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Verrat in Paris

hier erhältlich:

All die Jahre hat Beryl Tavistock eine Lüge geglaubt: Ihre Eltern, die für den MI 6 arbeiteten, sind nicht bei einem Einsatz ums Leben gekommen. Stattdessen soll ihr Vater, zuvor als Doppelagent entlarvt, ihre Mutter erschossen haben, bevor er sich selbst richtete. Beryl beginnt in Paris eine gefährliche Suche nach der Wahrheit. Zusammen mit dem undurchsichtigen Amerikaner Richard Wolf verstrickt sie sich dabei immer tiefer in einem Netz aus Intrigen und längst überholt geglaubten Feindbildern.

"Tess Gerritsen ist eine der Besten in ihrem Metier"

USA Today


  • Erscheinungstag: 10.03.2016
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959679602
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tess Gerritsen

Verrat in Paris

Roman

Aus dem Amerikanischen von Katrin Hahn

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann


Copyright © 2016 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
In their footsteps

Copyright © 1994 by Terri Gerritsen
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto


Published by arrangement with
HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: Thinkstock

Autorenfoto: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95967-960-2

www.harpercollins.de


eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

 

 

 

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

PROLOG

Paris, 1973

Sie war spät dran. Das sah Madeline ganz und gar nicht ähnlich.

Bernard Tavistock bestellte sich noch einen Café au Lait und ließ sich Zeit, ihn zu trinken. Hin und wieder blickte er sich suchend in dem Straßencafé um, ob er seine Frau irgendwo entdeckte, doch er sah nur die für das linke Seine-Ufer typische Szene: Touristen und Einheimische, die in sommerlicher Farbenpracht an Tischen mit rot karierten Tischdecken saßen. Aber kein Anzeichen von seiner Frau mit ihren rabenschwarzen Haaren. Sie war jetzt schon eine halbe Stunde zu spät, das konnte unmöglich an einer Verkehrsbehinderung liegen. Er merkte, wie er unruhig mit dem Fuß auf den Boden tippte. Er begann, sich Sorgen zu machen. In all den Jahren ihrer Ehe war Madeline nie zu spät zu einer Verabredung gekommen, und wenn, dann handelte es sich nur um ein paar Minuten. Andere Männer stöhnten vielleicht und verdrehten die Augen vor männlicher Verzweiflung über ihre stets unpünktlichen Ehefrauen, aber Bernard konnte sich darüber nicht beklagen. Er war mit einer pünktlichen Frau gesegnet. Einer schönen Frau. Einer Frau, die ihn selbst nach fünfzehn Ehejahren noch überraschte, faszinierte, reizte.

Also wo zum Teufel war sie nur?

Er blickte flüchtig den Boulevard Saint-Germain auf und ab. Seine Besorgnis wuchs, und aus einer vagen, fußwippenden Unruhe wurde unverhohlene Angst. War Madeline in einen Verkehrsunfall verwickelt worden? Gab es eine Warnung in letzter Minute von ihrem Kontakt-mann beim französischen Geheimdienst, Claude Daumier? In den letzten zwei Wochen hatten sich die Ereignisse überschlagen. Aufgrund der Gerüchte über ein Leck bei der NATO-Spionageabwehr waren alle misstrauisch geworden. Jeder überlegte, wer von ihnen wohl der Maulwurf war. Madeline wartete seit Tagen auf Anweisungen vom MI6 in London. Vielleicht war in letzter Minute eine Nachricht durchgekommen.

Trotzdem, sie hätte ihm Bescheid geben sollen.

Er stand auf, um auf das Telefon zuzugehen, da entdeckte er, wie ihm der Kellner Mario zuwinkte. Der junge Mann schlängelte sich schnell an den voll besetzten Tischen vorbei.

„Monsieur Tavistock, ich habe eine Nachricht für Sie. Von Madame.“

Bernard stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Wo ist sie?“

„Sie sagte, sie kann nicht zum Mittagessen kommen. Sie möchte, dass Sie sie abholen.“

„Wo?“

„Diese Adresse.“ Der Kellner reichte ihm ein verschmiertes Stück Papier, auf das zuvor offenbar etwas Tomatensuppe gekleckert worden war. Mario hatte die Adresse mit Bleistift gekritzelt: 66, Rue Myrha, Nr. 5.

Bernard runzelte die Stirn. „Ist das nicht in Pigalle? Was in aller Welt macht sie in dem Viertel?“

Mario zuckte auf typisch gallische Art mit den Schultern, wobei er zusätzlich den Kopf zur Seite neigte und die Augenbrauen hochzog. „Ich weiß es nicht. Sie nennt mir die Adresse, ich schreibe sie auf.“

„Gut, danke.“ Bernard griff in seine Brieftasche und reichte dem Mann genügend Francs, um seine beiden Cafés au Lait und ein ausreichendes Trinkgeld zu zahlen.

„Merci“, sagte der Kellner strahlend. „Sie kommen zum Abendessen zurück, Monsieur Tavistock?“

„Wenn ich meine Frau aufstöbern kann“, antwortete Bernard missmutig und lief mit großen Schritten zu seinem Mercedes.

Er fuhr zum Place Pigalle und schimpfte den ganzen Weg über vor sich hin. Was in aller Welt wohl in Madeline gefahren war, dass sie dort hinging? Das Viertel war für eine Frau alles andere als sicher, und für einen Mann im Grunde auch nicht. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass seine liebe Madeline recht gut auf sich aufpassen konnte. Sie war eine weit bessere Schützin als er, und die Pistole, die sie in ihrer Handtasche trug, war immer geladen, eine Vorsichtsmaßnahme, auf der er seit dieser Beinahe-Katastrophe in Berlin bestand. Es war erschreckend, dass man seinen eigenen Leuten heutzutage nicht mehr trauen konnte. Egal, wo man auch hinsah, ob beim MI6, bei der NATO oder beim französischen Geheimdienst, überall saßen Stümper. Und dann fand sich Madeline in diesem Haus mit den Ostdeutschen eingeschlossen und es gab niemanden, der sie da herausholen konnte. Wäre ich nicht rechtzeitig eingetroffen, seufzte er still.

Nein, er wollte diesen Horror nicht noch einmal durchleben.

Sie hatte ihre Lektion gelernt und trug seitdem eine geladene Pistole als dauerhaftes Accessoire zu ihrem Outfit.

Er bog in die Rue Duperré ein und schüttelte angewidert den Kopf. Das Bild dieses Viertels war geprägt von verfallenden Häusern, schäbigen, kitschig-bunten Nachtclubs und leicht bekleideten Frauen, die an jeder Straßenecke warteten. Sie sahen seinen Mercedes und winkten ihm begierig zu. Oder auch verzweifelt. „Pig Alleys“ nannten die Amis diese Gegend für gewöhnlich, Schweinegassen. Hier kam her, wer das schnelle Vergnügen suchte, den Spaß, den man sich nur mit schlechtem Gewissen gönnte. Madeline, dachte er, bist du völlig verrückt geworden? Was hat dich nur hierhergeführt?

Er bog in die Rue de Poissonniers, dann in die Rue Myrha und parkte vor Nummer 66. Ungläubig starrte er an dem dreistöckigen Haus hoch und stutzte über den abgeplatzten Putz und die durchhängenden Balkone. Erwartete sie wirklich, dass er sie aus dieser Feuerfalle holte? Er schloss den Mercedes ab. Ich habe Glück, wenn das Auto noch da ist, wenn ich zurückkehre, dachte er, bevor er widerwillig in das Gebäude trat.

Im Inneren wirkte das Haus bewohnt. Kinderspielzeug lag im Treppenhaus herum und irgendwo dudelte ein Radio. Bernard stieg die Treppe hinauf. Der Geruch nach brutzelnden Zwiebeln und Zigarettenqualm waberte durchs Treppenhaus. Appartement Nummer drei und vier befanden sich im zweiten Stock, also stieg er einen weiteren schmalen Treppenaufgang hinauf in den obersten Stock. Nummer fünf lag direkt unter dem Dach. Eine niedrige Tür lag versteckt im Dachvorsprung.

Er klopfte. Keine Antwort.

„Madeline?“, rief er. „Also wirklich, das ist jetzt nicht irgendein Scherz, oder?“

Er bekam immer noch keine Antwort.

Er versuchte die Tür zu öffnen, sie war nicht verschlossen, und Bernard schob sich in die Dachwohnung. Jalousien verdunkelten die Fenster und warfen schmale Streifen Licht in den halbdunklen Raum. An einer Wand stand ein großes Messingbett, die Laken waren noch zerwühlt von einem früheren Bewohner. Auf einem Nachttisch standen zwei schmutzige Gläser, eine leere Champagnerflasche und verschiedene Plastikgegenstände, die man taktvoll als „eheliche Hilfsmittel“ bezeichnen könnte. Das ganze Zimmer roch nach Alkohol, nach schwitzender Leidenschaft und brünstigen Körpern.

Bernards verblüffter Blick wanderte allmählich zum Fußende des Messingbettes und zu einem hochhackigen Frauenschuh, der wie weggeworfen auf dem Boden lag. Stirnrunzelnd trat er einen Schritt darauf zu und sah, dass der Schuh in einer glänzenden roten Lache lag. Als er an der anderen Seite des Bettes ankam, blieb er stehen und erstarrte. Er konnte nicht glauben, was er sah.

Seine Frau lag auf dem Boden, die tiefschwarzen Haare fächerförmig um sie herum ausgebreitet wie die Schwingen eines Raben. Ihre Augen waren geöffnet. Drei Strahlenkränze aus Blut befleckten ihre weiße Bluse.

Er fiel neben sie auf die Knie. „Nein“, sagte er. „Nein.“ Er berührte ihr Gesicht, spürte die noch nachklingende Wärme in ihren Wangen. Er drückte sein Ohr an ihre Brust, ihre blutige Brust, und hörte keinen Herzschlag, keinen Atem. Ein Schluchzer brach aus seiner Kehle hervor, ein ungläubiger Schrei der Trauer. „Madeline!“

Als das Echo ihres Namens verklang, hörte er in seinem Rücken ein weiteres Geräusch, es waren Schritte, die sich leise näherten.

Bernard drehte sich um. Verwundert starrte er auf die Pistole, es war Madelines Pistole, die jetzt auf ihn gerichtet war. Er blickte dem Schützen ins Gesicht. Das ergab keinen Sinn, es ergab überhaupt keinen Sinn!

„Warum?“, fragte Bernard.

Die Antwort war das dumpfe Geräusch der schallgedämpften Automatik. Die Kugel streckte ihn neben Madeline zu Boden. Für wenige Sekunden spürte er, wie nah er neben ihrem Körper lag, spürte ihr Haar wie Seide zwischen seinen Fingern. Er streckte die Hand aus und drückte ihren Kopf kraftlos an sich. Mein Schatz, dachte er. Mein liebster Schatz.

Dann rutschte seine Hand leblos hinunter.

1. KAPITEL

Buckinghamshire, England
Zwanzig Jahre später

Jordan Tavistock saß faul in Onkel Hughs bequemem Polstersessel und betrachtete amüsiert das Porträt seines lang verstorbenen Vorfahren, dem unglücklichen Earl of Lovat, so wie er es schon tausendmal zuvor getan hatte. Diese köstliche Ironie, dachte er, dass Lord Lovat ausgerechnet von den Ehrenplatz über dem Kaminsims herunterstarrt. Es zeugte von den Spleens und Schrullen der Familie Tavistock, den Earl so öffentlich zu zeigen. Immerhin war er ihr einziger Verwandter, der seinen Kopf buchstäblich auf dem Tower Hill verlor. Der Earl war der letzte Mann, der offiziell in England enthauptet wurde, inoffizielle Taten zählten nicht. Jordan erhob sein Glas für einen Toast auf den bedauernswerten Earl und trank einen großen Schluck Sherry. Er war kurz versucht, sich ein zweites Glas einzuschenken, doch es war schon halb sechs und die Gäste des Empfang anlässlich des französischen Nationalfeiertages würden bald eintreffen. Ich sollte wenigstens ein paar graue Zellen am Laufen halten, dachte er. Vielleicht brauchte er sie, um beim Smalltalk seinen Mann zu stehen. Plaudern gehörte zu den Dingen, die Jordan am wenigsten mochte.

Für gewöhnlich mied er Partys mit Kaviar und Abendgarderobe, nach denen sein Onkel Hugh anscheinend so süchtig war. Aber möglicherweise erwies sich der heutige Abend, an dem Sir Reggie und Lady Helena Vane ihre Ehrengäste waren, als weitaus interessanter als die übliche Versammlung der Pferdenarren. Dieses war das erste große gesellschaftliche Ereignis seit Onkel Hughs Ausscheiden aus dem britischen Geheimdienst, und etliche von Hughs ehemaligen Kollegen vom MI6 würden sich blicken lassen. Man gab ein paar alte Kumpel aus Paris mit dazu, die gerade sowieso allesamt aufgrund des gerade zu Ende gegangenen Wirtschaftsgipfels in London waren, und vielleicht wurde daraus ein äußerst spannender Abend. Wann immer eine Gruppe von Ex-Spionen und Diplomaten zusammentraf, traten alle möglichen Geheimnisse zutage.

Jordan blickte auf, als sein Onkel murrend das Arbeitszimmer betrat. Hugh, bereits im Smoking, versuchte erfolglos, seine Fliege zu richten. Stattdessen hatte er es fertiggebracht, einen störrischen Doppelknoten zu binden.

„Jordan, hilf mir doch mal mit diesem verdammten Ding“, sagte Hugh.

Jordan erhob sich aus dem Sessel und löste den Knoten. „Wo ist Davis? Er ist viel besser in solchen Dingen.“

„Ich habe ihn weggeschickt, um deine Schwester zu holen.“

„Ist Beryl wieder ausgegangen?“

„Natürlich. Erwähne die Worte Cocktail und Party, und sie stürmt zur Tür hinaus.“

Jordan band die Krawatte seines Onkels zu einer Fliege. „Beryl hat Partys noch nie gemocht. Und nur unter uns, ich denke, sie hatte einfach die Nase voll von den Vanes.“

„Hm? Aber sie waren doch ganz reizende Gäste, sie haben sich eingefügt …“

„Es sind diese kleinen Gehässigkeiten, die sie sich immer gegenseitig an den Kopf werfen.“

„Oh, das. Das machen sie seit jeher. Ich bemerke es kaum noch.“

„Und ist dir aufgefallen, dass Reggie unserer lieben Beryl wie ein Hündchen überallhin folgt?“

Hugh lachte. „In der Nähe einer hübschen Frau ist Reggie ein Hündchen.“

„Na ja, kein Wunder, dass Helena ihn ständig attackiert.“ Jordan trat zurück und betrachtete stirnrunzelnd die Fliege seines Onkels.

„Wie sieht sie aus?“

„Es muss reichen.“

Hugh warf einen Blick auf die Uhr. „Schau besser noch einmal in der Küche nach und sorge dafür, dass alles in Ordnung ist. Und warum sind die Vanes noch nicht unten?“

Wie aufs Stichwort hörten sie nörgelnde Stimmen auf der Treppe. Lady Helena schimpfte wie immer auf ihren Ehemann. „Irgendjemand muss dich ja auf diese Dinge hinweisen“, sagte sie.

„Ja, und das bist immer du, oder?“

Sir Reggie flüchtete, verfolgt von seiner Frau, ins Arbeitszimmer. Dieses offensichtlich so ungleiche Paar verblüffte Jordan jedes Mal wieder. Sir Reggie, attraktiv und silberhaarig, überragte seine farblose kleine Maus von einer Frau in jeder Hinsicht. Aber vielleicht erklärte Helenas bedeutende Erbschaft die Verbindung. Geld glich am Ende doch immer alles aus.

Als es auf sechs Uhr zuging, schenkte Hugh Sherry ein und reichte die Gläser reihum an die vier. „Bevor die Gästeschar eintrifft“, sagte er, „möchte ich einen Toast aussprechen auf eure Heimkehr nach Paris. Alles Gute.“ Sie tranken. Es war auf ihren letzten gemeinsamen Abend mit alten Freunden.

Dann erhob Reggie sein Glas. „Und auf die englische Gastfreundschaft. Wir wissen sie stets zu schätzen!“

Von der vorderen Einfahrt hörten sie knirschende Autoreifen auf Kies. Sie blickten zum Fenster und sahen, wie die erste Limousine langsam vorfuhr. Der Chauffeur öffnete die Tür und heraus trat eine Frau um die fünfzig. Ihre reifen Rundungen zeichneten sich scharf in dem grünen Abendkleid ab, das vor Stiftperlen geradezu erstrahlte. Von der anderen Seite des Autos tauchte ein junger Mann in einem Hemd aus violetter Seide auf und nahm den Arm der Frau.

„Du liebe Zeit, das ist Nina Sutherland und ihr Balg“, murmelte Helena. „Auf welchem Besen ist die denn eingeflogen?“

Draußen sah die Frau in dem grünen Abendkleid die vier plötzlich am Fenster stehen. „Hallo, Reggie! Helena!“, rief sie mit heller Stimme wie ein Fagott.

Hugh setzte sein Sherry-Glas ab. „Zeit, die Barbaren zu begrüßen“, seufzte er und ging mit den Vanes zur Haustür hinaus, um die ersten Gäste willkommen zu heißen.

Jordan blieb noch einen Moment, um seinen Drink auszutrinken. Er ließ sich Zeit damit, sich ein Lächeln ins Gesicht zu meißeln und sich auf das Händeschütteln vorzubereiten. Französischer Nationalfeiertag! Was war das nur wieder für eine Ausrede für eine Party! Er zupfte an den Rockschößen seines Smokings, betastete ein letztes Mal die Rüschen seines Hemdes und begab sich schicksalsergeben zur Eingangstreppe. Möge der Zirkus beginnen.

Wo zum Teufel war nur seine Schwester?

In genau diesem Augenblick ritt die Person, um die sich Jordan Tavistocks Gedanken drehten, mit einem Affenzahn über ein grasbewachsenes Feld. Die arme alte Froggie braucht das Training, dachte Beryl. Und ich auch. Sie beugte sich nach vorn in den Wind, spürte, wie Froggies Mähne in ihr Gesicht peitschte, und atmete den wunderbaren Duft von Pferden, süßem Klee und warmer Juli-Erde ein. Froggie genoss den Sprint mindestens ebenso wie sie. Beryl konnte die kraftvollen Muskeln unter ihren Oberschenkeln spüren, die sich dehnten und streckten. Die Stute lief immer schneller. Sie ist ein Teufel, so wie ich, dachte Beryl und lachte plötzlich laut auf. Es war dasselbe wilde Lachen, bei dem der arme Onkel Hugh jedes Mal zusammenzuckte. Aber hier draußen auf dem offenen Feld konnte sie lachen wie eine unanständige Frau, niemand würde sie hören. Wenn sie doch nur für immer so weiterreiten könnte! Doch überall in ihrem Leben stieß sie auf Mauern und Hindernisse. Sie lauerten in ihrem Kopf und in ihrem Herzen. Sie trieb ihr Pferd noch schneller an, als könnte sie dadurch all den Dämonen entkommen, die sie verfolgten.

Sie feierten den französischer Nationalfeiertag? Was für eine verzweifelte Ausrede für eine Party.

Onkel Hugh liebte schöne Feste, und die Vanes waren nun einmal alte Freunde der Familie, sie verdienten ein anständiges Abschiedsfest, aber Beryl hatte die Gästeliste gesehen, und es war derselbe langweilige Haufen wie immer. Sollten all die Ex-Spione und Diplomaten nicht ein interessanteres Leben führen? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein James Bond in Rente in seinem Garten herumwerkelte.

Und doch tat Onkel Hugh den lieben langen Tag nichts anderes. Der Höhepunkt seiner Woche war das Ernten der ersten Hybrid-Tomate der Saison, seiner ersten Tomate überhaupt! Und was die Freunde ihres Onkels anging, na ja, Beryl konnte nicht glauben, dass sie einst wirklich in den finsteren Seitenstraßen von Paris oder Berlin herumgeschlichen waren. Philippe St. Pierre vielleicht, er gab mit seinen zweiundsechzig Jahren noch immer den charmanten, gallischen Ladykiller. Bei ihm konnte sich Beryl gut vorstellen, wie er in jüngeren Jahren gewesen sein mochte. Auch Reggie Vane hatte vor Jahren vermutlich eine sehr elegante Figur abgegeben, aber die meisten anderen von Onkel Hughs alten Kollegen wirkten so, nun ja, verbraucht.

Ich nicht. Ich niemals.

Sie gab Froggie die Zügel und galoppierte noch schneller.

Sie rasten über das letzte Stück des Feldes und durch ein kleines Wäldchen. Inzwischen war Froggie außer Atem und fiel in einen leichten Trab, dann in den Schritt. An der steinernen Mauer nahe der Kirche brachte Beryl ihr Pferd zum Stehen. Sie stieg ab und ließ Froggie grasen. Der Kirchhof lag verlassen da, und die Grabsteine warfen länger werdende Schatten über den Rasen. Beryl kletterte über die niedrige Mauer und spazierte zwischen den Gräbern umher, bis sie zu der Stelle kam, die sie schon so viele Male besucht hatte. Ein hübscher Obelisk überragte die beiden Grabstellen, die dort nebeneinander lagen. Er trug keine Schnörkel, und es gab auch keine kunstvollen Engelchen, die in die Marmorfassade gemeißelt waren. Nur Worte.

Bernard Tavistock, 1930–1973

Madeline Tavistock, 1934–1973

Auf Erden wie im Himmel sind wir beisammen.

Beryl kniete sich ins Gras und starrte auf die letzte Ruhestätte ihrer Eltern. Morgen vor zwanzig Jahren, dachte sie. Wenn ich mich doch nur deutlicher an euch erinnern könnte! An eure Gesichter, an euer Lächeln. Woran sie sich erinnerte, waren seltsame, unwichtige Dinge. Der Geruch der Lederkoffer, der Duft von Mums Parfum und von Dads Pfeife. Das Knistern des Papiers, wenn sie und Jordan die Geschenke auspackten, die ihre Eltern ihnen mitgebracht hatten, die Puppen aus Frankreich, die Spieluhren aus Italien. Und sie erinnerte sich an ihr Lachen, sie hatten immer so viel miteinander gelacht.

Beryl saß mit geschlossenen Augen da und hörte den glücklichen Klang ihres Lachens von fern. Zwanzig Jahre waren seitdem vergangen, doch über das abendliche Summen der Insekten und das Klirren von Froggies Trense und Zaumzeug hinweg vernahm sie die Klänge ihrer Kindheit.

Die Kirchenglocke läutete, es waren sechs Schläge.

Sofort setzte sich Beryl abrupt auf. Oh nein, schon so spät? Sie blickte sich um und sah, dass die Schatten größer geworden waren. Froggie stand an der Mauer und sah sie erwartungsvoll an. Oh Gott, dachte Beryl, Onkel Hugh wird stinksauer auf mich sein.

Sie rannte über den Friedhof, stieg auf Froggies Rücken und ritt los. Augenblicklich schienen sie und das Pferd über das Feld zu fliegen, sie verschmolzen zu einem einzigen geschmeidigen Organismus. Zeit für die Abkürzung, dachte Beryl und lenkte Froggie auf die Bäume zu. Das bedeutete einen Sprung über die Steinmauer und dann einen schnellen Ritt die Straße entlang, aber es würde ihren Weg um eine Meile verkürzen. Froggie schien zu verstehen, dass die Zeit drängte. Sie wurde schneller und näherte sich erwartungsfroh der Steinmauer. Sie sprang sauber und mit reichlich Abstand über die Mauer hinweg. Beryl spürte den Wind vorbeibrausen, spürte, wie sich ihr Pferd aufschwang und dann auf der anderen Seite der Mauer aufsetzte. Die größte Hürde lag hinter ihnen. Jetzt, genau hinter der Biegung der Straße …

Sie sah etwas Rotes aufblitzen, hörte das Quietschen von Reifen auf dem Schotter. Froggie scherte seitwärts aus und bäumte sich auf. Der plötzliche Ruck überraschte Beryl. Sie rutschte aus dem Sattel und landete auf dem Po.

Als sich die Verwirrung in ihrem Kopf endlich klärte, wunderte sie sich, dass sie aus so einem blöden Grund gestürzt war.

Dann sorgte sie sich um Froggie. Hoffentlich war sie nicht verletzt.

Beryl rappelte sich auf und ging auf das Pferd zu, um sich die Zügel zu schnappen. Froggie war immer noch erschrocken und tänzelte nervös. Das Geräusch einer zufallenden Autotür und die Schritte von jemandem, der auf sie zulief, verwirrten die Stute nur noch mehr.

„Kommen Sie nicht näher!“, sagte Beryl gereizt über die Schulter.

„Sind Sie in Ordnung?“, fragte jemand besorgt. Es war die Stimme eines Mannes, ein angenehmer Bariton. War er Amerikaner?

„Mir geht es gut“, entgegnete Beryl wütend.

„Was ist mit Ihrem Pferd?“

Sie murmelte Froggie leise etwas zu, kniete sich hin und fuhr mit den Händen über deren Vorderbein. Die empfindlichen Knochen schienen alle unversehrt.

„Ist er in Ordnung?“, sagte der Mann.

„Es ist eine Sie“, antwortete Beryl. „Und ja, sie scheint völlig in Ordnung zu sein.“

„Ich kenne den Unterschied, wirklich“, erwiderte der Fremde trocken. „Wenn ich einen Blick auf das Wesentliche werfe.“

Beryl unterdrückte ein Lächeln. Sie richtete sich auf und drehte sich um, um den Mann anzuschauen. Er hatte dunkle Haare und dunkle Augen, stellte sie fest, und verfügte offenbar über eine gehörige Portion Humor, denn Beryl entdeckte nichts Steifes, Förmliches an ihm. Mehr als vierzig Jahre Lachen hatten attraktive Fältchen um seine Augen hinterlassen. Er trug einen Smoking, und seine breiten Schultern füllten die dazugehörige Jacke ziemlich eindrucksvoll aus.

„Es tut mir leid, dass Sie gestürzt sind“, sagte er. „Ich schätze, das war meine Schuld.“

„Dies ist eine Landstraße, wissen Sie, und keine Autobahn, wo man mit überhöhter Geschwindigkeit fahren darf. Sie können nie wissen, was hinter der Kurve liegt.“

„Das habe ich auch gemerkt.“

Froggie gab ihr einen ungeduldigen Schubs. Beryl streichelte den Hals des Pferdes. Sie spürte, dass der Mann sie anstarrte.

„Ich habe aber so etwas wie eine Entschuldigung“, sagte er. „Ich bin in dem Dorf da hinten falsch abgebogen, und ich bin spät dran. Ich suche einen Ort namens Chetwynd. Kennen Sie ihn?“

Beryl neigte überrascht den Kopf. „Sie fahren nach Chetwynd? Dann sind Sie auf der falschen Straße.“

„Ach ja?“

„Sie sind eine halbe Meile zu früh abgebogen. Sie müssen zurück zur Hauptstraße, und dort weiterfahren. Sie können die Abzweigung nicht verpassen. Es ist eine Privatzufahrt, zu beiden Seiten stehen recht hochgewachsene Ulmen.“

„Dann werde ich nach den Ulmen Ausschau halten.“

Sie stieg wieder auf Froggies Rücken und starrte hinunter auf den Mann. Selbst vom Sattel aus betrachtet, machte er eine eindrucksvolle Figur. Er war schlank und wirkte in seinem Smoking sehr elegant. Beryl fiel auf, wie selbstsicher er auftrat. Dieser Mann ließ sich nicht so schnell einschüchtern, auch nicht von einer Frau, die rittlings auf einem muskulösen Pferd saß.

„Sind Sie sicher, dass Sie unverletzt sind?“, fragte er. „Für mich sah es nach einem heftigen Sturz aus.“

„Oh, ich bin schon häufiger gestürzt.“ Sie lächelte. „Ich habe einen ziemlich harten Schädel.“

Nun lächelte der Mann auch, seine Zähne schimmerten gerade und weiß im Dämmerlicht. „Dann sollte ich mir also keine Sorgen machen, dass Sie heute Abend in einen lähmenden Dämmerschlaf fallen?“

Sie sind es, der heute Abend in einen lähmenden Dämmerschlaf fallen wird.“

Er runzelte die Stirn. „Wie bitte?“

„In einen durch langweiliges und endloses Palaver hervorgerufenen Dämmerschlaf. Jedenfalls stehen die Aussichten gut, wenn man bedenkt, wohin Sie fahren.“

Lachend wendete sie das Pferd. „Guten Abend“, rief sie. Dann winkte sie zum Abschied und trieb Froggie im Trab durch den Wald.

Als sie die Straße hinter sich ließ, fiel ihr ein, dass sie vor ihm in Chetwynd ankommen würde. Sie musste abermals lachen. Vielleicht würde dieser französische Nationalfeiertag am Ende doch interessanter werden, als sie erwartet hatte. Sie gab dem Pferd einen kleinen Stups mit dem Stiefel und Froggie verfiel sofort in einen Galopp.

Richard Wolf stand neben seinem gemieteten MG und sah zu, wie die Frau fortritt. Ihre schwarzen Haare fielen wie eine Pferdemähne über ihre Schultern. Nur Sekunden später war sie aus seinem Blickfeld verschwunden. Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt, dachte er. Er würde Lord Lovat fragen müssen. Aber sollte Hugh wirklich fragen, ob er eine zarte, schwarzhaarige Hexe kennt, die durch seine Nachbarschaft prescht? Die mit ihrem ausgefransten Hemd und den grasbefleckten Reithosen wie eines der Dorfmädchen gekleidet war, deren Akzent aber die besten Schulen verriet? Es war ein reizender Gegensatz.

Er stieg wieder ins Auto ein. Es war beinahe halb sieben. Die Fahrt von London hatte weitaus länger gedauert, als er erwartet hatte. Zur Hölle mit diesen Provinz-Landstraßen! Er wendete den Wagen und steuerte auf die Hauptstraße zu. Dieses Mal bremste er vor jeder Kurve ab. Man konnte ja nicht wissen, was hinter der Biegung lauerte. Vielleicht eine Kuh oder eine Ziege.

Oder noch eine Hexe zu Pferde.

Ich habe einen ziemlich harten Schädel. Er lächelte. Einen harten Schädel, in der Tat. Sie rutscht aus dem Sattel, bums, und ist gleich wieder auf den Beinen. Und frech war sie obendrein. Als ob ich nicht eine Stute von einem Hengst unterscheiden könnte. Alles, was ich brauche, ist der richtige Blick, sagte er sich.

Den hatte er allemal auf sie gerichtet. Es bestand gar kein Zweifel, dass er sich einem weiblichen Exemplar seiner Gattung gegenüber gesehen hatte. All das rabenschwarze Haar, diese lachenden grünen Augen. Sie erinnert mich fast an …

Er unterdrückte den Gedanken und schob ihn schnell in die hinterste Ecke seiner Erinnerungen, seiner Albträume, eigentlich. Dieser entsetzliche Nachhall seines ersten Einsatzes, und seines ersten Versagens. Es hatte ihn davor bewahrt, irgendetwas für selbstverständlich zu nehmen. Es war das A und O in diesem Geschäft. Prüfe die Fakten, vertraue niemals deinen Quellen, und pass immer, immer auf dich auf.

Es begann, ihn zu zermürben. Vielleicht sollte ich früh meinen Abschied nehmen und ein ruhiges Landleben führen wie Hugh Tavistock. Natürlich, Hugh Tavistock verfügte über einen Adelstitel und Grundbesitz. Beides sicherte ihm einen angenehmen Lebensabend. Obwohl Richard lachen musste, wenn er sich den rundlichen Hugh Tavistock mit dem schütteren Haar als Earl von Irgendwas vorstellte. Ja, ich sollte mich einfach auf diesen zehn Morgen Land in Connecticut niederlasse, mich zum Earl von Wasauchimmer erklären und Gurken züchten.

Aber er würde die Arbeit vermissen, diesen köstlichen Hauch der Gefahr, das geistige Schachspiel, das die ganze Welt umspannte. Die Welt veränderte sich so rasant. Von einem Tag auf den anderen wusste man nicht mehr, wer der Feind eigentlich war.

Endlich entdeckte er den Abzweig nach Chetwynd. Zu beiden Seiten standen majestätisch hohe Ulmen, ganz so, wie es die schwarzhaarige Frau beschrieben hatte. Die imposante Auffahrt passte mehr als gut zu dem Herrenhaus, das am Ende der Straße stand. Das war kein einfaches Landhaus, es war ein Schloss mit Türmchen und efeubewachsenen Steinmauern. Französische Gärten erstreckten sich über viele Morgen, und ein mit Ziegeln gepflasterter Weg führte zu einem Gebilde, das an einen mittelalterlicher Irrgarten erinnerte. Hierher also hatte sich der alte Hugh Tavistock nach vierzig Jahren im Dienste von Königin und Heimatland begeben. Der Titel musste seine Vorteile haben, im Staatsdienst erwarb man sicher kaum so einen Wohlstand. Dabei war ihm Hugh immer wie ein ganz bodenständiger Mann vorgekommen, und nicht wie ein Landedelmann. Er besaß keine Allüren, stellte keine Ansprüche, wirkte immer eher wie der zerstreute Regierungsbeamte, den der Zufall in die heiligen Hallen des MI6 geführt hatte.

Amüsiert über die ganze Pracht des Anwesens, ging Richard die Vortreppe hinauf. Er passierte mühelos die Sicherheitsschleuse und betrat den Festsaal.

Unter den Dutzenden von Gästen, die bereits eingetroffen waren, erkannte er zahlreiche bekannte Gesichter. Der Londoner Wirtschaftsgipfel hatte Diplomaten und Finanziers vom ganzen Kontinent angezogen. Richard entdeckte den amerikanischen Botschafter, der durch den Saal stolzierte und plauderte wie ein gewichtiger politischer Amtsträger. Auf der anderen Seite des Saals plauderten drei alte Bekannte von ihm aus Paris. Philippe St. Pierre, der französische Finanzminister, war in ein Gespräch mit Reggie Vane vertieft, der die Pariser Abteilung der Bank of London leitete. Neben ihnen stand Reggies Frau Helena, die mürrisch wirkte und anscheinend wie üblich nicht beachtet wurde. Hatte Richard diese Frau je glücklich gesehen?

Das laute und dröhnende Lachen einer Frau zog Richards Aufmerksamkeit auf sich. Es war eine weitere Bekannte aus Pariser Zeiten, Nina Sutherland, die Botschafterwitwe, die vom Hals bis zum Knöchel in grüner Seide und Stiftperlen schimmerte. Obwohl ihr Mann schon lange tot war, fesselte das alte Mädchen die Menschen um sich herum noch immer. Neben Nina Sutherland stand ihr einundzwanzig Jahre alter Sohn Anthony, Gerüchten zufolge ein Künstler. In seinem violetten Hemd gab er eine ebenso auffällige Figur ab wie seine Mutter. Was für ein prächtiges Paar sie doch waren, wie zwei eitle Pfauen! Offensichtlich hatte Klein-Anthony das Gen für Extravaganz von seiner Mutter, der früheren Schauspielerin, geerbt.

Richard mied die Sutherlands mit Bedacht und steuerte auf das Buffet zu, das von einer kunstvollen Eisskulptur des Eiffelturms geschmückt wurde. Das Thema des Abends war wirklich lächerlich auf die Spitze getrieben. Hier war heute wirklich alles französisch: die Musik, der Champagner und sogar die Trikoloren, die von der Decke hingen.

„Eigentlich möchte man dabei sofort die ‚Marseillaise‘ singen, nicht wahr?“, hörte er eine Stimme neben sich.

Richard drehte sich um und sah sich einem schlanken, hochgewachsenen blonden Mann gegenüber, dessen Gesicht unverkennbar alle Anzeichen britischer Aristokratie widerspiegelte. In seinem gestärkten Hemd und dem Smoking wirkte er auf elegante Weise ungezwungen. Lächelnd reichte er Richard ein Glas Champagner. Das Licht des Kronleuchters glitzerte in den Champagnerperlen. „Sie sind Richard Wolf“, sagte der Mann.

Richard nickte und nahm das Glas entgegen. „Und Sie sind?“, fragte er und lupfte die Augenbrauen.

„Jordan Tavistock. Onkel Hugh hat auf Sie gewiesen, als Sie den Saal betraten. Ich dachte, ich komme vorbei und stelle mich vor.“

Die beiden Männer schüttelten die Hände. Jordans Griff war fest und verbindlich, nicht das, was Richard von so weichen, aristokratischen Händen erwartet hätte.

„Also, dann erzählen Sie mir mal“, sagte Jordan und nahm sich beiläufig ein zweites Glas Champagner, „in welche Kategorie gehören Sie? Spion, Diplomat oder Finanzier?“

Richard lachte. „Erwarten Sie, dass ich diese Frage beantworte?“

„Nein, aber ich dachte, ich frage Sie trotzdem. Es verschafft einem jedes Mal einen glänzenden Einstand.“ Er nippte am Champagner und lächelte. „Das ist eine mentale Übung von mir und erhöht den Reiz solcher Partys. Ich versuche, Gesprächsfetzen aufzuschnappen und davon abzuleiten, wer beim Geheimdienst ist und wer nicht. Und die Hälfte dieser Leute hier im Saal ist beim Geheimdienst, oder war es einmal.“ Jordan sah sich um. „Denken Sie an all die Geheimnisse in all diesen Köpfen. All diese kleinen Synapsen, durch die geheime Daten blitzen.“

„Sie scheinen mehr als eine flüchtige Kenntnis von dem Geschäft zu haben.“

„Wenn man in diesem Haushalt aufwächst, hat man dieses Spiel verinnerlicht.“ Jordan betrachtete Richard für einen Moment. „Wollen wir mal sehen. Sie sind Amerikaner.“

„Korrekt.“

„Und Sie kamen allein, während die Firmenmanager zusammen in einer Limousine angereist sind.“

„So weit ist das richtig.“

„Und Sie sprechen von der Geheimdienstarbeit als dem Geschäft.“

„Das ist Ihnen also offenbar auch nicht entgangen.“

„Also sind Sie vom CIA?“

Richard schüttelte den Kopf und lächelte. „Ich bin nur ein privater Sicherheitsberater. Sakaroff and Wolf, Inc.“

Jordan lächelte zurück. „Clevere Tarnung.“

„Es ist keine Tarnung, ich bin echt. All diese Firmen-manager, die Sie hier sehen, wünschen sich ein sicheres Gipfeltreffen. Eine Bombe der irischen Untergrundorganisation IRA könnte ihnen den ganzen Tag ruinieren.“

„Also heuern sie Sie an, damit Sie die unangenehmen Dinge von ihnen fernhalten“, schloss Jordan.

„Genau“, sagte Richard. Ja, das ist Madelines und Bernards Sohn, zweifellos, dachte er. Er ähnelt Bernard. Er hat dieselben scharfen, wachsamen braunen Augen, dieselben feinen Gesichtszüge. Und er ist schnell. Ihm fallen viele Dinge auf, ein unverzichtbares Talent.

In diesem Moment lenkte Jordan seine Aufmerksamkeit auf einen neuen Ankömmling im Saal. Richard folgte seinem Blick und drehte sich um. Bei seinem ersten flüchtigen Blick auf die Frau, die eintrat, erstarrte er erstaunt.

Es war die schwarzhaarige Hexe, doch dieses Mal trug sie keine alten Reithosen und Stiefel, sondern ein langes Abendkleid aus nachtblauer Seide. Ihre Haare waren zu einer eleganten welligen Mähne hochgesteckt. Selbst aus der Entfernung spürte er ihre magische Anziehungskraft, so wie jeder andere Mann im Saal auch.

„Sie ist es“, murmelte Richard.

„Sie meinen, Sie beide haben sich bereits kennengelernt?“, fragte Jordan.

„Ganz zufällig. Ich habe ihr Pferd auf der Straße erschreckt. Sie war nicht allzu erfreut über den Sturz.“

„Sie haben sie tatsächlich aus dem Sattel geholt?“, fragte Jordan erstaunt. „Ich dachte nicht, dass das möglich ist.“

Die Frau schwebte durch den Festsaal und nahm sich schwungvoll ein Glas Champagner von einem Tablett. Während sie weiterging, schnitt sie eine auffällige Schneise durch die Menge.

„Sie weiß in der Tat, wie man ein Kleid ausfüllt“, raunte Richard staunend.

„Ich werde es ihr erzählen“, erwiderte Jordan trocken.

„Das werden Sie nicht.“

Jordan stellte sein Glas lachend nieder. „Kommen Sie schon. Wir wollen Sie einander ordentlich bekannt machen.“

Als sie sich der Frau näherten, lächelte diese Jordan zur Begrüßung an. Als sie aber Richard entdeckte, nahm ihr zuvor ungezwungener Blick einen vorsichtig abwartenden Ausdruck an. Das ist nicht gut, dachte Richard. Sie erinnert sich gerade daran, wie ich sie von diesem Pferd geholt habe.

„So treffen wir uns also wieder“, sagte sie halbwegs höflich.

„Ich hoffe, Sie vergeben mir.“

„Niemals.“ Sie lächelte. Was für ein Lächeln!

Jordan sagte: „Liebes, das ist Richard Wolf.“

Die Frau streckte ihm die Hand entgegen. Richard ergriff sie und war erstaunt über den festen, nüchternen Händedruck. Als er aufsah, durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein Schock. Natürlich. Er hätte es von Anfang sehen müssen. Dieses schwarze Haar, diese grünen Augen. Sie muss Madelines Tochter sein.

„Darf ich Ihnen Beryl Tavistock vorstellen“, sagte Jordan, „meine Schwester.“

„Wie kommt es, dass Sie meinen Onkel Hugh kennen?“, fragte Beryl, während sie und Richard den Gartenweg hinunterspazierten. Es dämmerte bereits. Es war diese weiche, späte Sommerdämmerung, bei der die Blumen in den Schatten verschwanden, ihr Duft die Luft aber noch erfüllte. Es roch nach Rosen, nach Salbei, Thymian und Lavendel. Er bewegt sich wie eine Katze in der Dunkelheit, dachte Beryl. So leise, so unergründlich.

„Wir sind uns vor vielen Jahren in Paris begegnet“, sagte er. „Dann haben wir für lange Zeit den Kontakt verloren, doch als ich vor ein paar Jahren meine Beraterfirma gründete, war ihr Onkel so freundlich, mir Ratschläge zu erteilen.“

„Jordan sagt, Ihre Firma heißt Sakaroff and Wolf.“

„Ja, wir sind Sicherheitsberater.“

„Und das ist wirklich Ihr Beruf?“

„Wie meinen Sie das?“

„Nun ja, vielleicht haben Sie ja auch, sagen wir mal, einen inoffiziellen Beruf?“

Er warf den Kopf zurück und lachte. „Sie und Ihr Bruder kommen wohl immer gleich auf den Punkt?“

„Wir haben gelernt, direkt zu sein. Es erspart unnötigen Small Talk.“

„Small Talk ist der Schmierstoff der Gesellschaft.“

„Nein, mit Small Talk vermeidet es die Gesellschaft, die Wahrheit zu sagen.“

„Und Sie wollen die Wahrheit hören?“, fragte er.

„Wollen wir das nicht alle?“ Sie sah zu ihm auf und versuchte, den Ausdruck in seinen Augen zu deuten, doch sie waren nur Schatten in der Silhouette seines Gesichts.

„Die Wahrheit ist“, sagte er, „dass ich wirklich Sicherheitsberater bin. Ich leite die Firma mit meinem Partner, Niki …“

„Niki? Doch wohl nicht Nikolai Sakaroff?“

„Sie haben den Namen schon einmal gehört?“, fragte er in gespielter Unschuld.

„Früher KGB?“

Es entstand eine Pause. „Ja, früher einmal“, sagte er gedehnt. „Niki mag dort Verbindungen gehabt haben.“

„Verbindungen? Wenn ich mich recht erinnere, war Nikolai Sakaroff KGB-Oberst. Und jetzt ist er Ihr Geschäftspartner?“ Sie lachte. „Der Kapitalismus schafft wirklich seltsame Bettgenossen.“

Einige Augenblicke gingen sie schweigend weiter. Sie fragte leise: „Machen Sie immer noch Geschäfte mit der CIA?“

„Habe ich gesagt, dass ich das mache?“

„Es ist nicht schwer, zu dieser Schlussfolgerung zu gelangen. Ich bin übrigens sehr diskret. Die Wahrheit ist bei mir sicher.“

„Trotzdem weigere ich mich, verhört zu werden.“

Sie sah ihn lächelnd an. „Selbst unter Folter, nehme ich an?“

Durch der Dämmerung konnte sie sehen, wie er grinste. Seine Zähne schimmerten weiß. „Das hängt ganz von der Art der Folter ab. Wenn eine schöne Frau zärtlich in mein Ohr beißt, kann ich schon einmal das eine oder andere zugeben.“

Der mit Ziegeln gepflasterte Weg endete am Irrgarten. Eine Weile lang standen sie davor und betrachteten nachdenklich die grüne Schattenwand.

„Kommen Sie, lassen Sie uns hineingehen“, sagte sie.

„Kennen Sie denn den Weg hinaus?“

„Wir werden sehen.“

Sie führte ihn durch die Öffnung, und sofort wurden sie von den hohen Heckenwänden verschluckt. In Wahrheit kannte Beryl jede Kurve, jede Sackgasse im Labyrinth, und sie bewegte sich sicher hindurch. „Ich könnte Sie mit verbundenen Augen hier hindurchführen“, sagte sie.

„Sind Sie in Chetwynd aufgewachsen?“

„In den Schulferien der Internate. Wir sind zu Onkel Hugh gekommen, als ich acht war. Das war gleich nach dem Tod von Mum und Dad.“

Sie bewegten sich raschelnd durch den letzten Spalt in der Hecke und kamen im Zentrum des Labyrinths heraus. Auf einer kleinen Lichtung stand eine Steinbank. Das seichte Mondlicht reichte gerade so aus, das Gesicht des anderen schwach zu erkennen.

„Meine Eltern waren auch im Geschäft“, sagte sie, während sie langsam auf die Bank zuging. „Wussten Sie das?“

„Ja, ich habe von Ihren Eltern gehört.“

Auf einmal bemerkte sie einen warnenden Unterton in seiner Stimme. Sie fragte sich, warum er ihr plötzlich auswich. Sie sah, dass er neben der Steinbank stand. Seine Hände hielt er in den Hosentaschen verborgen. All diese Geheimnisse, ich habe es so satt. Warum können nicht alle in diesem Haus einfach mal die Wahrheit sagen?

„Und was haben Sie über sie gehört?“, fragte sie.

„Ich weiß, dass sie in Paris gestorben sind.“

„Während eines Einsatzes, ja. Onkel Hugh sagte, es sei eine geheime Mission gewesen. Er weigert sich, darüber zu sprechen, also tun wir es auch nie.“ Sie hörte auf, umherzulaufen, und drehte sich zu ihm um. „In letzter Zeit denke ich sehr oft darüber nach.“

„Warum?“

„Weil es am fünfzehnten Juli passierte, morgen vor zwanzig Jahren.“

Er kam auf sie zu, sein Gesicht war noch immer im Schatten verborgen. „Und wer hat Sie großgezogen? Ihr Onkel?“

Sie lächelte. „Großgezogen wäre ein bisschen übertrieben. Onkel Hugh hat uns ein Zuhause gegeben, und uns ziemlich von der Leine gelassen, damit wir groß wurden, wie es uns gefiel. Jordan war dabei recht erfolgreich, denke ich. Er hat eine Universität besucht, aber er ist ja auch der Clevere in der Familie.“

Richard trat noch näher. Er war ihr so nahe, dass sie glaubte, sie könne das Funkelns seiner Augen über sich in der Dunkelheit sehen. „Und was sind Sie?“

„Ich nehme an“, räusperte sie sich, „ich nehme an, ich bin die Wilde.“

„Die Wilde“, murmelte er. „Ja, ich glaube, so sehe ich es auch.

Er tastete mit seinen Fingern nach ihrem Gesicht. Diese eine kurze Berührung hinterließ ein Kribbeln auf ihrer Haut. Beryl spürte ihr Herz plötzlich heftig schlagen, sie atmete schneller. Warum nur ließ sie es geschehen? Sie hatte der Romantik doch abgeschworen. Aber jetzt zieht mich dieser Mann, den ich kaum kenne, wieder in ein Spiel hinein, bei dem ich immer jämmerlich versage. Es ist dumm, es ist impulsiv, es ist der pure Wahnsinn.

Seine Lippen streiften ihre leicht. Es war der zarteste aller Küsse, aber trunken vom Geschmack des Champagners. Beryl sehnte sich sofort nach einem zweiten Kuss, einem längeren Kuss. Für einen Augenblick starrten sie einander an, beide standen kurz davor, der Versuchung zu erliegen.

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