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Tod in Sils Maria

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Ein Klassiker der Kriminalliteratur aus der Schweiz

Ein nicht mehr ganz so erfolgreicher Schriftsteller sieht sich in der Idylle seines jährlichen Hotelurlaubs durch einen unliebsamen Kritiker gestört, der immer wieder seinen Weg kreuzt. Langsam braut sich ein Unheil zusammen. Doch wer hält in diesem Spiel eigentlich die Fäden in der Hand? Ein reicher Hotelgast verschwindet im rieselnden Schnee. Ein Skilehrer kommt einem Wilderer auf die Spur, den er nicht entkommen lassen will, doch er ahnt nur die halbe Wahrheit. Eine Gruppe Langläufer werden von der Loipe abgedrängt – es ist nur noch ein dunkles Loch im Schnee zu sehen. All das geschieht im Umfeld eines Nobelhotels in Sils Maria, dem friedlichen Schweizer Wintersportort Sils Maria im Engadin. Lautlos werden die Spuren verwischt, unauffällig die Leichen aus den Hotels entfernt, damit der Skispaß bei bestem Wetter bloß weitergehen kann. Aber in der Hotelküche wartet schon ein gefährliches Fläschchen auf seinen Einsatz, im Foyer steht schon wieder ein Kellner mit zweifelhafter Vergangenheit, der auf seine nächste Gelegenheit lauert ...
Mit »Tod in Sils Maria« wurde Ulrich Knellwolf als Krimiautor berühmt. Die Sammlung von gnadenlos spannenden Kurzkrimis voll überraschender Pointen und unheimlicher Atmosphäre gilt heute als Klassiker der Kriminalliteratur.


  • Erscheinungstag: 24.09.2024
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013708
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Februarende

25. Februar

Am Vormittag anhaltendes Hoch draußen und drinnen. »Wetterlage extrem stabil«, sagte lächelnd Renato, der Concierge.

Der Autor fühlte sich paradiesisch, trat aus dem Hotel, schaute zu den Gipfeln hinauf, rieb sich die Hände und machte sich auf ins Fextal. Nach der Chesa Oscar rechts von der Straße ab und durch den lockeren Wald. Kein Mensch war unterwegs; diese Welt gehörte ihm. Weiter oben brannte die Sonne auf seine Stirn, in der Ferne waren einzelne Langläufer zu sehen. Wenn er nicht befürchtet hätte, sie könnten es für einen Hilfeschrei halten, hätte er laut gejauchzt.

Bald darauf wurde es steil. Er schwitzte und schnaufte, musste, wie jedes Mal an dieser Stelle, eine kurze Rast einlegen. Sonst machte es ihm nichts aus, heute aber schon. Denn auf dem höchsten Punkt über ihm stand einer, auf einen Spazierstock gestützt, und schaute auf ihn herab. Es schien, als lache er in sich hinein über den, dem dort unten der Schnauf ausgegangen war. ›Laffe!‹, dachte der Autor, ›bild dir bloß nichts ein. Dies ist mein Tal, und ob ich renne oder stehen bleibe, geht dich gar nichts an!‹ Er senkte den Kopf, stapfte weiter und weigerte sich, noch einmal die Augen zu erheben. Als er oben ankam, war der lästige Zuschauer schon verschwunden.

Bald darauf sah er ihn wieder, kaum dreißig, vierzig Schritte vor sich. ›Ha!‹, dachte er, ›ich werde an dir vorbeiflitzen, dass dir das Lachen vergeht.‹ Der andere war dünn und lang, trug den Stock waagerecht vor sich her, als sei es die Balancierstange eines Seiltänzers, und zog die Knie in die Höhe wie ein Storch. ›Schau dir mal diese Schuhe an! Die Leute lernen es nie. Mit solchen Schuhen kommt man in dieser Jahreszeit nicht einmal gefahrlos auf der Straße von Maria nach Baselgia hinüber. Hellbraune Halbschuhe, wahrscheinlich italienische, womöglich sogar mit Ledersohlen. Dazu die übrige Aufmachung! Vermutlich Tweed, und eine weinrote Schärpe wie die Boa einer Kabarettänzerin um den Hals geschlungen.‹

Der Mann wandte sich nach links, bevor ihn der Autor überholen konnte. ›Das sind die Richtigen, die verbotene Abkürzungen nehmen. Links ist hellblau, nur für Langläufer, ausgesteckt. Er wird ihnen die ganze neu gezogene Loipe zertrampeln, aber das ist solchen Figuren ja egal.‹ Er selbst hielt sich an die roten Pflöcke und folgte ihnen nach rechts. Noch einmal ein Aufstieg. Hier saßen zwei alte Sportsfreunde, er mit nacktem Oberkörper, sie mit knappem Top und sonnengegerbter Lederhaut, kein hübscher Anblick, und ließen sich noch dunkler rösten. Er beschloss, nicht als Erster zu grüßen; sie hatten wohl dasselbe gedacht.

Nach dem oberen Waldstück erreichte er seinen höchsten Punkt. Die Bank war frei; er setzte sich ein Weilchen, öffnete aber bloß den Reißverschluss seiner Jacke. Unten tauchte für einen Moment der Storch mit der Balancierstange auf. Er tänzelte, als sei der weißeste Schnee eine eklige Schmutzbrühe. Der Autor grinste über so viel Weltfremdheit.

Der Weg des Autors führte an Zellwegers Hof vorbei. Es war Mittag, der junge Bauer stand auf dem Balkon. Sie kannten sich; er winkte, der Bauer winkte zurück.

»Keine Skischule?«

»Nein, heute nicht.«

Weiter oben war ein Neubau im Gang. Die roten Wegmarken wiesen zur Pensiun Crasta. Daran kam er nicht vorüber; ihm lief schon das Wasser im Mund zusammen: Steinbockgeschnetzeltes, Veltliner dazu, zum Abschluss Heidelbeerkuchen. Mindestens einmal in jedem Ferienfebruar musste das sein; heuer also gleich am zweiten Tag.

Die erste Tür im dunklen Korridor ging zur Küche. Er klopfte an und öffnete. In Dampf und Kochgezisch stand Frau Padrun, kam wie der Engel aus den Wolken und schüttelte ihm die Hand. Er setzte sich an den einzigen freien Tisch. Die Italienerin mit dem ernsten Gesicht servierte hier schon seit Jahren.

»Wir haben jetzt auch wieder Steinbock«, sagte sie, als sie die Speisekarte brachte. »Und einen halben Veltliner, wie immer?«

Der erste Bissen schmeckte wunderbar. Er wollte gerade den zweiten zum Mund führen, da tönte es aus einer Art Erker hinter seinem Rücken wie Ziegengemecker: »Fräulein, wann kann ich endlich zahlen!« Er kannte die Stimme. Er hatte mit ihr schon telefoniert. Sie verwandelte mit dem ersten Wort sein Paradies in ein Schulzimmer, wo erbarmungslos Zensuren verteilt wurden.

Müller-Schwartenmagen. Wegen seines vorletzten Buchs hatte ihn dieser Mensch mit einer Mischung aus Ekel und Selbstmitleid zur Schnecke gemacht, als wäre die Literatur des Kritikers minderjährige Schwester und der Autor hätte sich an ihr vergangen. Seinen letzten Roman hatte er gar nicht mehr zur Kenntnis genommen. Der Autor hatte sich mit einem Leserbrief zu einem Artikel des Kritikers über Gotthelf gerächt und ihm darin blanke Ignoranz vorgeworfen.

»Mineral und Espresso«, hörte er die Italienerin sagen. Kurz darauf ging der Kritiker an ihm vorbei hinaus. Er war es – der mit den hellbraunen Ledersohlenschuhen, der weinroten Schärpe und dem Spazierstock. Er warf angewiderte Blicke nach links und nach rechts. Einer fiel auf den Autor, der wie ein lauernder Hund von unten hinaufschielte. Müller-Schwartenmagen verzog keinen Muskel seines Gesichts; er erkannte den Autor nicht.

Der Steinbock schmeckte plötzlich schal, der Veltliner nach Korken. Der Autor hatte keinen Appetit mehr. Er wartete zehn Minuten, dann war der Kritiker trotz des mangelhaften Schuhwerks bestimmt am Gasthaus ›Sonne‹ vorbei.

»Keinen Espresso?«, staunte die Italienerin.

Ohne sich in der Küche zu verabschieden, lief der Autor hinaus. Unterhalb der ›Sonne‹ nahm er den Weg nach Platta. Mit seinen Schuhen würde der andere sich hier nicht hinuntergewagt haben. Der Autor wollte vermeiden, ihm noch einmal zu begegnen. Hoffentlich war er nur für einen Tagesausflug heraufgekommen. Er warf sich vor, seine Reaktion sei übertrieben. Zugleich wusste er, dass die Mauer des Paradieses einen Riss bekommen hatte.

Renato, der Concierge, staunte, dass er schon zurück war, als er ihm den Zimmerschlüssel aushändigte.

Am Roman weiterzuarbeiten, erwies sich als unmöglich. Die Ziegenstimme lieferte zu jedem Satz einen ätzenden Kommentar. Er hätte auf einem Blatt daneben gleich selber die Rezension schreiben können. Er litt. Um sieben legte er sich in die Badewanne, dann zog er sich an. Er schätzte es, sorgfältig gekleidet zum Essen zu gehen, und verabscheute Leute, die in Jeans und Pullover im Speisesaal erschienen.

Seit Jahren saß er an demselben Tisch. Heuer mit angenehmer Nachbarschaft, hatte er gestern zufrieden festgestellt. Doch musste die alte Dame heute abgereist sein. An ihrem Platz saß, sichtlich beleidigt vom Lauf der Welt, vom Hotel, von den trivialen Leuten um ihn her, vom Essen und insbesondere von dem Buch, das aufgeschlagen neben seinem Teller lag, Müller-Schwartenmagen. Wenigstens musste sich der Autor nicht in sein Blickfeld setzen. Aber der Kritiker saß unausweichlich in dem des Autors und versalzte ihm die Suppe. Seine schien auch versalzen zu sein; das meiste davon ließ er stehen. Und auch das Buch verdarb ihm offenbar den Appetit. Zwischen den Gängen blätterte er mit spitzen Fingern darin herum, als seien die Seiten infiziert. ›Es könnte mein Buch sein‹, dachte der Autor finster. Aus Verzweiflung trank er eine ganze Flasche. Als er vor dem Dessert und unter den gleichgültigen Augen des Kritikers den Saal verließ, musste er höllisch aufpassen, dass er nicht schwankte.

In der Halle begann soeben das Trio mit dem allabendlichen Konzert. Er nickte dem Cellisten kumpelhaft zu; vor Jahren hatte dieser bei einer seiner Lesungen eine Solosuite von Bach gespielt. Auch hier hatte er seinen festen Platz, wo er den Espresso und den Grappa trank und später meistens noch ein Weizenbier aus dem hohen, dicken Glas. Auf dem Tischchen stand eine Karte. ›Schön‹, dachte er, ›dass Rodney für mich reserviert hat‹, und setzte sich. Rodney eilte herbei. Statt nach seinem Wunsch zu fragen, den er ja kannte, machte er mit den Armen flatternde Bewegungen wie ein angeschossener Vogel. »Tut mir leid«, flüsterte er. Der Autor griff nach der Karte. ›Herr Dr. Müller-Schwartenmagen‹ stand darauf. Erbost, niedergeschlagen, verzweifelt stand er auf, ließ den konsternierten Rodney stehen, ging aus der Halle, fuhr hinauf und trank eine halbe Flasche Scotch aus dem Zimmerkühlschrank. Hätte Müller-Schwartenmagen sich hier im Sessel gelümmelt oder in seinem Bett gelegen, hätte es den Autor nicht erstaunt.

Was sollte er tun? Dies war sein Ort. Kampflos überließ er ihn nicht. Nicht dem Kritiker.

26. Februar

Trotzdem schlief er erstaunlich anständig. Kein Wunder nach dem vielen Wein und Schnaps. Natürlich saß der andere schon beim Frühstück, als der Autor herunterkam. Wieder trug er diese unsägliche weinrote Schärpe. Er las die ›Frankfurter‹, die ihm Magenschmerzen zu verursachen schien, und aß kaum. Der Autor würgte eilig und missvergnügt an einem Brötchen.

»Bringe sofort den Espresso«, rief Francisco, auch wie seit Jahren.

»Heute keinen«, antwortete er; der Portugiese war ganz verwirrt.

Im Foyer neigte er sich wie ein Verschwörer zu Renato über die Theke und sagte: »Müller-Schwartenmagen. Wie lang bleibt der hier?«

Roberto blätterte in einem Buch. Dann rief er laut und lächelnd, in der Meinung, ihm mit der Auskunft eine Freude zu machen: »Auf den Tag so lang wie Sie!«

Der Autor war zerstört. Sollte er abreisen? Aber doch nicht fliehen vor dem!

›Auf den See wagen sich Leute wie der nicht‹, dachte er und lief über das Eis nach Isola. Wer saß dort in der Wirtschaft, machte ein Gesicht, als hätte er einen Teller Hufnägel gefressen, und vergiftete mit seinen Blicken die Umgebung? Und wer bitte steuerte geradewegs ins ›Edelweiß‹, in dessen Halle der Autor nach alter Gewohnheit auf dem Heimweg einen nachmittäglichen Gin Tonic trinken wollte? Und immer trug er ein Buch unter dem Arm wie der Henker, der einen Delinquenten zum Schafott schleift. Schafott war das richtige Wort. Der Autor würde ihn richten. Für einmal würde der Autor Richter sein und der Kritiker Angeklagter. Und er würde ebenso gnadenlos über den Kritiker urteilen wie der Kritiker über ihn.

27. Februar

In einer unruhigen Nacht dachte sich der Autor mögliche Todesarten aus. Der musste mit dem Schlimmsten rechnen, der ihm den Frieden in seiner kleinen Welt störte. Er hatte sie sich redlich erschaffen, mit Geschichten buchstäblich erworben. Hier las er jedes Jahr vor überaus großem Publikum. Hier hatte er schon die Ernst--August-Rede gehalten. Das würde ihm auch ein Müller-Schwartenmagen nicht zersetzen. Entweder der Kritiker verschwand freiwillig oder der Autor half nach.

Er brauchte Ruhe zum Nachdenken; also heute nicht ins Fextal und nicht nach Isola, sondern mit dem Postauto nach Maloja, von dort zu Fuß Richtung Cavlocciasee. Nach einer halben Stunde kam ihm mit Storchenschritten Müller-Schwartenmagen entgegen, den Spazierstock balancierend. ›Sieht fast so aus, als mache er Zielübungen damit, wie mit einem leichten Gewehre sie kreuzten einander.‹ Dem Autor fielen Gessler und Tell bei Schiller ein. Er brummte einen Gruß in den Kragen seiner Jacke; der Kritiker war blind, taub und stumm.

›Was ist das?‹, dachte im Weitergehen der Autor. ›Du marschierst ins Fex, da ist der Kritiker. Du läufst über den See nach Isola, da sitzt auch der Kritiker. Du weichst zum Cavlocciasee aus, da kommt dir der Kritiker entgegen. Immer ist er vor dir da, als spreche dein Echo zuerst, als überhole dich dein Schatten. Liest er meine Gedanken? Lauert er mir auf? Höchste Zeit, sich zu wehren!‹

28. Februar

Müller-Schwartenmagen machte keine Anstalten, seinen Aufenthalt abzukürzen. Wäre auch erstaunlich gewesen bei dem schönen Wetter. An Sonnenhängen war der Schnee schon fast ein wenig sulzig. Das brachte den Autor auf die Idee.

Es handelte sich nicht um Rache. Es ging nur um diesen Ort, den er sich von dem Schulmeister, Kunstrichter, Notenhabicht, Kreativitätshenker nicht streitig machen lassen wollte. Beide konnten sie hier nicht in Frieden sein. Entweder der Autor oder der Kritiker. Blutgruppenunverträglichkeit, Rhesusfaktor, Vergiftung, Abstoßung. Er war nicht das Schaf, das sich zur Schlachtbank führen ließ.

Der Schnee würde helfen, die Sonne würde helfen, und Müller-Schwartenmagen selbst würde auch helfen. Zum ersten Mal würde ihm der Kritiker helfen, und zwar den Kritiker zu beseitigen. Der Schnee half, weil vor diesen Schönwettertagen reichlich davon gefallen war. Die Sonne half, weil sie den Schnee stark durchwärmt, beinahe weich gekocht hatte. Erhebliche Lawinengefahr also. Und Müller-Schwartenmagen half, weil er ein Sturkopf war, ein klassischer Notenfex, einer, der nie aus dem Schulzimmer herauskam.

›Hat nichts anderes im Kopf, als mir zu folgen, mein schweigendes Echo, mein vorauseilender Schatten. Ich locke den Fex im Fex weiter nach hinten und in den sonnenbestrahlten Westhang, wo der Schnee am Nachmittag rutschig wird wie Seife. Und ich fress einen Besen, wenn es mir nicht gelingt, ihm oberhalb aufzulauern und eine Lawine auszulösen. Wozu schließlich war man einmal Gebirgsgrenadier? Ist zwar lange her, aber den Blick für die Schneeverhältnisse und die Technik, wie man mit einfachsten Mitteln Schnee in Bewegung setzt, verlernt einer sein Lebtag nicht. Wer Lawinen vermeiden will, muss Lawinen machen können. Eine kleine Lawine nur, aber groß genug, einen Müller-Schwartenmagen zu verschlucken. ›Morgen, Herr Kritiker, fahre ich mit der Seilbahn auf den Corvatsch und von da auf den Brettern hinunter ins Fex. Wir werden ja sehen, ob Sie mir auch da entgegenkommen!‹

Heute ging der Autor nur ins Dorf und mietete Ski und Schuhe. Aus den Augenwinkeln sah er den Kritiker etwas kaufen, das er über seine hellbraunen Schuhe stülpen konnte, um nicht zu rutschen. Mitleidig beobachtete er später beim Essen den Tweedrücken und die Hand, die in Druckseiten herumfingerte, als hätten sie eine ansteckende Krankheit.

29. Februar

Auf der Sonnenterrasse des Hotel Fex saß, die Pelzjacke ausgezogen, die obersten drei Hemdknöpfe geöffnet, der Verleger und hielt das Fernglas vor die Augen. Neben ihm, mit dem Pelzmantel um die Schultern, saß seine Freundin Angeline, die seine Enkelin hätte sein können.

»Dort ist er«, sagte leise der Verleger. »Ich glaube wirklich, er ist es. Was für ein Anblick, mein Autor auf Skiern! Und da ist Müller-Schwartenmagen. Wurde ihm nicht an der Wiege gesungen, dass er eines Tages im Fextal auf Pirsch gehen würde.«

Er setzte den Feldstecher ab und wandte sich dem gemischten Früchteeis zu. »Jetzt brauchen wir nur abzuwarten.«

»Aber nicht zu lange«, nörgelte Angeline. »Du hast versprochen, heute noch mit mir nach St. Moritz zu fahren, solange die Geschäfte geöffnet sind.«

»Keine Sorge, wir sind bald so weit.«

»Ist es dort drüben nicht lawinengefährlich?«

»Doch, eben.«

»Du magst die beiden nicht, nicht wahr? Warum magst du sie nicht?«

»Müller-Schwartenmagen ist ein eingebildeter Esel, der nicht einmal für ein erstklassiges Essen von seinem hohen Ross heruntersteigt. Hat mir mit seinem Geschmier das ganze Geschäft der letzten Saison versaut. Und der andere, nun ja, er wird langsam eine Belastung für meine Bilanz. Keine Einfälle mehr, keine Sprache mehr, nichts.«

Angeline flüsterte: »Könnte man es Entsorgung nennen?«

»Kluge Frau! Gewissermaßen könnte man es wohl Entsorgung nennen.«

»Du hast Renato geschmiert!«

»War keine Kunst. Ein alter Bekannter. Horchte unseren Herrn Autor ein wenig aus, steckte es diskret dem Kritiker, und die Sache lief.«

Er hielt wieder den Feldstecher vor die Augen. »Jetzt hat er ihn gesehen.«

»Wer wen?«

»Der Autor den Kritiker. Bleibt stehen, hüpft seltsam mit den Skiern herum, versucht offensichtlich, eine Lawine auszulösen. Da! Müller-Schwartenmagen schaut empor. Erkennt ihn, legt seinen Spazierstock an.«

»Was will er damit?«

»Schießen selbstverständlich. Dieser Spazierstock, Mädchen, ist ein Gewehr. Eine Antiquität. Im 19. Jahrhundert stellte man Spazierstöcke mit dem ungewöhnlichsten Innenleben her. Schön zielen. Schuss!«

»Nicht so laut!«

»Treffer! Und was habe ich vorhergesagt? Die Lawine löst sich. Müller-Schwartenmagen wendet sich zurück. Er hat keine Chance.«

Zufrieden packte der Verleger den Feldstecher ins Futteral.

»Fräulein, zahlen! Und sagen Sie dem Chauffeur, er soll den Wagen bereithalten.«

»Dem vom Suvretta?«

»Ja, natürlich. Komm endlich, Angeline! Worauf wartest du noch?«

Geschichtenwettbewerb

Im Sommer sollte der Silser Geschichtenwettbewerb mit der Preisverleihung zu Ende gehen. In der siebenköpfigen Jury hatten wir während fünf langer Sitzungen aus der überraschenden Fülle von Einsendungen zehn ausgewählt, drei davon würden einen Preis erhalten, die übrigen sieben mit den Preisträgern zusammen in einem Buch abgedruckt werden. Der Verkehrsverein lud die Autorinnen und Autoren samt Begleitung zum festlichen Anlass in der Kirche von Sils Maria und zum Abendessen ein, Übernachtung inbegriffen.

Die Feier ging ohne Zwischenfall über die Bühne. Die Leute waren glücklich bis auf eine Autorin, die mitten im Festakt aus der Kirche lief und auf Nimmerwiedersehen verschwand. Beim Essen wurde über die Gründe gerätselt. Wahrscheinlich aus Enttäuschung darüber, dass sie nicht einen der drei Preise bekommen habe, war die einhellige Meinung. Im Übrigen war weder Neid noch Schadenfreude zu spüren. Ein skeptisches Erstaunen hatte es in der Schlusssitzung der Jury gegeben, als wir merkten, dass zwei der zehn gewählten Geschichten vom selben Autor stammten, was aber nicht regelwidrig war. Keine der beiden kam unter die ersten drei. Leider blieb der Verfasser – er trug den etwas auffälligen Namen A. M. Brosbier – der Preisverleihung unabgemeldet fern. Ich war umso neugieriger auf ihn, als er nach Auskunft der Jury-Sekretärin nicht etwa nur zwei, sondern ganze siebzehn Geschichten eingesandt hatte. Einer von uns sagte lachend dazu: »Wer weiß, vielleicht ist er ja überhaupt der Verfasser sämtlicher Geschichten!«

Von diesen kleinen Irritationen abgesehen, war es ein würdiger Anlass, der alle erfreute. Es stellte sich heraus, dass die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren im Oberengadin einen Schreibkurs besucht hatte und hier regelmäßig Winterferien machte. Je länger der Abend dauerte, desto sympathischer wurden wir einander, und schließlich vereinbarten wir, man wolle sich am Mittwoch der zweiten Februarwoche wieder treffen, zur selben Zeit, am selben Ort.

Zu Hause suchte ich im Internet nach Brosbier, dem Verfasser der siebzehn Geschichten. Erfolglos. Ein Mann dieses Namens lebte weder in der Schweiz noch woanders, oder er besaß kein Telefon. Immerhin hatte ich seine Adresse, eine Straße und Hausnummer eines kleineren Dorfs in der Umgebung von Zürich. Doch die Kanzlei der angeblichen Wohngemeinde erklärte mir, dass es dort wohl die genannte Straße, nicht jedoch diese Nummer gebe, und dass ihr der besagte Einwohner völlig unbekannt sei. Da hatte sich jemand einen Scherz mit uns erlaubt. Wenn auch bloß einen harmlosen. Trotzdem musste ich hin und wieder an Brosbier, den geheimnisvollen Geschichtenschreiber, denken.

Im Herbst meldete sich Toni bei mir. Toni war Lehrer, gegen fünfzig, schrieb in seiner Freizeit Geschichten, arbeitete an einem Roman und hatte vor, die Schule aufzugeben und ein Leben als freier Schriftsteller zu versuchen – sein Traum, solange er denken konnte, wie er mir beim Abendessen in Sils erzählt hatte. Mit seiner Geschichte ›Licht ist Wahrheit‹ hatte er im Wettbewerb den dritten Preis gewonnen. Er bat, bei mir vorbeikommen zu dürfen, und da es dringlich klang, empfing ich ihn schon am folgenden Tag.

Toni war tief beunruhigt. Er hatte, kaum war das Büchlein mit den Silser Geschichten erschienen, einen Brief von Ambrose Bierce erhalten, in dem der Absender behauptete, Toni habe die preisgekrönte Geschichte von ihm gestohlen, er könne das auch beweisen, und er werde Rechtsmittel ergreifen.

»Bierce? Jemand versucht, dich auf die Rolle zu schieben«, sagte ich. »Will er Geld?«

»Nein.«

»Das wird noch kommen.«

»Glaube ich nicht«, sagte Toni. »Der Brief liegt immerhin schon zwei Monate zurück, und bislang ist keine finanzielle Forderung eingetroffen.«

»Also brauchst du dich doch nicht weiter zu beunruhigen.«

Das sehe er nicht so, widersprach Toni. Denn seit diesem ersten Brief werde er beinahe täglich mit neuen bombardiert, die immer Absurderes verlangten. »Seit Neuestem soll ich in einem ganzseitigen Inserat in der NZZ erklären, dass ich meine Geschichte bei Bierce abgeschrieben habe.«

»Unangenehm, diese Spinner. Trotzdem, vergiss es. Der richtige Ambrose Bierce ist seit fast neunzig Jahren tot.«

»Eben das ist nicht so klar. 1913, einundsiebzigjährig, ging er nach Mexiko, wo Bürgerkrieg herrschte. Seither hat man nichts mehr von ihm gehört. Seine Leiche wurde niemals gefunden, und es gibt mindestens ein halbes Dutzend Theorien darüber, wie, wann und wo er ums Leben gekommen ist.«

»Hauptsache, ums Leben gekommen. Du wirst doch nicht glauben …?«

Er glaubte nicht, und trotzdem. Wie sagte die französische Adlige aus dem 18. Jahrhundert? »Ich glaube nicht an Geister, aber ich habe Angst vor ihnen.« Toni hatte Angst.

»Was sollte er dir tun können?«

»Wenn er mir Plagiat vorwirft, bin ich erledigt. Den Gegenbeweis anzutreten, ist fast unmöglich. Und die Indizien scheint er in den Händen zu halten.« Toni zog ein schmales Bändchen aus der Tasche. ›Böse Geschichten‹ von Ambrose Bierce. »Hier.« Er schlug das Buch auf und legte es vor mich hin. Die Geschichte hieß ›Licht in die Wahrheit‹, und wenn sie von Bierce war, dann hatte Toni tatsächlich sehr weitgehend abgeschrieben. »Er schickte mir dieses Buch. Das Groteske ist, dass ich es auch in zwei Antiquariaten fand. Jedoch ohne diese Geschichte.«

»Herausgerissen?«

Autor