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Tulpe

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Manche haben kein Gewissen, und manche haben eines auf vier Pfoten

Kallemann macht anderen Leuten das Leben schwer, ob in seinem Schrebergarten oder anderswo. Eines Tages läuft ihm der Hund Tulpe zu. Kein gewöhnlicher Hund, er ist das vierbeinige Gewissen des Mannes. Und sein Gewissen kann man ja bekanntlich nicht abschütteln – auch wenn der Alte den Hund anfänglich um jeden Preis wieder loswerden will. Die elfjährige Lina ergänzt die beiden zum ungewöhnlichen Trio, das sowohl komische als auch dramatische Situationen durchlebt. Stück für Stück söhnt sich Kallemann mit denen aus, die er verletzt hat. Er findet zu einem glücklicheren Leben. Lina und ihre Mutter, die neu in die Stadt gezogen sind, werden dort heimisch.


  • Erscheinungstag: 26.09.2023
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365005224

Leseprobe

1

Die ersten Sonnenstrahlen des Tages blinzelten über die Dächer der Stadt. Kein Wölkchen zeigte sich am Himmel. Es würde ein herrlicher Sommertag werden. Kallemann stand im Schlafanzug auf der Terrasse seines kleinen Häuschens, das mitten in einem Schrebergarten lag. Er rubbelte sich durch die Haare, kratzte sich am Kinn und grummelte. Solch Gute-Laune-Tage hasste er. Schlechtwetter mochte er nicht, über Regen konnte er tagelang schimpfen wie ein Rohrspatz, aber helle Sonnentage waren ihm wirklich ein Graus. Die Menschen und ihre Seelen hatten dann immer so eine unerträgliche Leichtfüßigkeit. Überall begegnete Kallemann dann mehr oder weniger strahlenden Gesichtern. Dieser Morgen war gar nicht nach seinem Geschmack. Er verzog sich lieber noch mal zurück in sein kleines Häuschen. Dort konnte er die Vorhänge zuziehen. Drinnen war es dämmrig und grau. Der Welt draußen würde er noch früh genug begegnen.

Karlheinz Kallemann war ein etwas dicklicher, eher wenig attraktiver Mann, 69 Jahre alt. Er war der Einzige im Schrebergarten, der seit einem Jahr in dem kleinen Häuschen auf seiner Parzelle wohnte. Normalerweise war es jedem Gartenbesitzer verboten, dauerhaft auf dem Gelände zu wohnen, aber bei Kallemann drückten alle ein Auge zu. Er war als schlecht gelaunter Nörgler, als Miesepeter, als unberechenbarer Griesgram bekannt. Er war ein Mann, der immer Streit suchte. Mit ihm legte man sich lieber nicht an, so die allgemeine Meinung. Wenn er wollte, konnte Kallemann richtig fies werden. Mehr als das. Jede kleine Verfehlung brachte er mit Freude zur Anzeige, egal ob angeblicher Falschparker, Müllsünder oder Ruhestörer. Die Polizei stöhnte auf, wenn bei ihr das Telefon klingelte und Kallemann dran war, um wieder etwas zu melden. Aber was sollten die Beamten machen? Sie mussten jedem Verdacht nachgehen. Auch wenn sich später herausstellte, dass der »unerträgliche Ruhestörer«, den Kallemann angezeigt hatte, nur jemand war, der beim Blumengießen ein kleines Lied gepfiffen hatte. Niemand im Schrebergarten mochte ihn. Jeder wusste, dass Kallemann seit Langem ein eher unfreundlicher Zeitgenosse gewesen war. Aber man hatte mit ihm einigermaßen auskommen können. Bis, so besagten es die Gerüchte, seine Frau bei einem Verkehrsunfall vor etwa einem Jahr ums Leben gekommen war. Dieses Ereignis habe ihn damals endgültig aus der Bahn geworfen, und er sei danach wirklich unausstehlich geworden. Das erzählte man sich zumindest unter den Schrebergärtnern. Aber weiter nachgefragt hatte niemand bei dem Alten. Besser jedem Gespräch aus dem Weg gehen. Das war die Devise.

Zwei Stunden nachdem er der frühen Morgensonne ausgewichen war, hatte Kallemann seine ausgeleierte dunkelgrüne Latzhose und einen kratzigen Wollpullover angezogen und machte sich auf zu seinem ersten Rundgang. Genau genommen war er den ganzen Tag über auf Rundgang durch den Schrebergarten. Immer wachsam, immer auf der Suche nach Fehlverhalten. Von solchen Verfehlungen gab es in seinen Augen weiß Gott genug.

Kaum hatte er an jenem Sommertag das Gartentürchen hinter sich geschlossen, entdeckte er nach den ersten Schritten auf dem Kiesweg etwas, das ihm sofort ins Auge stach. Dieses »etwas« war ein kleiner Hund, etwa kniehoch. Er hatte hellbraunes, leicht zotteliges Fell. Kallemann kniff die Augen zusammen. Alles an ihm kniff sich zusammen. Tiere hasste er ebenso wie Menschen, wenn nicht noch mehr. Vor allem Hunde. Herumstreunende Vierbeiner waren wie lärmende, schreiende Kinder, einfach nur schrecklich.

Dabei war das nicht immer so bei ihm gewesen. Vor etlichen Jahren hatte Kallemann selbst einen Hund besessen, einen kleinen Rauhaardackel namens Ringo, der ihm nicht von der Seite gewichen war. Die beiden waren beste Freunde gewesen. Aber eines Tages, bei einer morgendlichen Wanderung durch den Wald, hatte der Hund Witterung aufgenommen und war plötzlich losgerast. So laut Kallemann auch gerufen hatte, Ringo war einfach nicht mehr zurückgekommen. Über einen Tag und eine Nacht lang hatte Kallemann unbeirrt an derselben Stelle im Wald verharrt. An der Stelle, an der er Ringo aus den Augen verloren hatte. Es war ihm klar gewesen, wenn, dann würde sein geliebter Kleiner sicherlich dorthin zurückkommen. Kallemanns Gefühle hatten zwischen Wut, Sorge und tiefer Verzweiflung hin und her geschwankt. Immer wieder hatte er den Namen des Hundes in den Wald hinausgeschrien. Aber all seine Bemühungen waren ohne Erfolg geblieben. Schließlich war er nach Hause geschlichen, erschüttert und verzweifelt. Auch seiner Frau Ellen war es nicht gelungen, ihn zu trösten. Eine völlige Unsicherheit hatte ihn von Anfang an gequält. Was war mit Ringo geschehen? War er irgendwo hinuntergestürzt? Oder hatte ihn jemand eingefangen? Oder wollte Ringo, sein alter Kumpel, und diese Vermutung war die schlimmste von allen gewesen, einfach nicht mehr zu ihm zurück? Kallemann hatte sich in der Folge einer zunehmenden Verbitterung hingegeben. Sicherlich war es vor allem dieses Ereignis, das seinem Leben eine neue Wendung gegeben hatte. Von da an wurde er Schritt für Schritt zu dem missmutigen Ekel, als das ihn die meisten später kannten. Dies war nicht von heute auf morgen geschehen. Vielmehr war die Entwicklung schleichend gewesen. Letztendlich war Kallemann zu einem unausstehlichen Zeitgenossen geworden. Je mehr er sich seinem Selbstmitleid und seiner Verbitterung hingab, umso schlimmer wurde es. Er war ein richtiger Kotzbrocken.

Da kreuzte an diesem Tag der unbekannte vierbeinige Eindringling seinen Weg. Kallemann beobachtete das Vieh einen Moment lang. Der Hund war gerade dabei, direkt neben dem Kiesweg ein Loch in die Erde zu buddeln. Kallemann schoss das Blut in den Kopf. Er fuchtelte mit beiden Armen in der Luft herum, so als müsste er mit ihnen Schwung holen. Dann rannte er los.

Dabei schrie er im Laufen: »Du mieses kleines stinkendes Stück! Was machst du da?«

Er wollte auch im Laufen nicht den Blick von dem Tier lassen. So hastete er vorwärts und übersah dabei einen größeren Stein, der aus dem Kiesweg nach oben ragte. Er kam ins Straucheln, seine Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen. Er ruderte mit den Armen, um sich aufrecht zu halten, aber alle Versuche waren vergebens. Wie ein alter Baum, gefällt von einer Motorsäge, stürzte er zu Boden. Gar nicht schnell fiel er, eher ganz langsam, aber unaufhaltsam. Krachend streckte er sich längs auf dem Weg hin. Kallemann schäumte vor Wut. Sein ganzer Körper vibrierte vor Aufregung und Schmerzen. Schwer atmend hob er seinen Kopf leicht an, so gut er eben konnte. Der kleine Vierbeiner stand genau vor ihm, die freche Schnauze etwas mit Erde bedeckt. Er blickte den liegenden Kallemann an, neigte den Kopf, mal links, mal rechts, so als würde er gleich etwas sagen wollen. Kallemann sprangen fast die Augen aus dem Kopf. Er war puterrot. Er hechelte wie ein Hund, wollte etwas schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Es hatte fast den Anschein, als würde ihn sein vierbeiniger Widersacher auslachen. Kallemann mochte keine Hunde mehr, aber diesen hier hasste er von der ersten Sekunde an ganz besonders. Der Alte versuchte, langsam aufzustehen. Während ihm das nach einigen Anläufen gelang, trabte der kleine Hund entspannt von dannen. Mit einer provozierenden Leichtigkeit tat er das. Es war mehr so eine Art Trippeln. Ein letztes Mal drehte er sich um und blickte zu Kallemann zurück. Mit einer Mischung aus Mitleid und Spott, so kam es dem Alten vor.

Den Rest des Tages verbrachte Kallemann damit, nach dem widerlichen Mistvieh in jeder Ecke des Schrebergartens zu suchen. Aber der Hund war wie vom Erdboden verschluckt. Umso mehr ließ der Alte seinen angestauten Ärger an den anderen Gärtnern, ahnungslosen Spaziergängern, überhaupt allen Mitmenschen aus. Nicht wenige mussten Beschimpfungen und Meckereien über sich ergehen lassen. An diesem Tag gelang es Kallemann, noch unausstehlicher zu sein als sonst. Auch die Polizei hatte etliches zu tun. Immer wieder klingelte bei ihr das Telefon.

Dabei trieb sich der kleine Vierbeiner weiter in der Gegend herum. Als er schließlich richtig Hunger bekam, machte er sich auf die Suche nach etwas Fressbarem. Er hatte eine unbändige Lust auf etwas Süßes. Er ahnte, hier in der Nähe musste irgendwo eine Bäckerei oder Konditorei sein.

2

Die beiden Giraffen hatten unendlich lange Hälse. Sie streckten sich so, dass sie über die im Wind wehenden Palmwedel hinwegblicken konnten. Sie schritten wiegend auf und ab. Fast wie zwei Models auf einem Laufsteg. Lina musste grinsen. Es sah zu witzig aus. Die Giraffen gingen bedächtig, Schritt für Schritt auf eine dichte, dunkelgrüne Hecke zu. Sie beugten sich hinunter, um an den Zweigen zu zupfen. Schmatzend grinsten sich die beiden beim Kauen an. An einer Liane schwang ein kleiner Affe ins Bild. Er trug einen blauen runden Hut auf dem Kopf und ließ sich auf einer der beiden Giraffen nieder. Das schien diese nicht weiter zu stören, und sie kaute zufrieden weiter. Der Affe warf seinen Hut in die Luft und fing ihn geschickt im Sprung wieder auf. Er landete vor einem dicken Bären, der eine dunkelgrüne Latzhose trug. In der rechten Hand hielt der Bär eine große Schaufel. Der Affe machte ein paar Grimassen, der Bär reagierte wütend und holte mit der Schaufel aus. Er versuchte, den Affen zu treffen. Aber dieser war zu flink für den trägen Bären. Er griff sich eine andere Liane und schwang sich wieder hinauf in die Luft. Der Bär warf die Schaufel dem flüchtenden Affen hinterher. Aber er verfehlte ihn.

»Jetzt komm schon, Lina. Bist du fertig? Wir müssen los.«

Lina, elf Jahre alt, schwieg.

»Lina, bitte. Tante Angela wartet auf uns.«

Es war ganz offenbar nicht eine der beiden Giraffen, die zu Lina sprach. Das Mädchen löste sich vom Fensterbrett im ersten Stock der neuen Wohnung und drehte sich zu seiner Mutter Meike um.

»Jaja, ich komm ja schon.«

»Bitte träum nicht den ganzen Tag.«

»Hab ich gar nicht.«

»Sondern?«

»Ich hab nur aus dem Fenster geschaut.«

»Und dabei geträumt«, sagte Linas Mutter lächelnd.

Sie stand in der Tür und schüttelte hektisch ihre beiden Hände. Sie hatte gerade ihre Fingernägel lackiert, hellrot, und nun sollten diese noch schnell trocknen. Sie trug eine eng anliegende, hellblaue Jeans, darüber eine weiße Bluse, die lässig über der Hose herunterhing. Lina fand, ihre Mutter sah super aus. Sie lächelte, während ihre Mutter versuchte, vorsichtig mit den frisch lackierten Nägeln Sneaker anzuziehen. Begleitet von einem leisen Fluchen schaffte sie es schließlich.

Lina schaute nochmals aus dem Fenster, hinüber zu dem Schrebergarten, der direkt an das Mietshaus grenzte, in dem sich ihre neue Wohnung befand. Sie waren erst vor knapp einer Woche hier eingezogen. Eine neue Wohnung in einer fremden Stadt. Lina sah zu den beiden großen Tannen hinüber, die im kräftigen Sommerwind hin und her wogten. Der blaue Luftballon, der sich in den Zweigen einer der Tannen verfangen hatte, konnte sich befreien und stieg zappelnd in den Himmel auf. Auch der Bär war noch zu sehen. Es war in Wirklichkeit, wie Lina jetzt sah, ein dicklicher, schon etwas älterer Mann in einer Latzhose. Er kehrte mit einem langen Besen den Boden. Blätter und Unrat wanderten auf eine Schaufel, und von da in einen Eimer aus Blech. Der Dicke fluchte beim Kehren vor sich hin. Lina konnte über die Entfernung hin nicht verstehen, was er brummelte, aber seine Stimmung war offensichtlich rattenschlecht. Die Schaufel flog urplötzlich durch die Luft und verfehlte nur knapp einen Spatz, der in der Nähe aus einer Pfütze trank. Lina war sauer. So ein mieser Typ.

»Jetzt komm endlich, Lina!«

»Ich muss nur noch kurz meine Nägel lackieren, und dann bin ich auch schon fertig«, neckte Lina sie.

Sie ging vom Fenster zu ihrer Mutter. Die beiden lachten sich an und umarmten sich.

»Du wirst sehen. Wir werden es sehr schön haben. Wir zwei machen es uns hier richtig gemütlich.«

Meike küsste ihre Tochter auf die Stirn und strich ihr eine Strähne zur Seite.

»Jetzt mach endlich hinne, Mama. Sonst ist Tante Angela wieder stinkig«, sagte das Mädchen mit einem Augenzwinkern.

Lina hatte auch einen Papa, aber den sah sie so richtig nur einmal im Jahr. Er lebte schon seit einigen Jahren nicht mehr mit ihnen zusammen. Ihre Eltern hatten sich getrennt. Lina sah ihren Vater immer für eine längere Zeit, wenn sie zu ihm nach Italien fuhr. Eigentlich wollte sie auch dieses Jahr in den Sommerferien, also genau jetzt, dort sein. Aber es war wie verhext. Ihr Vater war als Ingenieur viel in der Welt unterwegs. Für Lina nahm er sich normalerweise in den Ferien immer Zeit. Nur dieses Jahr hatte es nicht geklappt. Er musste weit weg, wegen der Montage eines großen Kraftwerks. So blieb den beiden nur das Telefonieren, und Lina verbrachte die Sommerferien dieses Jahr mit ihrer Mutter. Schlecht war allerdings, dass sie erst vor Kurzem in die neue Stadt gezogen waren. Lina kannte keinen Menschen hier. Auch ihre beste Freundin war in der alten Heimat zurückgeblieben. Lina hatte nicht umziehen wollen. Aber ihre Mutter meinte, sie müssten es tun. Sie hatte ihre Arbeit als Hausdame in einem großen Hotel verloren. Angela, Linas Tante, hatte schon immer gebettelt, dass es hilfreich und wunderbar wäre, wenn sie in ihrem kleinen Café am Rande des Stadtparks Hilfe hätte. Hilfe von Meike. Angela freute sich auf ihre Schwester und auf ihre Nichte. Lina hasste es, ein Kind zu sein. Sie hatte nicht umziehen wollen. Aber immer setzten die Erwachsenen ihren Willen durch, und als Kind hatte sie das Nachsehen. Allerdings, wenn sie ehrlich war, verstand sie auch ihre Mutter. Sie brauchte eine Arbeit, und Tante Angela war auch ziemlich nett.

3

Zu Angelas Café gehörte eine kleine Konditorei mit einer großen Auslage voller Köstlichkeiten. Als Lina und ihre Mutter ankamen, herrschte viel Betrieb. Alle Tische in dem kleinen romantischen Gärtchen waren besetzt. Meike und Lina gingen hinein. Auch drinnen war einiges los. Das Café war ein Rundbau mit viel Glas. Innen hantierte Angela hinter einem Tresen herum. Sie war eher klein und ein bisschen rundlich. Sie hatte eine Schürze umgebunden, an der sie sich immer wieder ihre Hände abwischte. Meist aus einer inneren Hektik heraus. Ihre Freude, Schwester und Nichte unter den Gästen zu entdecken, war ehrlich groß, und die Begrüßung war überschwänglich. Sie hatten sich schon länger nicht mehr gesehen. Dann rief Angela ihren beiden Kellnerinnen etwas zu, drehte sich dabei fast einmal um ihre eigene Achse. Das Geschäft brummte, und eine Bestellung nach der anderen kam herein. Lina war es etwas zu viel Trubel. Sie verzog sich lieber nach draußen und ließ Mutter und Tante alleine. Sie wollte sich in Ruhe etwas umsehen. Schließlich war hier alles neu für sie.

Lina ging ein paar Schritte um das Gebäude herum. Der kleine Hund stach ihr sofort ins Auge. Er saß direkt vor der Glasscheibe der Auslage mit den Köstlichkeiten. Seine Nase drückte fest von außen gegen das Fensterglas. Der Kleine war etwa kniehoch und hatte ein hellbraunes, leicht zotteliges Fell. Seine Ohren standen neugierig nach oben. Als Lina neben ihn trat, drehte er kurz den Kopf zu ihr, aber nur für einen Moment. Dann starrte er wieder in die Auslage, in der sich Plunderteilchen, Erdbeerschnitten und Sahnetorten präsentierten, und noch viele andere süße Kuchenstücke mehr.

»Na, mein Kleiner, was darf es denn sein?«, fragte Lina ihn mit einem frechen Seitenblick.

Der Hund reagierte nicht. Lina blickte ihn fragend an, hoffte auf eine Antwort. Sie wusste natürlich, dass ein Tier nicht sprechen kann, aber wie viele Kinder hatte sie die große Hoffnung, dass es eben doch sein könnte. Aber der Vierbeiner antwortete nicht, sondern wendete den Blick von ihr ab, wieder zurück zu den Süßigkeiten. Lina lachte. Auch wenn sie keine Antwort bekommen hatte, wollte sie das kleine Spielchen keinesfalls beenden.

So legte sie nach. »Du weißt schon, dass das hier ein Café ist und keine Metzgerei. Nix mit Wurst. Hier gibt es nur Süßes. So was magst du doch gar nicht.«

Da drehte der Hund wieder seinen Kopf zu Lina und öffnete ganz langsam die Schnauze. Er hechelte und sabberte. Seine Augen wurden wässrig. Sie zeigten zugleich Sehnsucht und leichte Verzweiflung.

Lina streichelte ihm sanft über den Kopf.

»Oje, da hat aber einer wirklich Kohldampf«, sagte sie leise und einfühlsam.

Der Hund nickte. Lina schien es fast so, als ob er sie verstanden hätte.

»Du magst wirklich etwas Süßes?«

Der Hund antwortete stumm mit einem bettelnden Blick.

Sie deutete Richtung Auslage.

»Vielleicht den dicken Bienenstich da hinten?«

Der Hund schüttelte, wenn auch nur angedeutet, den Kopf. Jedenfalls schien es ihr so.

»Nicht?«, fragte Lina lachend, aber auch leicht verwundert.

Abermals ein Schütteln.

»Den Apfelkuchen mit Streuseln?«

Dieses Mal gab es gar keine Reaktion. Lina fand immer mehr Gefallen an der ungewöhnlichen Unterhaltung. Sie ging nacheinander alle Köstlichkeiten durch, bis sie zuletzt auf die Nussecken deutete, die ganz hinten auf einem runden, weißen Teller angerichtet waren. Der Hund bellte hell und kurz. Er fiepste und wedelte heftig mit dem Schwanz. Lina war leicht irritiert ob seiner deutlichen Reaktion. Es schien wirklich fast so, als ob er sie verstanden hätte. Seine Augen bettelten sie an. Er hielt ihr seine rechte Pfote ihn. Lina war gerührt, streichelte seinen Kopf. Sie zögerte nicht mehr länger und rannte los. Der Hund blickte ihr nach und sah, wie das Mädchen durch den Eingang in dem Café verschwand.

Als Lina kurz darauf mit einer Tüte mit Nussecken in der Hand wieder herauskam, wollte der Hund keinesfalls wie von ihr gewünscht Sitz oder gar Platz machen. Er fixierte die süßen Teilchen in ihrer Hand. Er war wie gebannt. Als Lina sich etwas zu ihm hinunterbeugte, sprang er ohne jede Vorwarnung hoch, drehte in der Luft eine kleine Pirouette, schnappte sich im Drehen aus Linas Hand die Tüte und landete geschickt mit allen vieren auf der Erde. Dann gab er Fersengeld. Er rannte los, ohne sich auch nur einmal umzudrehen.

Lina rief ihm hinterher: »Hey. Schon mal was von ›Danke‹ gehört?«

Doch es gab keine Reaktion. Hund und Nussecken verschwanden blitzschnell hinter einer Hecke. Lina war nicht sauer, sondern eher amüsiert.

4

Es war inzwischen dunkel geworden, die Sonne war schon lange untergegangen. Bevor er zu Bett ging, drehte Kallemann jeden Abend noch eine letzte Runde durch die Gartenanlage, um nach dem Rechten zu sehen und um eventuelle Verstöße gleich zu notieren. Alles musste schließlich seine Ordnung haben, und wenn dem nicht so war, würde er schon dafür sorgen. Am Ende seiner Runde an diesem Abend bog er auf sein eigenes Gartengrundstück ein. Als er die beiden Leuchten an seinem Holzhäuschen anschaltete, wurde er schlagartig blass. Er hatte in seinen Beeten Tulpen gepflanzt, und zwar ausschließlich Tulpen. Im Grunde seines Herzens hasste er alle anderen Blumen und Pflanzen. Nur Tulpen, die gefielen ihm. Das lag vielleicht daran, dass er früher von Beruf Binnenschiffer gewesen war. Auf dem Weg zum Meer war er auf dem Rhein immer nach Holland geschippert, dem Land der schönsten Tulpen. Aber jetzt sah er: In seinen Beeten hatte jemand große Löcher gegraben und dabei einige Blumenzwiebeln herausgerissen. Kallemann ließ sich auf einen Klappstuhl auf seiner Terrasse fallen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wer war das gewesen? Etwa dieser widerliche Köter von heute morgen? Während er nach Luft schnappte, hörte er plötzlich ein seltsames Geräusch hinter dem Geräteschuppen. Vorsichtig schlich er durch die Dunkelheit, in der Hand eine noch ausgeschaltete Taschenlampe. Als er um die Ecke spähte, sah er einen Schatten. Er machte die Lampe an und schrie: »Jetzt hab ich dich!«

Im Lichtkegel entdeckte er ihn. Es war, wie schon geahnt, der zottelige kleine Hund. Kallemann fluchte und schnaubte. Der Vierbeiner wiederum blickte ihn nicht panisch, eher leicht gelangweilt an. Kallemann zitterte am ganzen Körper.

»Du Mistviech. Na warte!«

Ansatzlos sprang er nach vorne und krachte mit seinem ganzen Gewicht zu Boden.

»Du mieser kleiner Stinker.«

Mit seinen dicken, fleischigen Händen versuchte er, das Tier zu packen. Aber er merkte, dass es in letzter Sekunde entwichen war. Er rappelte sich auf und leuchtete in der Gegend herum. Schließlich hatte er es wiederentdeckt. Der Hund saß auf der Stufe vor der Tür zu seinem Häuschen. Er neigte den Kopf und beobachtete, anscheinend ganz entspannt, wie der dicke Mann auf ihn zustürmte. Kallemann war außer sich. Er rannte los, so schnell er konnte, und sprang mit aller Kraft, die Arme nach vorne gestreckt, fast waagrecht durch die Nacht. Voller Überzeugung, dieses Mal das Drecksvieh zu erwischen. Er schrie, aber sein Schrei ging in ein erbärmliches Wehklagen über, als der Flug durch die Hüttentür abrupt abgebremst wurde.

»Ich mach dich fertig! Warte nur, bis ich dich in die Finger krieg. Dann zerquetsche ich dich!«

Jeder Versuch Kallemanns, seinen tierischen Gegner zu erwischen, endete im Desaster. Er schrie und schlug um sich, er mandelte sich auf. Je erfolgloser er war, umso mehr verlor er jede Kontrolle über sich. Die Situation entglitt ihm. Schließlich war er völlig abgekämpft. Er hatte sich zahlreiche Blessuren am ganzen Körper geholt. Seine Latzhose war an einem Hosenbein zerrissen. Von dem Hund war nichts mehr zu sehen. Na ja, wenigstens hatte er ihn in die Flucht geschlagen. Dachte er.

Ermüdet schlich er in sein Holzhäuschen und legte sich, so wie er war, auf das Bett. Er war viel zu geschafft, um sich auszuziehen. Alles tat ihm weh. Er schloss die Augen und dachte nach. Morgen würde er alles wieder in Ordnung bringen müssen. Er würde die Beete richten und die Tulpen retten, die noch zu retten waren. Er wollte nicht weiter daran denken. Also zwang er sich, einzuschlafen.

Kallemann tauchte in die Welt der Träume ab. Schnell entdeckte er ein kleines Schäfchen auf einer Wiese. Es war ein herrlicher Sonnentag. Doch auf einmal regnete es. Es war kein Nieselregen, kein Tröpfeln, eher ein saftiger Regenguss. Es war ein Regen wie ein Wasserfall, der aus dem Nichts kam. Kallemanns Gesicht wurde nass. Er wurde aus seinem Traum gerissen, schlug die Augen auf. Direkt vor ihm saß der kleine Hund. Er hatte Kallemann geweckt, indem er ihm mit seiner nassen Zunge wieder und wieder über das Gesicht gefahren war.

Der Alte schnellte hoch. Er griff nach dem Hals des Tieres, aber er griff ins Leere. Er sprang aus dem Bett. Der Hund hatte sich inzwischen auf einen kleinen runden Tisch mitten im Raum gesetzt. Er fuhr sich mit beiden Pfoten nacheinander über die Schnauze und leckte sich das Fell. Kallemann schoss das Blut in den Kopf. Es pulsierte, sein Blutdruck stieg ins Unermessliche.

»Du mieses kleines Stück«, schrie er und setzte zum Sprung an. Doch schon im Flug musste er einsehen, dass das Tier ihm wieder würde entweichen können. Und so landete der alte Mann mit seinen vielen Kilos auf dem runden Tisch, der unter ihm in mehrere Teile zerbrach. Splitterndes Holz verteilte sich auf dem Boden.

Es dauerte ein paar Minuten, bis Kallemann sich mit aller Mühe wieder aufgerafft hatte. Er blickte sich erschüttert um, sein schöner Holztisch lag wie ein Puzzle in unzähligen Teilen verteilt herum. Voller Zorn schaute er sich um und entdeckte den Hund, der es sich inzwischen auf seinem Bett bequem gemacht hatte. Der Vierbeiner wälzte sich zwischen Kissen und Laken hin und her, ohne dabei seinen Gegner aus den Augen zu lassen. Kallemann wollte abermals angreifen, aber nun verließen ihn mit einem Mal die Kräfte, und er ließ sich langsam an einer Wand nach unten rutschen. Er gab auf und streckte seine Beine von sich. Er konnte nicht mehr. Der Hund saß keinen Meter vor ihm und musterte ihn. Er wiegte den Kopf hin und her. Die Blicke der beiden trafen sich. Kallemann bemerkte einen Schimmer in den Augen seines Gegenübers. Die Augen des unbekannten Hundes ließen ihn nicht kalt. Das störte ihn.

Er blaffte ihn an. »Was glotzt du denn so blöd? Was soll das denn?«

Der Hund öffnete ganz langsam seine Schnauze und leckte sich mit der Zunge über die Lefzen. Kallemann schüttelte genervt den Kopf. Der Hund wiederum ließ ihn nicht aus den Augen. Sein Blick war intensiv, und Kallemann konnte ihm nicht ausweichen. Das war zu viel für ihn. Er nahm all seine Kraft zusammen und startete einen letzten Angriff. Er schnellte, so gut er das mit seinem massigen Körper konnte, hoch und wollte in Richtung seines Gegners springen. Aber er rutschte aus. Während der Vierbeiner regungslos das Schauspiel beobachtete, knallte Kallemann mit dem Kinn gegen den Bettrand aus massivem Holz. Die Zähne schlugen gegeneinander, und er sackte in sich zusammen. Der Alte verlor das Bewusstsein und wurde ohnmächtig. Aus dieser Ohnmacht fiel er in einen tiefen Schlaf.

5

In Kallemanns darauffolgenden Träumen gab es ein wildes Treiben. Erst träumte er davon, als Abenteurer wilde Tiere zu jagen. Vor allem Tiere in der Größe von Mammuts oder riesigen Dinosauriern. Dass er bei all seinen Versuchen keines von ihnen erlegen konnte, spielte keine Rolle. Er fühlte sich als Held der Wildnis. Er trug einen Tropenhelm, darunter eine kakifarbene Uniform. So durchreiste er in kürzester Zeit einen ganzen Kontinent. Die Bilderflut in seinem Kopf nahm zu. Alles wurde verworrener und chaotischer. Neben den wilden Tieren tauchten plötzlich wie aus dem Nichts Menschen aus dem Schrebergarten auf, die er wiedererkannte. Natürlich kam es zum Streit. Kallemann war im Schlaf außer sich. Er drehte und wälzte sich, auf dem Boden liegend, hin und her. Er schwitzte, und sein Körper japste nach Luft. So anstrengend waren die Träume für ihn. Doch es sollte noch schlimmer kommen.

Mit einem Mal erschien ihm Ringo auf einer bunten Blumenwiese. Es gab keinen Zweifel für ihn. Das war ganz klar sein geliebter Dackel, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Kallemann rannte im Traum dem Vierbeiner hinterher. Dabei fiel er immer wieder hin, so uneben war der Boden. Die Kühe hatten tiefe Löcher in der Wiese hinterlassen. Doch der alte Mann raffte sich immer wieder auf, schaute sich verzweifelt um. Wenn er den weglaufenden Ringo wiederentdeckt hatte, rannte er ihm weiter hinterher. Schließlich blieb der Dackel an einer Stelle mit einem herrlichen Ausblick über eine faszinierende Landschaft stehen. Kallemann, völlig außer Atem, hatte ihn eingeholt. Er hielt neben dem Dackel, beugte den Körper nach vorne und schnaufte tief durch. Dann erhob er sich wieder und schaute ebenfalls in die Ferne. So standen sie nebeneinander und gaben sich der Schönheit der Natur hin. Als Kallemann den Kopf drehte und zur Seite zu dem Hund blickte, sah er voller Entsetzen, dass neben ihm gar nicht sein geliebter Ringo stand, sondern plötzlich dieser unbekannte Mischling. Der Alte geriet in Panik. Er schaute sich verzweifelt um, doch den Dackel konnte er nirgends sehen. Stattdessen saß der Mischling ruhig im Gras. Kallemann sah ihn an. Dieses Tier war ihm zugleich nah wie unheimlich.

»Schlaf dich erst mal aus. Du musst ganz schön erschöpft sein.«

Kallemann hörte die Worte, aber er konnte nicht verstehen, woher sie kamen. Er blickte sich um, aber er war mit dem Tier allein auf der Wiese. Seine Augen kniffen sich zusammen. Er starrte sein Gegenüber an. Sollte etwa dieser Hund gerade etwas zu ihm gesagt haben? Das konnte nicht sein. Ganz abgesehen davon, dass dessen Schnauze sich überhaupt nicht geöffnet hatte.

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