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Tote Stille

hier erhältlich:

Gerade erst hat ein Hurrikan die Stadt verwüstet, da macht die Polizei von New Orleans eine grausige Entdeckung: In einem alten Kühlschrank liegen sechs rechte Frauenhände. Wer hat die kranke Tat begangen? Alles weist auf den Handyman hin: ein Serienkiller, der auch Captain Patti O’Shays Ehemann auf dem Gewissen hat. Ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Patti muss dem Wahnsinnigen das Handwerk legen, ehe sie sein nächstes Opfer wird...


  • Erscheinungstag: 10.12.2009
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862783809
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

New Orleans, Louisiana

Sonntag, 28. August

16:00 Uhr

Die Götter hielten ihre schützende Hand über New Orleans. Jedenfalls sah es so aus. Wie sonst hätte diese traditionsreiche Stadt unterhalb des Meeresspiegels, dieses Juwel mitten im Sumpf, überleben können?

Überleben der Arten. Der Stärkeren. Des eigenen Ichs. Der instinktive Wille, um sein Leben zu kämpfen. Sich zur Wehr zu setzen.

Würde sie sich zur Wehr setzen?

Geh zur Tür. Öffne sie.

Dort war sie. Sie lag auf dem Bett. Schlafend.

Miststück. Billige, treulose Hure!

Sie hat es verdient. Sie hat dich verraten. Dein Herz gebrochen.

Sie bewegte sich. Seufzte. Ihre Augenlider flatterten.

Schnell. Geh zum Bett hinüber. Leg deine Hände um ihren Hals und drück zu.

Sie riss die Augen auf. Nackte Angst im tiefen Blau. Sie bäumte sich auf und krallte sich fest.

Fester! Fester! Ihre Schuld. Ganz allein ihre. Miststück! Verräterin!

Rote Flecken breiteten sich auf ihrer cremefarbenen Haut aus, verfärbten sich blau. Ihre Augen traten hervor wie bei einer Zeichentrickfigur.

Bloß kein Mitleid. Nicht lange überlegen. Sie hat es sich selbst zuzuschreiben. Sie verdient es nicht besser.

Ihre Hand fiel schlaff herab. Ein Zittern ging durch ihren Körper. Dann regte sie sich nicht mehr.

Fast geschafft. Atme tief durch. Beruhige dich. Bring zu Ende, was du tun musstest.

Ein Schrei durchdrang die Stille. Ein lautes Krachen, wie ein Gewehrschuss, erschütterte das Haus.

Das ist nur der Wind. Katrinas ungezügelte Wut. Mach, dass du wegkommst. Schnell! Jetzt kontrollier deine Ausrüstung. Schau nach, ob du alles hast, was du brauchst.

Reißfeste Müllbeutel. Gummihandschuhe und Stiefel. Einen wasserdichten Overall. Eine glänzende, neue Kettensäge. Eine sehr schöne Kettensäge.

Plastiktüte mit Reißverschluss.

Niemand kann dich hören. Keiner wird kommen. Alle sind gegangen.

Das hier ist eine menschenleere Stadt.

2. KAPITEL

Mittwoch, 31. August

15:00 Uhr

Das hier ist eine verdammte Geisterstadt, dachte Captain Patti O’Shay. Oder eine Szene aus einem Katastrophenfilm. Das Leben nach der Apokalypse.

Es gab weder Wagen noch Omnibusse. Kein Mensch lief mehr durch die Straßen; niemand saß mehr auf den Stufen vor seinem Haus. Es herrschte unheilvolle Stille.

Langsam fuhr Patti mit ihrem Wagen stadteinwärts über die Tchoupitoulas Street, wich umgestürzten Strommasten, abgerissenen Äste und umgeknickten Baumstämmen aus. Während sie sich krampfhaft auf die Straße konzentrierte, versuchte sie, ihre Erschöpfung und Verzweiflung zu ignorieren.

Katrina hatte zugeschlagen, und alle düsteren Prophezeiungen waren Realität geworden: Die Deiche waren gebrochen, und das Becken, in dem New Orleans lag, war vollgelaufen. Randvoll.

Neunzig Prozent der Innenstadt inklusive des Polizeipräsidiums standen unter Wasser. Nur die höher gelegenen Gebiete waren unbeschadet davongekommen: das French Quarter, Teile des Garden Districts und die Außenbezirke. Und diese Straße hier, die parallel zum Mississippi verlief.

Es gab keine Elektrizität mehr in der Stadt. Kein fließendes Wasser. Grundnahrungsmittel wurden langsam, aber sicher knapp. Und auch an geregelte Polizeiarbeit war schon längst nicht mehr zu denken. Ein großer Teil der Einsatzfahrzeuge lag völlig zerstört inmitten der Fluten.

All jene Einwohner, die nicht rechtzeitig ihre Häuser verlassen hatten, saßen jetzt in der Falle. Auf Hausdächern und in Dachwohnungen. Auf Highways und Brücken. Ohne Nahrung, Wasser oder medizinische Versorgung waren sie der mörderischen Hitze hilflos ausgeliefert.

Doch das war nicht die einzige Gefahr. Denn inzwischen wurden die Straßen von Plünderern, Junkies und Ganoven beherrscht.

Um überhaupt noch arbeiten zu können, hatte das New Orleans Police Department Harrah’s Casino zur Einsatzzentrale umfunktioniert. Und das Royal Sonesta, eines der feinsten Hotels im French Quarter, diente vorübergehend als neues Polizeipräsidium.

Patti umklammerte das Lenkrad. Auch die gesamte Kommunikation war zusammengebrochen. Die Beamten des NOPD behalfen sich mit einer Handvoll Walkie-Talkies und einem provisorischen Funkkanal. Diesen Kanal mussten sie sich allerdings mit allen anderen Verwaltungsbehörden und der Bundespolizei teilen.

Leider verfügte das System über eine Konferenzschaltung, die seine Reichweite erheblich einschränkte. Fünf Meilen, dann war Schluss. Die Koordination von Einsätzen war auf diese Weise natürlich völlig unmöglich geworden.

Zu allem Überfluss redeten die Beamten oft gleichzeitig miteinander und sorgten so für das endlose Stimmengewirr, das auch in diesem Moment an Pattis Ohr drang – ein unaufhörlicher Strom von unzusammenhängenden Dienstgesprächen, Nachrichten und Alarmrufen.

Und dennoch: Irgendwie beruhigte Patti das Geräusch. Alles war besser als diese schreckliche Stille. Irgendwo da draußen gab es Überlebende, Menschen, die sich darum bemühten, die Normalität wiederherzustellen. Ein hörbarer Beweis, dass die Welt nicht untergegangen war.

Noch nicht. Denn Pattis Befürchtungen wurden mit jeder Sekunde größer.

Captain Sammy O’Shay, ihr Ehemann, wurde vermisst.

Seit dem Sonntag vor dem Sturm hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Er schien spurlos verschwunden zu sein.

Alle Polizisten waren angewiesen worden, während des Hurrikans im Dienst zu bleiben. Patti und Sammy hatten gemeinsam die Frühmesse in der St. Louis Cathedral besucht. Anschließend waren sie getrennt auf Streife gegangen.

Sie erinnerte sich an die Vorahnung eines entsetzlichen Verlustes, die sie beim Verlassen der Kirche plötzlich überfallen hatte. Eine unbestimmte Furcht. Die Empfindung war so überwältigend, dass es ihr fast den Atem verschlug.

Sammy schaute sie an. „Was ist los, Darling?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nichts.“

Aber so einfach war Sammy nicht zu täuschen. Liebevoll ergriff er ihre Hand.

Er war immer ihr Fels in der Brandung gewesen, ihr Schutz vor allen Stürmen des Lebens.

„Wird schon nicht so schlimm werden, Patti. Spätestens ab Mittwoch läuft alles wieder normal.“

Zum Abschied hatten sie sich umarmt. Und dann war die Hölle losgebrochen.

Heute ist Mittwoch, überlegte Patti. Und gar nichts läuft wieder normal. Ganz im Gegenteil.

Wo ist Sammy?

Trotz der schwülwarmen Luft, die durch die heruntergelassenen Scheiben des Streifenwagens drang, fröstelte Patti. Entschlossen schüttelte sie den Kopf, als könnte sie damit ihre Furcht und die Vorahnung verdrängen.

Sammy ging es gut. Er war nach Hause gegangen, um nach dem Rechten zu sehen, und dabei hatte ihm eine Flutwelle den Weg abgeschnitten. Oder er saß in der Falle, weil er versucht hatte, anderen Bewohnern bei der Flucht zu helfen. Typisch Sammy eben.

Schließlich war er ja Polizist und auch sonst nicht auf den Kopf gefallen. Wenn er tatsächlich verletzt war und Hilfe brauchte, wusste er, wo er sie bekommen konnte. Nein – Sammy ging es gut. Sammy war am Leben.

Aber so viele wurden vermisst. So viele waren tot.

Das Walkie-Talkie knackte und rauschte. In der Innenstadt standen viele Gebäude noch immer in Flammen, und das Feuer drohte, völlig außer Kontrolle zu geraten. Hunderte von Flüchtlingen drängten sich in öffentlichen Einrichtungen. Einige Superreiche hatten sich private Sicherheitskräfte mit dem Hubschrauber einfliegen lassen. Kurz darauf waren angeblich die ersten Schüsse in der Nähe des Stadions gefallen.

Aber das waren alles nur Gerüchte. Alles nur unbestätigte Vermutungen, da die Kommunikation zusammengebrochen war.

Doch Patti brauchte Sicherheit.

Wo ist Sammy?

Plötzlich wurde das Stimmengewirr von einem lang anhaltenden Kreischen unterbrochen. Das Geräusch ging ihr durch Mark und Bein. Wenn man den Notrufknopf des Radios gedrückt hielt, konnte man auf diese vorsintflutliche Weise die Frequenz für einen Hilferuf freischalten. Das durchdringende Geräusch signalisierte den anderen Benutzern, dass es sich um einen Notfall handelte. Mit viel Glück unterbrachen sie ihr jeweiliges Gespräch dann so lange, bis die entsprechende Meldung durch war.

„Polizist niedergeschossen. Wiederhole: Polizist niedergeschossen. Audubon Place.“

Mühsam unterdrückte Patti das Zittern ihrer Hände und griff nach dem Walkie-Talkie. „Hier Captain Patti O’Shay. Ich bin auf der Tchoupitoulas Street Richtung Jefferson Avenue. Wie komme ich am schnellsten zum Audubon Place? Bitte melden!“

Sofort ertönten von allen Seiten Ratschläge zu den passierbaren Straßen: Sowohl auf der Louisiana als auch auf der Jefferson Avenue war eine Fahrspur freigeräumt worden. Auf der St. Charles Avenue war es dann möglich, den Straßenbahngleisen zu folgen, die die Bagger erst kürzlich wieder freigeschaufelt hatten.

Audubon Place war einer der beeindruckendsten Orte von New Orleans, vielleicht sogar des ganzen Südens. An dem von hohen Zäunen und schmiedeeisernen Toren umgebenen Platz lagen achtundzwanzig Herrenhäuser. Hier residierten die wohlhabendsten und ältesten Familien von New Orleans – Industriebarone oder auch der Präsident der Tulane University.

Aufgrund ihrer leicht erhöhten Lage hatte die Gegend den Sturm nahezu unbeschadet überstanden. Ganz im Gegensatz zu jenen Gebieten, in denen die weniger begüterten Bewohner von New Orleans hausten.

Doch nun waren die Bewohner des Audubon Place in weniger gefährliche Gefilde geflohen, und die vornehmen Häuser standen verlassen da. Eine leichte Beute für Plünderer – und eine sehr ergiebige noch dazu.

Auf dem Weg dorthin überstürzten sich Pattis Gedanken. Vielleicht erwies sich die Durchsage als falsch – wie so viele in den vergangenen Tagen. Und wenn nicht – wer war der Officer? War er tot? Oder nur verletzt? Wie gravierend waren seine Verletzungen – und wie zum Teufel sollte sie einen Notfallwagen herbeirufen?

Endlich erreichte sie ihr Ziel. Ein anderer Streifenwagen war vor ihr eingetroffen. Und die Berichte über die Privatarmeen waren wohl doch keine Gerüchte gewesen.

Vier schwer bewaffnete Männer in Tarnanzügen standen auf dem Nachbargrundstück unter einer prachtvoll geschwungenen Toreinfahrt. Um sie herum befand sich eine Ansammlung von Geländewagen und ein Bulldozer.

Patti kletterte aus dem Wagen. Die Beifahrertür des anderen Streifenwagens wurde geöffnet. Detective Tony Sciame, einer der Männer aus ihrem Team, stieg aus. Während seiner fast dreißig Jahre im Polizeidienst hatte er praktisch alles schon erlebt.

Langsam kam er auf sie zu. Seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, schien er um zehn Jahre gealtert.

Sie erwähnte es mit keinem Wort, denn ihr war klar, dass sie auf ihn genauso wirkte.

„Wie ist die Lage?“, erkundigte sie sich.

„Keine Ahnung. Ich bin auch gerade erst eingetroffen. Sie wollen mich nicht näher heranlassen.“

„Wie bitte?“

„Sie sagen, dass sie das Viertel bewachen. Aus Angst um ihre Häuser haben die Anwohner einen privaten Sicherheitsdienst engagiert.“

Mit Geld konnte man sich zwar keine Liebe kaufen, aber alles andere war zu haben – zu einem bestimmten Preis.

Auf dem Weg zu den Wächtern fiel Pattis Blick auf einen dritten Streifenwagen. Er stand ein paar Häuser weiter hinter dem Tor. Unvermittelt wurde ihr Herz schwer wie Blei.

„Wer ist hier verantwortlich?“, fragte sie die Männer.

„Ich. Major Stephens. Blackwater, USA.“

„Captain Patti O’Shay, New Orleans Police Department.“ Sie zeigte ihre Dienstmarke. „Wir haben gehört, dass ein Polizist angeschossen wurde.“

Sorgfältig prüfte Major Stephens ihren Ausweis, ehe er sie hineinwinkte. „Folgen Sie mir.“

Er begleitete Patti zu dem dritten Streifenwagen auf der anderen Seite des Tors. Das Summen der Generatoren, die die Villen mit Strom versorgten, drang an ihr Ohr. So war es immer im Leben: Die Armen traf eine Katastrophe ungleich heftiger als die Reichen.

Und für die Superreichen war Katrina offenbar kaum mehr als eine kleine Unannehmlichkeit.

Das Opfer lag ein paar Meter vor dem Wagen – mit dem Gesicht nach unten im Schlamm.

„Keine Dienstmarke“, erklärte Major Stephens. „Die Waffe ist auch verschwunden.“

Während sie sich der Leiche näherten, wurde der Verwesungsgeruch intensiver. Trotz der Hitze hatte Patti eiskalte Hände.

„Es sieht so aus, als hätte man ihm mit einem schweren Gegenstand auf den Hinterkopf geschlagen“, fuhr der Major fort. „Dann wurde auf ihn geschossen. Zwei Mal. In den Rücken.“

Sie standen vor dem zusammengesunkenen Körper. Patti schaute auf den Toten hinunter. Ihr war schwindlig, und das Blut raste durch ihre Adern.

„Ist wahrscheinlich schon vor dem Sturm passiert. Die Verwesung ist schon ziemlich weit fortgeschritten“, sagte Tony nach kurzem Zögern.

Patti öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, brachte aber keinen Ton heraus.

Sie kannte diesen Officer. Kannte ihn sehr gut. Lange hatten sie ihre Probleme, Hoffnungen und Träume geteilt. Fast dreißig Jahre waren sie miteinander verheiratet gewesen.

Das konnte nicht wahr sein.

Aber es war die Wahrheit.

Ihr Ehemann war tot.

3. KAPITEL

Donnerstag, 20. Oktober

11:00 Uhr

Patti starrte auf den Computerbildschirm. Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Dieser Artikel war inzwischen zwei Monate alt.

„Grauenvoller Mord an NOPD-Captain

New Orleans, 31. August. Der Schock sitzt tief. Vor wenigen Stunden mussten Beamte des NOPD eine grauenvolle Entdeckung machen. Als sie ein Hilferuf vom Audubon Place erreichte, entdeckten sie dort die Leiche eines Kollegen: Captain Sammy O’Shay war seit 30 Jahren unermüdlich für die Bürger von New Orleans im Einsatz. Nun fand seine Karriere ein ebenso schreckliches wie abruptes Ende. Der Täter wird unter den Plünderern vermutet, die in dem Prominentenviertel auf Beutezug waren. Die Ermittlungen wurden unverzüglich aufgenommen.“

Unverzüglich. Patti unterdrückte ein bitteres Lachen. Das war ja wohl ein schlechter Scherz. Die Ermittlungen waren keineswegs unverzüglich aufgenommen worden. Sie waren gar nicht aufgenommen worden. Seit genau acht Wochen war absolut nichts passiert.

Die Stadt und all ihre Behörden befanden sich im Ausnahmezustand. Es ging ums nackte Überleben. Wie sollte man eine Untersuchung ohne Beweise, technische Ausrüstung oder Personal durchführen? New Orleans war ein einziges Chaos. Ein Mord gehörte inzwischen zu den kleineren Problemen. Weite Teile der Stadt verfügten ja noch nicht einmal über eine intakte Trinkwasserversorgung.

Patti grub die Fingernägel in die Handflächen. Sie wollte Antworten. Gewissheit. Bisher wusste sie ja noch nicht einmal wirklich, ob Sammy vor oder nach dem Sturm erschossen worden war.

Nach Ansicht ihres Chefs hatte Sammy die tödliche Kugel getroffen, als er die Plünderer auf frischer Tat ertappte. Das klang durchaus einleuchtend, wenn man Tatort und Tatzeit berücksichtigte. Aber wenn dem so war, warum hatte sich Sammy dann den ganzen Tag lang nicht gemeldet? Vor dem Zusammenbruch des Funkverkehrs hätte er dazu jede Möglichkeit gehabt.

Aber Sammy hatte geschwiegen.

Warum?

Dafür konnte es jede Menge logische Gründe geben. Und noch viel mehr unlogische. Es war zum Verzweifeln.

Während sie sich den pochenden Schmerz aus den Schläfen zu massieren versuchte, rekapitulierte Patti, was sie über Sammys Tod wusste.

Sein Hinterkopf wies eine Verletzung auf, ausgeführt mit einem stumpfen Gegenstand. Dies ließ darauf schließen, dass der Mörder ihn überrascht und von hinten angegriffen hatte. Anschließend war Sammy entwaffnet und ihm mit der eigenen Pistole zwei Mal in den Rücken geschossen worden.

Sein Streifenwagen war nicht verschlossen gewesen. Der Schlüssel steckte im Zündschloss, und das Innere des Fahrzeugs war sauber gewesen. Sammys Dienstmarke und Pistole waren verschwunden, als man ihn gefunden hatte. Da jedermann den Fundort betreten konnte, waren sämtliche verwertbaren Hinweise auf den oder die Täter längst zerstört.

„Captain? Alles in Ordnung?“

Blinzelnd schaute Patti vom Computerbildschirm auf. Detective Spencer Malone stand an der Tür ihres provisorischen Büros. Er war nicht nur einer ihrer Detectives, sondern auch ihr Neffe und Patensohn.

„Mir geht’s gut. Was ist denn?“

Er ging nicht auf ihre Frage ein. „Du hast dir die Schläfen gerieben.“

„Wirklich?“ Irritiert ließ sie die Hände in den Schoß sinken. Seit Sammys Tod waren fast zwei Monate vergangen, und sie hatte allmählich genug vom Mitgefühl der anderen. Es war schmerzhaft genug auch ohne die ständigen Bekundungen von Kollegen und Freunden. Manchmal behandelten sie sie, als könnte sie jeden Moment zusammenbrechen.

Captain Patti O’Shay war Teil einer NOPD-Familiendynastie: Schon Pattis Großvater war ein Cop gewesen, ebenso wie ihr Vater und ihr Schwager. Heute gehörten außerdem noch drei Neffen und eine Nichte dazu. So viel Familie am Arbeitsplatz bedeutete allerdings auch, dass man ständig unter Beobachtung stand.

„Ein bisschen Kopfweh. Nichts Ernstes.“

„Bist du sicher? Vor deinem Herzanfall …“

„… war ich immer müde und habe mir die Schläfen gerieben?“

„Ja.“

Im Frühjahr vor Katrina hatte sie eine leichte Herzattacke gehabt. Aber das hier war etwas vollkommen anderes. „Wie gesagt, mir geht’s gut. Wolltest du was Bestimmtes?“

„Auf einem der Kühlschrank-Friedhöfe gibt es offenbar ein Problem“, sagte Spencer.

Die Einwohner von New Orleans, die wegen Katrina aus der Stadt gebracht worden waren, hatten ihre gefüllten Kühlschränke und Gefriertruhen zurücklassen müssen. Wochenlang waren die Geräte ohne Strom gewesen. Als ihre Besitzer nach und nach zurückkehrten, banden die meisten von ihnen die übel riechenden Geräte mit Seilen fest zusammen und stellten sie an den Straßenrand. Von dort aus wurden sie auf einen der zahlreichen Sammelplätze in der Stadt transportiert, wo sie von einer Abteilung der Umweltschutzbehörde geleert wurden. Diese Sammelstellen wurden „Kühlschrank-Friedhöfe“ genannt.

„Ein Problem?“, wiederholte sie.

„Ein ziemlich großes. Die Leute von der Umweltschutzbehörde haben in einem der Geräte eine interessante Entdeckung gemacht: ein halbes Dutzend menschliche Hände.“

Patti fuhr mit Spencer zum Fundort. Der Einsatzleiter der Umweltbehörde, ein Mann namens Jim Douglas, begrüßte sie schon, ehe sie ausgestiegen waren.

„So was Ekelhaftes habe ich noch nie erlebt“, gestand er. „Zuerst habe ich gedacht, Paul will mich auf den Arm nehmen. Wenn man den ganzen Tag mit so was beschäftigt ist …“, mit einer ausladenden Handbewegung deutete er über den Platz, „… macht man schon mal gern ein paar Witze, wenn Sie verstehen.“

„Vollkommen“, murmelte Spencer. „Und jetzt verstehe ich auch endlich, warum manche Leute sagen, dass ihnen ihr Job stinkt.“

„Das können Sie laut sagen. Keine Sorge, Sie gewöhnen sich an den Geruch.“

Patti machte sich nicht die Mühe, ihm zu erklären, dass eine der ersten und wichtigsten Lektionen bei der Polizei darin bestand, sich Erkältungssalbe unter die Nase zu reiben, ehe man einen Tatort wie diesen aufsuchte.

Hier stank es allerdings erbärmlicher als alles, was sie jemals erlebt hatte – und das wollte etwas heißen. Ihre Augen tränten jetzt schon, dabei hatten sie das Areal noch nicht einmal richtig betreten.

Der Mann begleitete sie zu einem Container. „Ich habe Overalls und Gesichtsmasken für Sie. Sie werden Sie brauchen.“

Er winkte sie hinein und reichte ihnen weiße Schutzanzüge mit Kapuzen, Überziehschuhe und Atemschutzmasken.

Nachdem sie die Kleidung angelegt hatten, eilten sie zu der Stelle, wo der bewusste Kühlschrank stand. Patti erschien die Szenerie vollkommen irreal: endlos lange Reihen von entsorgten Kühlschränken und Tiefkühlgeräten, wohin das Auge blickte. Lebensmittelgräber auf einem riesigen, im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel stinkenden Friedhof.

Manche Kühlschränke verkündeten Botschaften, die die wütenden, resignierten oder enttäuschten Opfer des Hurrikans auf die Geräte geschrieben hatten: mit „Bis dann, Sir Stinker“, „Verwese in Frieden!“ oder „Vielen Dank, Katrina“.

An vielen der Haushaltsgeräte klebten noch Kalender, Kinderzeichnungen und Fotos. Jedes war ein Schnappschuss von einem aus den Fugen geratenen Leben. Ein Dokument aus einer Zeit, die für immer vorbei war.

„Diese Geräte enthalten gesundheitsschädliche Abfälle“, erklärte Douglas, während sie an einer Reihe von unbrauchbar gewordenen Kühlschränken entlanggingen. „Deshalb ist die Umweltschutzbehörde hier. Erst räumen wir den Inhalt aus. So haben wir die Hände entdeckt. Dann säubern wir das Gerät mit einem Hochdruckreiniger, entsorgen die Kühlflüssigkeit aus den Aggregaten und das Öl aus den Kompressoren.“

„Wie viele Kühlgeräte liegen hier denn?“, fragte Spencer. Dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen empfand er die Szenerie offenbar ebenso bizarr wie Patti. Allerdings gab es in New Orleans seit dem 29. August kaum noch etwas, das nicht bizarr wirkte.

„Etwa zehntausend“, antwortete Douglas. „Und wir haben gerade erst angefangen. Insgesamt rechnen wir mit einer Viertel Million.“

Spencer pfiff durch die Zähne. „Das sind ja eine Menge Stinkbomben.“

Der Mann musste grinsen. „Das können Sie laut sagen. Die gute Nachricht ist: Sie werden recycelt. Wenn wir sie geleert haben, werden sie zusammengepresst und in einer Fabrik geschreddert. Danach wird das Material getrennt. Das ist schon eine tolle Sache – wenn man das überhaupt so sehen kann. So, da wären wir.“

Weder Patti noch Spencer hätten das Gerät übersehen können. Der leitende Officer hatte die Umgebung weiträumig abgesperrt. Zwei Männer, ebenfalls in Schutzanzügen, standen auf der anderen Seite des Absperrbands.

Dann sahen sie die Hände. Oder das, was von ihnen übrig geblieben war. Sie waren fast vollständig skelettiert. Man hatte sie auf einer Plastikplane ausgebreitet, die auf der Erde ausgebreitet war. Neben jeder lag ein Plastikbeutel mit Reißverschluss. Patti überlegte, ob sie aus diesen Überresten brauchbare DNS gewinnen könnten. Der Inhalt der Beutel erinnerte sie an Gumbo, das klassische Eintopfgericht der Südstaaten.

DNS-Suppe. Sehr appetitlich.

Patti konzentrierte sich auf den Kühlschrank. Es war ein einfaches Modell mit einem Dreisternegefrierfach, eine schlichte Ausführung ohne Eiswürfelspender.

Der größere der beiden Männer trat einen Schritt vor. „Officer Conelly, Captain. Ich habe den Anruf entgegengenommen.“

„Haben Sie das Gebiet abgesperrt?“

„Ja. Ich habe den Fund bestätigt und gemeldet.“

„Gut. Rufen Sie im Revier an und fragen Sie, ob sie uns ein Team von der Spurensicherung schicken können.“ Sie wandte sich an den anderen Mann. „Paul, ich bin Captain O’Shay, und das ist Detective Malone. Sie haben die Hände gefunden?“

Er nickte. „Wahrscheinlich hätte ich Jim sofort holen sollen, aber ich hab erst gar nicht geschnallt, was das war. Als es mir dann schließlich klar wurde, war ich wie vom Donner gerührt, das können Sie mir glauben.“

„Das wäre jedem so gegangen, Paul. Erzählen Sie uns doch bitte genau, was passiert ist.“

„Also, wir gehen immer nach derselben Methode vor: Erst leeren wir die Geräte. Werfen alles in die Abfallcontainer. Entweder mit der Hand oder mit Greifzangen. Und danach kommt der Hochdruckreiniger. Meistens finden wir nur Matsch in den Kühlschränken. Die Dinger haben ja seit Wochen keinen Strom mehr gehabt. Es ist schon ziemlich ekelhaft.“

Das glaubte Patti ihm aufs Wort. „Wo haben Sie die Hände entdeckt?“

„Die waren in dem Kühlschrank da.“ Er zeigte mit dem Finger auf das Gerät. „Mir wäre gar nichts aufgefallen, wenn nicht einer der Säcke gerissen wäre. Da hatte wohl der liebe Gott seine Finger im Spiel.“

Und ganz bestimmt auch der Teufel, dachte Patti.

„Aber Sie haben Mr. Douglas nicht sofort geholt?“

„Ich war wie vom Donner gerührt, das können Sie mir glauben. Erst habe ich gar nicht kapiert, was ich da gesehen habe. Dachte, einer meiner Kumpels hätte sich einen schlechten Scherz erlaubt.“

Seine Stimme zitterte ein wenig. Ob vor Aufregung oder Entsetzen, da war Patti sich nicht ganz sicher.

„Also hab ich die eine da erst einmal auf den Boden gelegt, um sie mir genauer anzusehen. Na ja, sie hat wirklich nicht wie ein Plastikding ausgesehen. Dann habe ich die nächste gefunden.“ Er warf Douglas einen Blick zu. „Und habe Jim geholt.“

„Und gemeinsam haben Sie dann vier weitere rausgeholt?“ Wieder nickte er. „Nachdem uns klar war, um was es sich da handelte, waren wir sehr vorsichtig.“

„Sehr gut.“ Sie schaute zu Douglas hinüber. „Wissen wir, woher der Kühlschrank stammt?“

„Irgendwo aus der Innenstadt von New Orleans.“

„Sie können nicht sagen, aus welcher Straße …?“

„Nur den Bezirk.“

Das war zwar keine befriedigende Antwort, aber sie war nicht überrascht. Die Säuberungsaktionen waren gigantisch. Die Trümmer, die der Sturm zurückgelassen hatte, entsprachen ungefähr der Schuttmenge, die sich sonst innerhalb von dreißig Jahren in New Orleans ansammelte. Rund neunzig Millionen Kubikmeter. Damit konnte man den Superdome zweiundzwanzig Mal bis zum Rand zu füllen.

Sie wandte sich wieder an Paul. „Ist Ihnen sonst irgendetwas Ungewöhnliches an dem Gerät aufgefallen?“

Er überlegte einen Moment. „Nichts. Tut mir leid.“

„Falls Ihnen noch was einfällt, sagen Sie uns Bescheid.“ Sie reichte Jim Douglas die Hand. „Wir schauen uns hier mal ein wenig um. Wenn die Spurensicherung kommt, schicken Sie sie bitte hierher?“

Das werde er tun, versicherte er, und während er mit Paul davonging, wandte sie sich an Spencer. Er kauerte vor den Händen.

„Es sind alles rechte Hände“, stellte er fest. „Also sechs Opfer.“

Sie runzelte die Stirn. „Warum rechte Hände?“

„Warum überhaupt Hände?“, konterte er.

„Offensichtlich sind es Trophäen.“

„Dann schlägt Katrina zu, und dieser perverse Dreckskerl verliert seine Sammlung.“ Er streifte Latexhandschuhe über und legte seine eigene Hand neben die skelettierten Überreste. „Frauenhände. Für einen Mann sind sie zu klein.“

Sie zog ebenfalls Handschuhe an und hockte sich neben ihn. Beim Vergleichen stellte sie fest, dass die Hände etwa so groß waren wie ihre eigenen. „Sie könnten aber auch zu einem männlichen Jugendlichen gehören. Einem Teenager vielleicht.“

„Vielleicht.“ Spencer legte den Kopf schräg. „Schau dir das hier an. Diese vier sind sehr sauber abgetrennt.“

„Und diese beiden einfach abgehackt“, murmelte Patti.

„Mit der Zeit hat er es besser hingekriegt.“

„Übung macht den Meister.“

„Ein ziemlich abgefahrener Gedanke.“

„Ich habe noch einen.“ Patti erhob sich. „Sie waren alle gefroren. Der Verwesungsprozess hat bei allen gleichzeitig eingesetzt – als der Strom ausfiel.“

„Also können wir nicht feststellen, wann die Verstümmelung stattgefunden hat“, setzte Spencer ihre Überlegungen fort. „Hätte kurz vor Katrina sein können …“

„Oder vor Jahren.“

„Genau.“

„Und wir wissen nicht, wie viele Leute sich an diesem Kühlschrank zu schaffen gemacht haben. Oder wie lange er im Freien gestanden hat und dem Wetter ausgesetzt war.“

Spencer runzelte die Stirn. „Es grenzt also an ein Wunder, wenn wir Spuren finden.“ Damit meinte er Indizien wie Haare oder Fasern.

„Oder brauchbare Fingerabdrücke“, nickte Patti. „Wir wissen ja nicht mal, woher der Kühlschrank stammt. Wir hängen also vollkommen in der Luft.“

„Wie frustrierend“, stöhnte Spencer.

„Da hast du recht“, entgegnete Patti. „Selbst wenn wir tatsächlich verwertbare DNS entdecken, wüssten wir nicht, womit wir sie vergleichen sollen.“

„Das wird immer düsterer und unbefriedigender“, murmelte Spencer. „Da macht die Arbeit ja richtig Spaß.“ Das sollte witzig sein.

Die Spurensicherung, bestehend aus einem einzigen Mann, traf ein. Patti erkannte ihn an seiner Ausrüstung. Offenbar musste er alles im Alleingang machen – Fotografieren, Fingerabdrücke nehmen, Hinweise sammeln.

Patti überlegte, wo sie ihn wohl aufgetrieben hatten. Es gab kaum noch bewohnbare Häuser, und selbst die Leute, die noch Arbeit hatten, wussten nicht, wo sie leben sollten. Hunderte NOPD-Officer wohnten derzeit auf einem Vergnügungsdampfer, der am Ufer des Mississippi mitten in der Stadt lag.

„Grundgütiger“, sagte der Beamte, während er seine Utensilien abstellte. „Was haben wir denn hier?“

Spencer zeigte mit dem Finger darauf. „Die Kollektion eines Sammlers.“

Der Mann schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf. „Das wird ja immer makaberer. Das Verrückteste, das ich bisher gesehen habe, war der Hai, der über den Veterans Boulevard geschwommen ist. So was vergisst du dein ganzes Leben nicht mehr. Aber das hier …“

Er machte seine Kamera fertig. „Ich bin bei meiner Mom in St. Tammany untergeschlüpft. Auf ihrem Grundstück sind vierzig Bäume umgestürzt, aber keiner ist ihr aufs Haus gefallen. Können Sie sich das vorstellen?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, begann er mit seiner Arbeit. Patti lächelte schief. Es gab kaum jemanden, der nicht etwas Ähnliches erlebt hatte. Nach Katrina konnte jeder jedem seine persönliche Sturmgeschichte erzählen.

Sie wandte sich an den anderen Officer. „Conelly, helfen Sie ihm. Sehen Sie zu, dass nichts übersehen wird. Melden Sie sich bei mir, wenn Sie fertig sind.“

Zusammen mit Spencer ging sie zum Wagen zurück. Sie sprachen erst wieder, als sie ihre Schutzanzüge ausgezogen hatten und in Spencers altem Camaro saßen.

„Wir suchen zunächst nach einem Opfer“, begann Patti. „Schau im Computer nach, ob es einen Bericht über jemanden gibt, dem eine Hand fehlt. Tony soll dir dabei …“

Sie wollte gerade sagen „zur Hand gehen“. Er hatte erraten, warum sie sich unterbrochen hatte, und musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

Sie lächelte grimmig. „Detective Sciame soll dir helfen. Halt mich auf dem Laufenden.“

Er nickte, und sie verfielen wieder in Schweigen. Während Spencer den Wagen lenkte, schaute Patti hinaus in die zerstörte Landschaft und geriet ins Grübeln. Nicht genug damit, dass die Stadt praktisch wieder neu aufgebaut werden musste. Jetzt mussten sie auch noch einen Serienmörder fangen.

4. KAPITEL

Zwei Jahre später

Freitag, 20. April

12:00 Uhr

Der City Park war über fünf Quadratkilometer groß, eine lang gestreckte Parklandschaft im Herzen von New Orleans. Er galt als eine der ältesten städtischen Grünanlagen Amerikas. Vor Katrina hatte es hier drei Golfplätze, ein Tenniszentrum und mehrere Seen mit Gondeln und Paddelbooten gegeben, daneben ein Märchenland, einen Vergnügungspark und das New Orleans Museum of Art. Es würde noch eine Weile dauern, bis der Park wieder in seiner ursprünglichen Pracht erblühte.

An diesem Freitag war er der Schauplatz einer grausigen Entdeckung. Man hatte menschliche Überreste gefunden.

Spencer parkte seinen Camaro, Jahrgang 1977, vor dem Bayou Oaks Golfzentrum. Der Einsatzleiter hatte von „skelettierten Fundstücken“ gesprochen. Es waren sicherlich nicht die ersten in seiner Karriere. Das subtropische Klima Louisianas mit ausgiebigen Regenfällen, langen heißen Sommern und saurem Boden beschleunigte den Verwesungsprozess. In dieser Umgebung dauerte es oft kaum mehr als zwei Wochen, bis von einer Leiche nur noch die Knochen und ein paar Faserreste übrig waren.

Mit röhrendem Motor rollte Detective Tony Sciame auf den kiesbedeckten Platz. Spencer schlenderte zu seinem Kollegen hinüber. Sein Ford Taurus hatte auch schon bessere Tage gesehen. Die Tür flog auf, und Tony hievte sich aus dem Gefährt.

Der Duft von Pommes frites umwehte ihn. Der Anruf hatte ihn offenbar beim Mittagessen gestört.

„Hallo, Pasta“, begrüßte Spencer ihn. „Weiß Betty eigentlich, dass du diesen Müll in dich hineinstopfst?“

Betty und Tony waren seit vierunddreißig Jahren verheiratet. Sie achtete sehr genau auf die Ernährung ihres Mannes, im absoluten Gegensatz zu ihm. Im Lauf der Jahre hatte sich zwischen den beiden daher regelrecht ein kulinarischer Machtkampf entwickelt.

„Klar weiß sie das, Grünschnabel. Meine Betty ist schließlich eine sehr kluge Frau.“

Spencer grinste und schaute zum Himmel hinauf. „Prima Tag für eine Runde Golf.“

Tony brach in schallendes Gelächter aus. „Angeber! Du hast doch noch nie einen Schläger geschwungen – abgesehen von dem einen Mal, als du dich in den Streit zwischen diesen zwei Golfern in ihren schicken karierten Hosen eingemischt hast.“

„Was nicht heißt, dass ich es nicht doch mal ausprobieren könnte.“ Während sie nebeneinander herliefen, warf er seinem Partner einen belustigten Blick zu. „Und ich würde mich an deiner Stelle sehr zurückhalten mit Bemerkungen über die modischen Vorlieben anderer Leute.“

„Wie bitte?“ Tony schaute an sich herunter. „Ich seh doch gut aus.“

Seine Hose war etwas zu grün, um als khaki durchzugehen; die Farbe erinnerte eher an den Mageninhalt, den jemand im Rinnstein entsorgt hatte. Dazu trug er ein wild gemustertes Hemd, dessen vorherrschender Farbton orange war.

„Klar. Für einen Farbenblinden bestimmt.“

Tony schnaubte verächtlich. „Du bist ja bloß neidisch, weil ich genügend Selbstbewusstsein habe, um kräftige Farben zu tragen.“

„Hauptsache, du glaubst, was du sagst, mein Bester“, feixte Spencer. Er rief den älteren Kollegen wegen seiner Vorliebe für Nudeln „Pasta“, während Tonys Spitznahme für ihn – „Slick“ – auf Spencers Jugend und Unerfahrenheit abzielte. Obwohl sie sich praktisch den ganzen Tag über anfrotzelten, mochten und respektierten sie einander. Und, was am allerwichtigsten war, sie vertrauten einander uneingeschränkt.

Beim NOPD bildeten die Detectives offiziell keine festen Teams, sondern wechselten turnusmäßig den Partner. Wenn eine Straftat gemeldet wurde, wurde derjenige damit betraut, der gerade frei war, und er suchte sich jemanden aus. Natürlich wählten alle in der Regel den Kollegen, mit dem sie am besten zurechtkamen, und so waren über die Jahre doch mehr oder weniger Partner zusammengewachsen.

Spencer und Tony gaben allerdings ein seltsames Paar ab. Spencer war dreiunddreißig und Single; Tony war länger verheiratet, als sein Partner überhaupt auf der Welt war, und er hatte vier Kinder. Spencer arbeitete noch nicht besonders lange bei der Mordkommission, Tony war schon seit siebenundzwanzig Jahren bei der Truppe. Spencer galt als ungestümer Hitzkopf; Tony als ebenso besonnen wie hartnäckig.

Der Hase und der Igel. Nicht gerade sexy, aber in ihrem Fall sehr effizient.

„Hi, Mikey“, begrüßte Spencer den leitenden Officer. Er hatte mit Spencers Bruder Percy die Abschlussklasse an der Polizeiakademie besucht und sie waren dicke Freunde gewesen. „Was haben wir denn?“

Mikey grinste. „Hallo, Spencer, Detective Sciame. Erster Abschlag, Richtung Westen. Ein Skelett. Ziemlich vollständig.“

„Mann oder Frau?“

„Keine Ahnung. Ist nicht mein Fachgebiet.“

„Wen schickt die Pathologie?“

„Die Knochenlady. Elizabeth Walker.“

„Papiere?“

„Nichts. Auch keine persönliche Habe. Aber vielleicht ist ja was im Grab. Wir haben die Leiche nicht bewegt. Landry ist schon auf dem Weg.“

Vor etwa zehn Jahren hatte das NOPD entschieden, dass es besser sei, die Verbrechen dort zu bekämpfen, wo sie geschahen. Darum wurden die Abteilungen dezentralisiert und in die acht Distrikte verlegt. Die Detectives kümmerten sich seitdem um alle möglichen Delikte.

„Gut gemacht, Mikey. Vielleicht wird aus dir ja doch noch ein richtiger Cop.“

„Leck mich.“

„Werd mich hüten. Nachher gefällt’s dir noch.“

„Könnt ihr euer Liebesgeplänkel auf später verschieben?“, schaltete Tony sich ein. „Ich würde gern einen Blick auf die Leiche werfen, ehe sie sie eingepackt und abtransportiert haben.“

„Der Ingenieur und der Landschaftsgärtner, die den Golfplatz wieder auf Vordermann bringen, haben das Grab gefunden. Sind sozusagen drüber gestolpert“, fuhr Mikey unbeeindruckt fort.

Spencer runzelte die Stirn. „Was soll das heißen – drüber gestolpert?“

„Eben genau das. Der Ingenieur hat den Schock seines Lebens gekriegt. Der arme Kerl ist sozusagen mit der Nase darauf gestoßen. Wäre das nicht passiert, hätten sie das Grab vermutlich gar nicht gefunden.“

„Hast du Namen und Telefonnummern von den beiden?“

Er nickte und fügte hinzu: „Ich habe ihnen gesagt, dass sie heute Nachmittag mit einem Besuch des NOPD rechnen sollen.“ Der Officer zeigte zu den Golfwagen, die in Reih und Glied geparkt waren. „Sucht euch einen aus. Die Schlüssel stecken.“

Sie gingen zu einem Wagen und kletterten hinein. Tony setzte sich hinters Steuer.

Spencer warf seinem Partner einen Blick zu. „Schon komisch, dass wir ausgerechnet hier eine Leiche finden.“

Die Detectives hatten erst vor wenigen Monaten ins Präsidium in der Broad Street zurückkehren können. Bis dahin war die gesamte Abteilung in diesem Park in Wohnwagen untergebracht gewesen.

„Das kann man wohl sagen.“

Während Tony fuhr, betrachtete Spencer die Umgebung. Katrina hatte im City Park schwere Verwüstungen angerichtet. Einen Tag nach dem Hurrikan standen neunzig Prozent des Geländes bis zu drei Metern unter Wasser. Dass zusätzlich Wassermassen aus dem Golf von Mexiko hereingeströmt waren, hatte das Unglück noch verschlimmert. Das Salz hatte den gesamten Rasen und zahlreiche empfindliche Pflanzenarten im Park zerstört.

Aber wie die Stadt selbst war der Park in den vergangenen zwei Jahren wieder zu neuem Leben erwacht – obwohl er noch weit entfernt war von der beeindruckenden Pracht und Schönheit vergangener Tage.

Sie erreichten ihr Ziel. Mikey und sein Partner hatten den Fundort weiträumig abgesperrt. Tony parkte den Wagen dicht neben dem Absperrband. Sie stiegen aus und gingen zu dem Officer hinüber. Spencer kannte ihn nicht. Vermutlich war er erst nach dem Hurrikan eingestellt worden.

So wurde in diesen Wochen und Monaten die Zeit im Big Easy eingeteilt: vor und nach Katrina. Es half den Einwohnern von New Orleans, ihr Leben zu strukturieren und ihr persönliches Schicksal zu bewältigen.

Spencer half es auf jeden Fall.

Vor der „Sache“, wie der Lokalreporter Chris Rose die Katastrophe bezeichnete, war Spencer davon überzeugt gewesen, seine Dämonen endgültig besiegt zu haben. Er hatte sich in seiner Haut wohl und an seinem Platz im Universum sicher gefühlt, so winzig dieser Platz auch sein mochte.

Doch der Mord an Sammy, Katrina und das nachfolgende Chaos hatten ihn zutiefst verunsichert. Das Gefühl von Sicherheit war verschwunden. Jetzt kamen die Zweifel. Die kritischen Fragen. Wie alle anderen hatte er die Erfahrung machen müssen, dass das Leben unberechenbar war. Nichts war von Dauer.

Er grübelte viel darüber nach. An einem Tag war er mit sich und der Welt im Reinen, am nächsten Tag war genau das Gegenteil der Fall. Ein Polizist lebte immer mit der Unsicherheit, aber das hier war etwas anderes. Katrina hatte ihm vor Augen geführt, dass man sich aufs nichts verlassen konnte … nirgendwo auf der Welt.

Er und Tony trugen sich ins Protokollbuch ein, duckten sich unter das Absperrband und gesellten sich zu der Gruppe, die um das Grab herumstand.

Etwa anderthalb Meter hinter der Abschlagstelle, im Schatten eines großen Baumes, hatten die Ermittler ihre Fotos gemacht und mit der Ausgrabung begonnen. Elizabeth Walker hockte neben ihnen und sah ihnen gespannt dabei zu.

Das Skelett war in der Tat noch fast vollkommen erhalten und lag mit dem Gesicht nach oben. Fetzen, die wie Reste von Kleidung aussahen, klebten an den mit Flecken gesprenkelten Knochen.

„Hallo, Terry“, begrüßte Spencer den Detective. „Wie läuft’s denn?“

„Kann nicht klagen, obwohl ich das ja gerne tue.“ Terry lächelte. „Und wie geht’s dir?“

„Genauso. Ich werde Quentin erzählen, dass wir uns getroffen haben.“

„Bloß nicht. Erinnere diesen Nassauer lieber daran, dass er mir noch ein Bier schuldet.“

Spencer lachte. Quentin und Terry Landry waren Partner gewesen, ehe Quentin sich entschieden hatte, den Polizeidienst an den Nagel hängen und Jura zu studieren. Inzwischen war er stellvertretender Bezirksstaatsanwalt. Tatsächlich gab es so gut wie niemanden in der Stadt, der nicht schon einmal mit einem Mitglied der Malone-Familie gearbeitet – oder gefeiert – hatte.

Elizabeth Walker warf ihm über ihre Schulter einen Blick zu. Die Afroamerikanerin hatte ihre Kindheit in einem New Orleans verbracht, in dem die Rassenintegration noch nicht sehr weit vorangeschritten gewesen war. Sie strahlte das Selbstbewusstsein einer Frau aus, die sich alles hart hatte erarbeiten müssen. Elizabeth verfügte über eine genaue Beobachtungsgabe und einen trockenen Humor. „Ein Malone. Gott steh uns bei!“

„Schön, Sie zu sehen.“ Er hockte sich neben sie. „Was glauben Sie?“

„Hundertprozentig eine Frau.“ Sie zeigte auf den Beckenknochen. „Sehen Sie, wie kurz der ist? Und wie breit die Beckenschale?“

„Alter?“

„Jung. Keine fünfundzwanzig. Ihre Knochen sind noch nicht ausgewachsen. Genaueres weiß ich erst, wenn ich ihren Rücken geröntgt habe.“ Sie hielt kurz inne. „Nach der Farbe zu urteilen liegt sie schon eine ganze Weile hier draußen. Ich vermute mal, ein paar Jahre.“

„Mit draußen meinen Sie, Wind und Wetter ausgesetzt?“

„Genau. Schauen Sie mal, wie trocken der Knochen aussieht. Keine glatte, elfenbeinartige Beschichtung. Und dieses marmorartige Grau-Weiß. Knochen sind porös. Hätte sie tiefer in der Erde gelegen, dann hätte sie Farbe angenommen.“

„War sie denn überhaupt vergraben?“

„Ich schätze ja, aber Wind und Regen haben den Boden und den Schutt weggeschwemmt. Vielleicht waren es auch die Fluten von Katrina.“

Spencer betrachtete das Opfer. „So lange könnte sie schon hier gelegen haben?“

„Auf jeden Fall.“

Spencer wechselte einen Blick mit Tony. „Ein flaches Grab. Vielleicht hatte unser Täter es eilig.“

Tony nickte. „Oder es war ihm egal, ob sie gefunden wurde.“

Spencer streifte Latexhandschuhe über und schob vorsichtig Laub und anderen Schmutz beiseite. Stofffetzen klebten in ihrer Beckengegend. Ihr Slip, überlegte er. Ob sie noch etwas anderes getragen hatte?

Die Gerichtsmedizinerin schien seine Gedanken zu erraten. „Synthetisches Material“, sagte sie. „Nylon vielleicht. Natürliche Gewebe wie Baumwolle und Seide verrotten schnell, wenn sie den Elementen ausgesetzt sind; aber Synthetisches überdauert Jahre. Sie war angezogen. Schau mal.“

Ein Reißverschluss. Er lag zwischen Blättern und Pinienzweigen. Das Kleidungsstück, das er einst geschlossen hatte, war längst verrottet.

„Sie hatte Brustimplantate. Die verwesen nicht.“

„Etwas für die Ewigkeit“, murmelte Tony trocken. „Das ist doch mal ein Verkaufsargument.“

Elizabeth lachte. „So habe ich das noch gar nicht gesehen.“

„Ist das alles?“, fragte Spencer.

„Ehe ich sie in der Pathologie habe? Ziemlich. Bis auf die fehlende rechte Hand gibt es keine offensichtlichen Verletzungen an den Knochen. Und vor allen Dingen nichts, was die Todesursache sein könnte.“

Fehlende Hand? Einen Augenblick lang glaubte Spencer, sich verhört zu haben. Sein Blick wanderte zu ihrem rechten Arm und von dort aus hinunter zu der Stelle, wo die Hand hätte sein sollen.

Wo sie sein sollte. Aber nicht war.

Der Serienmörder, den die Medien „Handyman“ getauft hatten, war nie gefunden worden. Zwischen dem Mangel an Beweisen und dem Chaos, das Katrina angerichtet hatte, waren die Ermittlungen ins Leere gelaufen und schließlich eingestellt worden.

War das hier eines seiner Opfer?

Aufgeregt hob Spencer den Blick. Tony schien den gleichen Gedanken zu haben.

„Irgendein Aasfresser könnte sie weggeschleppt haben“, überlegte Tony laut.

Elizabeth schüttelte den Kopf. „Unmöglich. Sehen Sie sich den Knochen an, Detective. Das war ein sauberer Schnitt. Wie eine Amputation.“

Die drei wechselten bedeutungsvolle Blicke. „Ziemlich interessant, dass jetzt ein Opfer auftaucht. Falls diese Überreste zu einem der Opfer von Handyman gehören.“

„Du zweifelst daran?“

Die Gerichtsmedizinerin schien die Gedanken der beiden zu lesen. „Ich nehme an, das Wichtigste für Sie ist zu wissen, ob eine der Hände zu dieser Frau gehört?“

„Wie lange dauert das?“

„Nicht lange. Wir tüten sie jetzt ein und bringen sie ins Labor. Knochen sind genauso einzigartig wie Fingerabdrücke. Und sie lügen nicht. Wenn eine der Hände zu ihr gehört, werden wir es bald wissen.“

„Wenn wir ihre Identität herausfinden könnten, hätten wir das große Los gezogen. Mit dem Namen des Opfers würden sich für die Ermittlungen neue Türen öffnen.“

„Ich werde nachsehen, ob ich ähnliche Knochenverletzungen finden kann. Das könnte helfen. Und natürlich ihre Zähne.“

„Wie genau werden Sie den Zeitpunkt ihres Todes eingrenzen können?“

„Nicht sehr viel mehr, als ich es schon getan habe. Leider. Aber ich werde mich zuerst um diesen Fall kümmern und Sie anrufen, sobald ich mehr weiß.“

Spencer bedankte sich bei ihr, ehe er mit Tony zum Golfwagen zurückging. „Wenn sie nach Katrina ermordet wurde, ist Handyman in der Nähe. Und zwar aktiv.“

„Detectives!“, rief Elizabeth hinter ihnen her. „Wir haben noch etwas gefunden.“

Sie machten auf der Stelle kehrt. Einer der Ermittler hielt das Fundstück zwischen seinen behandschuhten Fingern hielt. Er hob es hoch.

Eine Dienstmarke des New Orleans Police Departments. Nummer 364.

Spencer starrte auf die Dienstmarke. Sein Herz raste wie wild. Er stieß einen undefinierbaren Laut aus und spürte die Blicke der anderen, die auf ihn gerichtet waren. Er hatte das Gefühl, in eine Nebelwand geraten zu sein. Die Zeit schien stillzustehen.

Er kannte die Nummer dieser Dienstmarke. Er kannte sie sehr gut.

„Grünschnabel? Was ist denn?“

Spencer blickte zu Tony. „Eine Antwort haben wir bereits. Sie wurde vor Katrina ermordet. Kurz vorher.“

Auf den verständnislosen Blick seines Kollegen fügte er hinzu: „Diese Dienstmarke gehörte Captain Sammy O’Shay.“

Seine Worte schlugen ein wie eine Bombe. Einen Moment lang sagte keiner ein Wort.

Tony brach das Schweigen als Erster. „Bist du sicher? Vollkommen si…“

„Ja, zum Teufel.“

Elizabeth räusperte sich. „Wie wollen Sie jetzt weiter vorgehen, Detective?“

„Ich verständige Captain O’Shay. Sie wird bestimmt selbst rauskommen wollen. Ab sofort bestimmt sie, wie es weitergehen soll.“

5. KAPITEL

Freitag, 20. April

15:00 Uhr

Patti hielt die Dienstmarke in ihren behandschuhten Händen, die unmerklich zitterten. Ihr Brustkorb schmerzte, als habe sie einen Faustschlag erhalten. Eine frische Brise fuhr raschelnd durch die Blätter des Ahornbaums. Einer der Ermittler trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Der Rest der Gruppe war still und wartete. Man wollte ihr Zeit lassen.

Sie sah auf und ging im Kreis umher. Sympathie schlug ihr entgegen. In den Mienen ihrer Kollegen zeichneten sich Betroffenheit und Trauer ab.

Und Wut.

Ein Polizist war getötet worden. Einer von ihnen.

„Es tut mir so leid, Tante Patti“, sagte Spencer leise und legte eine Hand auf ihre Schulter.

„Mir nicht“, sagte sie. Ihre Stimme war klar und fest. „Sammy ist tot, das ist schlimm genug. Aber das hier gibt mir endlich die Möglichkeit, den Mistkerl zu finden, der ihn auf dem Gewissen hat.“

„Glaubst du?“

„Natürlich. Es ändert alles. Damit ist die Theorie von den Plünderern, die ihn ermordet haben, hinfällig.“

„Vielleicht.“

„Nicht vielleicht. Sammy ist dem Mörder begegnet, wahrscheinlich während der Tat oder kurz danach. Deshalb musste er sterben.“

„Das ist eine Erklärung.“

„Hast du eine andere?“

Sie könnte ihn getötet haben.“

„Nicht sehr wahrscheinlich.“

„Aber denkbar.“

Sie seufzte frustriert. „Alles ist denkbar.“

„Die Dienstmarke“, begann Spencer, „könnte durch einen …“

„… Zufall in das Grab geraten sein? Ich bitte dich, Detective! Sie wurde unter ihren Überresten gefunden, nicht inmitten des Mülls rund um das Grab. Ich vermute, der Schweinehund hat Sammys Dienstmarke in das Grab geworfen und dann erst die Leiche.“

„So könnte es passiert sein. Zweifellos. Aber wir sollten die anderen Möglichkeiten nicht von vornherein ausschließen.“

„Die anderen Möglichkeiten?“, entgegnete sie, plötzlich verärgert. Die anderen schwiegen betreten. „Was sind denn das für Möglichkeiten? Im Moment habe ich nur diese eine hier. Und bei der werde ich vorerst bleiben.“

6. KAPITEL

Freitag, 20. April

19:10 Uhr

Stunden später saß Patti noch immer an ihrem Schreibtisch. Endlich war Ruhe eingekehrt. Wenn die Detectives nicht bis über beide Ohren in Ermittlungen steckten, arbeiteten sie von acht bis siebzehn Uhr. Um diese Zeit waren die meisten also schon nach Hause gegangen. Per Handy oder Funkgerät waren sie allerdings rund um die Uhr zu erreichen.

Patti verschwendete keinen Gedanken an ihren Feierabend – und auch nicht an das bevorstehende Wochenende. Endlich hatte sie eine Spur im Mordfall Sammy.

Die zwei Jahre, die seit seinem Tod vergangen waren, hatten ihre Trauer nicht zu verringern vermocht. Die Zeit heilt alle Wunden?

Patti wusste es besser. Sie würde erst einen Schlussstrich ziehen können, wenn Sammy Gerechtigkeit widerfahren war.

Und ihrem Kummer. Und ihrem Zorn.

Pattis Ehe und das NOPD waren ihr ganzes Leben, und seit Sammys Tod hatte sie das Gefühl, beides verloren zu haben. Das Department hatte sie hängen lassen. Sammy hatte dem NOPD sein Leben gewidmet, aber obwohl er bei einem Einsatz erschossen wurde, versandeten die Ermittlungen im Lächerlichen. Die Kollegen konzentrierten sich vielmehr auf den Hurrikan und auf ihre eigene Zukunft. Die Akte Sammy O’Shay war geschlossen worden. Und alle anderen lebten ihr Leben einfach weiter.

Patti jedoch nicht. Und sie würde auch nicht lockerlassen.

Endlich hatte sie etwas in der Hand.

Obwohl sie zugeben musste, dass ihr angesichts der Tatumstände recht beklommen zumute war. Sammys Dienstmarke war in einem flachen Grab im City Park gefunden worden – zusammen mit den skelettierten Überresten einer jungen Frau.

Einer jungen Frau, deren rechte Hand abgetrennt worden war.

Patti hatte sämtliche Handyman-Akten durchgesehen. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass dieser Bastard mindestens sechs Frauen getötet hatte, stand dort verdammt wenig.

Sechs Frauen. Und einen Polizisten, dachte sie. Ihren Mann.

Sie hatte sich geschworen, seinen Mörder vor Gericht zu bringen. Bis zu diesem Tag war es ihr unmöglich erschienen, ihr Versprechen zu halten.

Das Wichtigste war, die Identität des Opfers herauszubekommen. Sie brauchte irgendetwas, einen winzigen Hinweis, um die Verbindung zum potenziellen Täter herstellen zu können. Sie würde nicht eher ruhen, bis sie sie gefunden hatte.

„Tante Patti?“

Spencer stand an der Tür zu ihrem Büro. Sie winkte ihn herein und zwang sich zu einem Lächeln. „Bereit fürs Wochenende?“, fragte sie.

„Immer.“ Er durchquerte das Zimmer und setzte sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. Obwohl er ebenfalls lächelte, spürte sie, dass er sich Sorgen machte. „Ereignisreicher Tag.“

„Das kann man wohl sagen.“

„Geht’s dir gut?“

„Sehr gut.“

„Hast du schon gegessen?“

Sie musste lächeln. „Das werde ich noch. Versprochen.“

Stirnrunzelnd ließ er seinen Blick über ihren Schreibtisch wandern. „Die Handyman-Akten? Solange wir nichts von der Gerichtsmedizin hören …“

„Ich weiß. Aber ich wollte mich persönlich vergewissern, dass nichts übersehen wird.“

„Tony und ich sind an der Sache dran. Nichts wird übersehen, versprochen.“

„Es geht um mich und nicht um dich. Oder mein Vertrauen in dich.“

Er schwieg eine Weile. Dann beugte er sich nach vorn. „Heute werden wir den Fall sowieso nicht mehr lösen können. Es bringt nichts, wenn du die ganze Nacht hierbleibst.“

„Es ist …“, sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand, „… erst kurz nach sieben. Kein Grund zur Beunruhigung.“

„Ich bin aber beunruhigt. Und zwar deinetwegen.“

„Reine Energieverschwendung, glaub mir. Geh nach Hause. Lade Stacy zum Dinner ein. Geht in ein hübsches Lokal.“ Sie drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. „Das ist nicht nur ein Befehl deines Captains, sondern auch deiner Patentante.“

Er grinste, ging um den Schreibtisch herum und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Wird gemacht, Sir!“

An der Tür blieb er noch einmal stehen und schaute sie an. „Du gehst aber auch gleich, nicht wahr?“

„Klar.“

Doch kaum wandte er ihr den Rücken zu, erstarb ihr Lächeln.

Gott würde ihr die kleine Lüge verzeihen. Sie wollte ja nur, dass Spencer keine Gewissensbisse bekam.

Sie hatte nämlich vor, so lange hier sitzen zu bleiben, bis sie diese Akten in- und auswendig kannte.

7. KAPITEL

Freitag, 20. April

19:55 Uhr

Spencer öffnete die Tür zu seinem kleinen Haus in Riverbend. Den Camaro hatte er seinem ältesten Bruder John Jr. abgekauft, als der geheiratet hatte, und dieses Haus Quentin, seinem zweitältesten Bruder, als der wiederum in den Hafen der Ehe eingelaufen war. Spencer war der dritte Malone-Bruder. Irgendwann würde er an der Reihe sein, seine Besitztümer weiterzugeben.

Was sehr schade war. Seine Brüder hatten nämlich einen sehr guten Geschmack.

Spencer konnte von Glück sagen, dieses Haus sein Eigen zu nennen. Riverbend lag am Rande der Innenstadt an einer Mississippi-Schleife. Dieser Stadtteil gehörte zu den zwanzig Prozent der Metropole, die höher gelegen und deshalb nicht überflutet worden waren.

Nach dem Hurrikan hatte er ein Dutzend Familienmitglieder bei sich beherbergt. Und Stacy Killian, seine Freundin und Kollegin. In ihrer Zweizimmerwohnung am City Park hatte das Wasser über einen Meter hoch gestanden.

Inzwischen wohnte nur noch Stacy bei ihm.

Spencer trat ein. „Hallo? Jemand zu Hause?“, rief er. „Ich bin hier hinten.“

Ihre Stimme kam aus dem Badezimmer, wo sie vor dem Spiegel stand und sich schminkte. Sie trug eng anliegende, tief sitzende Jeans und ein kleines elastisches Top, das geradezu unanständig viel von ihrem nackten flachen Bauch enthüllte. Ihr Lidschatten war rauchschwarz.

„Du siehst klasse aus, Killian.“

Sie lächelte ihm im Spiegel zu. „Schön, dass es dir gefällt.“

„Na klar. Mal was anderes, aber ich könnte mich dran gewöhnen.“ Er lockte sie mit dem Finger. „Komm her, und ich beweise es dir.“

Sie stellte sich vor ihn und schlang die Arme um seinen Hals. „Du darfst mir nicht böse sein, wenn ich dich in diesem Aufzug nicht aus dem Schlafzimmer lasse, aber … o verdammt …“

„Tut mir leid, mein Hengst.“ Aufreizend rieb sie sich an seinem Unterleib. „Das ist nicht für dich, sondern für meinen neuen Job.“

Fragend zog Spencer die Augenbrauen hoch und beschloss, auf das Spiel einzugehen. „Ein neuer Job? Hast du den Polizeidienst etwa an den Nagel gehängt?“ Das wäre ungewöhnlich, aber nicht verwunderlich. Schließlich hatte er Stacy kennengelernt, nachdem sie bei der Polizei in Dallas gekündigt hatte und nach New Orleans gekommen war, um ihren Collegeabschluss nachzuholen. Und um Literatur zu studieren.

Sie hatte nicht einmal ein Semester durchgehalten.

Die Wahrheit war: einmal Cop, immer Cop. So etwas konnte man nicht einfach aufgeben wie Rauchen oder Alkohol. Nur dass es für den Polizeidienst keine Entzugskliniken gab.

Manchmal glaubte Spencer allerdings, dass genau das fehlte.

„Mhm“, sagte sie. „Ich hab jetzt einen Job in der Bourbon Street. Im Hustle.“

Das Hustle warb damit, ein „Gentlemen’s Club“ zu sein; „Strip-Schuppen“ traf es allerdings besser. Der Laden hatte es auf all jene abgesehen, die sich die besseren Clubs wie Rick’s Cabaret oder das Temptations nicht leisten konnten.

Vor ein paar Jahren hatte es auf der Bourbon Street noch Dutzende von Etablissements wie das Hustle gegeben, aber sie waren nach und nach von immer luxuriöseren Nachtclubs verdrängt worden. Von den wenigen Strip-Clubs, die überlebt hatten, gehörte das Hustle zwar nicht zur untersten Kategorie, war aber auch nicht allzu weit davon entfernt.

Stacy gab Spencer einen Kuss und trat einen Schritt zurück. „Verdeckte Ermittlungen. Heute ist mein erster Tag. Oder besser: meine erste Nacht.“

Er war Polizist, sie war Polizistin. Sie hatte einen Auftrag zu erfüllen und konnte sehr gut auf sich selbst aufpassen.

Aber der Gedanke, dass seine Freundin in dieser Aufmachung in diese Kneipe ging und von lüsternen Kerlen angemacht wurde, gefiel Spencer überhaupt nicht. Um es zurückhaltend auszudrücken.

Sein Blick fiel auf ihre Brüste, die aus dem engen Top herausquollen.

Sie lachte, als sie seine Miene sah. „Wonderbra von Victoria’s Secret. Verdammt unbequem.“ Sie drehte sich zum Spiegel, um sich zu begutachten. „Wetten, dass mir das eine Menge Trinkgeld einbringt?“

Das war nicht gerade das, was er jetzt hören wollte. „Ich brauche ein Bier.“

„Und ich eine Diät-Cola. Ich bin gleich bei dir.“

Er trank gerade einen Schluck Bier, als Stacy vor ihm auftauchte. Fast hätte er sich verschluckt. Ihr kurzes blondes Haar hatte sie unter einer langen rotbraunen Perücke versteckt. Mit dieser Mähne und diesem Make-up hätte Spencer seine Freundin nicht erkannt, wenn sie ihm auf der Straße begegnet wäre.

Aber genau darum ging es schließlich.

„Ich habe mir schon immer rote Haare gewünscht. Jetzt habe ich endlich mal die Gelegenheit.“ Grinsend fing sie die Coladose auf, die er ihr zuwarf. „Wird bestimmt lustig.“

Diese verdeckte Drogenermittlung machte ihr viel zu viel Spaß.

Spencer riss sich zusammen. Sie sollte auf keinen Fall mitbekommen, dass er ein ungutes Gefühl hatte. Das wäre absolut uncool. „Worum geht’s denn?“

„Wir haben einen Crack-Dealer verhaftet. Eigentlich nur eine kleine Nummer. Aber dann stellte sich heraus, dass er Barkeeper im Hustle ist. Er ist sofort weich geworden und hat uns den Namen eines großen Fisches genannt.“

„Und dieser große Fisch ist Stammkunde.“

„Kommt jeden Abend vorbei. Offenbar hat er dort eine Braut. Und ich soll mich mit ihr anfreunden.“

„Wer ist der Kerl?“

Sie riss den Blechverschluss der Coladose auf. „Er heißt Marcus Gabrielle. Hat angeblich eine schneeweiße Weste. Er ist Immobilienmakler. Verheiratet, zwei Kinder. Wohnt in einem Vorort.“

„Weiß seine Frau, dass er ein Verhältnis hat?“

„Das bezweifle ich.“ Sie nahm einen Schluck Cola. „Nach Auskunft unseres Informanten produziert und verkauft er das Zeug. Wenn wir ihn kriegen, kriegen wir auch seine Hintermänner und Kunden.“

„Wer macht außer dir mit?“

„Baxter. Und Waldon. Baxter steht hinter der Bar mit dem Kerl, den wir aufgegabelt haben. Waldon mimt einen Gast.“

Rene Baxter war ein verlässlicher Polizist – ein kleiner drahtiger Mann mit einem Allerweltsgesicht, das für Undercover-Aufgaben wie geschaffen war. Waldon war ein großer Trottel, der sich für einen Top-Cop hielt. Und einen Casanova. Nicht zu fassen.

„Bist du verkabelt?“

„Selbstverständlich. Die Jungs sitzen in einem Van in der Seitenstraße.“

Ehe er eine weitere Frage stellen konnte, wechselte sie das Thema. „Ich habe gehört, was im City Park passiert ist. Und dass sie Onkel Sammys Hundemarke in dem Grab gefunden haben. Das tut mir echt leid.“

Neuigkeiten, die einen der Ihren betrafen, machten schnell die Runde. Spencer rollte die kalte Bierflasche zwischen seinen Handflächen hin und her. „Seine Marke in diesem Grab zu finden – das hat mich glatt umgehauen.“

„Wie geht’s Patti?“

„Ich weiß nicht.“ Er runzelte die Stirn. „Sie hat genau richtig reagiert und nichts Falsches gesagt, aber ich habe Angst, dass sie …“ Er beendete den Satz nicht.

„Dass sie was?“

„Als ich heute Abend gegangen bin, war sie noch im Büro. Sie hat die Handyman-Akten noch einmal durchgesehen.“

„Und?“

„Tony und ich kümmern uns um den Fall. Aber ehe wir nichts aus der Gerichtsmedizin hören, wissen wir noch nicht einmal, ob unsere Unbekannte überhaupt ein Opfer von Handyman ist.“

Sein Blick schweifte in die Ferne. „Aber für Patti kommt eine andere Möglichkeit überhaupt nicht in Frage. Sie glaubt, dass Handyman Sammy ermordet hat. Ende der Diskussion.“

„Wenn sie sich in eine Sackgasse verrennt, wird sie ihre Meinung schon ändern. Aber jetzt hat sie wenigstens eine Spur, die sie verfolgen kann.“

„Ich weiß … Aber seit Sammys Tod ist sie nicht mehr dieselbe. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Sie hat sich verändert.“

„Das braucht eben seine Zeit“, entgegnete Stacy nachsichtig. „Es macht uns allen zu schaffen.“

Er wusste, dass sie nicht nur vom Mord an Sammy sprach, sondern auch von der Zerstörung und die Ungewissheit, die Katrina hinterlassen hatte.

Der Hurrikan hatte sie alle verändert.

„Du hast recht. Komm her.“ Er nahm ihr die Coladose aus der Hand, stellte sie auf den Tisch und zog Stacy an sich. „Ich werde dich heute Nacht vermissen.“

„Ich dich auch.“ Sie küsste ihn und löste sich aus seinen Armen. „Meine Schicht beginnt um neun. Ich muss los.“

Er nahm sie wieder in die Arme und hielt sie umschlungen – ein wenig zu lang und zu fest. Als er sie wieder losließ, bemerkte er ihren fragenden Blick. „Menschen, die viel zu verlieren haben, kämpfen hart darum, es behalten zu können. Vergiss das nicht, Stacy.“

8. KAPITEL

Freitag, 20. April

21:00 Uhr

Als Stacy das Hustle betrat, war Baxter bereits eingetroffen. Ihre Blicke trafen sich kurz, während sie zur Bar ging. Dann konzentrierte er sich wieder darauf, Drinks zu mixen. Verstohlen betrachtete sie den Barkeeper, mit dem er zusammenarbeitete.

Ted Parrish, ihr Informant. Groß, langes schwarzes Haar, ein Spitzbart. Er wirkte nervös. Vielleicht lag es an der Situation, in der er steckte – oder er hatte etwas von seinem eigenen Zeug genommen.

„Ich bin Brandi, die Neue“, stellte sie sich vor. Es war nicht ganz einfach, in ihre Rolle zu schlüpfen.

„Melde dich bei Tonya“, sagte er mit verkniffenem Mund, während er ein Bier zapfte. „Sie wird dir sagen, wo’s langgeht.“

Tonya Messinger, die „Talent-Managerin“. „Wie komme ich zu ihr?“

„Rechts von der Bühne sind die Garderoben und alles andere.“

„Danke“, rief Stacy und bahnte sich mit betont schwingenden Hüften und wackelndem Hintern einen Weg zwischen den Tischen hindurch. Ein Kerl mit beeindruckendem Bierbauch und gerötetem Gesicht begrapschte sie. Sie wich ihm aus und drohte ihm neckisch mit dem Finger, nachdem sie für den Bruchteil einer Sekunde daran gedacht hatte, ihm den Arm zu brechen. Aber damit wäre ihre Tarnung vermutlich sofort aufgeflogen.

Anhand von Fotos hatte Stacy sich einen ersten Eindruck von dem Nachtclub verschafft. Jetzt studierte sie das Interieur genauer und versuchte, sich Details einzuprägen, die ihr später von Nutzen sein konnten. Die dreistufige Bühne beherrschte den Raum. Die unterste Ebene war ausladend gerundet; die beiden anderen fungierten quasi als Seitenbühnen. Rundherum standen Tische. Die erste Reihe war für VIPs reserviert.

Die Eigentümer hatten ihr Möglichstes getan, das schäbige Ambiente zu kaschieren und den Club eleganter erscheinen zu lassen, als er war: gedämpfte, indirekte Beleuchtung, weiße Damastdecken und eine brennende Kerze auf jedem Tisch. Samtvorhänge rund um die Bühne.

Die lang gestreckte Bar befand sich gegenüber der Bühne. Hier saßen jene Gäste, die gern den Überblick behielten.

Soviel Stacy wusste, gab es auch einen separaten Bereich für Private Dances. Sie hätte wetten können, dass bei den „Privatvorstellungen“ ungeachtet aller Gesetze mehr passierte als nur ein Lapdance.

Gerade, als sie die Tür zur Bühne erreichte, wurde das Licht im Club gedimmt, eine Stroboskopleuchte begann zu blitzen. Hämmernde Musik erfüllte den Raum. Eine junge, mit Federn geschmückte Frau in einem paillettenbesetzten Hauch von Nichts betrat die Bühne.

Yvette Borger. Die Freundin.

Sie war zweiundzwanzig, zierlich, mit tintenschwarzem langem Haar. Sie hatte einen fantastischen Körper und Brüste, die viel zu groß für ihn waren.

Partykissen, schoss es Stacy durch den Kopf. Diesen Ausdruck benutzten sie im Department für XXL-Busen wie diesen. Ihre eigene Oberweite wirkte dagegen trotz der Unterstützung von Victoria’s Secret ziemlich unscheinbar.

Stacy schaute ihr eine Weile zu, ehe sie hinter der Bühne verschwand.

Sie erkannte Tonya sofort. Sie kannte ihr Gesicht von den Fotos. Tonya stand neben der Bühne und beobachtete Yvette bei ihrem Auftritt.

Stacy ging zu ihr hin. „Tonya?“

„Ja?“, fragte die Frau zurück.

„Ich bin Brandi. Die Neue.“

Tonya Messinger sah aus wie eine Frau, die genau wusste, wo es langgeht, und mit der man besser keinen Streit anfing. Stacy hielt sie für Anfang fünfzig, obwohl sie ihre Hand dafür nicht ins Feuer gelegt hätte. Zigaretten, Alkohol und eine anstrengende Lebensweise forderten eben ihren Tribut.

„Du bist spät dran.“

„Wirklich? Ich dachte …“

Die Frau unterbrach sie rüde. „Wenn deine Schicht um neun anfängt, musst du um Viertel vor neun hier sein“, fuhr sie ihr über den Mund. „Dann kümmerst du dich sofort um deine Tische. Ist das klar?“

Sie musterte sie von oben bis unten, und Stacy kam zu dem Schluss, dass Tonya in diesen wenigen Sekunden ihr Alter, Gewicht und ihren Brustumfang taxiert und geschätzt hatte.

„Bist du sicher, dass du nicht tanzen willst? Wir könnten noch ein Mädchen gebrauchen, und das Trinkgeld ist auch viel üppiger.“

Vielleicht war der Wonderbra doch keine so gute Idee.

„Das ist nicht so mein Ding. Ich kann nicht besonders gut tanzen.“

Tonya lachte mit tiefer und rauer Stimme. Es war nicht zu überhören, dass sie ein Leben lang geraucht hatte. „Du musst nicht tanzen können, um da draußen erfolgreich zu sein, Schätzchen. Vertrau mir, du hast Talent. Und wenn du erst mal die richtige Einstellung dazu hast, wirst du es schon schaffen.“

Stacy tat, als sei sie geschmeichelt. „Wow, vielen Dank. Ich werde drüber nachdenken, echt.“

„Tu das. Und jetzt lass uns rausgehen.“

Auf dem Weg zur Bar setzte Tonya sie über die Verhaltensregeln in Kenntnis. „Keine Drogen. Keine kostenlosen Nummern. Keinen Streit – es sei denn, er gehört zur Show. Das gilt auch für die Bedienungen.“

Sie warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu, und Stacy nickte eifrig.

„Animier die Gäste zum Trinken. Bring sie dazu, die teureren Sachen zu bestellen. ‚Gib mir einen aus‘ ist der Code für ‚Lass uns einen draufmachen‘. Die Mädels machen ihr Geschäft mit Trinkgeldern; wenn du ihnen in die Quere kommst, wird es dir leidtun. Einige der Mädchen trinken, andere nicht. Das spielt aber keine Rolle, denn wenn der Gast einen ausgibt, muss er bezahlen. Die Mädels sagen dir rechtzeitig, was sie trinken wollen. Außerdem werden die Gäste dich bitten, Nachrichten, Trinkgelder und kleine Geschenke zu überbringen. Wenn du da krumme Dinger drehst, kriegst du ’ne Menge Ärger. Und vergiss nicht zu flirten“, fuhr Tonya fort. „Sei sexy. Aber wenn ein Gast mehr von dir will, lehnst du ab. Dein Job ist es, ihn zum Trinken zu animieren, mehr nicht. Kapiert?“

Stacy nickte. Die folgenden Stunden erlebte sie als eine unaufhörliche Abfolge von Klapsen auf ihren Hintern, anzüglichen Bemerkungen und lüsternen Blicken.

Allerdings waren nicht alle Gäste des Clubs geile Böcke. An einem Tisch saßen Touristen aus Indiana und starrten mit aufgerissenen Mündern auf die Bühne. So etwas hatten sie noch nie gesehen, gestanden sie ein wenig verlegen. Zu Stacys Gästen gehörte auch eine Gruppe von Studenten der Louisiana State University – Stacy hatte sich ihre Ausweise zeigen lassen. Diese Jungs aus dem eineinhalb Stunden entfernten Baton Rouge behandelten sie sehr respektvoll. Obwohl es eine neue Erfahrung war, stärkte es allerdings nicht gerade Stacys Selbstbewusstsein, wie die Mutter eines Schulfreundes behandelt zu werden.

Inzwischen war Waldon eingetroffen und hatte an einem ihrer Tische Platz genommen. Sein Job schien ihm viel zu viel Vergnügen zu bereiten, und als er sie anzüglich angrinste, schüttete sie beiläufig die Hälfte seines Drinks über seine Hose, um ihm einen Denkzettel zu verpassen.

Den ganzen Abend über hatte sich ihr Verdächtiger nicht blicken lassen, und Yvette war sie auch nur kurz nähergekommen, als die Tänzerin sich an den Tisch der Studenten setzte, um mit ihnen „einen draufzumachen“. Da die Jungs jedoch nicht viel Geld hatten, war sie bald wieder verschwunden.

Spät in der Nacht erhielt Stacy doch noch ihre Gelegenheit: Tonya übergab ihr eine Nachricht, die sie Yvette hinter die Bühne bringen sollte.

Yvette saß an ihrem Platz in der Garderobe und frischte ihr Make-up auf. In einem Aschenbecher auf dem Schminktisch glomm eine Zigarette.

Stacy klopfte an die Tür. „Tonya hat mich gebeten, dir das zu bringen.“

Mit hochgezogenen Augenbrauen überflog Yvette die Nachricht.

Stacy beobachtete sie. „Irgendwas nicht in Ordnung?“

Mit abweisender Miene warf Yvette den Zettel auf den Schminktisch. „Bloß irgend so ein Idiot. Von diesen ‚Nachrichten‘ krieg ich ’ne Menge.“

„Kann ich mir vorstellen. Ich meine, schließlich bist du wirklich klasse.“

„Findet du?“

Ihr eifriger Tonfall verriet, wie jung sie war. Stacy senkte die Stimme, damit die anderen sie nicht hören konnten. „Nein, echt. Dein Auftritt ist wirklich toll.“

„Wie heißt du?“

„Brandi.“

„Wie gefällt dir dein Job bis jetzt?“

Stacy zuckte mit den Schultern. „Ganz okay. Die Trinkgelder waren nicht schlecht.“

„Soll ich dir einen Tipp geben?“

„Klar.“

„Verdirb es dir bloß nicht mit Tonya. Sie kann ein ziemliches Biest sein. Und halt dich an die Spielregeln. Dann kannst du echt Knete machen. Und ich rede nicht von Kleingeld.“

„Welche Spielregeln?“

„Du weißt schon. Spiel mit den Kerlen. Gib ihnen, was sie wollen.“ Yvette nahm einen Zug von ihrer Zigarette, ehe sie sie im Aschenbecher ausdrückte. „Ted ist ein Schweinehund. Er wird dich flachlegen wollen, also pass auf dich auf. Er wird dir Speed anbieten, Pillen, Alkohol … Sieh zu, dass du clean bleibst.“

„Hört sich so an, als hättest du das alles schon hinter dir.“

„Ich muss auf mich aufpassen, verstehst du? Schließlich will ich nicht mein ganzes Leben lang in diesem Dreckloch verbringen. Ich habe Pläne …“

Stacy hätte sie am liebsten gefragt, wie diese Pläne aussahen und ob ein Mann darin eine Rolle spielte. Doch sie hielt sich lieber noch zurück. Für ein erstes Treffen war es schon ganz gut gelaufen. Wenn sie zu neugierig war, würde Yvette möglicherweise zuklappen wie eine Auster.

„Danke für deine Tipps“, sagte sie stattdessen. „Ich muss wieder.“

Ein paar Stunden später endete Stacys Schicht, und sie ging nach Hause. Marcus hatte sich nicht blicken lassen. Hoffentlich hatte ihn niemand gewarnt. Yvette war im Laufe der Nacht immer mürrischer geworden; Stacy fragte sich, ob das daran lag, dass ihr Freund nicht aufgetaucht war.

Es war interessant gewesen, den Mädchen bei der Arbeit zuzuschauen. Zu beobachten, wie sie mit den Männern spielten. Wenn sie für einen Gast tanzten, schien kein anderer Mann für sie zu existieren, doch sobald die Nummer zu Ende war, machten sie auf dem Absatz kehrt. Und warteten auf den nächsten, der mit Dollarscheinen winkte.

Es war eine einzige Lüge.

Eine Lüge, die die Männer durchschauten. Oder etwa nicht? Sie konnten doch nicht im Ernst glauben, dass das die Mädchen tatsächlich anmachte? Es war nur eine wilde, heiße Fantasie.

Ist es das, was Männer wollen?, überlegte Stacy. Wilde, heiße Fantasien? War es das, was Spencer wollte?

Was wollte er überhaupt? Sie waren eher zufällig zusammengezogen. Wegen Katrina. Weil sie einen Platz zum Wohnen brauchte und er einen anzubieten hatte.

Und sie war geblieben. Ein gegenseitiges, stillschweigendes Abkommen. Das war jetzt zwei Jahre her, und ihre Gefühle füreinander waren weder stärker noch schwächer geworden.

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