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Vor der Wahrheit

hier erhältlich:

Strafverteidiger Jack Swyteck ist in Florida bekannt als Experte für die schwierigsten Fälle aus dem Todestrakt. Auch Dylan Reeves ist einer von ihnen: eine Siebzehnjährige wird vermisst, und ihre letzten Spuren finden sich in Reeves’ Auto. Doch dann wird Swyteck von der Mutter der Vermissten kontaktiert, die behauptet, ihre Tochter habe sie angerufen. Jack bleiben nun dreißig Tage, um die Vollstreckung des Todesurteils zu verhindern …

"Grippando packt einen von der ersten Seite an."
Harlan Coben

"In einer Karriere mit vielen guten Büchern, zählt "Vor der Wahrheit" zu seinen besten."
Miami Herald

"Packend … "Vor der Wahrheit" führt einem vor Augen was für ein Schriftsteller Grippando ist. Und sichert ihm weiterhin einen Platz in der Spitzenklasse der Justizthriller-Autoren."
Huffington Post


  • Erscheinungstag: 12.06.2017
  • Aus der Serie: Ein Jack Swyteck Roman
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676427
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Tiffany

1. KAPITEL

Willkommen zu Hause, Jack!

Jack Swyteck stand draußen vor dem Freedom Institute und entdeckte den handgeschriebenen Gruß auf einem Post-it, das an der Eingangstür klebte. Es war Montagmorgen, und Jack hatte über das Wochenende seine Büromöbel eingeräumt. Die Fußmatte zu seinen Füßen verkündete eine weniger einladende Nachricht, die jedoch den Humor der Anwälte gut zusammenfasste, die hier arbeiteten. Kommen Sie mit einer richterlichen Anordnung wieder.

Jack schmunzelte, auch wenn es nicht die endgültige Rückkehr war, die seine Ex-Kollegen sich gewünscht hatten.

Mehr als zehn Jahre waren vergangen, seit Jack ausgestiegen war. Doch seine vierjährige Episode im Freedom Institute war sein erster Job nach dem Jurastudium gewesen. Zu jener Zeit war der „Law and Order“-Gouverneur Harry Swyteck – Jacks Vater – auf dem besten Weg gewesen, mehr Hinrichtungsbefehle zu unterzeichnen als irgendein anderer Regierungschef in Floridas Geschichte. Ihr öffentlicher Streit war eine politische Peinlichkeit gewesen. Harry hätte es vielleicht nicht so persönlich genommen, wenn Jack sich nicht mit einer bunt zusammengewürfelten Truppe ehemaliger Hippies zusammengetan hätte, die unter der irrigen Annahme lebten, dass Cannabis die Staatsblume war und die Nationalhymne „Kumbaya“ lautete.

Da gab es Eve, die einzige Frau, die Jack je getroffen hatte, die Pfeife rauchte. Brian, der schwule Surfer. Und Neil Goderich, ihr furchtloser Anführer, ein Genie mit Pferdeschwanz, der Woodstock überlebt hatte. Auf Außenstehende musste Jack wie der bunte Hund in der Gruppe wirken. Aber sie wurden Freunde, und sein Ausstieg hatte daran nichts geändert. Bei der Trennung war es eher um die Form als die Inhalte gegangen. Jack hatte es völlig ausgereicht, den Staat zu zwingen, die angeklagte Tat zweifelsfrei beweisen zu müssen. Einen weiteren schuldigen Mann aus der Todeszelle zu holen brachte ihn nicht unbedingt in die Stimmung, eine Drei-Dollar-Sektflasche zu köpfen und eine Party zu schmeißen. Oder eine Pressemitteilung rauszugeben.

Jack drückte die Tür auf und trat ein.

„Jack is back!“, rief Hannah. Neils Tochter war so jung und idealistisch, wie Jack es gewesen war, als Neil ihn unter seine Fittiche genommen hatte. Es fiel ihm schwer, zu glauben, dass sein Mentor von ihnen gegangen war und jetzt für immer durch die Strawberry Fields wandelte.

„Ich schätze, man könnte sagen, dass ich wieder da bin“, erwiderte Jack. „In gewisser Weise.“

Hannah war einen Kopf kleiner als Jack und ging auf die Zehenspitzen, um ihn fest zu umarmen und ihm einen schnellen Kuss auf die Wange zu geben. Eve und Brian standen direkt hinter ihr, jeder mit einem kleinen Aktenkoffer in der Hand. Jack hätte sein Geld darauf verwettet, dass Brians Cord-Jackett noch immer dasselbe war, das er am Tag von Jacks Abschied getragen hatte. Die Flicken an den Ellenbogen waren vielleicht neu.

„Sorry, dass wir ‚Hi‘ und gleich wieder ‚Bye‘ sagen müssen“, begrüßte ihn Hannah. „Aber Gouverneur Scott hat gestern Abend zwei weitere Hinrichtungsbefehle unterschrieben. Wir sind unterwegs zum FSP, um unseren Mandanten zu treffen.“

Jack erinnerte sich an diese Touren ins Florida State Prison. So hatte er seinen besten Freund kennengelernt, Theo Knight, der einzig wirklich Unschuldige, den Jack in seiner Zeit im Institute je verteidigt hatte. „Gute Fahrt“, wünschte er.

„Willst du mit?“, fragte sie.

„Nein.“

„Sicher?“

Jack hätte beinahe „Todsicher!“ geantwortet, besann sich aber gerade noch. „Ich bin mir sicher.“

„Na gut. Du weißt, wo die Kaffeequelle steht. Achte darauf, dass du abschließt, wenn du gehst. Bei dreien unserer Nachbarn wurde diesen Monat schon eingebrochen.“

„Muss ich eine Alarmanlage einschalten?“

Sie gluckste. „Warst du so lange weg? Wir haben Glück, wenn wir den Schalter drücken und das Licht angeht.“

Er wusste, dass das Geld knapp war; es war einer der Gründe, weshalb er zurückgekommen war.

Sie marschierten in einer Reihe an ihm vorbei und durch die Tür. Dabei sahen sie weniger wie die fähigen Anwälte aus, die sie waren, und eher wie eine Truppe knuffiger Außenseiter, die das für ein Spiel hielten. Es war nicht wirklich notwendig für sie, den ganzen Weg ins Florida State Prison zu fahren; die Anwesenheit dort war ein Überbleibsel aus alten Tagen, als Neil kurz vor den Hinrichtungen Mahnwachen vor dem Gefängnis organisiert hatte. Damals, zu Zeiten eines uralten elektrischen Stuhls, der zu technischen Problemen neigte, was in brennenden Köpfen und verzerrten purpurnen Gesichtern resultierte, zogen sie manchmal hundert oder mehr leidenschaftlich erzürnte Demonstranten an. In letzter Zeit waren es im Grunde immer nur Hannah, Eve und Brian.

Die Tür fiel ins Schloss, und Jack war allein. Er hatte darum gebeten, dass keine Fanfaren zu seiner Rückkehr erschallen sollten, und dank Gouverneur Scott hatten seine alten Freunde dieser Bitte mehr als entsprochen.

Er stellte seinen Aktenkoffer ab und schaute sich um. Das historische Gebäude am Miami River hatte sich kaum verändert. Das Foyer diente gleichzeitig als Lagerraum für alte Fallakten, ein Karton stapelte sich auf den nächsten. Die untersten gaben unter dem Gewicht der abgelehnten Anträge auf Hinrichtungsaufschub bereits nach, ihre Deckel waren zu einem traurigen Lächeln verformt. Der alte Wohnraum war der Empfangsbereich und gleichzeitig Arbeitsplatz der Sekretärin. Das Esszimmer, der Wintergarten und ein Schlafzimmer im Erdgeschoss dienten als Büros für die Anwälte. Die Möbel schrien förmlich „Flohmarkt“ – Stühle, die nicht zueinanderpassten, und Tische, die mit einem Kartendeck unter einem Bein stabilisiert waren. Die Küche mit Originaleinrichtung aus den Sechzigern war nicht nur der Ort, an dem die Anwälte und Angestellten ihre mitgebrachten Sandwiches verspeisten, sie diente auch als primärer (und einziger) Konferenzraum. An der Wand über der Kaffeemaschine hing dasselbe gerahmte Foto von Bobby Kennedy, das einst in Neils Studentenzimmer in Harvard gehangen hatte.

Es machte Jack traurig. Neil war der erste Freund, für den Jack je eine Trauerrede gehalten hatte, und seine Witwe hatte Jack beim Wort genommen, als er sie nach der Beerdigung zur Seite genommen und ihr gesagt hatte: „Wenn es jemals etwas gibt, was ich für dich tun kann …“

„Nun, es gibt da eine Kleinigkeit“, hatte sie erwidert.

Sarahs Mission für Jack hatte darin bestanden, in Neils Fußstapfen zu treten. Jack war nicht interessiert. Er arbeitete erfolgreich als Einzelanwalt. Doch als es eine Frage des Überlebens für das Institute geworden war, hatte er einen Kompromiss geschlossen. Seine Kanzlei hatte er in Coconut Grove gehabt, also nahm er sein Schild „Jack Swyteck, Rechtsanwalt“ und zog in seine alte Wirkstätte und übernahm Neils Büro. Offiziell war er kein Teil des Freedom Institutes, nur ein Untermieter. Doch Jacks monatlicher Scheck würde das Institute davor bewahren, in Konkurs zu gehen.

Sein Handy klingelte. Es war seine Frau.

„Wann kommst du nach Hause?“, fragte Andie.

„Ich bin gerade erst angekommen.“

„Ich habe einen Protein-Shake über meine ganze Waffenreinigungsunterlage verschüttet. Kannst du auf dem Heimweg durch die Innenstadt fahren und mir eine neue kaufen? Johnsons Waffengeschäft ist der einzige Laden, der die Unterlage führt, auf der die Umrisse für alle Teile der Sig Sauer P250 abgebildet sind.“

Jack kicherte.

„Was ist daran so witzig?“

„Ich weiß es nicht. Sollte eine schwangere Frau ihren Mann nicht für gewöhnlich losschicken, um Eiscreme oder Salz-und-Essig-Chips zu besorgen?“

„Mmm. Das klingt lecker.“

„Welches davon?“

„Beides.“

„Okay“, sagte Jack. „Eiscreme, Kartoffelchips und eine Waffenreinigungsunterlage. Sonst noch etwas?“

„Wenn ich hier nur lange genug liege, fällt mir bestimmt noch was ein.“

„Du langweilst dich, oder?“

„Zu Tode“, sagte sie und seufzte.

FBI-Agent Andie Henning war im siebten Monat schwanger und seit vier Tagen temporär von ihrem Dienst im Miami-Außenbüro freigestellt. Ihre erste und zweite Schwangerschaft hatten in einer Fehlgeburt geendet. Diese Krankenhistorie, zusammen mit erhöhtem Blutdruck, hatte ihre Ärztin dazu veranlasst, ihr eine fünftägige Bettruhe zu verordnen.

„Sag mir, dass alles gut werden wird.“

„Alles wird gut werden.“

„Versprichst du es?“

„Ja. Und du wirst eine großartige Mutter sein.“

„Nein, werde ich nicht. Was ist, wenn mein nächster Undercover-Auftrag sechs Monate dauert und ich es nicht einmal zu sehen bekomme, mein kleines …“

„Stopp“, unterbrach Jack sie. „Das FBI wird eine frischgebackene Mutter auf keinen sechsmonatigen Undercover-Einsatz schicken.“

„Nun, das ist ein ganz eigenes Problem, oder nicht? Was, wenn die Jungs im Hauptquartier sich sagen: ‚Oh, Henning spielt gerade Mama‘, und ich nichts anderes mehr tun darf, als Hintergrundchecks junger Single-Frauen durchzuführen, die sich meinen Job angeln wollen?“

„Andie, deswegen hast du zu hohen Blutdruck. Atme, okay?“

Ein weiteres Seufzen knarzte durch die Leitung. „Du hast recht.“

„Geht es dir jetzt besser?“

„Triple Fudge Swirl.“

„Was?“

„Das ist die Eissorte, die ich will.“

Jack schmunzelte. „Triple Fudge, ganz wie du willst.“

Jack arbeitete den ganzen Morgen in der Küche, welches der einzige Raum war, in dem die Klimaanlage kühle Luft ins Haus zu blasen schien. Er arbeitete ohne seine Sekretärin, Bonnie, der er den Tag freigegeben hatte, nachdem sie am Wochenende Überstunden gemacht hatte, um ihm beim Umzug zu helfen. Der alte Kühlschrank stieß ein nervtötendes Brummen aus, das Jack von Zeit zu Zeit mit einem kurzen Tritt gegen die Seite des Kühlschranks verstummen ließ. Die ganze Atmosphäre vermittelte nicht unbedingt den Eindruck einer kompetenten Rechtsvertretung. Jack fragte sich, was seine Mandanten wohl denken würden.

Daran hättest du denken sollen, bevor du eingezogen bist, Dummkopf.

Ein Auto hielt in der Auffahrt. Vermutlich hätte Jack es nicht einmal bemerkt, doch die Reifen kamen schlitternd auf dem knirschenden Kies zum Stehen. Die Wagentür wurde kräftig zugeschlagen, und das Geräusch von Schritten auf dem Gehweg verriet die Eile der Person. Ein drängendes Klopfen an der Tür folgte, das anhielt, bis Jack endlich öffnete. Eine attraktive Blondine in den Vierzigern stand auf der Veranda.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.

In der kurzen Zeit, die sie brauchte, um wieder zu Atem zu kommen, fiel Jack auf, dass ihr Auto ein Mercedes war und ihre Designerjeans und ihre Baumwollbluse, auch wenn sie leger wirkten, vermutlich nicht gerade vom Discounter stammten.

„Ich möchte zu Neil Goderich“, sagte sie.

„Bedauerlicherweise ist Neil letztes Jahr verstorben.“

Die Nachricht schien sie zu irritieren, wenn sie auch nicht direkt traurig wirkte, es zu hören. „Aber hier hat er gearbeitet, richtig?“

„Ja. Vierundzwanzig Jahre lang.“

„Ich muss mit jemandem sprechen, der etwas zu sagen hat. Mr. Goderich war der Anwalt von Dylan Reeves.“

„Wer ist Dylan Reeves?“

„Gouverneur Scott hat letzte Nacht seinen Hinrichtungsbefehl unterschrieben.“

Das passte zu der plötzlichen Massenwanderung von Hannah und der Mannschaft. „Kennen Sie Mr. Reeves?“

„Ja. Ich meine, nein.“ Sie hielt inne, als würde ihr plötzlich bewusst werden, wie unzusammenhängend sie klang. „Um ehrlich zu sein, er wurde verurteilt, meine siebzehnjährige Tochter vergewaltigt und ermordet zu haben.“

Jack wich einen halben Schritt zurück, verständnisvoll, aber vorsichtig. Ein Teil von ihm würde es für immer erstaunlich finden, dass die Angehörigen von Opfern nicht viel häufiger die Scheiße aus den Strafverteidigern rausprügelten.

„Ich bedauere Ihren Verlust sehr.“

„Das brauchen Sie nicht“, sagte sie.

„Tue ich. Aufrichtig.“

„Nein, Sie verstehen nicht. Sashi ist nicht tot.“

Jack glaubte, sich verhört zu haben. „Wie bitte?“

„Meine Tochter lebt.“

„Wo ist sie?“

„Das weiß ich nicht. Aber Sashi lebt. Ich weiß, dass sie lebt. Und ich brauche Sie und Ihre Leute, um mir zu helfen, es zu beweisen, bevor man diesen Mann dafür hinrichtet, sie umgebracht zu haben.“

„Also die Sache ist die …“ Jack unterbrach sich selbst.

„Die Sache ist was?“

Jack hatte sagen wollen, dass er im Grunde gar nicht für das Institute arbeitete, was genau das war, was er Andie erzählt hatte, als er versprochen hatte, dass er nie wieder an einem Fall aus der Todeszelle arbeiten würde. Aber das Versprechen hatte er wohl am Eingang abgeben müssen.

„Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen“, sagte er.

„Debra. Debra Burgette.“

„Kommen Sie rein, Debra. Wir sollten uns unterhalten.“

2. KAPITEL

Jack führte Debra in die Küche und sprach, während sie gingen. „Ich weiß ehrlich nichts über Dylan Reeves’ Fall“, erklärte er. „Aber ich nehme an, dass die Polizei nie eine Leiche gefunden hat, wenn Sie mir erzählen, dass Sashi am Leben ist.“

„Das stimmt“, antwortete Debra. „Als die Staatsanwältin mir sagte, dass man Dylan Reeves des Mordes anklagen würde, war ich offen gestanden ziemlich überrascht. Ich hatte nicht gewusst, dass man das tun kann, bevor ein Opfer gefunden wurde.“

„Es ist schwierig“, sagte Jack, „insbesondere mit all den CSI-Sendungen im Fernsehen. Die Geschworenen wollen objektive Beweise, etwas, was man anfassen kann, und sie wollen kriminaltechnische Experten, die ihnen genau erzählen, wann, wo und wie das Opfer starb. Deshalb gibt es Fälle wie Natalee Holloway, die Highschool-Schülerin aus Alabama, die auf Aruba verschwunden ist. Niemand wurde je angeklagt. Aber ein fehlendes Opfer bedeutet nicht zwangsläufig, dass eine Verurteilung unmöglich ist.“

Jack bot ihr einen Stuhl an und räumte seine Unterlagen vom Tisch. Der Kühlschrank brummte lauter als je zuvor, und Jack brachte ihn mit einem beherzten Tritt zum Schweigen. „Tut mir leid“, sagte er zu Debra.

Ihr Blick wanderte durch den Raum. „Kein Problem. Das ist in etwa das, was ich erwartet habe.“

Jack setzte sich ihr gegenüber. „Ich möchte es nicht unnötig schmerzhaft für Sie machen, aber könnten Sie ganz von vorn anfangen?“

Debra sammelte sich, und der Ausdruck in ihren Augen war einer, den Jack vorher schon gesehen hatte: die Verzweiflung und der Unglauben, die eine Mutter begleiteten, die erzählen musste, was mit ihrem Kind geschehen war.

„Sashi verschwand an einem Freitag. Ich habe sie zur Schule gefahren, wie ich es jeden Tag getan habe. Der Verkehr staute sich viel schlimmer als üblich, wir haben uns keinen Meter bewegt. Sashi hatte Angst, dass sie zu spät kommen würde, also stieg sie vier Blocks von der Schule entfernt aus, um den Rest zu Fuß zu laufen.“ Sie holte tief Luft, bevor sie weitererzählte: „Das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Es war ein schrecklicher Fehler.“

Sie spielte das bekannte tödliche Spiel – sich selbst die Schuld geben.

„Möchten Sie etwas Wasser?“, bot er an.

„Nein, es geht schon.“

„Ist sie je in der Schule angekommen?“

„Nein. Die Schulleitung rief mich am Vormittag an und hinterließ eine Nachricht, dass sie in der ersten Stunde als fehlend eingetragen sei. Leider habe ich die Nachricht erst nach dem Mittagessen abgehört. Ich habe ihr Handy angerufen, aber sie ging nicht ran. Ich bin einige Plätze abgefahren, die zu Fuß von der Schule aus zu erreichen sind. Ich hoffte, dass sie vielleicht auf einen Test nicht vorbereitet gewesen war oder ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte und deshalb die Schule schwänzte. Ich habe sie nirgendwo gefunden. Schulschluss für die oberen Klassen war um drei Uhr, und das war der Moment, an dem ich anfing, ihre Freunde anzurufen. Niemand wusste, wo sie steckte. Was mir noch mehr Angst gemacht hat, war, dass niemand von ihnen sie auch nur in der Schule gesehen hatte – was bedeutete, dass sie nie dort angekommen ist.“

„Hatte Sashi ein eigenes Auto?“

„Nein. Sashi war siebzehn, hatte aber keinen Führerschein, was auch nie ein Problem gewesen ist. Wir wohnen in Cocoplum. Dort gibt es Jogging- und Radwege, die meilenweit reichen.“

„Ich kenne die Gegend. Ich bin früher an der Old Cutler Road gelaufen.“

„Wunderschön und schattig, nicht wahr? Sashi hätte problemlos von der Schule nach Hause gehen können, wenn sie sich eine Stunde Zeit genommen hätte. Sie mochte lange Spaziergänge. Ich habe den ganzen Nachmittag damit zugebracht, ihre Lieblingsplätze abzuklappern: den Coffeeshop, den Park, den Teich unten im Matheson Hammock. Wenn sie wegen irgendwas bekümmert war oder nur ein wenig allein sein wollte, war es völlig normal für sie, einen dieser Orte aufzusuchen und zu tun, was auch immer Teenager stundenlang auf ihrem Handy tun. Als es dunkel wurde, und ich noch immer keine Spur von Sashi hatte, fing ich an, mir wirklich Sorgen zu machen.“

„Haben Sie die Polizei gerufen?“

„Ich habe meinen Mann angerufen. Er war auf dem Weg nach Hause von einer Geschäftsreise. Ich war ziemlich mit den Nerven runter zu dieser Zeit, also sagte er mir, dass ich mich beruhigen solle und dass er sich darum kümmern würde.“

„Dann hat er die Polizei gerufen?“

„Nein. Sashi war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal zwölf Stunden verschwunden. Sie war keine Vierjährige, die sich plötzlich in Luft aufgelöst hatte.“

Jack hätte ihr sagen können, dass man mit siebzehn immer noch ein Kind war, dass die meisten Polizeistationen über Aktionspläne verfügten, die schon nach vier Stunden oder weniger griffen, und dass die Archive des National Center for Missing and Exploited Children – das Zentrum für vermisste und missbrauchte Kinder – angefüllt waren mit tragischen Beispielen von Eltern, die geglaubt hatten, acht Stunden warten zu müssen, zwölf Stunden oder vierundzwanzig Stunden. Doch wie all die anderen dieser Eltern fühlte sie sich vermutlich bereits schuldig genug. „Also, was haben Sie getan?“

„Ich konnte nicht einfach still sitzen, bis mein Mann zu Hause war. Ich habe ein Foto mitgenommen und angefangen, in der Umgebung der Schule von Haus zu Haus zu gehen. Ich habe die Leute gefragt, ob sie Sashi gesehen hätten. Keine Spur. Etwa um acht habe ich Gavin am Haus getroffen. Wir haben noch einmal nach irgendwelchen Hinweisen gesucht, wohin sie gegangen sein könnte. Wir sind erneut die ganze Nachbarschaft abgelaufen und haben herumgefragt, ob irgendjemand sie gesehen hat. Etwa um zehn Uhr sind wir zurückgekommen. Ich ging nach oben und habe ein weiteres Mal ihr Zimmer durchsucht. Ich fand ihr Handy. Sashi hat das Haus niemals ohne ihr Handy verlassen. In diesem Augenblick bekam ich Panik. Zu dem Zeitpunkt waren mehr als zwölf Stunden vergangen. Ich rief die Polizei und habe eine offizielle Vermisstenanzeige aufgegeben. Wir haben Freunde rekrutiert, die herumgefahren sind und gesucht haben. Die ganze Nacht ging das so, aber kein Zeichen von Sashi. Am Morgen hatte die Polizei von Miami-Dade alles aufgefahren, was sie hatten: Streifenwagen, Spürhunde, Hubschrauber. Wir hatten Dutzende Freiwillige, die die Nachbarschaft durchkämmt haben. Die ganze Gemeinde meldete sich. Wir haben überall gesucht.“

„Ich meine mich zu erinnern, das in den Nachrichten gesehen zu haben.“

„Ja, bis sechs Uhr am Samstagmorgen kannten die lokalen Nachrichten kein anderes Thema mehr. Die nächsten vierundzwanzig Stunden ging es nur darum, Sashi zu finden. Vierundzwanzig gottverfluchte Stunden. Dann änderten sich die Schlagzeilen.“

„Was ist geschehen?“

Etwa um drei Uhr morgens am Sonntag hielt die Polizei Dylan Reeves wegen Trunkenheit am Steuer an. Sie durchsuchten sein Auto und fanden ein Höschen auf dem Rücksitz. Sashis DNS war daran. Ebenso wie die von Dylan Reeves.“

„Also hat er Ihre Tochter sexuell missbraucht?“

„Ja. Und dafür sollte er auch im Gefängnis sitzen. Aber er hat sie nicht umgebracht, also verdient er es nicht zu sterben.“

„Woher wissen Sie, dass Sashi am Leben ist?“

Sie zögerte, als würde sie Jacks Reaktion vorausahnen. „Sashi meldet sich bei mir.“

„Wie meinen Sie das, sie meldet sich?“

„Ich meine nicht in irgendeiner Art von Telepathie. Jedes Jahr an Sashis Geburtstag bekomme ich einen Telefonanruf. Dreimal ist das bereits passiert, seit sie verschwunden ist. Der Anruf kommt immer von einer Nummer, die ich nicht kenne. Ich gehe ran, und niemand spricht. Aber ich kann hören, dass jemand in der Leitung ist. ‚Sashi‘, sage ich, ‚bist du das? Sprich mit mir, Schätzchen. Kannst du etwas sagen? Irgendwas? Bitte, meine Kleine. Sprich mit mir.‘“

Jack spürte einen Schauer. „Und der Anrufer sagt nichts?“

Debra schüttelte den Kopf. „Nicht ein Wort. Das geht etwa zwei Minuten so. Dann endet das Gespräch.“

„Wann war der letzte Anruf?“

Debra schaute weg, ihre Augen wurden feucht. „Vor zwei Monaten. Am einundzwanzigsten Juli. Sashi ist zwanzig geworden.“

Jack hätte ihr gern ein Taschentuch angeboten, aber eine Papierserviette von der Küchenanrichte war das Beste, was er auftreiben konnte. „Haben Sie der Polizei davon erzählt?“, fragte er.

„Natürlich“, antwortete sie.

„Haben sie die eingehende Nummer überprüft?“

„Ja. Es ist eines dieser Prepaidhandys, die unmöglich zurückzuverfolgen sind.“

„Wegwerfhandys“, sagte Jack. „Alles prepaid, sodass es keinen Vertrag gibt. Der Albtraum der Strafverfolgung. Drogendealer lieben sie.“

„Glauben Sie, ein Drogendealer hat meine Tochter?“

„Das wollte ich damit nicht sagen“, gab Jack zurück.

„Denn Drogendealer wären eine echte Erleichterung im Gegensatz zu dem, was ich mir vorgestellt habe. Ich denke dauernd an diese armen Mädchen in Cleveland, die jahrelang als Sexsklavinnen festgehalten wurden, im Keller von diesem Monster – wie war noch sein Name?“

„Ariel Castro“, antwortete Jack. Er konnte sich nur daran erinnern, weil es in Miami nicht leicht war, einen Soziopathen zu vergessen, der denselben Nachnamen wie Fidel trug.

„Richtig. Ich versuche nicht daran zu denken, aber nachts liege ich wach und stelle mir einen sadistischen Psychopathen vor, der Sashi erlaubt, mich an ihrem Geburtstag anzurufen, damit sie meine Stimme hört, ihr aber nicht erlaubt zu sprechen.“

Jack hatte solche Monster kennengelernt – mehrere sogar, um ehrlich zu sein, als er ein junger Anwalt im Institute gewesen war –, aber er wollte ihre Ängste nicht noch weiter schüren. „Was glaubt die Polizei?“

„Dass ich das Opfer eines Streichs bin. Eines kranken grausamen Streichs von jemandem, dem bei solchen Sachen einer abgeht und der mich am Geburtstag meiner Tochter anruft. Vielleicht ein Freund von Dylan Reeves. Vielleicht ein Perverser, der besessen von Sashi ist, seit er den Mordprozess im Internet verfolgt hat.“

„Aber sie haben die Möglichkeit ausgeschlossen, dass es jemand ist, der Sashi gegen ihren Willen festhält?“

„Ja.“

„Die Polizei glaubt nicht, dass es irgendeine Chance gibt, dass Sashi noch lebt?“

Debra schüttelte den Kopf. „Tun sie nicht. Wenn es nach der Polizei geht, sitzt ihr Mörder in der Todeszelle, und der Fall ist abgeschlossen. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Außer an Sie.“

„Sie möchten, dass Dylan Reeves’ Anwalt vor Gericht beweist, dass Sashi am Leben ist. Sehe ich das richtig?“

„Ja. Es sei denn, Sie möchten, dass Ihr Mandant durch die Giftspritze stirbt, für einen Mord, der nie geschehen ist.“

Jack nahm sich einen Augenblick. Die Handyanrufe an Sashis Geburtstag könnten sehr gut ein Streich gewesen sein. Die ganze Angelegenheit könnte sich als ein trauriger Fall von unerschöpflicher Hoffnung erweisen, von einer Mutter, die nicht abschließen konnte. Aber während er auf der anderen Seite vom Tisch saß, der Mutter des Opfers gegenüber, in dieser alten Küche mit dem verschrobenen Kühlschrank und dem verblassten Foto von Bobby Kennedy an der Wand – in Neils „Konferenzraum“ –, da konnte Jack nur so antworten, wie sein Mentor es gewollt hätte.

„Ich tue, was ich kann“, sagte er. „Aber die Zeit arbeitet nicht gerade für uns.“

3. KAPITEL

Jack erreichte Hannah auf ihrem Handy und traf sie auf einer Tankstelle am Coral Way.

Das Freedom-Anwaltsteam war vor zwei Stunden aus der Einfahrt gerollt, aber Hannah war nur zehn Minuten entfernt. Das „Neil-Mobil“ – ein verbeulter, rostiger Chevy-Van, den Hannahs Vater gekauft hatte, als Gerald Ford noch Präsident gewesen war – hatte noch vor dem Expressway schlappgemacht.

„Es ist Karma, dass der Wagen den Geist aufgegeben hat und wir noch hier sind“, sagte Hannah. „Das ist ein Riesendurchbruch in dem Fall.“

Sie und Jack standen in der Werkstatt. Neils alter Van stand hoch oben auf der hydraulischen Hebebühne, und der Mechaniker darunter drehte die Schrauben an einem neuen Auspuff fest. Der alte war irgendwo zwischen der Tankstelle und dem Miami River abgefallen.

„Das könnte es sein“, sagte Jack.

Könnte sein? Komm schon. Wir haben die Mutter des Opfers, die sagt, ihre Tochter lebt noch. Ich werde das juristisch recherchieren, aber es muss einen Richter da draußen geben, der erklärt, dass das eine Begründung für einen Aufschub der Hinrichtung ist.“

Jack erinnerte sich an eine Nacht, vor langer Zeit, in der Villa des Gouverneurs, als sein Vater völlig ungerührt von Jacks Beharren gewesen war, dass ein unschuldiger Mann kurz davorstand, hingerichtet zu werden.

„Es ist die Gesamtheit der Beweise, auf die es ankommt“, sagte er. „Ich muss das Prozessmaterial einsehen. Dann werde ich entscheiden.“

Hannah warf einen Blick hinauf zum Neil-Mobil. Sie hatten sämtliche Unterlagen zu dem Fall eingepackt, inklusive der Prozessprotokolle, um es zum Treffen mit ihrem Mandanten mitzunehmen. Die „Gesamtheit der Beweise“ befand sich in diversen Pappkartons hinten im Van.

„Wie lange dauert das mit dem Auspuff noch?“, fragte Hannah den Mechaniker.

„Fast fertig“, antwortete er.

„Das hat er mir vor einer Stunde erzählt“, flüsterte sie.

„Ich kann warten“, sagte Jack.

„Es steht ohnehin nicht alles in den gedruckten Mitschriften, was du wissen musst“, erklärte Hannah. „Die Staatsanwältin hatte gute Kontakte zu den Geschworenen, und sie hat sehr effektive Arbeit geleistet, sie davon zu überzeugen, dass Reeves die letzte Person war, die Sashi Burgette lebendig gesehen hat. Ihre Mutter hat ausgesagt, dass sie Sashi zur Schule gefahren hat, aber Sashi stieg vier Blocks vom Schulgelände entfernt aus und wollte den Rest des Weges zu Fuß gehen. Sie kam dort nie an, und die Verteidigung konnte keinen einzigen Zeugen auftreiben, der Sashi danach noch gesehen hat. Reeves’ Sperma war noch feucht, als die Polizei Sashis Unterwäsche am frühen Sonntagmorgen in seinem Auto fand.“

„Ich nehme an, dass Reeves nicht zu seiner Verteidigung ausgesagt hat.“

„Keine Chance. Sein Anwalt hat davon abgeraten. Es wäre eine Sache gewesen, wenn er in den Zeugenstand gestiegen wäre und abgestritten hätte, dass er Sashi ermordet hat. Aber er wollte auch abstreiten, dass er sie zum Sex genötigt habe. Es gab keine Chance, dass die Geschworenen geglaubt hätten, dass es einvernehmlicher Sex war und keine sexuelle Nötigung. Wenn er wegen der Vergewaltigung log, wären sie mit Sicherheit davon ausgegangen, dass er auch wegen des Mordes lügt. Die beste Strategie war, nicht auszusagen.“

„Habt ihr die Verurteilung wegen sexueller Nötigung in der Berufung angefochten?“

„Nein. Du weißt doch, wie das läuft. Wir versuchen, eine Hinrichtung zu verhindern – nicht, dafür zu sorgen, dass der Mann in den Kongress gewählt wird. Die Beweise für sexuelle Nötigung sind ziemlich stichhaltig.“

„Selbst ohne die Leiche?“, wollte Jack wissen.

„Die Staatsanwältin hat einen Psychiater in den Zeugenstand geholt. Sashi hatte psychische Probleme und eine Aversion gegen physische Intimität jedweder Art. Sie mochte es nicht einmal, wenn ihre eigenen Eltern sie umarmt haben. Schon die Vorstellung, dass sie einvernehmlichen Sex mit einem verurteilten Straftäter und Verlierer wie Dylan Reeves hätte haben können, war etwas, was kein Geschworener geglaubt hätte.“

„Interessant“, meinte Jack. „Ihre Mutter hat mir gegenüber keinerlei psychische Probleme erwähnt.“

„Alles erledigt“, sagte der Mechaniker. Er schlug auf einen Knopf, die hydraulische Bühne zischte, und der Van begann seinen Abstieg.

Eve kam hinter Hannah herüber, die unangezündete Pfeife zwischen die Zähne geklemmt. „Es ist gut, dass du zurück bist, um die Schuldigen zu verteidigen, Jack.“

Jack wusste, dass sie scherzte – in gewisser Weise. „Wäre schön, wenn dieser hier unschuldig wäre. Aber denkt daran: Selbst wenn er es ist, ist das hier eine einmalige Ausnahme für mich.“

„Wissen wir“, sagte Hannah.

Vier Reifen knutschten gleichzeitig den Betonboden, und der Van knallte hörbar auf, als er sich in seiner Federung ausbalancierte. „Sie brauchen neue Stoßdämpfer“, sagte der Mechaniker. „Und einen neuen Satz Reifen.“

„Wir brauchen neue … alles“, entgegnete Hannah. „Heute nur den Auspuff, vielen Dank.“

Der Mechaniker wischte sich die Hände an seinem Overall ab und ging davon, um die Rechnung zu schreiben. Ein anderer Mechaniker fuhr den Van rückwärts aus der Werkstatt, und Eve folgte. Hannah blieb noch einen Augenblick mit Jack zurück.

„Ich will den Punkt nicht zu Tode reiten“, sagte Jack, „aber mein Gespräch mit Debra Burgette ändert nichts an der Abmachung mit dir und deiner Mutter. Ich habe Andie versprochen, dass ich nur ein Büro im Freedom Institute anmiete, um euch finanziell unter die Arme zu greifen.“

„Also … wenn Andie nicht wäre, würdest du wieder im Freedom Institute anfangen?“, fragte Hannah.

„Das habe ich nicht gesagt. Andie würde nie so weit gehen, mir zu sagen, was ich mit meiner Karriere machen soll. Das ist einfach nicht die Phase in meinem Leben, in der ich wieder Mandanten in der Todeszelle vertrete.“

„Ist es wegen des Geldes?“

„Nicht nur. Aber hey, aufs Geld kommt es auch an. Es hat mich viel Zeit gekostet, und endlich habe ich herausgefunden, wie ich als Einzelanwalt anständig leben kann. Und das ist auch gut so. Ich gründe gerade eine Familie. Du hast es selbst gesagt: Das Freedom Institute kann kaum seine Stromrechnung bezahlen.“

„Dad hat mein ganzes Leben lang im Freedom Institute gearbeitet. Aus mir ist was geworden. Smith College. Harvard Law School. Und ein Jahr Einführung in die angewandte Ökologie.“

„Du meinst Ökonomie.“

„Nein. Ökologie. Mom hat darauf bestanden, dass ich nach dem College in einem Kibbuz in Israel arbeite. Ich habe ein Jahr lang Hühner gezüchtet.“

Sie mussten beide lächeln. „Ich habe deinen Vater geliebt, und deine Mom ist eine erstaunliche Frau. Aber das Freedom Institute war ihr Leben, Hannah. Andie und ich sind uns darüber einig. Ich habe lange und hart dafür gearbeitet, eine erfolgreiche Kanzlei aufzubauen, und ich kann das nicht einfach alles aufgeben.“

„Okay. Das respektiere ich. Aber ich muss wissen, wo du und ich in der näheren Zukunft stehen. Bist du bei diesem Fall dabei, oder bist du raus?“

„Lass uns für den Augenblick einfach sagen, dass ich an dem Fall interessiert bin. Aber nur, weil ich der Kerl war, der die Tür aufgemacht hat, als die Mutter des Opfers erzählt hat, es gäbe keine Ermordung.“

„Verstanden, Boss.“

„Gut.“

Hannah ging in Richtung Van. „Komm schon“, sagte sie. „Ich will, dass du dir die Beweise gut ansiehst. Im Interesse der vollkommenen Offenheit: Karton Nummer neun ist vermutlich der ideale Punkt, an dem du anfangen solltest.“

„Was ist in Karton neun?“

Hannahs Brillengläser verdunkelten sich, als sie aus der Werkstatt heraus und ins Sonnenlicht trat. „Das Geständnis deines unschuldigen Mandanten“, sagte sie.

4. KAPITEL

Natürlich lag Karton Nummer neun des Mordprozesses Der Staat Florida gegen Dylan Reeves am Boden der Pyramide aus Kartons und Koffern vergraben, die sich hinten im Neil-Mobil aufstapelte. Der Tag war heiß und schwül geworden, typisch für den September, was ihn zu Jacks unbeliebtestem Monat in Südflorida machte. Während der Rest des Landes knackige Herbsttage und kühle Nächte genoss, befand sich Miami auf dem Gipfel der Hurrikan-Saison sowie dem täglichen Ansturm tropischer Wellen von klebriger Luft. Jacks Hemd war schweißdurchtränkt, als er damit fertig war, den Van zu ent- und gleich wieder zu beladen. Er trug den Beweismittel-Karton zu seinem Auto, und Hannah fuhr zurück ins Freedom Institute. Jack drehte die Klimaanlage auf, und der kalte Luftzug vom Armaturenbrett fühlte sich großartig an. Die Erleichterung war jedoch von kurzer Dauer. Das Büro glich einem Ofen.

„In die Küche“, sagte Jack. „Da drin ist es kühler.“

„Eigentlich nicht“, sagte Hannah.

„Sieh zu – und lerne.“

Er stellte den Karton auf den Küchentisch, öffnete den Kühlschrank und aalte sich in der kühlen Luft. „Ahhh.“

Hannah warf ihm einen Blick gespielter Missbilligung zu. „Mit Sicherheit hat dir nicht mein Vater diesen energieverschwenderischen Trick beigebracht.“

„Nein“, sagte Jack. „Ehrlich gesagt, war das der einzige Verstoß, den er der Todesstrafe für würdig hielt.“

Hannah fuhr ihren Laptop hoch und legte die DVD aus Karton Nummer neun ein. „Das Morddezernat der Miami-Dade Police hat Reeves sieben Stunden lang verhört“, sagte sie. „Alles davon wurde auf Video aufgenommen. Dieser dreiminütige Ausschnitt stammt ganz vom Ende. Es war mit Abstand der stärkste Beweis, der in dem Prozess eingebracht wurde.“

Jack zog sich einen Stuhl heran. Hannah rief das Video auf und drückte Wiedergabe. Der Name des Gerichtsprozesses und die Nummer des Beweisstücks erschienen auf dem Monitor. Das Bild flackerte, und das Video folgte. Es war das gewohnte Bild: ein fensterloser Raum. Grelles Licht aus Leuchtstoffröhren. Ein Verdächtiger, der auf einer Seite eines rechteckigen Tischs saß. Ein erfahrener Detective, der auf der anderen Seite saß. Ein weiterer Detective, der stand, die Handflächen auf dem Tisch, die Körpersprache ein wenig einschüchternder als die seines Partners. Jack vermutete, dass er der „böse Bulle“ in diesem Duo war.

Hannah drückte Pause und fror das Bild auf dem Bildschirm ein. „Achte auf die Zeit: zehn Uhr vierzehn morgens. Dylan ist einen Meter zweiundachtzig groß und wiegt neunzig Kilo. Sein Blutalkohol überschritt die erlaubte Grenze um das Dreifache, als die Polizei ihn angehalten hat.“

„Also ist er sieben Stunden später juristisch gesehen immer noch betrunken.“

„Eindeutig“, sagte Hannah. Sie drückte wieder auf Wiedergabe und drehte die Lautstärke hoch. „Hör zu.“

Jack konzentrierte sich auf das Bild ebenso wie auf den Ton. Reeves’ Blutalkoholspiegel mochte weit über der erlaubten Grenze liegen, aber der Kerl sah eher verkatert als betrunken aus. Seine Haare waren völlig zerzaust. Er brauchte eine Rasur. Und es brauchte weit mehr Energie, als er aufbringen konnte, um das Kinn von der Brust zu heben. Er sank auf seinem Holzstuhl zusammen, und seine Körpersprache schrie geradezu: „Ich will einfach nur ins Bett.“ Er blinzelte langsam, und es brauchte eine verbale Ermahnung des Detectives, damit er die Augen wieder öffnete.

„Dylan“, sagte der Detective. „Dylan Reeves.“

„Hm?“

„Hast du Hunger?“

„Yeah.“

„Corrigan hier will ins Drive-in. Willst du was? Wie wär’s mit ein paar Pfannkuchen?“

„Okay.“

„Etwas Orangensaft? Frisch gepresst?“

„Klar.“

„Kommt sofort, Junge. Alles, was wir tun müssen, ist, die Sache hier zu Ende zu bringen, und wir können alle einen Happen frühstücken. Wie klingt das?“

„Gut.“

Der Detective beugte sich vor und sah Reeves in die Augen. „Hast du Sashi Burgette etwas angetan? Du kannst es uns sagen.“

„Nein.“

„Ist schon okay. Es wird dir besser gehen, wenn du uns die Wahrheit sagst.“

„Ich hab ihr nichts getan.“

Der Detective schüttelte den Kopf. „Ich möchte dir glauben, Dylan. Möchte ich wirklich. Aber ich weiß, dass du mich anlügst.“

„Ich habe niemandem irgendetwas getan.“

„Ein siebzehnjähriges Mädchen lässt nicht einfach den Schlüpfer auf dem Rücksitz deines Autos fallen und verschwindet dann. Puff.“

„Ich wusste nicht, dass sie siebzehn war.“

„Ich bin mir sicher, dass du das nicht wusstest. Niemand sagt, dass es deine Schuld ist. Nichts von alldem ist deine Schuld. Wir müssen nur wissen, was passiert ist. Sag mir, was mit Sashi passiert ist.“

„Zum hundertsten Mal, ich hab sie mitgenommen, und wir hatten Sex.“

„Sie war noch Jungfrau. Eine siebzehnjährige Jungfrau.“

Reeves setzte sich auf. Seine Schultern begannen zu beben. Dann rollte sein Kopf nach hinten, und sein ganzer Körper zitterte. Er fiel beinahe von seinem Stuhl, konnte sich aber wieder aufrichten.

Er lachte.

„Was ist so witzig?“, fragte der Detective.

Reeves lachte weiter. Die Detectives schauten schweigend zu, aber Reeves verlor jegliche Kontrolle.

„Denkst du, das ist ein Witz, Junge?“

Reeves versuchte, sich zusammenzureißen, aus dem Gelächter wurde ein Pfeifen, und eine Minute später konnte er wieder atmen. Sein Vernehmungsbeamter starrte ihn von der anderen Seite des Tisches aus an, aber Reeves hielt seinem Blick stand. Mit einem Mal wirkte er nüchtern oder zumindest aufmerksam.

„Eine Jungfrau, hm?“, fragte Reeves.

„Ganz genau. Siebzehn Jahre alt.“

Er nickte langsam, und auch wenn die Kamera nicht so stand, dass sie eine Nahaufnahme einfangen konnte, kam seine Selbstgefälligkeit im Video deutlich rüber. „Glauben Sie, Gott wird mir vergeben?“, fragte er. Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.

Der Detective antwortete mit tiefer, ernster Stimme: „Er wird, wenn du ihn darum bittest. Aber du musst ihn bitten, Junge.“

Reeves sank auf seinem Stuhl zusammen. Die Worte des Polizisten und die geschickte Art, wie er sie angebracht hatte, hatten eine sichtbare Wirkung. Reeves’ Selbstgefälligkeit versiegte langsam.

„Soviel ich weiß, war dein Daddy ein Priester. Stimmt das, Dylan?“

Der Fangschuss. Es war, als wäre gerade ein kalter Windstoß durch das Befragungszimmer geweht, spürbar selbst, als Jack das Video ansah. Eindeutig hatte Reeves dem erfahrenen Detective gerade die Lücke geboten, auf die er gewartet hatte, die Chance, den Trumpf auszuspielen, den er seit sieben Stunden zurückhielt.

„‚Bekenne einer dem anderen seine Sünden und betet füreinander, daß ihr gesund werdet.‘ Du kennst die Stelle?“

Reeves schloss die Augen, antwortete aber nicht.

Der Detective ließ ihn noch eine weitere Minute schmoren und fuhr dann in demselben predigenden Ton fort: „Musst du gesund werden, Dylan?“

Die Frage hing einige Sekunden in der Luft, und Reeves schien in der Stille zu schrumpfen.

„Du musst es“, sagte der Detective sanft. „Du brauchst Vergebung. Ist es nicht so, Junge?“

Reeves regte sich nicht. Dreißig Sekunden verstrichen. Dann, endlich, langsam, aber gut erkennbar, senkte er das Kinn, hob es und senkte es erneut.

Ein Nicken.

Das Video endete. Hannah drückte auf Stopp, und der Bildschirm wurde schwarz.

Jack hatte so gebannt zugeschaut, dass er beinahe buchstäblich vornüber vom Stuhl kippte. Er lehnte sich zurück und atmete tief durch.

„Was denkst du?“, fragte Hannah.

Jack antwortete nicht sofort. Er schaute irgendwo auf einen Punkt vor sich, bevor sein Blick wieder zu Hannah zurückwanderte.

„Ich denke, dass jeder von uns Vergebung braucht“, sagte er dann.

5. KAPITEL

Jack verließ das Freedom Institute gegen sechs und fuhr nach Hause. Sein erster Halt war Johnsons Waffengeschäft in der Innenstadt, wo er Andies Waffenreinigungsunterlage kaufte. Sein nächster Stopp sollte der Supermarkt werden, wo er Kartoffelchips und Eiscreme besorgen wollte. Ein Anruf von Debra Burgette lenkte ihn ab.

„Können Sie mich im Travelodge an der U. S. 1 treffen? Das ist genau gegenüber der Universität von Miami.“

Jack war schon eine Million Mal daran vorbeigefahren, hatte aber noch nie dort angehalten. „Jetzt sofort?“

„Ja. Es ist wichtig.“

„Worum geht es?“

„Kommen Sie einfach. Sie müssen sich etwas ansehen.“

Jack hatte den ganzen Nachmittag damit zugebracht, die Gerichtsprotokolle von Der Staat gegen Dylan Reeves zu lesen, und hatte eine Menge Fragen an Debra. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er das zuerst mit Andie hätte besprechen können, doch in Debras Stimme lag Dringlichkeit; und war ein Hinrichtungsbefehl erst einmal unterschrieben, gab es so etwas wie „zu schnell“ nicht mehr, selbst wenn der Hinrichtungstermin noch dreißig Tage entfernt lag.

„Ich kann in zwanzig Minuten dort sein“, sagte er.

Er schaffte es in zehn. Debra erwartete ihn in der Lobby. „Wollen Sie einen Kaffee trinken und reden?“, fragte Jack.

„Nein“, antwortete sie und nahm seinen Arm. „Folgen Sie mir.“

Ihre Stimme hatte denselben drängenden Ton, den Jack am Telefon herausgehört hatte, doch der Ausdruck in ihren Augen war nicht besorgt. Er grenzte an Begeisterung. Sie führte ihn einen langen Gang im Erdgeschoss entlang, vorbei am Geschäftszentrum und an etlichen Konferenzräumen. Sie hielten vor einer Doppeltür, die geschlossen war. Es war der Eingang zu „Festsaal B“.

„Ich habe den ganzen Tag daran gearbeitet“, sagte sie, während sie die Türen aufzog.

Jack trat ein und blieb wie angewurzelt stehen. Der Raum war klein für einen „Festsaal“, eher für ein Treffen des Rotarier-Clubs geeignet als etwa einen Hochzeitsempfang. Statt der üblichen runden Esstische mit weißen Tischtüchern hatte Debra ein Dutzend rechteckiger Klapptische aufgestellt. Flugblätter, Handzettel und Poster lagen darauf ausgebreitet, jedes davon mit einer gelben Schleife der Hoffnung versehen. Jack nahm einen der Handzettel auf. Es war nicht das Foto, das er kurz zuvor in den Gerichtsakten gesehen hatte, aber es war dasselbe hübsche siebzehnjährige Mädchen mit der makellosen Haut und den geheimnisvollen dunklen Augen. Die gleiche Drei-Wort-Botschaft stand auf den Flugblättern, den Postern und dem Banner, das an der Wand hinter den Tischen hing: FINDET SASHI BURGETTE.

„Dort hinten stellen wir die Laptops auf“, sagte Debra und zeigte an die Stelle. „Freiwillige Helfer können die sozialen Medien managen und Massen-E-Mails verschicken – dieser ganze Cyberkram. Der Tisch dort hinten neben der Tür mit der Geldkassette ist für Leute, die etwas zum ‚Findet Sashi‘-Belohnungsfonds beisteuern möchten. Und auf diesen Tischen hinten an der Wand können wir Kaffee und Snacks verteilen. Bagels und so etwas am Morgen. Sandwich-Häppchen am Nachmittag. Wenn die Leute schon so freundlich sind, ihre Zeit zu opfern, ist das Mindeste, was wir tun können, sie mit Essen zu versorgen.“

Jack war sprachlos. Natürlich verspürte er Mitleid mit einer Frau, die ihre Tochter verloren hatte, doch er konnte seine Besorgnis nicht verbergen.

„Debra, war das alles Ihre Idee?“

„Nicht ganz. Ich habe Ihnen zu danken.“

„Mir?“

„Ja, Ihnen. Drei Jahre lang wollte mir niemand helfen, Jack. Die Polizei nicht, meine Kirchengemeinde nicht, nicht einmal mein Mann. Exmann. Gavin und ich sind inzwischen geschieden. Es gibt einfach so vieles, was man bedenken muss.“

„Debra, kommt irgendjemand her?“

„Ja natürlich. Ich habe wenigstens hundert Leuten eine E-Mail geschrieben. Ich hatte gehofft, dass hier schon reger Betrieb herrscht, wenn Sie eintreffen. Aber der Verkehr ist furchtbar um diese Tageszeit. Ich bin mir aber sicher, dass sie schon unterwegs sind. Sie werden kommen. Es liegt am Verkehr.“

Jack erwähnte nicht, dass sein Trip aus der Innenstadt nur halb so lange gedauert hatte, wie er vermutet hatte.

„Ich habe auch die Lokalredaktionen eingeladen“, sagte Debra.

„Kommen sie?“

„Ja.“

„Haben sie gesagt, dass sie kommen werden?“

„Nun, nein. Aber ich habe eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen. Ich bin mir sicher, dass sie kommen. Verdammter Verkehr.“

Sie standen schweigend da – unangenehmes Schweigen. Dann wurden die Türen des Festsaals geöffnet.

„Ah, sehen Sie! Sie sind hier“, sagte Debra. Sie eilte zur Tür. Jack blieb stehen, wo er war. Eine Frau, etwa halb so alt wie Debra, trat ein. Debra nahm sie an die Hand und führte sie direkt zu Jack. Sie war eine jüngere Version von Debra, sie hatte das gleiche rotblonde Haar, die gleichen blauen Augen und hohen Wangenknochen.

„Dies ist meine Tochter Aquinnah“, erklärte Debra.

Aquinnah schüttelte Jack die Hand und lächelte höflich, doch ihr Gesichtsausdruck zeigte eine Spur von Beschämung. „Sehr nett, Sie kennenzulernen.“

„Aquinnah macht gerade ihr medizinisches Vorstudium an der Barry University.“

„Beeindruckend“, sagte Jack.

„Geht so“, entgegnete Aquinnah.

„Sei nicht so bescheiden“, sagte Debra.

„Beeindruckend wird es sein, wenn ich in Organische Chemie bestehe.“

Debra lächelte verlegen, als wüsste sie nicht, was sie mit der Bemerkung anfangen sollte. „Hast du irgendwelche Helfer mitgebracht?“

„Nein, Mom. Nur mich.“

„Nun, das ist ein Anfang. Mal schauen. Wieso setzt du dich nicht dort drüben hin, an den Schleifen-Tisch? Etwa zwanzig habe ich schon gebunden, aber sie brauchen alle Sicherheitsnadeln, damit die Leute sie sich ans Revers stecken können.“

„Kein Ding“, sagte Aquinnah. Sie ging los und suchte kurz Jacks Blick, als sie hinter ihrer Mutter vorbeiging. Sie schien sich für ihre Mutter zu schämen.

„Wie alt ist Aquinnah?“, fragte Jack.

„Zwanzig. Genau wie Sashi.“

Jack warf erneut einen Blick auf Sashis Foto auf dem Handzettel. Aquinnah war ganz und gar nicht unattraktiv, aber Sashi war eindeutig die Hübschere von beiden, selbst ohne Lächeln.

„Sie sehen sich gar nicht ähnlich. Sind sie zweieiige Zwillinge?“

„Nein, nein. Sashi ist adoptiert. Habe ich das nicht erwähnt?“

„Nein. Haben Sie nicht.“

„Nicht dass es wichtig wäre. Ich liebe meine Mädchen beide. Absolut gleich. Wir haben Sashi kurz vor ihrem vierzehnten Geburtstag adoptiert und ihren jüngeren Bruder Alexander, als er zwei war. Beinahe drei. Sie kommen aus Tschetschenien. Gavin wollte einen Jungen, und wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre die Adoption auch genauso gelaufen. Aber wie könnte irgendjemand Bruder und Schwester trennen? Ich konnte es zumindest nicht.“

Debra verstummte. Die Energie, die sie ausgestrahlt hatte, seit sie Jack in der Lobby empfangen hatte, war mit einem Mal wie weggeblasen.

„Alles in Ordnung?“, fragte Jack.

„Komisch“, sagte sie. „Ich hatte immer das Gefühl gehabt, etwas Gutes getan zu haben, indem ich Sashi adoptiert habe. Wissen Sie, in ihrem Land werfen sie die Kinder aus dem Pflegesystem, wenn sie sechzehn werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre sie als Prostituierte oder Drogensüchtige geendet. Wir gaben ihr ein …“ Sie schluckte schwer. „Ein besseres Leben.“

Debras Hände begannen zu zittern. Jack wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen. „Sie haben das Richtige getan.“

„Ja“, sagte sie und kämpfte mit einem Schniefen gegen die Tränen an. „Es war das Richtige. Und dieses Mal wird alles gut werden. Ich weiß es. Und ich bin Ihnen so dankbar, Jack. So, so dankbar.“

„Debra, ich …“

Sie kam einen Schritt näher, drückte seine Hand und küsste ihn auf die Wange. „Vielen Dank.“

Sie trat wieder zurück, und Jack atmete tief durch. Ihre Blicke trafen sich einen Augenblick, und Jack entdeckte eine Spur Dankbarkeit. Doch der Großteil war Verzweiflung.

„Gern geschehen“, war alles, was er sagen konnte.

6. KAPITEL

Jack war auf halbem Weg nach Hause und stand mit einer Tüte Chips und einer Packung Triple Fudge Swirl an der Kasse, als Andie ihn anrief.

„Honey, Dr. Starkey will, dass ich sie im Krankenhaus aufsuche.“

Jack packte sein Handy fester, ließ aber alles andere fallen, inklusive seines Portemonnaies, als er zum Ausgang rannte. Die automatischen Türen glitten auseinander, als er hindurchlief.

„Sir, Ihre Brieftasche“, rief der junge Mann, der die Tüten packte.

Jack machte eine schnelle Kehrtwende, doch plötzlich glitten die Türen zu, und er krachte gegen das Glas. Seine Stirn bekam die Hauptwucht des Zusammenstoßes ab. „Au, Scheiße!“

„Das wird ’ne Beule geben“, sagte der Einpacker.

Jack überprüfte, ob er blutete, fand jedoch nichts. Er dankte dem Mann für die Brieftasche und Einkäufe und rannte zu seinem Auto. Andie war noch immer in der Leitung.

„Was war das für ein Geräusch?“, fragte sie.

„Nichts. Kommt das Baby?“

„Nein, es geht um meinen Blutdruck. Er ist zu hoch.“

Jack sprang auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. „Ich hol dich ab.“

„Der Krankenwagen ist unterwegs.“

„Krankenwagen?“

„Dr. Starkey meint, es wäre nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wir treffen uns in der Notaufnahme.“

„Okay. Ich komme direkt dorthin.“

Jack brauchte vierzig Minuten, um das Krankenhaus zu erreichen, dank eines Unfalls auf dem Dolphin Expressway. Die Eiscreme war ein Totalschaden, also warf er sie in den Müllbehälter vor dem Eingang zur Notaufnahme und wischte sich die Hände an der Hose ab, während er durch die automatischen Türen in den Warteraum eilte. Er war zum Bersten gefüllt. Der einzig verfügbare Sitz war der neben einer alten Frau, die einen Plastikeimer festhielt, der nach Kotze stank. Ein tätowierter Biker, der schwere Schürfwunden von einem Motorradunfall auf seinen breiten Armen hatte, lag über drei Sitzplätze gestreckt da, aber niemand schien geneigt zu sein, ihn dazu zu bringen, die Bank zu teilen. Jack sah keine Spur von Andie, aber es ergab nur Sinn, dass man einer schwangeren Frau Vorrang gab, die sich ihre Zeit damit vertrieb, ihre halb automatische Pistole zu reinigen, selbst wenn sie nicht mit dem Krankenwagen gebracht worden wäre. Jack huschte an dem Chaos vorbei und spazierte direkt zum Tresen der Aufnahme.

„Ich will zu meiner Frau. Andrea Henning. Sie ist sehr schwanger und kam mit einem Krankenwagen.“

„Was ist Ihnen denn zugestoßen?“, fragte die Krankenschwester.

„Nichts. Ich versuche, meine Frau zu finden.“

„Sie sehen aus, als hätten sie eine große purpurne Mango auf der Stirn kleben.“

„Ich habe mir den Kopf gestoßen.“

„Wann?“

„Vor etwa einer Stunde.“

„Nun, da sind Sie hier richtig. Wir sind auf Kopftraumata spezialisiert.“

„Ich versuche nur, meine Frau zu finden. Es geht hier nicht um mich.“

„Jetzt schon. Setzen Sie sich in den Rollstuhl.“

„Nein, Sie verstehen nicht, ich …“

„Es ist Vorschrift. Wenn Sie ohnmächtig werden und auf den Boden fallen, verliere ich meinen Job. Also setzen Sie sich in den Rollstuhl, legen Sie etwas Eis auf das Ding, und ich bringe Sie zu Ihrer Frau. Oder gehen Sie zurück in den Warteraum, und sitzen sie es neben der Frau mit dem Eimer voll Erbrochenem aus, bis Sie drankommen. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.“

Jack ließ sich im Rollstuhl nieder, und die Schwester schob ihn.

„Kluge Entscheidung. Übrigens, Ihre Frau ist eine der schönsten schwangeren Frauen, die ich je gesehen habe.“

„Danke schön. Und sie ist vermutlich die einzige, deren Ehemann in einem Rollstuhl endet.“

„Nein, Sir“, entgegnete sie kichernd. „Bei Weitem nicht.“

Sie machten einen kurzen Stopp am Schwesternzimmer und betraten die Notaufnahme durch die mit Luftdruck betriebenen Türen. Jack rollte hinüber zu dem Bett an Station Nummer drei und schaute unter dem Eispack hervor, das er sich an die Stirn hielt. Andie lag auf einer Trage. Sie war an einen Tropf angeschlossen und an ein Blutdruck-Armband, wirkte aber deutlich besorgter um Jack.

„Mir geht es gut“, sagte er, was alles war, was sie hören musste. Es war, als wäre der emotionale Damm gebrochen. Die Trauer um zwei bisherige Fehlgeburten, der Stress einer problematischen Schwangerschaft, einer Woche Bettruhe und der Krankenwagenfahrt ins Krankenhaus – alles davon fand sein Ventil in Gelächter. Unkontrollierbarem Lachen. Wenn sie noch lauter gelacht hätte, hätte sie einen Katheter gebraucht.

Die Ärztin ging dazwischen. „Sir, ich kann den Blutdruck der Patientin nicht unter Kontrolle bekommen, wenn sie nicht aufhören kann zu kichern. Sie müssen draußen warten.“

Jack konnte nur vermuten, dass er sogar noch lächerlicher aussah, als er sich fühlte. „Ich warte im Gang“, sagte er und rollte hinaus.

Etwa um zehn entschied Andies Ärztin, dass sie aufgenommen werden sollte, um die Nacht über „zur Beobachtung“ dazubleiben. Jack wollte den Grund dafür wissen. Die Ärztin erklärte es ihm. Ihm gefiel die Antwort ganz und gar nicht. Er ließ den Rollstuhl zurück und ging hinauf in Zimmer 311, um einen Augenblick mit Andie allein zu sein.

„Hi“, sagte er, als er eintrat.

Andie war wach und lag halb aufrecht in dem verstellbaren Bett. „Hey, Pechvogel“, sagte sie mit einem warmen Lächeln.

Es war ein Einzelzimmer, und auch wenn die Tür offen stand, war in den Gängen draußen die Ruhe der Nacht eingekehrt. Das weiche Licht gab Andies Haaren einen blauschwarzen Schimmer. Der Besuch in der Notaufnahme hatte ihr einen Teil des Funkelns in ihren Augen genommen, doch die Oberschwester hatte vollkommen recht gehabt: Sie war wunderschön. Jack beugte sich über das Seitengitter am Bett und gab ihr einen Kuss. Erst da bemerkte er, dass zwei Herz-Monitore auf der anderen Seite des Betts standen. Das machte ihn glücklich und beunruhigte ihn gleichzeitig.

„Alles sieht gut aus mit dem Baby“, sagte sie.

„Habe ich gehört.“

„Was hast du sonst noch gehört?“

„Dass sie es schließlich geschafft haben, dein Gackern zu stoppen.“

Sie lächelte, doch nur kurz, dann erlosch es wieder. „Ernsthaft. Hat Dr. Starkey den erhöhten Proteinspiegel erwähnt?“

„Hat sie.“ Und noch mehr. Jack war in den Kreuzverhör-Modus gewechselt, um an Details zu kommen. Eine Präeklampsie konnte Komplikationen beim Fötus verursachen: ein niedriges Geburtsgewicht, Frühgeburt und, ja, Mr. Swyteck, sogar eine Fehlgeburt. Sie kann die Nieren der Mutter schädigen, die Leber und das Gehirn. Wenn eine Präeklampsie schließlich Krämpfe verursacht, nennt man diese Erkrankung Eklampsie. Jack brauchte gar nicht zu fragen: Er wusste, dass Eklampsie tödlich für die Mutter enden konnte.

Andie griff über das Gitter und nahm seine Hand. „Jack, ich bin mir sicher, dir geht das Schlimmste durch den Kopf.“

„Nein, tut es nicht.“

„Das muss es aber. Lass uns die Sache nicht totschweigen. Deine Mutter ist an Eklampsie gestorben. Aber nur weil ich eine Präeklampsie habe, bedeutet das nicht, dass sie sich zu einer Eklampsie auswachsen wird.“

„Du hast recht.“

„Und selbst wenn mein Zustand sich verschlechtern sollte, ist Dr. Starkey bereits zur Stelle.“

„Da hast du auch recht.“

„Die Medizin hat sich entscheidend weiterentwickelt, seit du ein Baby warst und deine Mutter eine Eklampsie bekam.“

„Du hast vollkommen recht.“

„Hörst du auf zu sagen, dass ich recht habe?“

„Sorry.“ Er atmete tief durch. „Wie sieht der nächste Schritt aus?“

„Sie machen die nächsten vierundzwanzig Stunden ein paar Urintests, um zu bestimmen, wie akut mein Zustand ist. Dann wissen wir mehr.“

„Du könntest also nur leicht erkrankt sein?“

„Möglich. Sie testen meine Leber und die Nieren. Sie gehen sicher, dass die Plazenta tut, was sie tun sollte. Die gute Nachricht ist, dass das alles vorbei ist, sobald das Baby kommt.“

„Das ist eine gute Nachricht“, sagte Jack.

„Also, spar dir den traurigen Hundeblick, okay? Ich will nicht, dass der Countdown für etwas, was der glücklichste Tag unseres Lebens sein sollte, zu einer Mitleidsparty wird.“

„Einverstanden.“

„Oh, und ich denke nicht, dass wir deinem Vater davon erzählen sollten. Findest du nicht auch?“

Es war ohnehin die Swyteck-Art, über solche Dinge zu schweigen. Noch nie hatten Jack und sein Vater sich auch nur an den Rand eines Gesprächs darüber gewagt, wie es für ihn gewesen sein mochte, seinen neugeborenen Sohn aus dem Krankenhaus mit nach Hause zu nehmen. Allein.

„Sehe ich auch so“, sagte Jack. „Er und Agnes sind ohnehin bis nach dem Columbus Day und dem Woolly Worm Festival in North Carolina.“

„Und dasselbe gilt für deine Großmutter. Sie hat schon drei Kerzen am Tag angezündet und zur heiligen Anna gebetet, dass wir ein gesundes Baby bekommen, bevor ich auf einen Teststreifen gepinkelt habe.“

„Abuela braucht ganz eindeutig nichts davon zu erfahren.“

„Oh, und vielleicht verschweigen wir es besser auch vor …“

„Liebling, wir behalten das einfach für uns. Klingt das nach einem Plan?“

Sie nickte und lächelte schwach. Sie verstummte, und Jack verspürte nicht das Bedürfnis, sie zum Sprechen zu zwingen.

„Ich bin wirklich müde“, sagte sie.

„Das überrascht mich nicht.“

„Ich werde bald einschlafen.“

Jack schaute sich in dem Zimmer um. Der Lehnstuhl in der Ecke sah einigermaßen bequem aus. „Ich bleibe hier, bis du es tust.“

„Das wäre schön“, sagte sie.

„Ich liebe dich“, flüsterte er, doch ihre Augen waren bereits zugefallen. „Und ich werde hier sein, wenn du aufwachst.“

Jack spürte ein seltsames Vibrieren in seiner Tasche. Er blinzelte, und nur langsam wurde ihm bewusst, dass er noch immer in Andies Krankenzimmer saß. Er war in dem Stuhl eingeschlafen. Er zog sein Handy aus der Tasche. Es war fünf Uhr zwanzig, und Hannah rief aus dem Freedom Institute an. Andie schlief noch, also ging er auf den Flur hinaus.

„Guten Morgen, Boss“, sagte Hannah.

Jack massierte sich die Beule auf der Stirn. „Weißt du, wie viel Uhr es ist?“

„Tut mir leid, aber wir haben die ganze Nacht an Dylan Reeves’ Eilantrag für einen Aufschub der Hinrichtung gearbeitet. Wir wollen ihn um Punkt neun Uhr einreichen. Willst du ihn erst lesen?“

Auf der Schwesternstation fand gerade der Schichtwechsel statt. Jack ging den Flur entlang, bis es etwas ruhiger wurde. „Klar. Schick mir die aktuelle Version per E-Mail.“

„Okay. Ich habe allerdings eine Frage an dich. Bei unserem letzten Gespräch meintest du, dass wir uns auf verfahrenstechnische Probleme konzentrieren und das sogenannte Geständnis anfechten sollten. Du meintest, wir sollten das Argument herunterspielen, dass Sashi noch am Leben ist.“

„Das habe ich.“

„Nun, hast du heute schon die Miami Tribune gelesen?“

„Nein. Du?“

„Ich habe einen Google Alert für Dylan Reeves gesetzt. In ihrer Onlineausgabe ist gerade ein Artikel erschienen. Du wirst auch zitiert.“

„Was?“

„Ich hab’s hier vor mir. ‚Anwalt behauptet, Todeskandidat steht vor Hinrichtung für Mord, der nie geschehen ist.‘“

„Ich habe mit niemandem gesprochen“, sagte Jack. „Bist du sicher, dass die mich meinen?“

„Ja. Ich lese es dir vor. Bla, bla, bla. Hier steht’s. Der achtundzwanzigjährige Dylan Reeves streitet jegliche Beteiligung am Tod und Verschwinden von Sashi Burgette ab, seit er für ihren vorsätzlichen Mord zum Tode verurteilt wurde und auf seine Hinrichtung durch die Giftspritze wartet. Sein Verteidiger, der in Miami ansässige Anwalt Jack Swyteck, geht nun noch einen Schritt weiter. ‚Die Verteidigung hat entscheidende neue Beweise gefunden, die darauf hindeuten, dass Sashi Burgette noch am Leben ist‘, erklärte Swyteck in einer Pressemitteilung.

„Ich hab keine Pressemitteilung rausgegeben. Du?“

„Nein, Jack. Das würde ich nie ohne deine Zustimmung tun.“

„Aber wer …?“, begann er, verstummte jedoch.

„Ich schätze, da gibt es nicht viele Kandidaten, oder?“

Jack rief sich sein Gespräch mit Debra wieder ins Gedächtnis, das sie im „Findet Sashi“-Hauptquartier geführt hatten, und ihre Äußerung, dass sie die Nachrichtensender angerufen hatte. „So unerfreulich es auch sein mag, ich werde ein ernstes Wörtchen mit Sashis Mutter reden müssen.“

7. KAPITEL

Jack rief Debra Burgette an. Sie ging nicht ran. Entweder wusste sie, dass er wütend war, und ging ihm aus dem Weg, oder sie lag noch im Bett, wie die restlichen Einwohner Miamis. Er fuhr nach Hause, um zu duschen und sich umzuziehen.

Die Sonne stieg aus dem Atlantik, während er auf dem Rickenbacker Causeway nach Key Biscayne fuhr. Ursprünglich hatte Andie sich gesträubt, in seine „Junggesellenbude“ zu ziehen, aber schließlich hatte sie nachgegeben. Jack hatte ein echtes Schnäppchen gemietet. Ein Grundstück direkt am Wasser, eines der originalen „Mackle Häuser“, die vor allem für Veteranen des Zweiten Weltkriegs erbaut worden waren, die tapfer genug waren, an einem Ort zu leben, der seinerzeit wenig mehr als ein moskitoverseuchter Sumpf gewesen war. Das Haus war 1955 für zwölftausend Dollar verkauft worden, und sollte es Jack gelingen, im Lotto zu gewinnen, bevor sein Mietvertrag auslief, könnten er und Andie es für knapp sieben Millionen kaufen. Andernfalls konnten sie das Haus noch weitere zwei Jahre genießen. Es war im Grunde nichts weiter als ein Schuhkarton aus Beton mit zwei Wohnräumen, aber es hatte ein Dock. Dutzende von Jacks Freunden bettelten darum, dort ihr Boot liegen zu haben. Nur einem davon erfüllte er diesen Wunsch.

Theo Knight war Jacks bester Freund, Barkeeper, Therapeut, Vertrauter und manchmal Ermittler. Er war außerdem ein ehemaliger Mandant, ein ehemaliges Gangmitglied, das mit Leichtigkeit tot in den Straßen von Overtown oder Liberty City hätte enden können. Stattdessen war er in der Todeszelle gelandet, für einen Mord, den er nicht begangen hatte. Jack hatte ihm buchstäblich das Leben gerettet. Mit der Schadenersatzsumme vom Staat eröffnete Theo seine eigene Kneipe – und taufte sie Sparky’s. Ein Wortspiel und doppelter Mittelfinger an „Old Sparkey“, wie der Spitzname des elektrischen Stuhls lautet, dem er hatte entkommen können. Sparky’s hatte sich gut genug geschlagen, um ihm eine zweite Bar zu ermöglichen – und sogar ein Fischerboot. Theo spritzte gerade seine Ausrüstung im Hinterhof ab, als Jack in seine Auffahrt einbog.

„Hab sechs wunderschöne Delfine geschnappt“, sagte Theo.

Jack hatte Spaß am Fischefangen, aber es war eine sehr lange Zeit her, seit er das letzte Mal die ganze Nacht draußen geblieben war, um ein halbes Dutzend Fische mitzubringen. „Wow“, sagte er.

„Du siehst scheiße aus. Ist Andie endlich zur Vernunft gekommen und hat dich letzte Nacht rausgeworfen?“

„Nein. Sie ist ins Krankenhaus gefahren.“

Theo ließ den Schlauch fallen, und Jack erzählte ihm alles. Sie brauchten beide einen Kaffee, also verlegten sie das Gespräch ins Haus. Theo war keine große Hilfe, wenn es um medizinische Fragen rund um eine Schwangerschaft ging. Er lernte jedoch ziemlich schnell, was Debra Burgette anbelangte.

„Klingt, als wäre die Frau völlig im Arsch.“

Jack fühlte sich nicht ganz wohl mit der Diagnose. „Sie hat eine Menge durchgemacht.“

„Sie ist völlig im Arsch.“

„Also meinst du nicht, dass ich mich da reinziehen lassen sollte?“

„Du solltest, falls es die geringste Chance gibt, dass dieser Dylan Reeves unschuldig ist. Vergiss dabei nur nicht, dass die Alte völlig irre ist.“

„Sie ist nicht irre.“

„Das hast du über deine erste Frau auch gesagt.“

Da hatte er recht.

Theo schenkte sich noch mehr Kaffee ein. „Lass mich den Fischgeruch abduschen, dann können wir los und mit ihr sprechen. Dann sag ich dir, was ich wirklich denke.“

„Es ist ziemlich offensichtlich, was du wirklich denkst.“

„Vielleicht ändere ich meine Meinung.“

„Vielleicht lernen Schweine fliegen.“

„Vielleicht hat der kranke Hurensohn, der Sashi Burgette wirklich hat verschwinden lassen, schon ein Auge auf ein anderes Mädchen geworfen.“

Jack richtete sich auf. „Das ist nicht witzig.“

„Ist auch nichts witzig an einem Unschuldigen in der Todeszelle.“

Jack hielt Theos Blick über seine Kaffeetasse hinweg stand. Für einen Augenblick blickte er in die Augen jenes Teenagers, den er durch seine Arbeit im Freedom Institute kennengelernt hatte, Floridas jüngsten Insassen des Todestraktes.

„In Ordnung“, sagte er. „Du kannst im Gästezimmer duschen. Dann besuchen wir Debra.“

Sie fuhren nach Süden, dem Berufsverkehr entgegen, in Richtung Cocoplum, einer von Floridas schicken Gemeinden – direkt am Meer. Es war ein flotter Ritt durch Coconut Grove, bis sie den Cartagena Circle erreichten, einen viel befahrenen Kreisverkehr, die Coral-Gable-Version des Verkehrsirrsinns, der den Arc de Triomphe umkreiste. Die Autos strömten aus mehreren Richtungen ein, so gut wie niemand verstand die Vorfahrtsregeln, und selbst die, die es taten, waren zu beschäftigt damit, Nachrichten ins Handy zu tippen, um eine Kollision zu vermeiden. Glücklicherweise war nicht Samstagmorgen, wenn der Circle – der Treffpunkt für Hunderte Wochenendjogger und Radfahrer – sich in den weltgrößten Tummelplatz für schwabbelnde Fettklumpen verwandelte, die nun wirklich nicht dafür geschaffen waren, hautenge Klamotten zu tragen.

„Fahr linksrum“, sagte Theo.

„Was glaubst du, wo wir sind? London?“

Jack fuhr den Kreis gegen den Uhrzeigersinn, im Schatten der ausladenden Banyanbäume, und verließ ihn bei den beiden Königspalmen, die die bewachte Torzufahrt zur Cocoplum-Gemeinde markierten. Ein Sicherheitsmann überprüfte die Besucher und ließ sie passieren. Die Adresse der Burgettes war in Jacks Navi eingegeben, das sie an einer mediterranen Villa nach der nächsten vorbeilotste. Jack hielt an, als die mechanische Stimme verkündete: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“ Es war ein pinkfarbenes dreistöckiges Gebäude mit Bogenfenstern, Rundziegeln auf dem Dach und einem Springbrunnen im Vorgarten. Eine sauber gestutzte Hecke mit purpurnen Kokospflaumen säumte die u-förmige Auffahrt, die leer war – keine Spur von Debras Mercedes. Jack parkte an der Straße. Er und Theo stiegen die Stufen zur Fronttür hinauf, klingelten und warteten. Keine Antwort.

„Nun, das war Zeitverschwendung“, sagte Jack.

„Warte. Hast du das gehört?“

„Was gehört?“

„Im Haus. Schreie.“

„Was …?“

„Pscht! Da, schon wieder. ‚Da steht ein Schwarzer vor der Tür, da steht ein Schwarzer vor der Tür!‘

„Kein Kommentar“, entgegnete Jack, als er die Stufen wieder hinunterging. Der Nachbar der Burgettes war gerade auf dem Gehweg, wo er seine Morgenzeitung einsammelte, also marschierte Jack hinüber und entfachte ein Gespräch. Theo folgte ihm.

„Entschuldigen Sie. Ist das die Adresse der Burgettes?“

Der Mann blieb stehen und musterte Jack. Auch Theo unterzog er einem kritischen Blick – zweimal. „Wer fragt?“

Jack stellte sich vor, ebenso wie Theo – „Mein Assistent“ –, und reichte dem Mann seine Visitenkarte. Er war ein kahl werdender, übergewichtiger Mann, der sein Alter dadurch verriet, dass er Jacks Karte so weit weg wie möglich hielt, um sie lesen zu können.

„Sind Sie mit dem ehemaligen Gouverneur Harry Swyteck verwandt?“

„Er ist mein Vater.“

Er gab Jack die Karte zurück. „Konnte den Kerl nie leiden. Tut mir leid.“

„Nun, so ist das in der Politik.“

„Wenigstens hat er nicht Ihr Todesurteil unterschrieben“, fügte Theo hinzu.

Jack ließ den Spruch unkommentiert und konzentrierte sich auf den Nachbarn. „Debra Burgette hat mich gebeten, einen neuen Anlauf in der Suche nach ihrer verschwundenen Tochter zu unternehmen.“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Arme Frau. Gestern hat sie mir einen Stapel ‚Findet Sashi‘-Handzettel gegeben, um sie zu verteilen. Wie lange ist das jetzt her? Drei Jahre? Eine lange Zeit, um etwas nicht akzeptieren zu wollen.“

„Kannten Sie Sashi?“

„Eigentlich nicht. Das andere Mädchen – Aquinnah –, die kenne ich seit ihrer Geburt. Sashi kam viel später. Adoptiert. Hübsches Mädchen. Wirklich hübsch. Aber kein einfaches Kind, um es kennenzulernen.“

„Wegen der Sprachbarriere?“

„Das dachte ich zunächst auch. Sie und ihr kleiner Bruder stammten aus Russland.“

„Tschetschenien“, sagte Jack.

„Stimmt. Aber nein, es waren nicht die Sprachprobleme. Debra steckte diese Kinder in eine Privatschule. Englisch-Sonderkurse, das ganze Programm. Alexander ist ein nettes Kind. Ein wirklich guter Junge. Aber Sashi? Sie …“

„Was?“

„Bei der war eine Schraube locker. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll.“

„Was genau meinen Sie?“, wollte Jack wissen.

„Nun, wenn Sie die Nachrichten rund um Sashis Verschwinden verfolgt haben, dann könnten Sie denken, es wäre das erste Mal gewesen, dass ihre Eltern keine Ahnung hatten, wo sie abgeblieben ist.“

„Sie sagen, das sei nicht der Fall?“

„Nein. Nicht einmal annähernd. Sashi muss wenigstens ein halbes Dutzend Mal von zu Hause weggelaufen sein, bevor sie endgültig wegblieb. Vielleicht noch öfter.“

„Davon wusste ich nichts“, sagte Jack.

„Oh ja. Es gab eine Phase, da klopften Debra und Gavin jede zweite Woche an meine Tür. Fragten, ob ich Sashi gesehen hätte. Sie hatten da ein echtes Problem.“

„Klingt so, ja.“

„Ja. Traurige Sache. Wie auch immer, ich muss an die Arbeit. Schön, mit Ihnen gesprochen zu haben, Ihnen beiden. Viel Glück mit was auch immer Debra von Ihnen erwartet.“ Er drehte sich um und ging davon.

Jack und Theo machten sich auf den Weg zu ihrem Auto.

„Das war interessant“, sagte Theo.

„Ja. Auch interessant, dass ich die gesamte Mitschrift von Dylan Reeves’ Gerichtsverhandlung gelesen habe. Ich habe kein einziges Wort über diese anderen Male gefunden, die Sashi von zu Hause weggelaufen ist.“

„Vielleicht hat der Richter es nicht aufnehmen lassen.“

„Normalerweise würde ich da zustimmen. Es hat den Beigeschmack, als wolle man das Opfer schlecht dastehen lassen. Aber das hier ist ein Mordfall, und die Leiche wurde nie gefunden.“

„Welchen Unterschied macht das?“

„Die Staatsanwaltschaft muss beweisen, dass ein Mord begangen wurde. Einige Geschworene würden möglicherweise nicht den Eindruck gewinnen, dass Sashi tot ist, wenn sie wüssten, dass sie vorher ein halbes Dutzend Mal von zu Hause weggerannt ist.“

„Also sagst du, dass Sashi noch am Leben sein könnte.“

„Ich sage …“

Theo beendete den Gedanken für ihn: „Vielleicht ist es gar nicht so irre, was die irre Debra so erzählt. Das ist es, was du sagst.“

Jack dachte darüber nach. „Ja“, sagte er schließlich. „Ich schätze, das sage ich.“

8. KAPITEL

Das Frühstück war mit Abstand das Beste an dem Motel, aber Debra war nicht hungrig.

„Nur Kaffee“, sagte sie der Kellnerin. Sie saß allein in ihrer Ecke. Ein großer zylinderförmiger Schaukasten für Kuchen drehte hinter ihr seine Waren wieder und wieder an ihr vorbei.

„Das Büfett sieht heute Morgen wirklich appetitlich aus“, sagte die Kellnerin, während sie Debras Tasse füllte.

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