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Genau wie Stella gesagt hatte, gingen an diesem Abend keine Flüge mehr von Atlanta. Das Disney-Rennen in Orlando fing in neun Stunden an, mit dem Auto brauchte man sechs Stunden und fünfzehn Minuten. Wenn sie jetzt die ganze Nacht durchfuhr, nachdem sie vor dem verfluchten Flug seit drei Uhr früh in der Klinik gearbeitet hatte, wäre sie zwar pünktlich zum Rennen in Orlando, aber wenn sie dann versuchen würde, einen Halbmarathon zu laufen, wäre wahrscheinlich sie reif für eine Reanimation. Ihr Körper schickte ihr jetzt schon eindeutige Warnsignale, dass sie zu erschöpft dafür war, sich ans Steuer zu setzen. Ihr Gehirn hatte den Punkt erreicht, an dem es zu keiner Entscheidung mehr fähig war, und so saß sie seit zwei Stunden in der Wartehalle des Flughafens herum und futterte sich halbherzig durch eine Tüte Salzbrezeln.
Sie holte Jakes Medaille aus ihrem Rucksack und drehte sie zwischen den Fingern.
»Du hast dir von Lindsay einreden lassen, was du alles nicht kannst. Aber wenn ich das schaffe, schaffst du es auch. Du kannst alles erreichen, wenn du es nur möchtest«, hörte sie Jakes vertraute Stimme in ihrem Kopf.
Aber da lag er falsch. Zum Rennen morgen würde sie es schon mal nicht schaffen – es war schlicht unmöglich. Aber immerhin hatte sie einen guten Grund dafür. Und sie war froh, dass sie dem Mann auf ihrem Flug hatte helfen können, was hätte sie auch sonst tun sollen? Als sie sich in der Wartehalle auf den ersten freien Platz hatte fallen lassen, bedauerte sie es, nicht einmal seinen Namen zu kennen und sich nicht erkundigen zu können, ob es ihm auch wirklich gut ging.
Jake wäre so stolz auf sie gewesen, dass sie dem Mann das Leben gerettet hatte. Das wusste sie. Aber sie hatte ihm nie gesagt, wie stolz sie auf ihn war, weil man so etwas normalerweise einfach nicht zu seinem Bruder sagte.
Sie müsste ihr Telefon aufladen, das irgendwann auf dem Flug den Geist aufgegeben hatte. Den ganzen Tag hatte sie wie besessen immer wieder nachgesehen, ob Nachrichten von ihrer Familie gekommen waren. Natürlich war es komplett illusorisch, sich zu wünschen, dass sie morgen zum Rennen kämen. Sie schloss die Augen und rief sich das Foto von letztem Jahr in Erinnerung, das Jake hinter der Ziellinie zeigte. Groß wie ein Bär stand er da, flankiert von ihren Eltern und ihrer damals hochschwangeren Schwester. Die Medaille hing um seinen Hals, und in seinem Gesicht hatte sich vor lauter Glück ein breites Grinsen breitgemacht. Olive hätte eigentlich auch mit auf dem Bild sein sollen, war sie aber nicht.
Und wie viel hatte sich in diesem einen Jahr verändert.
Ihre Eltern dürften ihre Hotelbuchung längst storniert haben, und Heather würde garantiert nicht kommen. Olive hatte ihre Schwester, ihre kleine Nichte und ihren Neffen seit Monaten nicht mehr gesehen. Vermutlich war es besser so, lief doch jedes Gespräch auf Schuldzuweisungen und Drohungen mit Anwälten, Ärzten und dem Nachlassgericht hinaus.
Es war kaum auszuhalten.
Olive ließ den Kopf auf die Knie sinken.
Dass sie jetzt das Rennen versäumte, dürfte Heather und ihre Eltern bloß noch in ihrer schlechten Meinung von ihr bestätigen.
Egoistisch, gedankenlos und eine komplette Enttäuschung.
Im Moment konnte sie nicht mehr tun, als zu schauen, dass sie ein paar Stunden Schlaf bekam, und sich dann am Morgen einen Wagen zu mieten und loszufahren. Das Rennen mochte für sie gelaufen sein, aber sie hatte drei Tage Disney World gebucht und bereits bezahlt, konnte also genauso gut das Beste draus machen.
»Sie weinen ja«, stellte eine melodische Stimme fest.
Allied-Airlines-Pilotin Stella Soriano stand vor ihr.
Olive wischte sich über die Wangen. »Ich weiß.« Mist, jetzt lief ihr auch noch Rotz aus der Nase. Unglaublich attraktiv.
»Ist alles in Ordnung?«
»Alles gut.« Olive schlang die Arme um sich und schniefte leise.
»Aber Sie weinen.« Sie sagte es, als wüsste Olive nicht selbst, was die Nässe auf ihren Wangen bedeutete.
»Ich weiß.« Olive stand auf, weil es sie nervte, dass Stella von oben auf sie herabschaute, während sie wie ein Häufchen Elend hier herumsaß. Aber selbst im Stehen reichte Olive noch immer nicht an sie heran. »Alles gut ist einfach die gesellschaftlich akzeptierte Antwort, wenn man in aller Öffentlichkeit einen Zusammenbruch hat, aber niemandem das ungute Gefühl geben möchte, sie müssten einen jetzt trösten.«
»Aber die Frage ist doch, ob Sie jetzt gerade, in dieser Situation, Hilfe brauchen. Und ob die Person, die Sie in dieser Situation findet, sich nicht sogar dazu verpflichtet fühlt, etwas zu unternehmen. Dass Sie getröstet werden sollten, scheint mir wegen der Tränen offensichtlich. Sie würden nicht weinend hier herumsitzen, wenn es nicht so wäre. Die Frage ist, was Sie gerade brauchen.«
Olive brauchte erst mal einen Moment, um den Sinn dieses Satzgewirrs zu begreifen. »Sie reden ganz schön schnell.«
Feine Lachfältchen zeigten sich um Stellas Augen. Olive schaute auf ihre Füße, die in den abgewetzten Chucks so inadäquat aussahen neben Stellas glänzenden Lederschuhen.
»Das höre ich oft«, sagte Stella und ließ den Blick auf ihr ruhen. »Was ist los, Olive? Sie heißen doch Olive, oder? Ich habe erst hinterher gemerkt, dass wir Ihnen vorhin gar keine Gelegenheit gegeben haben, sich vorzustellen. Deshalb habe ich Ihren Namen auf unserer Passagierliste gesucht.«
»Ja, Olive Murphy.«
»Also, was ist los?«
Olive verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. »Ich sollte morgen einen Halbmarathon laufen.«
»Und jetzt sind Sie enttäuscht, weil Sie so lange dafür trainiert haben und alles umsonst war?«
»Nein, ich … Wahrscheinlich habe ich längst nicht genug trainiert.« Olive ließ den Kopf hängen.
»Dann ist es vielleicht ganz gut, wenn Sie es nicht zum Rennen schaffen und es nächstes Jahr noch mal versuchen.«
Es nicht schaffen, es noch mal versuchen. Mein Gott, Olive konnte es nicht mehr hören.
Sie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und war froh, dass wenigstens ihre Tränen aufgehört hatten zu fließen. »So einfach ist es nicht. Ich wollte dieses Rennen wirklich laufen. Ich hätte dort sein sollen, es war … wichtig.«
»Wenn es so wichtig war, weshalb haben Sie dann bei der Reiseplanung keinen Zeitpuffer eingebaut? Der Flug hätte ja auch wegen schlechten Wetters ausfallen können.« Es war nicht als Vorwurf gemeint, aber der Tonfall war derselbe, den Olive anschlug, wenn sie kleine Patient:innen fragte, was sie sich nur dabei gedacht hätten, sich das Gummibärchen/die Erbse/den Spielstein ins Nasenloch zu stecken.
»Ich musste heute noch bis mittags arbeiten.«
»Und es konnte niemand für Sie einspringen?«
Versuchte diese Überfliegerin ihr jetzt ein schlechtes Gewissen zu machen?
»Ich hatte vergessen, rechtzeitig Urlaub zu beantragen. Außerdem ist es das letzte Wochenende vor Weihnachten, an dem wir freinehmen können, da waren andere schneller.«
»Oh.« Stellas Gesichtsausdruck ließ erkennen, dass ihr so etwas niemals passieren würde. Etwas zu vergessen oder nicht schnell genug zu sein, dürfte weit außerhalb ihres Erfahrungshorizontes liegen. Schön für sie, dachte Olive.
»Ist die vom letzten Mal, als Sie das Rennen gelaufen sind?« Stella zeigte auf Jakes Medaille.
»Nein.« Olive ließ sie wieder in der Vordertasche ihres Rucksacks verschwinden. »Die hat … Das ist … Ach, egal.«
»Es tut mir leid, dass Ihnen durch die Umleitung des Flugs Unannehmlichkeiten entstanden sind.« Die Worte waren professionell, aber Stellas Miene war dabei so sanft und mitfühlend, dass Olive ihre eigene Bitterkeit umso deutlicher verspürte.
»Es macht mich nur gerade fertig«, sagte sie. »Natürlich bin ich froh, dass ich dem Mann helfen konnte, und habe volles Verständnis dafür, dass seine medizinische Versorgung Vorrang hatte, aber … Meinen Plan kann ich jetzt vergessen.«
»Verstehe. Ich ärgere mich auch immer, wenn meine Pläne nicht aufgehen.« Stella drehte ihren schicken Rollkoffer im Kreis herum, als wäre sie … was? Aufgeregt? Nervös? Ungeduldig? »Wenn Sie sich einen Wagen nehmen, könnten Sie es immer noch zu Ihrem Halbmarathon schaffen. Mit dem Auto wären Sie gegen drei Uhr morgens dort.«
»Ich glaube nicht, dass ich die ganze Nacht durchfahren und dann das Rennen laufen kann. Eigentlich hatte ich während des Flugs ein wenig schlafen wollen, aber …«
»Sie haben recht, das wäre wahrscheinlich keine so gute Idee.« Sie spitzte die Lippen und betrachtete die leere Wand neben Olive, als dächte sie gerade eingehend über den Sinn des Lebens nach. Mittlerweile wirkte sie etwas lässiger und entspannter, nicht mehr so arrogant wie im Cockpit, aber so richtig schlau wurde Olive noch immer nicht aus ihr. Überhaupt war es, wenn man vor dieser Frau stand, nicht leicht, an etwas anderes zu denken als daran, wie schön sie war, ein bisschen speziell und vermutlich hetero, denn: Murphys Gesetz. Wie gesagt.
Nicht, dass es jetzt wichtig gewesen wäre.
»Puh.« Olive hob die Augenbrauen und zeigte das Terminal hinunter. »Dann will ich mal los, mir was zu essen suchen und ein Plätzchen, um die Nacht über zu campieren.«
»Wollen Sie nicht ins Hotel? Die Airline hätte Ihnen ein Zimmer besorgen müssen, haben sie das nicht getan?«
»Doch, aber das ist mir gerade alles zu anstrengend. Ich will einfach bloß hier sitzen und mich ausruhen. Wenn mir später nach einem Zimmer ist, kann ich mir ja immer noch eins nehmen.«
Ihr Telefon hatte sie auch noch nicht aufgeladen, aber wenn sie ehrlich war, hatte sie auch keine Lust, irgendeine passiv-aggressive Nachricht von Lindsay lesen und ihrer Ex antworten zu müssen, dass sie es nicht zum Rennen schaffen würde, sie sich ihre guten Wünsche also sparen konnte. Worauf Lindsay mit einem sinngemäßen Kommt uns das nicht bekannt vor? zurückschreiben und sie damit bloß noch weiter herunterziehen würde. Wobei es nicht ganz fair war, Lindsay die Schuld daran zu geben, dass Olive das Rennen im Vorjahr hatte sausen lassen. Aber ihre ständigen Sticheleien, dass man den ersten Halbmarathon seines Lebens schon mit einer respektablen Zeit schaffen sollte, waren auch nicht gerade motivierend gewesen.
Plötzlich leuchteten Stellas dunkle Augen, als wäre wie im Comic eine kleine Glühbirne angegangen. Sie sah aus wie eine übereifrige Schulsprecherin, der gerade eben die Idee für den Abschlussball gekommen war oder wie genial es wäre, in der Mensa einen Smoothie-Automaten aufzustellen! Alles an dieser Frau schrie förmlich Erfolg. »Dann mal mir nach«, sagte sie und deutete auf Olives Koffer.
»Wie jetzt, wohin?«
»Ich fahre Sie nach Orlando«, sagte sie, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt.
»Aber … Ich kenne Sie doch überhaupt nicht.«
»Wir haben uns vor zwei Stunden kennengelernt. Ich bin Allied-Airlines-Pilotin Stella Soriano.« Sie grinste.
Olive krauste skeptisch die Nase. »Ja und? Wer sagt mir, dass Sie keine Serienmörderin sind?«
»Ich bin keine Serienmörderin. Sie können mich googeln. Ich habe eine«, sie machte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft, »Social-Media-Präsenz.« Stella deutete auf ihr Smartphone. Als eins der Gates sich öffnete, strömten die eben gelandeten Reisenden ins Terminal und die plötzliche Unruhe, die widerhallenden Stimmen und Schritte, die über den Boden gezogenen Rollkoffer, erschwerten es Olive vollends, sich zu konzentrieren.
»Ähm, was?«
»Stellaflies.«
»Und das ist … was?«
»Mein Instagram-Account.« Stella schnaubte sarkastisch. »Die Airline hat mir nahegelegt, einen zu eröffnen, damit sie sich mit mir und meinen Kolleginnen schmücken und nach außen zeigen können, dass Gleichstellung und Diversität bei Allied Airlines großgeschrieben werden.«
Olive verdrehte die Augen und griff nach ihrem Telefon, bevor ihr wieder einfiel, dass der Akku ja leer war. Stella reichte ihr ihres, auf dem Instagram bereits geöffnet war, wo sie, wie Olive nun sah, über zwanzigtausend Follower hatte. Sie warf einen kurzen Blick auf die Posts und hielt es Stella unter die Nase. »Fünf Selfies und jedes in Uniform. Würden Sie jetzt nicht vor mir stehen, könnte ich genauso gut denken, das wäre ein Bot mit gekauften Followern und Stockfotos.« Und Tags wie #heißePilotinnen.
»Aber hier stehe ich nun mal, und ich biete Ihnen an, bei Budget einen Wagen zu mieten und Sie nach Orlando zu fahren.«
Olive gab ihr das Smartphone zurück. »Wieso?«
»Weil die Airline sehr gute Deals bei Budget bekommt.«
»Ich meinte nicht die Autovermietung, sondern wieso Sie mich fahren wollen.«
»Weil … Sie heute etwas Großartiges geleistet haben. Sie haben ein Leben gerettet. Das war eine ziemlich große Sache. Und weil mir das mit dem Foto leidtut. Ich habe gemerkt, wie unwohl Sie sich dabei gefühlt haben, es aber uns zuliebe trotzdem über sich ergehen ließen.«
Olive schnaubte. »Für Captain Kevin habe ich das ganz sicher nicht gemacht.«
Ein Schatten huschte über Stellas Augen, als wüsste sie genau, was Olive meinte. »Kommen Sie, machen wir uns auf den Weg.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
»Müssen Sie morgen nicht arbeiten? Riesige Maschinen durch die Lüfte steuern und für Hunderte von Menschen die Verantwortung tragen?« Olive machte mit der Hand eine kleine Flugbewegung und sich komplett zur Idiotin.
»Nein, ich habe morgen frei und wollte sowieso ein paar Tage in Orlando bleiben. Wenn es sich einrichten lässt, besuche ich dort jedes Jahr das Food and Wine Festival.« Wieder dieses Lächeln, das alles überstrahlte und Olive den hektischen Betrieb des Terminals völlig vergessen ließ.
»Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, keine Axtmörderin zu sein?«
»Großes Ehrenwort. Wobei ich das vermutlich auch sagen würde, wenn ich eine wäre, oder?«
Olive rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. »Immerhin könnte ich Mach was Spontanes von der Liste streichen«, murmelte sie, mehr zu sich selbst.
»Welche Liste?«
»Nicht so wichtig.« Ganz ungebeten meldeten sich ihre Tränen zurück. Tränen der Überraschung und der Dankbarkeit, die ihr die Stimme zittern ließen. »Danke.«
Stella nahm eine kleine Packung Taschentücher aus ihrer Tasche, ohne vorher danach suchen zu müssen. Bestimmt hatte sie für ihre Handtasche einen Organizer, in dem alles seinen Platz hatte.
Olive streckte die Hand aus und berührte Stella leicht am Ellenbogen. »Danke. Wirklich, Sie wissen nicht, was mir das bedeutet.«
»Aber gerne doch.« Stella griff nach ihrem Telefon und tat, als würde sie mit beiden Daumen tippen. »Ich will nur mal eben schauen wegen der Axt …«
Fast hätte Olive gelacht.
»War nur Spaß. Gehen wir.«
Wie standen wohl die Chancen, dass Olive mehrere Stunden mit einer Frau, zu der sie sich so stark hingezogen fühlte, im Auto sitzen konnte, ohne sich dabei bis auf die Knochen zu blamieren?
Schlecht. Sehr schlecht.