass sich die Anatomie der großen Affen eher dahin entwickelte, gut in Bäumen klettern zu können. In den wenigen Experimenten, in denen Wissenschaftler einem Affen das Schwimmen beibringen konnten, zeigte sich, dass die Affen sich eher durch froschartige Fußbewegungen fortbewegten als durch das Paddeln mit den Armen, wie andere Säugetiere es tun.

Paul Sereno erklärt mir, dass wir zwar von den Fischen abstammen, aber nun seien wir »Landtiere, die zu schwimmen versuchen. Wir sind das, was man einen sekundären Schwimmer nennt.«

Doch das ist noch kein Grund, enttäuscht zu sein. Der Paläobiologe Neil Shubin weist darauf hin, dass die Struktur des menschlichen Körpers das Vermächtnis urzeitlicher Fische, Reptilien und anderer Primaten ist. In einer auf seinem Buch Der Fisch in uns basierenden Dokumentation aus dem Jahr 2014 sagt Shubin, man könne »als Paläontologe für Fische auch die menschliche Anatomie sehr gut erklären, weil oft der Blick auf andere Kreaturen der beste Weg ist, um den eigenen Körper zu erklären«. Das Vermächtnis der Fische etwa sind ihre Gräten und unsere Knochen, die beide ihren Ursprung in derselben Gruppe von Zellen haben.

In uns existieren faszinierende Hinweise auf unsere Vergangenheit im Wasser. Und wenn es so ist, dass wir Spuren (man könnte auch sagen: »Geister«) anderer Tiere in unserem Körper bewahren, werden bestimmte Funktionen erhalten oder wiedererweckt, wenn wir untertauchen. Hält man ein zwei Monate altes Baby mit dem Gesicht unter Wasser, dann hält das Baby für mehrere Sekunden die Luft an und verlangsamt seinen Herzschlag, um Sauerstoff zu sparen. 23 Das bedeutet jedoch nicht, dass es sich schwimmend in Sicherheit bringen wird, wenn man es in einen Pool wirft. Wenn die Babys älter werden und sich ihr neurologisches System entwickelt, wird dieser Reflex als Teil einer ganzen Reihe primitiver, urzeitlicher Reflexe wie Saugen oder Greifen immer schwächer.

Doch Menschen sind Nachahmer. Wir lernen durch Beobachtung: alles von Bewegungsmustern bis hin zum Lesen der Emotionen unseres Gegenübers, von der Herstellung von Werkzeugen über Nahrungspräferenzen bis hin zu den Ideen von Fairness, Paarungsverhalten und Sprache. »Der Schlüssel zum Verständnis, wie sich die Menschen entwickelten und warum sie so anders sind als andere Lebewesen, ist die Erkenntnis, dass wir eine kulturelle Spezies sind«, schreibt der Evolutionsbiologe Joseph Henrich, dessen einflussreiche Arbeit sich darum dreht, wie die kulturelle und die genetische Evolution ineinandergreifen. Uns zeichnet ein kumulatives soziales Lernvermögen aus oder, wie Henrich es nennt, die Fähigkeit, eine vielschichtige »kollektive Intelligenz« zu entwickeln. Andere Lebewesen besitzen ebenfalls die Fähigkeit zum sozialen Lernen, die Menschen aber sind einzigartig darin, dies auf einer kumulativen kulturellen Ebene zu tun und so tatsächlich Einfluss auf die genetische Evolution zu nehmen.

Henrich illustriert seine Theorie mittels Fallstudien, die er ironisch »Lost European Explorer Files« nennt: Wenn europäische Entdecker in irgendwelchen neuen, scheinbar unwirtlichen Gegenden strandeten – zum Beispiel in der Arktis oder in Australien –, starben sie ausnahmslos an Hunger, Krankheiten oder weil sie der Umgebung schutzlos ausgesetzt waren, es sei denn, sie hielten sich an die lokale Bevölkerung. Denn die Einheimischen waren robust und gesund, sie wussten sich in den jeweiligen unwirtlichen Gegenden zu behaupten, und das schon seit Jahrtausenden. Gruppen von Menschen kommen zusammen und schaffen einen Wissenspool, wie ihn sich kein einzelner Mensch, sei er noch so klug, binnen eines Menschenlebens erarbeiten könnte. Wie stellt man einen dreizackigen Fischspeer her, woraus macht man ein Feuer, wenn es kein Holz gibt, wie kann man das Gift aus Pflanzen ausschwemmen, um sie genießbar zu machen? Diese Art der kulturellen Evolution geschieht, wie Ur- und Frühgeschichtler nachweisen können, schon seit mindestens 280000 Jahren und hat sich in den letzten 10000 Jahren erheblich beschleunigt.

Eine solche kulturell-genetische Co-Evolution erklärt unter anderem den außergewöhnlichen evolutionären Erfolg unserer Spezies auf diesem Planeten. Einzeln sind wir nicht besonders oder außerordentlich klug. Aber unsere Fähigkeit, über Generationen hinweg einen unendlich wachsenden Informationspool zu erwerben, zu speichern und zu organisieren und weiterzugeben, macht uns klüger als jede Einzelperson oder Gruppe. Die Fähigkeit zu schwimmen und die verschiedenen Weisen, wie wir einander das Schwimmen beibringen, sind Teil dieses kollektiven kulturellen Wissens. Was das Schwimmen angeht, so ist dabei nicht nur wichtig, wie man es macht – also die rein formale Anleitung –, entscheidend sind auch die Geschichten, die wir erzählen und durch die wir die Bedeutung dieses Wissens kommunizieren.

Eine kurze Geschichte von Schwimmhilfen, die uns in den letzten 2000 Jahren eingefallen sind:

~400 v. Chr., Rom: Plutarch beschreibt eine Art Schwimmbrett aus Kork, auf das sich ein vom römischen Feldherrn Camillus ausgesandter Bote legte, um den Tiber zu durchschwimmen, denn die Brücke war von feindlichen Galliern besetzt. 24

14. Jahrhundert, Persien: Die durchsichtige äußere Schicht eines Schildkrötenpanzers dient dazu, die Augen beim Perlentauchen zu schützen. 25

15. Jahrhundert, Italien: Leonardo da Vinci konstruiert einen Sack aus Leder, der mit Luft gefüllt das Atmen unter Wasser ermöglichen soll; er fertigt auch Zeichnungen für Schwimmflossen, einen Schnorchel und andere Auftriebshilfen an. 26

Datum unbekannt, Japan: Die Ama, japanische Apnoetaucherinnen, nutzen eine über eine Umlenkrolle geführte Leine, um sich nach oben zu ziehen, wenn sie beim Schwimmen oder Atmen in Not geraten. 27

18. Jahrhundert, Boston: Benjamin Franklin, Schriftsteller, Staatsmann, Naturwissenschaftler, Erfinder und eine echte Wasserratte, entwirft Flossen in Form ovaler Malerpaletten für die Hände, um im Wasser schneller vorwärtszukommen. 28

1896, irgendwo in Massachusetts: James Emerson lässt eine »Schwimmmaschine« aus Metall patentieren, die einen Schüler über Wasser hält und ihm mit mechanischen Armen und Beinen genau die richtigen Schwimmbewegungen beibringen soll. 29

1908, London: Unter dem Namen »Swimeesy Buoy« werden Zehntausende Schwimmflügel verkauft, die aus dünnem Baumwollstoff genäht und mit Ventilen zum Aufblasen versehen sind. 30

1930, Miami: Ein Schwimmanzug aus dünnen Kiefernholzleisten ist der letzte Schrei, um furchtsame Schwimmerinnen über Wasser zu halten. 31

2017, China: Ein kleiner Tauchscooter mit zwei Propellern, der »WhiteShark Mix«, verspricht jedem Anfänger, er könne »wie ein Champion schwimmen und ein unschlagbarer Star im Wasser werden«.

Manchmal benötigen wir ein wenig Hilfe. Wenn das Gegenstück zur menschlichen Biologie die Kultur ist, liegt unsere Stärke in der Fähigkeit, ein Problem auszumachen und eine Lösung dafür zu finden. Diese obenstehenden Beschreibungen und die Namen der Erfindungen sind für mich eine Art Aquapoesie – der Klang unserer Vorstellungskraft, wenn sie mit der Natur tanzt, um das Unmögliche möglich zu machen.

3

Von Seenomaden lernen

In den Küstenregionen des südostasiatischen Korallendreiecks bekommen wir einen Einblick in den Schwimmunterricht einer untergehenden, vom Wasser bestimmten Gesellschaft. Die besten der frei tauchenden Fischer dort können bis zu 60 Meter tief tauchen und dort unten schwimmen oder auf dem Meeresgrund laufen – Menschen haben in einer solchen Tiefe keinen Auftrieb mehr –, wobei sie, den Speer in der Hand, bis zu zehn Minuten unten bleiben und nach Beute suchen können. 32 Bis zu fünf Stunden am Tag können sie unter Wasser verbringen.

Schon die Jüngsten der Bajau-Seenomaden werden seit Tausenden von Jahren dort, wo heute Malaysia, Indonesien und die Philippinen liegen, noch bevor sie laufen können an ein Leben im Meer gewöhnt. Die Eltern hoffen inständig, dass ihre Kinder mit den schwimmerischen Fähigkeiten gesegnet sein mögen, die sie für ein Leben am Riff brauchen. Selbst zwei- oder dreijährige Kinder können schon völlig problemlos tauchen und paddeln mit kraftvollen Beinschlägen, um bis zu den kleinen Muscheln zu gelangen. Von den Hausbooten der Familien aus bringen die älteren Geschwister den jüngeren bei, wie man schwimmt, wie man sich abstößt und nach Fischen Ausschau hält.

Wie man vor Kurzem festgestellt hat, ist die Milz der Bajau etwa 50 Prozent größer als bei den Menschen auf dem indonesischen Festland. Wenn man taucht, dann zieht sich die Milz zusammen – dies ist ein Reflex aller Säugetiere beim Tauchen – und schüttet ihren Vorrat an sauerstoffhaltigen roten Blutkörperchen in die Blutbahnen des Körpers aus. Die Herzfrequenz verlangsamt sich, die Blutgefäße ziehen sich zusammen und leiten das Blut von den Extremitäten weg zu den größeren Organen. Diese Energiesparmaßnahmen unternimmt der Körper, damit er den verfügbaren Sauerstoff effektiver nutzen kann.

Meeressäuger wie etwa Robben, die lange Zeit unter Wasser sind, haben eine überproportional große Milz verglichen mit Landsäugetieren. Die Robben mit der größten Milz können am tiefsten tauchen – das kann man sich wie einen Reservekanister mit Luft vorstellen. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die übergroße Milz der Bajau nicht durch das Tauchen selbst, sondern durch natürliche Selektion herausgebildet hat: Bajau mit Genen, die eine größere Milz hervorbringen, haben bessere Überlebenschancen und mehr Nachwuchs. Selbst bei Bajau, die noch niemals getaucht sind, finden sich die gleichen Merkmale. Ihre Körper haben sich so entwickelt, dass ihnen das Freitauchen weniger Mühe bereitet.

Während diese besondere Eigenschaft der Bajau ererbt ist, sind andere besondere Fähigkeiten im Wasser erlernt. Vergleichbare frei tauchende Seenomaden wie etwa die auf dem Wasser wohnenden Moken – auch sie leben in Gemeinschaften auf Hausbooten und Pfahlbauten in Gebieten, die heute zu Thailand und Myanmar gehören – besitzen die besondere Fähigkeit, ihre Augen unter Wasser scharf zu stellen. 33 Die Mokenkinder, die von klein auf tauchen, können unter Wasser doppelt so scharf sehen wie wir Landratten. Wo unsereiner nur einen unscharfen Fleck sieht, können diese Menschen ohne die Hilfe von Schwimmbrillen oder Masken problemlos Muscheln oder Seegurken vom Meeresboden aufsammeln.

Die meisten von uns sehen unter Wasser so gut wie gar nichts, weil die Brechungskraft der gekrümmten Hornhaut, die an Land so wunderbar funktioniert, durch das Untertauchen aufgehoben wird. Die Kinder der Seenomaden hingegen können ihre Pupillen unter Wasser so zusammenziehen, dass sie die feinen Details besser erkennen. Zunächst war nicht klar, ob dies eine erlernte oder eine ererbte Fähigkeit ist; wissenschaftliche Forschung hat aber gezeigt, dass ein frühes Training unter Wasser dies bei uns allen möglich machen würde. So konnten auch Kinder, die keine Seenomaden waren, in weniger als einem Dutzend Trainingseinheiten lernen, bestimmte kontrastierende Muster unter Wasser dauerhaft besser zu erkennen.

Das Wasser hat diese Völker aber auch in anderer Hinsicht geformt. Das Leben an solchen Orten erfordert nicht nur die Fähigkeit zu schwimmen, sondern auch ein Verständnis für die Umgebung auf dem Wasser, und diese Kulturen beugen Gefahren vor, um sich zu schützen. Als am 26. Dezember 2004 durch einen außergewöhnlich heftigen Tsunami im Indischen Ozean rund 230000 Menschen an den Küsten Süd- und Südostasiens starben, überlebten die Moken, weil sie die Zeichen im Meer rechtzeitig lasen. 34

Auf den abgelegenen Surin-Inseln vor der Küste Thailands flohen die Bewohner der Mokendörfer in höher gelegene Gebiete, nachdem einer von ihnen festgestellt hatte, dass sich das Wasser zurückzog und der Küstenbereich trockenfiel. Sie warnten alle, denen sie begegneten, und waren längst in Sicherheit, bevor noch die erste Flutwelle eintraf. Das Dorf wurde zerstört, aber alle seine Bewohner waren gerettet. Im Mu-Ko-Surin-Nationalpark waren zwei Dutzend Moken dabei, Schnorcheltouren für Touristen zu leiten, als sie plötzlich feststellten, dass die Strömungen sich stark veränderten. Sie steuerten ihre Boote weg von der Küste in tieferes Wasser und überlebten. Genauso ging es einer Gruppe von Fischern der Moken in den Gewässern von Myanmar. Als sie sahen, wie das Wasser stark um ihre Boote herumkreiselte, fuhren sie sofort weit aufs Meer hinaus. Andere Fischer in der Nähe brachten gerade Tintenfische ein, doch als das Wasser mit ungeheurer Gewalt heranrollte, wurden sie in den Tod gerissen. An einer anderen Stelle in der Region preschten Elefanten in höhere Gebiete hinauf. Die Grillen waren totenstill. Delfine schwammen in tiefere Gewässer.

Niemand dieser Moken hatte je selbst einen Tsunami erlebt, aber die Ältesten der Moken erzählten sich die Legende von den »sieben Riesenwellen«, die alle zwei Generationen kommen würden. Die größte dieser Wellen nannten sie Laboon, die »reinigende Welle«, die sich mit ungeheurer Wut auftürmte, um alles zu verschlingen und zu zerstören.

Die mündliche Tradition der indigenen Völker im pazifischen Nordwesten von Kanada und den USA kennt ähnliche Geschichten von plötzlichen Salzwasserfluten und zahlreichen Ertrunkenen, und sie werden von den japanischen Tsunamiaufzeichnungen, die 1500 Jahre alt sind, bestätigt. Diese Legenden transportieren Wissen. 35 Die Geschichten der Bajau über Menschen, die halb Fisch, halb Mensch sind, und die Erzählungen der Moken über die »sieben Riesenwellen« sind in Wirklichkeit Geschichten über das Leben mit dem Meer. Über Tausende von Jahren diente die mündliche Tradition des Geschichtenerzählens den Menschen dazu, ihre Fertigkeiten weiterzugeben, die zum Leben und Überleben so wichtig waren: Schwimmen, Tauchen, Fischen, Bootfahren – alles das wurde durch genaues Beobachten und detaillierte Kenntnisse über die maritime Umgebung erst möglich.

Diese Geschichten lehren uns auch Ehrfurcht. Bevor die Bajau einen Tauchgang unternehmen, bringen sie den Meergeistern ein Opfer – etwas Speise in einem kleinen Schiff aus Kokosnussschalen, eine in ein Blatt gewickelte Zigarette, ein Räucherstäbchen –, denn die Geister können freundlich oder grausam sein. Sie sind launisch, und mit ihrer Laune steuern sie die schäumende See. Wenn man demütig ist, freundlich zu den Korallen, den Fischen gegenüber respektvoll und nur so viel nimmt, wie man selbst braucht, dann versorgt einen das Meer.

Heute kämpfen die letzten dieser historischen Fischernomaden damit, sich an die verändernde Welt anzupassen, in der sie als Menschen ohne Staatsbürgerschaft und Dokumente und mit nur wenigen Chancen auf Arbeit von vielen Regierungen als Herumtreiber im schlechtesten Sinne betrachtet werden. 36 Und dennoch, selbst wenn die Lebensmöglichkeiten der Bajau und der Moken um sie herum immer mehr wegbrechen – immer weniger von ihnen sind noch in der Lage, sich vom Fischen zu ernähren –, so lehren doch die letzten Reste ihrer Kultur sie weiterhin, wie man schwimmen muss, um zu überleben.

Wir sind keine Amphibien, aber mir gefällt die Idee des Amphibischen. Der Naturforscher Loren Eiseley schrieb, die große Leistung der modernen Wissenschaft sei die Fähigkeit zur Zeitreise – nicht nur durch die konkreten Beobachtungen in der Welt um uns (wenn wir »in den Gesteinsschichten« lesen), sondern auch durch unsere Vorstellung (»Ich sah die treibenden Zellen im Urmeer«). 37 »Das Salz dieser Meere der Vorzeit ist in unserem Blut, es ist der Kalk in unseren Knochen«, schrieb er. »Jedes Mal, wenn wir einen Strand entlanggehen, packt uns ein uraltes Verlangen, sodass wir uns die Schuhe oder Kleider vom Leibe reißen oder zwischen Seetang und ausgebleichtem Holz herumsuchen wie heimatlose Flüchtlinge eines langen Krieges.« Wir sind Produkte körperlicher Evolution, aber wir werden von unserer Interpretation dieser Evolutionsgeschichte angetrieben.

Viele moderne Küstengesellschaften, wie etwa die niederländische, haben das Bewusstsein eines steigenden Meeresspiegels verinnerlicht. Von ihnen kann man lernen, wie eine Schwimmlektion aussehen kann: Damit sie die öffentlichen Schwimmbäder uneingeschränkt nutzen dürfen, müssen alle niederländischen Kinder Unterricht nehmen und eine Bescheinigung darüber erwerben, dass sie fähig sind, in Kleidern und mit Schuhen zu schwimmen. 38

Fasziniert betrachte ich ein Unterwasserfoto mit vollständig bekleideten Fünftklässlern in einem dieser Schwimmkurse. Das ergibt Sinn, denn schließlich tragen sie ja jeden Tag Kleidung, nicht wahr? Wenn das Wasser kommt, werden sie bereit sein. Diese Denkweise, so wird mir klar, passt zu der traditionellen Lebensweise der Seenomaden, wo es ebenfalls darum geht zu lernen, mit dem Wasser zu leben, und nicht, wie wir es von uns fernhalten.

»Das gehört zu unserer Kultur wie das Fahrradfahren«, sagte der niederländische Architekt Rem Koolhaas einmal der New York Times. In den Niederlanden ist alles hinsichtlich Konstruktion und Betrieb auf die Möglichkeit einer Überflutung ausgerichtet. Ein nationales Wassermanagementcenter kontrolliert den täglichen Zufluss und Abfluss von Wasser. Der Bürgermeister von Rotterdam, Ahmed Aboutaleb, erklärte, dass seine Stadt im am stärksten gefährdeten Gebiet des Landes liege. Falls eine Flut kommen sollte, die ihr Regulierungssystem überlasten würde, »sei es vom Fluss oder vom Meer, könnten wir nur etwa 15 Prozent der Menschen evakuieren«, erklärte er. »Wir haben keine Wahl, wir müssen lernen, mit dem Wasser zu leben.«

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