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The Truest Thing - Jeder Moment mit dir

Als Buch hier erhältlich:

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Erst wenn du dich von deiner Vergangenheit befreist, kann die wahre Liebe sich erfüllen

Emery liebt ihre Buchhandlung und hat in dem Küstenort Hartwell eine Ersatzfamilie gefunden. Allerdings hat sie ein Geheimnis, von dem selbst ihre besten Freundinnen nichts wissen: Sie hat sich in Jack Devlin verliebt, der den Ruf eines Bad Boys genießt. Weil Emery zu schüchtern ist, wagt sie es nicht, ihm ihre Gefühle zu gestehen. Jeden Tag, wenn sie mit ansehen muss, wie Jack andere Frauen verführt, bricht ihr Herz ein Stück mehr. Doch dann liegt Emery in Jacks Armen, sie spürt seine sinnlichen Lippen auf ihren und eine ungeahnte Leidenschaft. Bis er sie von sich stößt. Tief verletzt will Emery ihn und alles, was sie je für ihn empfunden hat, vergessen. Aber plötzlich sucht Jack wieder ihre Nähe und setzt alles daran, dass sie ihm vergibt …

»Geheimnisvoll, überwältigend, einfach nur gut.« Closer über Things We Never Said – Geheime Berührungen

»Ein wahres Erzähltalent.« Daily Recordes über Things We Never Said – Geheime Berührungen


  • Erscheinungstag: 24.05.2022
  • Aus der Serie: Hartwell Love Stories
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745703078
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

Emery

Hartwell

Gegenwart

Der nussige, rauchige Karamell-Kaffeeduft umgab mich meist noch lange nach dem Ende meines Arbeitstags. Nur gut, dass ich den Geruch mochte. Er vermittelte mir ein Gefühl von Zufriedenheit, Kontrolle und Sicherheit, da er normalerweise bedeutete, dass ich mich an meinem Lieblingsort befand.

In meinem Buchladen und Café.

Doch während ich jetzt vor meiner supermodernen Kaffeemaschine stand, empfand ich keine Spur der üblichen Zufriedenheit. Ich versuchte, mich auf die Zubereitung eines Cappuccinos zu konzentrieren und nicht an mein unreifes Verhalten von vorhin zu denken.

Bailey hatte Ivy Green in unseren Freundeskreis aufnehmen wollen.

Da ich von dieser Idee allerdings nicht begeistert war, haben sich die anderen dagegen entschieden. Als wären wir noch in der Mittelschule.

Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden, und stöhnte leise. Während ich dem Kunden den Kaffee reichte, das Geld dafür entgegennahm und mich dem nächsten Gast zuwandte, befand sich nur eine Hälfte von mir hier im Laden. Die andere steckte in meinem Kopf fest, wo sie noch eine ganze Weile bleiben würde. Immer wenn ich etwas Ärgerliches getan hatte, grübelte ich ziemlich lange darüber nach. Selbst wenn ich mich endlich wieder anderen Dingen widmete, war das Thema nie komplett erledigt, sondern tauchte oft nach einigen Monaten noch einmal auf, um mich erneut zu plagen. Einfach nur so.

Ivy Green war Iris’ Tochter, und Iris gehörte zu den Menschen, die ich wirklich gernhatte. Sie war die einzige Person gewesen, die mir nahestand, bevor Jessica Huntington – jetzt Lawson – in Hartwell Urlaub machte und danach hierblieb. Jessica hatte etwas an sich, das mich sofort Vertrauen zu ihr fassen ließ, und das, obwohl ich normalerweise Schwierigkeiten damit habe, jemandem zu vertrauen.

Iris hatte ich auch vertraut.

Und nun vergalt ich ihr ihre Freundschaft auf diese Art? Indem ich meinen Einfluss bei meinen Freundinnen nutzte, um ihre Tochter aus einer großartigen Frauengruppe auszuschließen, die ihr in einer sehr schweren Zeit helfen könnte?

Ivy hatte früher als Drehbuchautorin in Hollywood gelebt und war mit dem berühmten Regisseur Oliver Frost verlobt gewesen, der traurigerweise an einer Überdosis Drogen gestorben war. Als sie nach Hartwell zurückkam, war sie völlig am Boden zerstört. Und dann wurde sie auch noch von Deputy Freddie Jackson überfallen und mit einer Waffe bedroht. Freddie wollte Geld von ihr erpressen, nachdem er den hiesigen Geschäftsmann Stu Devlin ermordet hatte. Meine andere gute Freundin Dahlia McGuire wurde bei dem Versuch, Ivy zu beschützen, angeschossen, woraufhin Ivy Freddie Jackson eine Oscar-Statue über den Kopf schlug, um Dahlia zu retten.

Willkommen in Hartwell, Leute!

In den letzten Jahren ist hier einiges geschehen.

Bevor Oliver starb, hatte Iris sich große Sorgen um ihre Tochter gemacht, vor allem, weil sie komplett den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hatte. Immer wieder hatte ich Iris geraten, von sich aus auf Ivy zuzugehen, aber sie blieb unnachgiebig. Ich wusste, dass sie diese Dickköpfigkeit inzwischen bereute.

Iris wünschte sich Unterstützung für ihre Tochter. Ivy brauchte jetzt richtig gute Freundinnen, und dem durfte ich nicht im Weg stehen – auch wenn ich befürchtete, dass ein Neuzugang die Dynamik innerhalb unserer Gruppe verändern könnte, einer Gruppe, die zu meiner Familie geworden war. Ich war ziemlich besitzergreifend, was diese Frauen betraf.

Doch das war kein Grund, jemanden auszuschließen.

Ich seufzte. Die anderen würden nichts unternehmen, sondern den Dingen laut Jessica ihren natürlichen Lauf lassen. Vielleicht müsse sich Ivy einfach etwas mehr Mühe geben.

Nun lag es an mir, einen Schritt auf sie zu zu machen und sie in unseren Kreis aufzunehmen.

Bei dem Gedanken daran verkrampfte sich mein Magen.

Ich tat mich sehr schwer damit, anderen Menschen in irgendeiner Form Macht über mich zu geben, und was wäre, wenn Ivy mein Freundschaftsangebot ablehnte?

Doch trotz dieser Vorbehalte hatte ich Jess, Bailey und Dahlia in mein Herz gelassen, und das war die beste Entscheidung gewesen, die ich je getroffen hatte.

Denn nun war ich Teil ihres Lebens. Ich war Brautjungfer bei Jess’ und Coopers Hochzeit. Und wenn Bailey und Vaughn sich Ende des Sommers das Jawort gaben, würde ich noch einmal das Vergnügen haben. Außerdem konnte ich aus nächster Nähe die Wiedervereinigung von Dahlia und Michael beobachten – eine wunderbare Entwicklung nach den qualvollen Jahren, die sie getrennt voneinander verbracht hatten.

Und es gab noch ein Sahnehäubchen obendrauf: Jess hatte uns vor Kurzem verraten, dass wir bald Tanten sein würden! Sie hat tatsächlich das Wort »Tanten« verwendet. Ich würde eine Tante sein! Jess war erst in der zwanzigsten Woche, aber ich bestellte schon online Geschenke für das Baby.

Diese Frauen hatten so viel Schönes in mein Leben gebracht. Und wer sagte denn, dass Ivy nicht noch mehr Gutes dazu beitragen könnte? Wenn sie auch nur ein wenig ihrer Adoptivmutter Iris glich, wäre das mit Sicherheit der Fall.

Vom erhöhten Sitzbereich vor dem offenen Kamin aus verlangte ein Gast lautstark nach einem sauberen Löffel. Ich arbeitete allein in meinem Laden. Es gefiel mir, immer viel zu tun zu haben, gleichzeitig war mir klar, dass ich zumindest in der Hauptsaison eine Hilfe anstellen sollte. Außerdem wäre ich froh, wenn meine Kunden auf die Schilder achten würden, die auf den Besteckkasten hinwiesen, aus dem sich jeder bedienen konnte. Schließlich war das hier kein Restaurant.

Ich entschuldigte mich bei den Gästen, die Schlange standen, um einen Kaffee zu bekommen, und hastete vom Tresen zum Kamin hinüber, um dem Gast einen sauberen Löffel zu bringen. Er bedankte sich nicht einmal dafür.

Blödmann.

Natürlich würde ich ihm das niemals ins Gesicht sagen.

Selbst Bailey, die unverblümteste und mutigste Frau, die ich kenne, würde einem Gast so etwas nicht an den Kopf werfen.

Während ich noch auf dem Rückweg zum Tresen war, ertönte das Glöckchen über der Eingangstür. Ich schaute hin, und sofort zog sich mein Magen zusammen wie bei einer Achterbahnfahrt.

Jack Devlin.

Ich riss den Blick von seinem ausdrucksvollen Gesicht los und versuchte, mich auf die anderen Gäste zu konzentrieren. Doch mein Herz klopfte wie wild, ich spürte, dass ich rot wurde, und mir war klar, dass er mit Sicherheit wusste, dass er der Grund dafür war.

Jeden Tag, nein, jede Stunde verfluchte ich meinen hellen Teint.

Was machte Jack hier?

Seit letztem Sommer war er nicht mehr auf einen Kaffee hier gewesen. Seit »dem Vorfall«.

Das war meine Bezeichnung dafür.

Das war besser, als von dem heißesten – und beschämendsten – Moment meines bisherigen Lebens zu sprechen. Manchen Leuten mochte es merkwürdig vorkommen, dass diese beiden Gefühle gleichzeitig auftreten können.

Jack hatte meinen Wunsch, mich in Ruhe zu lassen, akzeptiert und war mir seitdem aus dem Weg gegangen. Dafür verzichtete er sogar auf meinen Kaffee, obwohl er früher jeden Morgen bei mir genüsslich einen Caffè Americano getrunken hatte.

Doch der »Vorfall« war nicht unsere letzte Begegnung gewesen.

Wann immer ich an diesen Moment zwischen uns dachte, empfand ich tiefes Mitgefühl mit ihm.

»Ich habe Ihnen zehn Dollar gegeben.«

Die gereizte Stimme riss mich aus meinen Erinnerungen. Christine Rothwell, die Leiterin des Ordnungsamtes in Hartwell, starrte mich finster an.

»Wie bitte?«

Verärgert presste sie die Lippen zusammen. »Ich habe Ihnen zehn Dollar gegeben.« Sie sprach betont langsam, als wäre ich zu dumm, es sonst zu begreifen. »Der Kaffee kostet vier Dollar.« Sie deutete auf ihre Tasse. »Verstehen Sie mich?«

Du darfst deine Gäste nicht beleidigen. Du darfst deine Gäste nicht beleidigen.

»Ja.«

»Sie haben mir einen Dollar zurückgegeben.«

»Das tut mir leid.« Die Röte auf meinen Wangen vertiefte sich, da ich wusste, dass Jack mein Missgeschick beobachtete. Ich reichte ihr einen Fünfdollarschein, den sie mir rasch aus der Hand riss, bevor sie aus dem Laden marschierte. Das Glöckchen über der Ladentür begleitete ihren empörten Abgang mit schrillem Läuten.

Mein nächster Kunde lächelte mir mitfühlend zu. »Da hatte heute wohl jemand seine Manieren zu Hause vergessen.« Ich erwiderte das Lächeln und entspannte mich ein wenig. Soweit das in Jacks Gegenwart möglich war. Eigentlich war es kaum machbar.

Meine Hände zitterten, während die Schlange langsam kürzer wurde und Jack immer näher kam. Nach ihm hatten keine weiteren Kunden mein Geschäft betreten.

Als er vor der Theke stand, beschleunigte sich mein Puls. Entschlossen straffte ich die Schultern. Was wollte er hier?

Jacks Entscheidung, für seinen Vater zu arbeiten und sich in die üblen Machenschaften des Devlin-Clans hineinziehen zu lassen, war umso verwunderlicher, weil er seine Familie ganz offensichtlich verachtete. Ein Blick in Jacks Augen genügte, um zu erkennen, dass er kein verkommener Mensch war. Tatsächlich hatte er die freundlichsten Augen, die ich jemals gesehen habe.

Und wenn er mich anschaute … Genau das machte er jetzt. Jack musterte mein Gesicht so eindringlich, als wollte er den Blick nie wieder davon abwenden. Es war sehr schwer, dieser unverhüllten Aufmerksamkeit zu widerstehen.

Auf diese Weise hatte er mir im letzten Sommer das Herz gebrochen. Und nicht zum ersten Mal.

Das behielt ich allerdings für mich. Nicht einmal meine Freundinnen wussten, was zwischen mir und Jack Devlin im Geheimen abgelaufen war.

Doch diese freundlichen Augen, die so glühende Blicke aussenden konnten, und die Masche des gequälten, grüblerischen Helden zogen bei mir nicht mehr. Jack hatte die schreckliche Angewohnheit, mich an sich zu ziehen und dann wieder von sich zu stoßen. Mir war klar, dass das nicht in böser Absicht geschah.

Doch es war vorbei.

Dennoch hatte ich ihm vor drei Monaten am Strand meine Unterstützung angeboten, weil ich trotz allem nicht wollte, dass er leiden musste.

Aber weiter würde ich nicht gehen.

Ich riss den Blick von seinen Augen los, fest entschlossen, mich nicht in seinen Bann ziehen zu lassen. »Was darf es sein?«

Er zögerte einen Moment. »Das Übliche, Emery.«

Ich war vernarrt in Jacks Stimme. Sie war tief und weich. Wie mit Whisky aromatisierter Karamell. Und sie löste eine körperliche Reaktion in mir aus.

Verdammt.

Ich drehte mich zur Kaffeemaschine um und wandte ihm den Rücken zu, während ich mich um seine Bestellung kümmerte.

Ich spürte seinen Blick überall auf meinem Körper und bemühte mich, die Schultern bei dieser gründlichen Musterung nicht nach oben zu ziehen.

»Ziemlich viel los heute«, stellte er fest.

Ich zuckte mit den Achseln.

»Kauft auch jemand Bücher, oder wollen alle nur deinen Kaffee trinken?«

Hör auf mit diesem banalen Small Talk.

»Ja, schon«, erwiderte ich vage.

Jack stieß ein verärgertes Lachen aus. »War das etwa so was wie eine Antwort?«

Darauf reagierte ich nicht.

Als ich mich mit seinem Getränk in der Hand wieder zur Theke umdrehte, hatte sich seine Miene verfinstert. »Wird das in Zukunft immer so sein?«

Ich schob ihm die Tasse hin, und er zog seine Karte über das Lesegerät.

»Hast du tatsächlich vor, mich nur mit den nötigsten Worten abzuspeisen, Emery?«, fragte er stirnrunzelnd.

»Das tue ich doch gar nicht.« Ich atmete tief durch und ließ den Blick an ihm vorbei zu den Bücherregalen schweifen. »Ich habe dich gebeten, nicht hierherzukommen, und daran hat sich nichts geändert. Und ich bitte dich noch einmal, dir deinen Kaffee woanders zu besorgen.«

»Sag das noch mal und sieh mir dabei in die Augen, dann werde ich mich vielleicht daran halten.«

Entschlossen blickte ich ihn an. Sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Ärger und Besorgnis.

Er neigte den Kopf in meine Richtung. »Schau, Em …«

»Lass das.« Ich zuckte zurück.

»Ich hatte nicht vor, dich zu küssen, Sunrise«, murmelte er.

Sonnenaufgang. Ich ignorierte den Schmerz, den die Nennung des Kosenamens in mir auslöste, den er mir schon vor Jahren gegeben hatte. »Schon klar. Aber du hast dich zu mir vorgebeugt und versucht, mich von meinem Entschluss abzubringen, und das möchte ich nicht.«

»Em …« Ein schriller Ton unterbrach ihn.

Seufzend stellte er seine Kaffeetasse auf die Theke und kramte in der Innentasche seiner Jacke nach seinem Handy. Seine Miene verriet mir, dass unser Gespräch noch nicht beendet war. Das Handy ans Ohr gedrückt, wandte er sich von dem Tresen ab.

Ich wollte ihn nicht belauschen, konnte aber nicht anders, als ihn zu beobachten.

Kurze Bartstoppeln bedeckten sein festes kantiges Kinn. Seit einem Jahr trug er diesen Dreitagebart – ich wusste das so genau, weil ich damals das Piksen dieser Stoppeln auf meiner Haut gespürt hatte.

Ich errötete und senkte rasch den Blick.

»Was hat sie getan?« Jacks wütende Stimme zog meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn.

Er starrte an die Wand, und an seiner Wange zuckte ein Muskel, während er der Person am anderen Ende der Leitung zuhörte, wer auch immer das sein mochte. »Verdammt«, stieß er hervor. »Okay, ich bin schon unterwegs.« Er legte auf und drehte sich zu mir um.

Bei dem Ausdruck in seinen Augen begann mein Herz zu hämmern.

Er hatte Angst.

»Was ist los?«

»Rebecca.«

Rebecca war Jacks Schwester. Sie lebte seit einigen Jahren in England, von der eigenen Familie praktisch ins Exil verbannt. »Was ist mit ihr?«

»Sie ist seit zwei Tagen wieder zu Hause … Der Anruf kam von Sheriff King.«

»Jack?«

Er stützte sich mit beiden Händen auf die Theke und senkte den Kopf.

Beunruhigung stieg in mir auf. »Jack?«

»Sie hat sich soeben der Polizei gestellt.«

O mein Gott.

Ich griff nach seiner Hand.

Er hob den Kopf und blickte mich gequält an.

Ich wusste, was das bedeutete.

Ich wusste etwas, was sonst niemand über die Devlins wusste.

Ich kannte den wahren Grund, warum Jack für seine Familie arbeitete und warum er seinen besten Freund Cooper betrogen hatte.

Ich wusste alles.

Es ging darum, Rebecca Devlin zu beschützen.

»Oh, Jack«, flüsterte ich. Ich empfand tiefes Mitgefühl für ihn.

Kapitel eins

Jack

Hartwell

Neun Jahre zuvor

Abends war Coopers Bar immer gut besucht, sowohl in der Haupt- wie auch in der Nebensaison. Aus der Jukebox dröhnte Creedence Clearwater Revival gegen das Footballspiel an, das an der Bar auf zwei Flachbildfernsehern übertragen wurde. Die Footballsaison hatte soeben erst begonnen, und viele Einheimische kamen ins Cooper’s, um etwas zu essen und zu trinken und sich ein für sie wichtiges Spiel anzuschauen. Da in der National Football League kein Team aus Delaware vertreten war, waren die meisten Leute in Hartwell Fans der Patriots.

Jack aß einen Burger, schaute auf den Bildschirm über der Bar und unterhielt sich nebenher mit seinem Freund Coop, während der seine Gäste bediente.

Der Abend verlief wie üblich.

Jack war Vorarbeiter in seiner eigenen Baufirma, ein Job, den normalerweise ältere Männer als er ausübten. Doch er arbeitete bereits seit seinem vierzehnten Lebensjahr auf dem Bau. Zusätzlich hatte er Ray English für diese Aufgabe angeheuert, den Mann, der ihm alles beigebracht hatte. Er hatte ihn von der Konkurrenz abgeworben, und heute waren sie mehr als nur Kollegen.

Sie hatten die Baustelle, auf der sie derzeit beschäftigt waren, früher als üblich geschlossen. Es handelte sich um ein privates Projekt einer kleinen Eigentümergemeinschaft in der Nähe von Jimtown. Jack versuchte immer, die Wochenenden frei zu halten, doch wenn ein Kunde viel Geld für Überstunden bot, fiel es manchmal schwer, Nein zu sagen. Dieses Wochenende arbeitete sein Team nicht – er hatte ihnen mit Zustimmung des Kunden sogar den Freitag geschenkt, damit sie am Abend davor das Auftaktspiel bei ein paar Bierchen genießen konnten.

Seine Mannschaft hatte den ganzen Sommer über geschuftet und verdiente diesen freien Tag. Und er selbst hatte vor, an seinem eigenen Haus einige Dinge zu erledigen; er hatte es erst vor sechs Monaten im Norden von Hartwell gekauft, in der Nähe von Coopers Haus.

Tatsächlich war nichts ungewöhnlich an diesem Abend, an dem Jack wieder einmal im Cooper’s war, etwas aß und trank und sich gemütlich mit seinem Kumpel und einigen einheimischen Freunden unterhielt.

Old Archie saß am Ende der Bar, von Kopf bis Fuß tadellos gekleidet, obwohl er wahrscheinlich schon seit achtundvierzig Stunden durchgehend betrunken war. Sein richtiger Name war Archibald Brown, er stammte aus altem Geldadel. Er war Alkoholiker, und seine Frau hatte ihn vor zwanzig Jahren verlassen und die Kinder mitgenommen.

Einige Leute hatten versucht, ihm zu helfen, darunter auch Jack.

Es hatte nichts gebracht.

Old Archie wollte sich nicht helfen lassen.

Jack musste einsehen, dass er in Ruhe gelassen werden wollte.

»Die Saints machen sich gut.« Old Archie deutete auf den Fernseher.

Jack nickte. Zu sehen waren im Moment die Minnesota Vikings. »Ja.«

»Wo ist Dana, Coop?«, fragte Old Archie. »Sie ist doch sonst immer hier, wenn das erste Spiel der Saison übertragen wird.«

Bei der Erwähnung von Coopers Frau Dana warf Jack seinem Freund einen raschen Blick zu. Cooper zapfte gerade ein Bier, ohne hochzuschauen. »Ihr war heute nicht danach«, antwortete er. »Sie ist daheim, schaut sich irgendeine blöde romantische Komödie an und genießt das, was sie ›Zeit für sich selbst‹ nennt.«

Jack starrte auf den Bildschirm und hoffte, dass er den Hohn, den er empfand, verbergen konnte. Zeit für sich selbst? Diese Frau arbeitete acht Stunden in der Woche am Empfang eines Friseursalons, und das war’s. Sie half Coop nicht im Haus. Sie half ihm auch nicht in der Bar. Außer im Schlafzimmer war sie nie an seiner Seite. Sie kaufte einen Haufen Mist, für den Cooper hart schuften musste, und Jack befürchtete, dass Coop ihretwegen eines Tages hoch verschuldet sein würde.

Oder Schlimmeres.

Man konnte durchaus behaupten, dass Jack Devlin Dana Kellerman-Lawson nicht leiden konnte.

Tatsächlich hatte sie für den ersten richtigen Streit zwischen ihm und Coop gesorgt.

Manchmal konnte Jack es immer noch nicht glauben, dass sein Freund nichts auf seine Meinung gegeben hatte.

Seit Jahren hatten sie über Jacks Superkräfte gescherzt – seine Fähigkeit, schon aus kilometerweiter Entfernung zu riechen, ob jemand unehrlich war. Vielleicht lag es daran, dass er in einem Haus aufgewachsen war, wo man an jeder Ecke mit einem manipulativen Betrüger rechnen musste. Jack besaß starke Instinkte und lag fast nie falsch damit. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er sich zum letzten Mal in einem Menschen getäuscht hatte.

Als Dana Kellerman nach dem College nach Hartwell zurückkehrte und ein Auge auf Cooper warf, versuchte Jack, seinen Freund zur Vernunft zu bringen. Doch Cooper war geblendet von Danas Schönheit und ihrem falschen süßen Lächeln. Sie schien sich vollkommen auf ihn zu verlassen, und das weckte Coops Beschützerinstinkt, wie so oft im Umgang mit Frauen, und brachte das Alphatier in ihm hervor.

Jack hingegen durchschaute Dana sofort. Er ließ sich nicht davon beeindrucken, dass sie aussah wie ein Filmstar, sondern blickte hinter die Fassade. Und was verbarg sich dahinter?

So gut wie nichts.

Diese Frau war nur hinter Cooper her, weil er von anderen Frauen begehrt wurde, die es jedoch nicht schafften, ihn für sich zu gewinnen.

Dass er einen einträglichen Laden an der Promenade besaß, war sicher kein Nachteil.

Sie wollte einen attraktiven Ehemann, der ihr hübsche Sachen kaufte und sich um alles kümmerte, und da war Cooper genau der Richtige. Tatsächlich krümmte sie selbst keinen Finger. Sie beschäftigte sogar eine Haushaltshilfe für ihr durchschnittlich großes Heim mit drei Schlafzimmern. Cooper war damit eigentlich nicht einverstanden, denn seine Mutter hatte ihm beigebracht, seinen Haushalt selbst in Ordnung zu halten.

Noch schlimmer war, dass Dana nichts davon hören wollte, wenn Cooper irgendein Problem hatte oder sich Sorgen um die Bar machte. Daher wandte sich Cooper in solchen Fällen immer an Jack. Aber was hatte es für einen Sinn, eine Frau zu haben, wenn sie keine richtige Partnerin war, sondern bloß versorgt werden wollte? Jack hatte öfter versucht, mit Coop darüber zu sprechen, doch der blockte immer wieder ab, bis Jack schließlich das Thema fallen ließ.

Nachdem er Coop davor gewarnt hatte, Dana zu heiraten, mit der Begründung, sie sei so seicht wie ein Kinderplanschbecken, redeten sie tagelang nicht mehr miteinander. Schließlich hatte Jack sich entschuldigt, weil er wusste, dass er seinen Freund verlieren würde, wenn er sich weiter in die Sache mit Dana einmischte.

Trotzdem hatte er den Tag nicht genossen, an dem er Coopers Trauzeuge gewesen war.

Er fühlte sich mit Cooper stärker verbunden als mit seinen eigenen Brüdern und wollte nur das Beste für ihn.

Coop hatte etwas Besseres verdient als Dana, das war mit jedem Jahr, das verging, deutlicher zu sehen.

Dana merkte, dass Jack sie nicht leiden konnte, und wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte. Sie erwartete von allen Männern, dass sie ihr zu Füßen lagen und sie anbeteten, also war Jacks Verhalten eine Herausforderung für sie.

In letzter Zeit war sie immer öfter aufgetaucht, daher hatte Jack Überstunden gemacht, um ihr aus dem Weg zu gehen. Das war gar nicht so einfach, da sie mit seinem besten Freund verheiratet war.

»Zeit für sich selbst?« Old Archie schnaubte geringschätzig. »Wofür zum Teufel braucht sie Zeit für sich selbst? Die Frau macht nichts anderes, als sich um sich selbst zu kümmern.«

Jacks Mundwinkel zuckten, während er einen Schluck Bier aus der Flasche trank und den Blick dabei unbeirrt auf den Bildschirm richtete.

»Sie arbeitet«, entgegnete Cooper ruhig. »Im Friseursalon.«

»Einen Tag in der Woche, und das auch nur, um sich den neuesten Klatsch anzuhören«, ertönte Iris’ Stimme hinter Jacks Rücken, und er warf einen Blick über die Schulter. Iris Green und ihrem Mann Ira gehörte die italienische Pizzeria Antonio’s an der Promenade. Auch wenn keiner der beiden aus Italien stammte, war das Essen echt italienisch. Jack nickte ihnen zu.

Iris lächelte und klopfte ihm leicht auf die Schulter, bevor sie sich an Cooper wandte. »Hast du uns einen Tisch für drei Personen reserviert?«

»Natürlich, die Sitzecke dort ist für euch.« Cooper deutete mit einer Kopfbewegung zum hinteren Teil des Lokals. »Stellst du uns einander vor?«

Neugierig, wen Coop damit meinte, beugte sich Jack zur Seite, sodass er an Iris vorbeischauen konnte.

Ira stand neben einer großen Frau mit hellblondem Haar, das ihr in weichen Wellen über den schmalen Rücken fiel. Sie trug ein langes dunkelblaues Kleid aus einem Stoff, der sich eng an ihren Körper schmiegte. Und was für ein Körper das war! Zumindest, soweit Jack das von seiner Position aus erkennen konnte. Schmale Taille, sanft gerundete Hüften und ein Po, bei dessen Anblick sein Blut zu kochen begann.

Verdammt, dachte er. Dreh dich um, damit ich dein Gesicht sehen kann!

»Emery ist ein bisschen schüchtern«, erklärte Iris und lenkte Jacks Aufmerksamkeit von der fremden Frau auf sie.

»Emery?« Woher kam ihm dieser Name bekannt vor?

»Sie hat die Burgerbude geerbt«, warf Cooper ein und stützte sich auf die Theke.

»Die Frau, die daraus einen Buchladen gemacht hat?« Jack hatte schon von ihr gehört. Wie alle anderen auch. Ein Grundstück an der Promenade war einiges wert. Sein Vater Ian Devlin besaß mehrere Immobilien in Hartwell. Allerdings lag keine einzige davon an der Promenade. Alle vierzehn Tage ertrug Jack ein Sonntagsdinner im Haus seiner Eltern, und als sich die Neuigkeiten über Emery herumsprachen, war sein Vater – milde ausgedrückt – ziemlich verstimmt gewesen. »Eine kleine Neureiche aus New York hat die Burgerbude von ihrer Großmutter geerbt und will sie mir nicht verkaufen. Sie hat vor, einen eigenen Laden aufzumachen. Kleine Idiotin. Noch dazu ist sie unter einem falschen Namen hergezogen. Und das nur, weil die Geschäftsleute hier zu dumm sind, den Hintergrund einer solchen Person gründlich zu überprüfen. Doch sie ist nicht die, die sie vorgibt zu sein – sie ist eine Society-Prinzessin mit mehr Geld als Verstand. Die Frau ist stinkreich.«

Als Cooper ihm erzählte, dass Emery Saunders den Laden neben seinem renovierte, sagte Jack ihm nicht, dass die Frau aus einer reichen Familie stammte. Das ging niemanden etwas an, und obwohl er Cooper vertraute, war er nicht sicher, ob sein Freund es nicht Dana weitererzählen würde.

Sobald Dana es wüsste, würden es alle erfahren.

»Und wenn ich schüchtern sage, dann meine ich auch schüchtern.« Verschwörerisch beugte Iris sich ein Stück vor. »Wir müssen sie ganz sanft an uns gewöhnen.«

Jack schnaubte und warf noch einen Blick zu der Frau hinüber. »Sie ist doch kein Pferd, Iris.«

»Vertrau mir, Jack.« Iris seufzte. »Ich weiß, wovon ich spreche.«

Genau in dem Moment, in dem Jack noch einmal zu ihr hinüberschaute, drehte Emery sich um.

Und aus einem typischen Abend im Cooper’s wurde etwas höchst Ungewöhnliches.

Sein Puls raste, als wäre er soeben einen Marathon gelaufen, und sein Mund wurde trocken.

Heilige Scheiße.

Emery Saunders war die schönste Frau, die Jack Devlin jemals gesehen hatte.

»Sie ist erst zwanzig.« Iris’ Stimme drang zu ihm durch, während er in Emerys verblüffend hellblaue Augen starrte. Ihre Wangen röteten sich leicht, und ihre Lippen öffneten sich ein wenig, als wäre sie überrascht.

Sein Magen zog sich zusammen.

»Und falls man aus der Art, wie sie auf Männer reagiert, Rückschlüsse ziehen kann, dann ist sie so unschuldig wie Schneewittchen.« Iris klopfte Jack auf die Schulter, und er riss sich zögernd von Emerys Anblick los.

Iris grinste ihn an. »Sie ist keine Touristin, mit der du ein wenig Spaß haben kannst. Hast du mich verstanden?«

Missmutig runzelte Jack die Stirn, doch bevor er antworten konnte, hatte Iris sich schon ein paar Schritte entfernt. Sie ging mit Emery und Ira zu der reservierten Sitzecke. Emery warf Jack einen raschen scheuen Blick zu, bevor sie sich auf der Sitzbank niederließ, wobei ihr langes Haar über ihren schmalen Rücken fiel.

»Eine richtige Schönheit«, bemerkte Old Archie.

Jack schluckte heftig und fragte sich, warum sich sein Herzschlag nicht beruhigte. Abwesend starrte er auf den halb leeren Teller vor sich.

»Jack?«

Er schaute auf. Sein Freund Cooper wirkte belustigt.

»Wisch dir mal das Kinn ab – du hast ein wenig gesabbert.«

»Du kannst mich mal«, erwiderte Jack gutmütig.

Die Minuten verstrichen, aber Jack gelang es nicht, sich wieder zu entspannen. Immer wieder spähte er halb über seine rechte Schulter, kurz davor, einen weiteren Blick auf sie zu werfen.

Schließlich verlor er den Kampf und schaute quer durch die Bar zu ihr hinüber.

Sie lächelte über etwas, das Iris zu ihr sagte.

Am liebsten wäre er aufgestanden und zu ihr hinübergegangen, um sich vorzustellen.

Bisher war er nicht auf der Suche nach einer festen Beziehung gewesen. Wahrscheinlich würde das noch kommen, vielleicht wenn er in einigen Jahren in den Dreißigern war. Irgendwann wollte er Kinder haben. Und jemanden, zu dem er nach Hause kommen konnte.

Aber seit seinem dreizehnten Lebensjahr hatte er gern mehrere Eisen im Feuer. In der Highschool waren er und Cooper sehr beliebt gewesen. Sie spielten beide im Footballteam, gefielen den Mädchen, und Jack hatte nie Probleme, ein Date zu bekommen.

Das Leben in einer Touristenstadt war hervorragend geeignet für einen Mann, der sich nicht fest binden, aber auch keine Gefühle verletzen wollte. Jack nutzte seinen angeborenen Charme, um mit attraktiven Frauen ins Gespräch zu kommen; meist führte das zu einer sexuellen Beziehung, die nur so lange währte, bis der Urlaub der Touristin vorüber war.

Von ortsansässigen Frauen hielt er sich strikt fern.

Doch während er Emery Saunders anstarrte, stellte er fest, dass er ihr eher nicht aus dem Weg gehen wollte. Ganz im Gegenteil. Irgendein dummer Urinstinkt aus der Steinzeit befahl ihm, dass er sie sich schnappen musste, bevor es ein anderer Mann tat.

»Jack!«

Notgedrungen wandte er sich wieder Cooper zu.

Sein Freund musterte ihn ebenso amüsiert wie ungläubig.

»Was?«

Cooper schaute rasch zu Emery hinüber und wieder zurück zu Jack. Und grinste. »Tatsächlich?«

Jack fühlte sich, als wäre er bei etwas ertappt worden, das er nicht hätte tun sollen, zuckte mit den Schultern und rieb sich den Nacken, der sich merkwürdig heiß anfühlte.

Cooper lehnte sich weiter über den Tresen und senkte die Stimme. »Diese Frau ist wunderschön. Iris ist ganz begeistert von ihr, und das bedeutet einiges. Du weißt ja, dass sie dumme Menschen nicht ertragen kann.«

Stimmt.

»Aber du hast gehört, was Iris erzählt hat – sie ist so rein wie Schneewittchen.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Mit einer solchen Frau spielt man nicht.«

Nein, das tat man nicht. Und das würde Jack auch nicht machen.

Er dachte an den berechnenden Blick seines Vaters an jenem Sonntag, an dem sie über Emery gesprochen hatten, und wusste, dass er sich ihr nicht nähern durfte. Auch wenn er sich mit einer nie gekannten Heftigkeit danach sehnte, sie kennenzulernen.

Niemand sonst wusste, dass Emery Saunders in Wahrheit Louisa Emery Paxton hieß – und Ian Devlin würde das vorläufig auch für sich behalten, wahrscheinlich, um es irgendwann in der Zukunft gegen sie zu verwenden. Nach dem Tod ihrer Großmutter hatte sie die Mehrheit der Firmenanteile geerbt. Die Paxton Group war ein milliardenschweres Unternehmen, das Airlines und ein Unternehmen für Luftfahrttechnik besaß.

Sollte Jack versuchen, Emery näher kennenzulernen, würde Ian es sofort nutzen, um an sie heranzukommen.

Wie immer, wenn er an seinen Vater und seine Brüder dachte, spürte er einen Druck auf der Brust. Jack hatte alles getan, um sich von seinen Angehörigen zu befreien. Hin und wieder wurde er noch bedrängt, wieder in den Schoß der Familie zurückzukehren – und bemühte sich mit aller Kraft, nicht zu scheitern und nichts zu machen, womit er erpressbar werden könnte.

Seit einiger Zeit wiegte er sich in dem Glauben, es tatsächlich geschafft zu haben. Und endlich frei und unabhängig von Ian zu sein.

Doch nun begriff er, dass das nicht stimmte.

Wenn er sich einmal fest binden wollte, war das nur mit einem Niemand möglich. Mit einer Frau, die Ian nicht benutzen konnte.

Auf keinen Fall durfte es eine Frau sein, die so reich war wie Emery Saunders.

Eine Welle der Enttäuschung überrollte ihn; diese Reaktion erschien ihm ein wenig übertrieben, wenn man bedachte, dass er noch kein Wort mit Emery gewechselt hatte.

Cooper sah ihm offensichtlich an, dass ihn etwas quälte, denn er runzelte besorgt die Stirn. »Alles in Ordnung?«

»Mir geht’s gut.« Jacks Stimme klang tonlos. »Mir ist nur soeben klar geworden, dass du recht hast. Ich bin noch nicht so weit, mich fest zu binden.«

Coop nickte langsam, aber in seinen Augen lag ein ungläubiger Ausdruck.

Jack wich dem Blick seines Freundes aus und starrte auf den Fernseher.

In den folgenden zwei Stunden tat er alles, um das Verlangen zu verdrängen, zu Emery hinüberzuschauen. Er bemühte sich, sie nicht anzustarren, als Iris und Ira herüberkamen, um sich zu verabschieden, während sie sich im Hintergrund hielt. Wenn Iris nicht erwähnt hätte, dass sie sehr schüchtern war, wäre Jack zu dem Schluss gekommen, dass diese New Yorker Prinzessin sich unnahbar gab.

Allerdings sah sie in ihrem langen, eng anliegenden Kleid überhaupt nicht wie eine New Yorker Prinzessin aus.

Verdammt, den Anblick von ihr in diesem Kleid würde er wohl nie vergessen.

Als die Greens sich mit Emery im Schlepptau zum Ausgang bewegten, verließ Jack seine Willenskraft, und er schaute ihr nach – genau in dem Moment, in dem Emery über ihre Schulter sah. Ihre Blicke trafen sich, und sie errötete wieder.

In seiner Brust breitete sich ein Schmerz aus.

Ein verdammter Schmerz.

Und dann war sie verschwunden.

Seine Brust schmerzte noch stärker.

Das war zweifellos eine Überreaktion, doch Jack empfand tatsächlich so.

Und an diesem Abend betrank er sich zum ersten Mal seit langer Zeit. Sehr sogar.

Kapitel zwei

Emery

Hartwell

Neun Jahre zuvor

Vom Tresen meines Buchladens und Cafés aus schaute ich mich staunend in dem Geschäft um. Niemand hätte geglaubt, dass der kompakte Raum, in dem früher eine Burgerbude untergebracht war, einmal so aussehen könnte wie jetzt.

Nachdem meine Grandma gestorben war und mir alles vermacht hatte – einschließlich einiger über die Ostküste verstreuten Mietobjekte –, hatte ich mich wochenlang mit Hague Williams zusammengesetzt, ihrem Geschäftsführer und Finanzberater, und genau über alles informiert. Hague war Ende fünfzig, sehr klug und mir ebenso zugetan wie meiner Großmutter.

Mir war klar, dass ich nicht auf ihrem Besitz in Westchester leben wollte. Das Haus war zu groß und einsam. Seit meiner Kindheit hatte ich davon geträumt, einen Buchladen zu eröffnen, und ich wollte so weit wie möglich weg von dem Leben in der High Society. Wie schon meine Grandma vor mir, musste ich mich bei der Führung der Paxton Group auf andere Leute verlassen, um meine eigenen Interessen verfolgen zu können.

Meine Großmutter hatte sich sehr für Immobilien interessiert. Sie reiste oft durchs Land und suchte nach Gebäuden, die bescheiden wirkten, aber lukrativ waren. So wie zum Beispiel den Burgerladen in einem kleinen Badeort namens Hartwell in der Kapregion von Delaware. Auch wenn Hartwell winzig war, war es genau genommen eine Stadt.

Sie kaufte das Haus, um es zu vermieten, denn Besitz an der Strandpromenade war eine Menge Geld wert.

Nachdem ich mich eingehend mit meinem Erbe beschäftigt hatte, wollte ich einige der Immobilien selbst anschauen. Ich fuhr zu allen Objekten, die mich interessierten, und als ich nach Hartwell kam, war mir sofort klar, dass es der richtige Platz für mich war. Ich gab den Mietern des Burgerladens drei Monate Zeit, sich etwas anderes zu suchen, und zahlte ihnen gegen Hagues Rat eine saftige Entschädigung für die Umstände, die ich ihnen machte. Ich musste mein Schuldgefühl besänftigen, denn immerhin nahm ich jemandem sein Geschäft weg, um mein eigenes aufzubauen.

»Das Gebäude gehört dir, Emery«, hatte Hague entnervt gesagt. »Du bist die Eigentümerin, nicht sie. Im Mietvertrag steht, dass die Kündigungsfrist nur sechs Wochen beträgt.«

Das wusste ich, aber trotzdem …

Danach machte ich mich auf die Suche nach einem Haus, in dem ich wohnen konnte. Durch einen glücklichen Zufall – zumindest schien es einer zu sein – wurde schon bald nur wenige Gehminuten von meinem Geschäft entfernt ein Strandhaus zum Verkauf angeboten. Es war ziemlich groß, hatte einen offenen Wohnbereich, eine umlaufende Terrasse und drei Schlafzimmer. Ich verliebte mich sofort in das Gebäude. Vor allem, weil die Vorbesitzer eine wunderschöne Hollywoodschaukel aufgestellt hatten, die beinahe einem Bett glich. Ich konnte es mir jeden Morgen mit einer Tasse Kaffee in der Hand darauf gemütlich machen und zusehen, wie die Sonne über dem Meer aufging.

Perfekt.

Es kostete viel Geld.

Aber das war es wert.

Und nun war ich tatsächlich hier.

Wenn man den Laden betrat, sah man links eine große Theke und dahinter die Kaffeemaschinen. Auf der rechten Seite befand sich der Buchladen; die in zartem Grau gestrichenen Wände hoben sich von den weißen Holzbalken ab. Ein paar Stufen führten hinauf zum ganz in Weiß gehaltenen Sitzbereich mit hübschen kleinen Tischen und Stühlen. Links davon waren bequeme Sessel und Sofas um den offenen Kamin gruppiert. Ich hatte ein paar Tiffany-Lampen aus dem Haus in Westchester im Raum verteilt, um eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen. Hinter dem Tresen befand sich eine Tür, die zu meinem Büro und einer privaten Toilette führte. Die Kundentoilette war durch eine Tür gegenüber dem Kamin zu erreichen.

Unwillkürlich biss ich mir auf die Unterlippe, während ich mich umschaute. In meinem Laden. Das Grau war genau der beruhigende Farbton, den meine Großmutter gewählt hätte. Wenn das nächste Mal gestrichen werden musste, würde ich vielleicht einen kräftigeren Ton wählen – Blaugrün oder Türkis. Ich dachte auch darüber nach, Sandwiches zum Kaffee anzubieten. Ich könnte sie am Morgen zubereiten, bevor ich das Geschäft öffnete. Dafür bräuchte ich zwar eine Genehmigung, aber es war eine Überlegung wert.

Emery’s Buchladen und Café war nun seit einer Woche geöffnet.

Am ersten Wochenende waren viele Touristen und Einheimische hier gewesen. Es waren sehr schwierige Tage für mich, und ich fragte mich mehr als einmal, ob ich nicht einen Riesenfehler gemacht hatte. Ich war ein schüchterner Mensch, das ließ sich nicht leugnen. Bei Small Talk fühlte ich mich unwohl, und es fiel mir schwer, anderen Menschen zu vertrauen. Deshalb konnte ich mich kaum jemals ausreichend öffnen, um Freundschaften zu schließen.

Seit meiner Ankunft in Hartwell vor zwei Monaten hatte ich mich immerhin mit Iris und Ira Green angefreundet. Sie waren die Inhaber von Antonio’s, der Pizzeria an der Promenade. Zu ihnen hatte ich fast auf Anhieb Vertrauen gefasst. Sie hatten beide etwas Aufrichtiges und Gutes an sich, auch wenn Iris sehr direkt war. Sie erinnerte mich ein wenig an meine Grandma, obwohl ihr deren kalte Rücksichtslosigkeit fehlte. Sie half mir sogar mit den Handwerkern, die mich bei der Einrichtung meines Buchladens und Cafés unterstützten. Und sie versuchte, mir beizubringen, den Leuten gegenüber energischer aufzutreten und ihnen genau zu sagen, was sie tun sollten.

Wahrscheinlich hat sie mir meine Panik angesehen, als sie am ersten Wochenende in den Laden kam. Sie versicherte mir, dass es nicht immer so bleiben würde, und ihre aufmunternden Worte beruhigten mich. Sie meinte, die Leute wären nur neugierig auf mich.

Und sie behielt recht. Zum Ende der Woche wurde es ruhiger im Laden. Bei den meisten Gästen handelte es sich um Touristen, und da es heiß war, kauften sie meist ein Buch für den Strand und Eistee.

Inzwischen hatte ich schon einige Stammkunden, die am Morgen hier ihren Kaffee tranken, aber für heute war der Ansturm auf Koffein schon vorüber.

»Ich habe mein eigenes Geschäft«, murmelte ich und setzte mich mit dem Taschenbuch, das ich gerade las, auf einen Barhocker hinter der Theke. Ich betrachtete die wenigen wunderbar ruhigen Momente nicht als Selbstverständlichkeit. Selbst außerhalb der Öffnungszeiten schien es immer etwas zu tun zu geben, also musste ich jede Gelegenheit nutzen, um ein paar Seiten zu lesen.

Das Glöckchen über der Tür klingelte und zog meine Aufmerksamkeit auf sich.

Beim Anblick des Mannes, der den Laden betrat, stockte mir der Atem.

Jack Devlin.

Iris hatte mir seinen Namen verraten, als wir vor einigen Wochen im Cooper’s waren und sie mich dabei ertappte, wie ich zum hundertsten Mal zu ihm hinüberschaute.

Jack war groß. Wie groß, wurde mir erst klar, als ich ihn später durch die Stadt laufen sah. Und als er jetzt leicht lächelnd an den Tresen trat, stellte ich fest, dass er über eins neunzig groß sein musste. Perfekt für mich, denn ich war einen Meter vierundsiebzig.

Nicht perfekt für mich, ermahnte ich mich.

Iris sagte, er sei ein Aufreißer.

Und davon hatte ich in meinem Leben schon mehr als genug kennengelernt.

Und mit einem Devlin würde ich mich ohnehin nicht einlassen. Ich war überhaupt nicht auf der Suche nach jemandem. Für mich stand mein Geschäft an erster Stelle.

Doch als ich in Jacks attraktives Gesicht schaute, fiel es mir schwer, mir all das ins Gedächtnis zu rufen. Das ging mir schon so, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Er trug Jeans, ein einfaches weißes T-Shirt und hellbraune Arbeitsstiefel. Ich war eher daran gewöhnt, dass Männer Anzüge oder schicke Klamotten trugen.

Jack und sein bester Freund Cooper kleideten sich ähnlich und sahen zusammen richtig heiß aus.

Jack allein war … wow!

Seine Augen waren sehr ausdrucksvoll, und jetzt, wo er nahe genug vor mir stand, erkannte ich, dass sie blaugrau und ziemlich dunkel waren und sich von seiner natürlichen Bräune abhoben. Sein dichtes Haar war dunkelblond und so zerzaust, als würde er ständig mit den Fingern durchfahren. Jack Devlin war nicht ganz so attraktiv wie Cooper, hatte aber in meinen Augen noch mehr Sex-Appeal. Das lag an seiner Größe, an seinem lockeren Gang, an seinen kräftigen breiten Schultern und dem schlanken Körper. Und irgendetwas in seinen Augen und ein frecher Zug um seinen Mund machten es schwer, ihm zu widerstehen.

»Emery, richtig?« Jack blieb vor dem Tresen stehen, und ich rutschte rasch von meinem Hocker, um ihn zu begrüßen.

Meine Wangen und mein Hals fühlten sich an, als stünden sie in Flammen – ein Zeichen dafür, dass ich rot geworden war. Und dass mir das nun peinlich war, führte nur dazu, dass sich die Röte noch weiter vertiefte.

Seine Lippen zuckten, während er mich musterte. »Ich bin Jack Devlin.« Er streckte mir eine Hand entgegen.

Es erschreckte mich, dass ich keine Sekunde darüber nachdenken musste – ich wollte seine Hand in meiner spüren, also griff ich danach. Sofort umfasste er meine Finger mit kräftigem Druck. Unsere Blicke trafen sich, mir stockte der Atem, und ein Schauer durchlief mich.

Jack kniff die Augen zusammen, und sein Griff verstärkte sich.

Er schüttelte mir nicht die Hand.

Er hielt sie einfach nur fest.

Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich stieß einen leisen Laut der Überraschung aus. Jack senkte den Blick auf meinen Mund, und ich sah, wie sich seine Kinnmuskeln anspannten.

Ziemlich abrupt ließ er meine Hand los, und ich konnte gerade noch verhindern, dass mein Arm auf die Theke knallte. Er räusperte sich und schaute sich rasch in meinem Laden um. »Haben Sie sich schon eingelebt?«

Ich war dankbar für diese Frage.

Sie gab mir Zeit, mir ins Gedächtnis zu rufen, dass Jack ein Devlin war und dass ich Ian Devlin unter allen Umständen aus dem Weg gehen wollte. Das lag nicht nur an den Informationen, die ich von Iris und Ira über alle Einwohner der Stadt erhalten hatte.

Ich hatte Ian Devlin schon gekannt, bevor ich nach Hartwell zog.

Als er vom Tod meiner Großmutter erfuhr, hatte er versucht, den Burgerladen zu kaufen.

Hague hatte sich mit ihm auseinandergesetzt und mir eindringlich empfohlen, Kontakt zu Devlin zu vermeiden. Er sagte, Devlin sei ein skrupelloser Geschäftsmann und habe Privatdetektive angeheuert, um meine wahre Identität herauszufinden. Ich fühlte mich unbehaglich bei dem Gedanken, dass hier jemand wusste, wer ich war, aber Hague war davon überzeugt, dass es nicht in Devlins Interesse lag, die ganze Stadt darüber zu informieren.

Von Iris erfuhr ich, dass seine beiden ältesten Söhne Stu und Kerr für Ian arbeiteten und in der Stadt ebenso unbeliebt waren wie ihr Vater. Wie sie sagte, waren seine Tochter Rebecca und sein zweitjüngster Sohn Jack ganz anders. Sie kümmerten sich um ihre Mutter Rosalie, die überall gern gesehen war, bis sie sich immer mehr zurückzog. Jamie, der jüngste Devlin, war ein Nachzügler, von dem noch niemand sagen konnte, welchen Weg er einschlagen würde.

Über Jack hatte Iris nur Gutes zu berichten. Allerdings warnte sie mich, dass er der Stadtplayboy sei und nur mit Touristinnen ausgehe.

Das war kein Mann für mich.

Selbst wenn ich keine schüchterne, linkische Zwanzigjährige mit Vertrauensproblemen wäre.

»Ja, danke«, erwiderte ich auf seine Frage und betrachtete sein kräftiges Profil.

Als er sich zu mir umdrehte, errötete ich wieder, weil er mich dabei ertappt hatte, wie ich ihn anstarrte.

Jacks Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Wie gefällt Ihnen Hartwell?«

Small Talk.

Darin war ich nicht sehr gut.

Ich nickte. »Ganz gut.«

Er grinste mich an, und mir blieb die Luft weg. Einfach so.

O Mann.

Er hatte das schönste Lächeln, das ich jemals gesehen hatte. Es wurde begleitet von sexy Fältchen um seine Augenwinkel. Es war ein jungenhaftes, freches Lächeln, ein Lächeln von jemandem, der etwas im Schilde führte, und es stand im kompletten Gegensatz zu der Freundlichkeit in seinen Augen. Gegen die Wirkung dieser Kombination konnte sich mein Herz nicht schützen.

Mittlerweile hätte man auf meinen Wangen Marshmallows rösten können.

Seine Augen funkelten. »Wir freuen uns, Sie hier zu haben, Emery.«

Als er meinen Namen aussprach, löste der Klang seiner tiefen Stimme einen weiteren Aufruhr in meinem Magen aus. Ich atmete aus, drehte mich um und deutete auf die Preistafel hinter der Theke. »K… Kaffee?«, stammelte ich.

Da er schwieg, drehte ich mich wieder zu ihm um.

Er hatte den Blick auf die silbernen Armreife an meinem Handgelenk gerichtet.

Merkwürdig.

Er schaute mir rasch in die Augen, und seine Stimme klang ein wenig rauer, als er mir antwortete: »Caffè Americano.«

Dankbar dafür, mich beschäftigen zu können, machte ich mich an die Arbeit. Wir sprachen beide kein Wort mehr.

Als er mir eine Fünfdollarnote reichte, fasste ich sie vorsichtig am Rand an, sodass sich unsere Finger nicht berührten, und schob ihm das Wechselgeld über die Theke.

»Danke.«

Ich zwang mich dazu, ihm wieder in die Augen zu schauen. »Bitte.«

»Bis dann.«

Ich nickte.

Jack nahm den Becher zum Mitnehmen hoch, drehte sich um und verließ mit großen Schritten den Laden, während ich den Atem anhielt. Das Glöckchen über der Tür bimmelte, und dann war er weg.

Luft strömte aus meinem Mund wie aus einem Ballon, und ich ließ mich gegen den Tresen sinken.

Typisch für mich, dachte ich. Ich verknallte mich ausgerechnet in den einen Mann, den ich nicht begehren sollte.

Kapitel drei

Jack

Hartwell

Sieben Jahre zuvor

Von einem Anruf von Ian aus dem Schlaf gerissen zu werden, gehörte nicht gerade zu den schönen Momenten in Jacks Leben. Er hob nur ab, weil er wusste, dass Ian es sonst immer wieder probieren würde, so lange, bis Jack schließlich nachgab. Ihm war klar, worum es in dem Telefonat gehen würde. Etwa alle zwei Monate rief Ian ihn an und beschimpfte ihn, weil er nicht im Familienunternehmen arbeitete. Jack hatte keine Ahnung, was Ian damit zu erreichen hoffte, außer seinen Sohn zu verärgern.

Doch mittlerweile gab es ein Heilmittel gegen Jacks schlechte Laune, und zwar an der Promenade.

Emerys Kaffee war mit Sicherheit der beste in der Stadt, und Jack hatte sich angewöhnt, jeden Morgen in ihren Laden zu gehen. Von Montag bis Freitag, um sich vor der Arbeit einen Kaffee zu holen. Und an den Tagen, an denen er morgens mit Cooper am Strand joggte, gingen sie anschließend zu zweit ins Café, und Cooper war ihm als Puffer sehr willkommen.

Cooper empfand Emerys Schüchternheit als bizarr. Wenn der Kaffee nicht so gut gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich einen großen Bogen um ihr Geschäft gemacht.

Bei Jack verhielt es sich ganz anders.

Er fand es bezaubernd, wenn Emery Saunders errötete oder ins Stottern geriet. Sie hatte etwas geheimnisvoll Feminines an sich. Er wollte alle ihre Geheimnisse herausfinden. Er wollte sie zum Lachen bringen, um zu hören, wie das klang.

Und er wollte herausfinden, ob sie am ganzen Körper errötete.

In den zwei Jahren, in denen Emery nun hier lebte, hatte niemand viel über sie erfahren. Die Bewohner von Hartwell begriffen schnell, dass sie extrem scheu war. Das war für sie zwar kein Grund, Emery nicht zu mögen, aber da sie nie an Veranstaltungen teilnahm und keine Freundschaften schloss, blieb sie eine Außenseiterin.

Das machte Jack ärgerlich. Er hatte mit Bailey darüber gesprochen, die daraufhin versuchte, auf Emery zuzugehen, doch das schlug fehl. Da sie es sich nicht anders erklären konnten, vermuteten Bailey und Jack, dass Bailey für Emery einfach zu einschüchternd war.

Jemand mit einer etwas zurückhaltenderen Persönlichkeit musste sich der scheuen Zuzüglerin nähern. Jack hatte sich an Coopers Schwester Cat gewandt. Die war zwar ebenso direkt wie Bailey, verströmte aber nicht deren überwältigende Energie und genoss auch nicht den Ruf einer Stadtprinzessin.

Doch Cat erging es leider ebenso wie ihrem großen Bruder – Emerys schüchterne Art war ihr unangenehm. Außerdem waren ihr Jacks Motive suspekt, eine Einschätzung, der sich Cooper und Bailey anschlossen, also hörte Jack schließlich auf damit, andere Leute zu bitten, sich um Emery zu kümmern.

Dann musste er die Angelegenheit halt selbst in die Hand nehmen, allerdings mit einer gewissen Distanz.

Dass das schon an diesem Morgen geschehen sollte, wusste er jedoch nicht.

Er lächelte voll Vorfreude, sie wiederzusehen, und stieß die Tür des Cafés auf. Beim Anblick eines Mannes, der Emery angriffslustig anbrüllte, verflog sein Lächeln rasch.

»Ich habe es gestern gekauft, also muss ich es doch zurückgeben können.« Der Mann fuchtelte mit einem Buch vor Emerys Nase herum.

Emery war so peinlich berührt und betroffen, dass ihr Gesicht dunkelrot angelaufen war. »S… Sir, wie ich – ähm, wie ich schon versucht habe, Ihnen zu erklären … Das Buch ist beschädigt. Ganz offensichtlich haben Sie es gelesen und …«

»Verdammt, ich will mein Geld zurück. Ende der Diskussion!«, schrie er so laut, dass sie erschrocken zurückwich.

Wütend lief Jack an einem wartenden Kunden vorbei, packte den Angreifer am Kragen und zog ihn von der Theke weg. Der Mann stolperte und wäre beinahe auf seinem Hintern gelandet.

»Was zum Teufel?« Er funkelte Jack wütend an und richtete sich auf.

Jack musterte den Touristen zornig. »In meiner Stadt greifen Sie keine Frauen an, Sie Arsch.«

Der Mann wedelte mit dem Roman vor Jacks Gesicht herum. »Diese dumme Kuh will mir mein Geld nicht zurückgeben.«

Oh, er hätte diesem Versager nur allzu gern eine richtige Tracht Prügel verpasst. Jack trat einen Schritt auf ihn zu. »Passen Sie auf, was Sie sagen, sonst haue ich Ihnen eine rein.«

Der Mann schluckte. »Kein Grund, mir zu drohen. Ich will nur mein Geld zurück.«

»Kein Grund, Ihnen zu drohen? Glauben Sie etwa nicht, dass es bedrohlich für eine Frau ist, wenn sie in ihrem eigenen Laden derart angebrüllt wird?« Jack musterte das Buch. Der Rücken war verknickt, die Seiten waren sandig. »Das hier ist keine verdammte Bücherei. Sie haben den Roman gekauft und gelesen – Ende der geschäftlichen Transaktion. Verstanden?«

»Ich …«

Jack trat einen weiteren Schritt vor und versperrte ihm den Weg. »Es ist mir egal, welche Probleme Sie haben, weshalb Sie eine Frau so mies behandeln müssen, um sich stark zu fühlen. Doch Sie sind kein starker Mann, Sie sind eine Wanze. Eine Wanze, die ich zerquetschen werde, wenn ich Sie noch einmal in diesem Laden oder irgendwo in Emerys Nähe sehe. Haben Sie mich verstanden?«

Die Augen des Mannes funkelten wütend, doch seine Feigheit war dann doch größer als sein Zorn. Ohne ein weiteres Wort marschierte er aus dem Laden und knallte die Tür hinter sich zu.

Idiot.

Jack wandte sich wieder Emery zu, die ein wenig benommen wirkte. »Alles in Ordnung?«

Langsam nickte sie.

Jack deutete auf den wartenden Kunden, der offensichtlich peinlich berührt war. Wahrscheinlich, weil er nichts unternommen hatte, während der Mann auf Emery losgegangen war. Der Kunde bekam seinen Kaffee, und dann war Jack mit Emery allein im Geschäft.

Er hasste und liebte diese Momente.

Sie war die reinste Versuchung.

Er konnte sie nicht haben.

Verdammt, er wollte sie aber.

Die Auseinandersetzung mit dem kleinen Mistkerl hatte sein Blut zum Kochen gebracht, was es noch schwerer für ihn machte, sein drängendes Verlangen zu unterdrücken.

Er schlenderte zum Tresen hinüber und genoss die Art, wie sie ihn dabei beobachtete. Jedes Mal wenn er Emery in der Stadt sah, wirkte ihre Miene abwesend, so, als sei sie in Gedanken ganz woanders. Auch wenn sie Kunden bediente, verhielt sie sich oft so. Aber nicht bei ihm; Jack widmete sie immer ihre volle Aufmerksamkeit.

Und das gefiel ihm außerordentlich gut.

»Geht es dir wirklich gut?«, fragte er, während sie ihm unaufgefordert einen Americano zubereitete, den Kaffee, den er und Cooper immer bei ihr bestellten.

Sie nickte und warf ihm einen Blick über die Schulter zu. »Ja, danke.«

»Kommt das öfter vor?«

»Dass ein Kunde wütend wird?«

»Ja.« Der Gedanke, dass sie hier drin immer allein war, behagte Jack nicht. Sie sollte jemanden einstellen, der ihr zur Hand ging. Eigentlich hatte er damit gerechnet, doch nun waren bereits zwei Jahre vergangen, und sie machte immer noch alles allein.

»Hin und wieder können Gäste unangenehm werden, aber das kommt nur selten vor.« Sie stellte seinen Kaffee auf den Tresen. »So etwas ist mir allerdings noch nie passiert. Es tut mir leid, dass du dich damit beschäftigen musstest. Ich wünschte, ich könnte besser mit solchen Konfrontationen umgehen.«

»Mir tut es nicht leid – ich bin froh, dass ich hier war und dir helfen konnte. Dieses Arschloch hat ein Aggressionsproblem. Es ging nicht um dich.«

Sie nickte wieder.

Seine Besorgnis um sie war frustrierend. »Warum versuchst du nicht, in der Stadt noch ein paar Freunde zu gewinnen?«

Wieder errötete sie. Das weiße Kleid, das sie unter ihrer kurzen Schürze trug, hatte einen V-Ausschnitt, also konnte er sehen, dass sogar ihr Dekolleté sich rötete. Jack versuchte, den Blick abzuwenden – wie so oft. Die Ärmel des Kleids lagen an den Oberarmen eng an, bauschten sich von den Ellbogen abwärts und liefen an den Handgelenken wieder zusammen. Das Oberteil war körpernah geschnitten und ließ perfekte Brüste, eine schmale Taille und gerundete Hüften erahnen. Ob das Kleid lang oder kurz war, konnte Jack nicht erkennen, weil Emery hinter der Theke stand, aber er sah, dass es an den Hüften ausgestellt war.

Sie trug Silberschmuck und hatte ihr Haar auf ungewöhnliche Weise zu einem seitlichen Zopf geflochten, der ihr über die rechte Brust fiel.

Emery Saunders sah aus wie eine zum Leben erwachte Märchenprinzessin.

Oder wie ein Engel.

Ja. Ein verdammter Engel.

Jack wollte sie vor allem beschützen, sie mit einem metaphorischen Schwert ausstatten und ihr beibringen, wie sie sich selbst verteidigen konnte. Und er wollte ihre Engelsflügel beschmutzen, indem er sich mit ihr in einem Bett wälzte, während sie nichts außer ihrem Silberschmuck trug. Sein Verlangen, ihren Schmuck dabei klimpern zu hören, war so groß, dass es regelrecht schmerzte.

Verdammt, er war so in seine lüsternen Gedanken versunken, dass er bei ihrer Antwort nicht mehr wusste, was er sie gefragt hatte. »Das ist nicht so einfach für mich.«

Jetzt fiel es ihm wieder ein: Es war darum gegangen, dass sie sich Freunde suchen sollte. Er stützte die Hände auf den Tresen, sodass er ihr etwas näher kam. Ihr Blick wanderte zu seinen Lippen, und sein Magen krampfte sich zusammen.

Jack war klar, dass Emery sich zu ihm hingezogen fühlte.

Und diese Gewissheit machte es noch härter, die Versuchung zu ignorieren.

Im wahrsten Sinne des Wortes.

»Warum ist es nicht leicht?«

»Ich … ich tue mich schwer mit Small Talk.«

»Aber mit mir klappt das doch sehr gut.«

»Ich …« Sie runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, dass man ein Gespräch über meine Schüchternheit als Small Talk bezeichnen kann.«

»Also gut.« Jack lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ein herrlicher Tag heute, findest du nicht auch, Emery?«

Ihre Lippen zuckten belustigt, und Jack war stolz auf sich. »Ja, wirklich ein schöner Tag heute.«

»War hier schon viel los?«

»Vormittags ist der Laden immer gut besucht – die Leute brauchen ihren Kaffee. Bist du auf dem Weg zur Arbeit?«

Erfreut über ihre Frage lächelte Jack. »Ja. Ich gehe gleich zu einem Restaurant in Dewey Beach, das wir renovieren.«

»Magst du deinen Job?«

»Ja. Und du?«

»Überraschenderweise ja. Nachdem ich das Geschäft eröffnet hatte, fürchtete ich eine Zeit lang, dass das ein Fehler war. Du weißt schon, weil diese ganze Small-Talk-Sache nicht mein Ding ist. Doch jetzt gefällt es mir. Ich bin gern von Büchern umgeben.« Sie deutete auf die Bücherstapel hinter ihm, wobei ihre silbernen Armbänder klirrten.

»Wie lange geht diese Affäre mit den Büchern schon?«

Emery lächelte ihn an, und Jack fühlte sich, als hätte er einen Schlag in die Magengrube bekommen. Es war das süßeste Lächeln, das er jemals gesehen hatte. Es war wie ein Sonnenaufgang über dem Meer. Für Jack gab es nichts Schöneres, als zu beobachten, wie die Sonne am Morgen ihren trägen Aufstieg begann. Wie sie über das Wasser glitt, während der Himmel sich in den verschiedensten Tönen von Violett, Pink und Orange färbte. Jack hatte noch nie etwas so Beeindruckendes wie den Sonnenaufgang an der Promenade in Hartwell gesehen. Bis auf Emerys Lächeln. Verdammt, sie war wunderschön. Und sie war sich dessen nicht bewusst. Sie war das genaue Gegenteil von Coopers Frau, die wusste, dass sie eine Schönheit war, und ihr Aussehen gezielt einsetzte, um zu bekommen, was sie wollte.

»Seit meinem fünften Lebensjahr. Aber als ich zwölf war, wurde daraus eine richtige Leidenschaft.«

»Warum?«

Sie senkte den Blick. »Damals sind meine Eltern und mein Großvater gestorben und ich bin zu meiner Grandma gezogen.« Sie schaute ihn an, als könnte sie kaum fassen, dass sie ihm das erzählt hatte.

Natürlich hatte Jack Erkundigungen über sie eingeholt und aus Zeitungsartikeln erfahren, dass ihre Familie bei einem Absturz mit dem Privatflugzeug umgekommen war.

»Dieser Verlust tut mir sehr leid, Em.«

Ihre Augen weiteten sich, vielleicht, weil er einen Spitznamen verwendet hatte. »Danke. Das ist schon sehr lange her.«

»Es tut mir trotzdem leid.«

Einen Moment lang musterte sie ihn schweigend. »Du und Cooper, habt ihr …?«, begann sie dann.

Das Glöckchen über der Tür bimmelte, und sie unterbrach sich, drehte sich um und warf einen Blick zum Eingang.

Verärgert über die Störung, schaute Jack über seine Schulter und wurde noch zorniger, als er sah, wer hereinkam.

Dana.

Sie war groß und schlank und hatte einen sonnengebräunten durchtrainierten Körper mit hübschen Brüsten. Das Selbstvertrauen, das sie zur Schau stellte, hätte bei jeder anderen Frau sexy gewirkt. Was das rein Äußerliche betraf, konnte Jack gut nachempfinden, warum Cooper seine Frau unwiderstehlich fand. Ihr dichtes hellbraunes Haar hatte einen seidigen Schimmer, und ihre eisblauen Augen waren so schräg wie die einer Katze. Sie hatte eine perfekte kleine Nase, volle sinnliche Lippen, hohe Wangenknochen und eine zarte Haut.

Ihr eisiger Blick glitt zwischen Emery und Jack hin und her, während sie durch den Laden stolzierte. Von ihrer Kleidung nahm er kaum Notiz. Sie trug fast immer ein figurbetontes Sommerkleid, das sich für ihn jeweils nur in der Farbe unterschied.

»Ich habe mir beim Vorbeigehen schon gedacht, dass du es bist.« Sie blieb vor der Theke stehen und schenkte den beiden ein schmales Lächeln, das sich jedoch nicht in ihren Augen zeigte. »Ich bin Dana Lawson.«

Emery trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, nickte aber.

Dana hob eine perfekt gezupfte Augenbraue. »Können Sie auch sprechen?«

»Dana«, sagte Jack warnend.

»Das war doch nur eine Frage.« Sie grinste spöttisch. »Eigentlich bin ich hereingekommen, um dich zu fragen, ob du Rinderbrust magst, Jack. Wir haben uns einen Schongarer gekauft, und Cooper möchte ihn am kommenden Donnerstag ausprobieren. Er wollte dich zum Abendessen einladen.«

»Ja, klar.«

Dana machte keine Anstalten zu verschwinden, obwohl Jack ihr einen bohrenden Blick zuwarf.

Sie trat einen Schritt vom Tresen zurück. »Ich begleite dich zu Coop.«

Jack wurde klar, dass die nervtötende Frau seines Freundes seine Fortschritte bei Emery komplett blockiert hatte, und seufzte tief. Er schaute zu Emery hinüber, die ihn und Dana aufmerksam beobachtete, und reichte ihr die Dollarscheine für den Kaffee.

»Einen schönen Tag noch, Emery!« Er lächelte ihr kurz zu.

Sie erwiderte sein Lächeln, während sie das Geld entgegennahm. »Dir auch, Jack.«

Es war das erste Mal, dass sie ihn bei seinem Namen genannt hatte.

Und er wollte sich nichts vormachen – er spürte es in seinem Bauch, in seinem Schwanz und an seinem Puls, der prompt zu rasen begann.

Am liebsten hätte er laut gerufen: »Verdammt, was soll’s!«, und sie an sich gezogen. Er konnte das Verlangen, sie ungestüm zu küssen, nur mit Mühe unter Kontrolle halten. Doch er schluckte den Drang hinunter, hob zum Gruß den Kaffeebecher in die Höhe und verließ den Laden, dicht gefolgt von Dana.

»Bitte sag mir, dass du nicht mit ihr geflirtet hast«, zischte Dana, sobald sie auf der Promenade standen.

»Du kannst etwas Besseres haben als eine schüchterne Leseratte«, fügte sie ungehalten hinzu, da er nicht antwortete.

»Ich bin nicht hinter Emery Saunders her«, erwiderte er schroff und riss die Tür zum Cooper’s auf. »Du weißt doch, dass ich keine feste Beziehung suche.«

Das schien Dana zufriedenzustellen. Zu sehr.

In letzter Zeit zeigte sie ein auffallend starkes Interesse daran, mit wem Jack ins Bett ging. Das bereitete ihm Unbehagen.

Cooper kam um die Bar herum und nahm den Kaffeebecher, den Jack ihm mitgebracht hatte. Dabei schlang er einen Arm um Danas Taille, was Jack etwas beruhigte.

Dana schmiegte sich an Cooper und lächelte ihn an, als würde sie ihn tatsächlich lieben.

Aber vielleicht war Jack auch nur paranoid, was Dana betraf.

Und wenn, dann konnte er Ian Devlin, der ihn großgezogen hatte, dafür die Schuld geben.

Cooper trank einen Schluck aus seinem Becher und seufzte zufrieden. »Diese Frau kann wirklich guten Kaffee machen.«

»Das ist aber auch alles, was sie kann«, bemerkte Dana verächtlich. »Die Leute halten sie für schüchtern, aber vielleicht ist sie einfach nur ein wenig dumm.«

Cooper verdrehte die Augen. »Das kann ich mir kaum vorstellen.«

»Komm schon. Als ich sie eben begrüßt habe, hat sie praktisch durch mich hindurchgesehen.«

»Mir zeigt das, dass sie genau das Gegenteil von dumm ist.« Jack drehte sich auf dem Absatz um und marschierte hinaus, bevor einer der beiden ihn wegen der versteckten Beleidigung zur Rede stellen konnte.

In seiner Gegenwart würde niemand schlecht über Emery Saunders reden.

Niemals.

Kapitel vier

Emery

Sieben Jahre zuvor

Nachdem Iris seit Wochen immer wieder unverhohlene Anspielungen auf das jährliche Musikfestival im Sommer in Hartwell gemacht hatte, gab ich nach und erklärte mich bereit, es zu besuchen.

Ich hatte den Laden für den Nachmittag geschlossen und spazierte an der Promenade entlang Richtung Main Street. Coopers Bar im Haus neben meinem war geöffnet, also kümmerte sich wahrscheinlich das Personal ums Geschäft. Laut Iris ließ Cooper sich Veranstaltungen in der Stadt nie entgehen.

Neben dem Cooper’s lag das alte Hart’s Boardwalk Hotel, das größte und älteste Gebäude an der Promenade. Das rote Ziegelhaus mit den kleinen weiß gerahmten Fenstern war bereits Ende des 19. Jahrhunderts errichtet worden. Jedes Mal wenn ich daran vorbeiging, bewunderte ich die historische Architektur. Bedauerlich war nur, dass man von keinem der Zimmer den spektakulären Ausblick aufs Meer genießen konnte.

Der Besitzer, ein Immobilienmogul aus Florida, lebte nicht in Hartwell – er verließ sich bei der Hotelführung auf sein Personal. Aus Neugierde war ich einmal hineingegangen und zu der Erkenntnis gelangt, dass das leicht muffig riechende Gebäude dringend modernisiert werden müsste.

Iris hatte mir erzählt, dass Baileys Hart’s Inn am nördlichen Ende der Promenade immer ausgebucht war – die Leute zogen ihre Pension dem alten Hotel vor. Das konnte ich ihnen nicht verdenken. Das Hart’s Inn war ein hübsches Haus im New-England-Stil mit weißen Schindeln, einer umlaufenden Veranda und einer überdachten Terrasse ganz oben, dem sogenannten »Witwengang«, mit Blick aufs Meer.

Neben dem alten Boardwalk Hotel befand sich George Beckwiths Geschenkartikelladen, in dem er kitschige, aber bei den Touristen sehr beliebte Souvenirs verkaufte. Im Anschluss daran lag das Antonio’s. Es war geöffnet – anscheinend kümmerte sich Ira heute ums Geschäft, denn mit Iris war ich in zehn Minuten in der Main Street verabredet.

Ich ging an der Pizzeria, am Surfshop und Mr. Shickles Ice Cream Shack vorbei und steuerte auf den Musikpavillon am Anfang der Main Street zu.

Auf der überdachten Bühne bereitete sich gerade eine Band auf ihren Auftritt vor. Die Stadt hatte für diesen Tag mehrere Musikgruppen gebucht, und einige Geschäftsleute bauten Buden auf, um alles Mögliche zu verkaufen, von Fanartikeln bis hin zu Schmuckstücken.

Auf einer am Pavillon befestigten Tafel wurde die

Geschichte von Hartwell beschrieben und erklärt, warum die Einheimischen die Promenade Hart’s Boardwalk nannten. Im Jahr 1909 besaß die Gründerfamilie noch Geld und Macht, und die älteste, in der Stadt sehr beliebte Hartwell-Tochter Eliza, die Schwester von Baileys Urgroßmutter, sollte sich gut verheiraten. Doch sie begegnete einem Stahlarbeiter von der Eisenbahngesellschaft vor der Stadt und verliebte sich in ihn. Jonas Kellerman, ein Vorfahre von Dana Kellerman-Lawson, hatte einen geringeren Sozialstatus als sie und war angeblich ein Betrüger, also durfte sie ihn nicht heiraten.

Stattdessen wurde Eliza dem Sohn eines reichen Geschäftsmannes versprochen. Am Abend vor ihrer Hochzeit war Eliza so verzweifelt, dass sie ins Meer ging. Zufällig befand sich Jonas mit seinen Freunden auf der Promenade, und als er Eliza sah, lief er ihr hinterher. Der Legende nach holte er sie ein, aber die Wellen zogen sie beide nach unten, und sie wurden nie wieder gesehen. Es hieß, dass Jonas’ Opfer für seine Liebe einen Zauber schuf, der alle weiteren Generationen überdauerte. Seit dem Tod von Eliza und Jonas, so stand es auf der Tafel geschrieben, blieben Frauen und Männer aus Hartwell, die sich auf der Promenade kennenlernten und dann heirateten, ihr Leben lang ineinander verliebt. Und auch Touristen, die sich wirklich liebten, würden für immer zusammenbleiben, wenn sie gemeinsam über diese Holzplanken gingen, unabhängig von dem Schicksal, das sie erwartete. Auch wenn die Geschichte sich tragisch anhörte, gefiel es mir, dass die Stadt eine solche Legende besaß. Sie berührte meine romantische Seele und hatte vielleicht sogar meine Entscheidung beeinflusst, in Hartwell zu bleiben.

Ich ließ den Blick über die belebte Main Street und die vielen Menschen schweifen, die sich an den Buden versammelten, kleine Grüppchen bildeten und sich unterhielten, und dachte wieder einmal über meinen Entschluss nach. Zwei Jahre war ich nun schon in Hartwell und hatte außer zu Iris Green zu niemandem eine Beziehung aufgebaut.

Auch ihr gegenüber öffnete ich mich nur so weit, wie es für mich gerade noch angenehm war. Und das war nicht mehr als ein kleines Stück. Niedergeschlagenheit ergriff mich.

Im Laufe der Zeit war mir klar geworden, dass meine Schüchternheit durch das Verhalten meiner Eltern begünstigt worden war. Wann immer ich sie während meiner Kindheit ansprach, ignorierten sie mich, waren offensichtlich gelangweilt von mir; manchmal belächelten sie mich sogar geringschätzig. Das ging so weit, dass ich irgendwann gar nicht mehr sprechen wollte aus Angst davor, verspottet oder als unbedeutend abgetan zu werden. Es war leichter, mich selbst unsichtbar zu machen, als von ihnen unsichtbar gemacht zu werden. Ich verhielt mich ihnen gegenüber schüchtern, weil es mir viel bedeutete, was sie von mir hielten.

Beim Hauspersonal, zu dem auch meine Nanny gehörte, legte ich jedoch ein ganz anderes Verhalten an den Tag. Ich war nicht schüchtern, sondern zornig. Und manchmal war ich tatsächlich kein sehr liebenswertes Kind. Das konnte passieren, wenn man alles bekam, was man wollte, außer der Liebe und Aufmerksamkeit seiner Eltern.

Vernachlässigt und missachtet von den beiden Menschen, die mich am meisten hätten lieben sollen, ließ ich meinen Zorn und meine Frustration an den Angestellten aus, mit denen sie mich umgeben hatten.

Allein bei der Erinnerung zuckte ich vor Schmerz zusammen.

Sie mussten mich gehasst haben.

Alles änderte sich, als ich zu meiner Großmutter zog. Sie war kein sehr warmherziger Mensch. Sie glaubte an das Klassensystem und war fest davon überzeugt, dass jeder Mensch den gesellschaftlichen Rang beibehalten sollte, in den er hineingeboren war. Doch auch wenn sie unsere Familie zur höheren Klasse zählte, bestand sie darauf, dass jeder Mensch, einschließlich des Personals, größten Respekt verdiente. Als sie einmal hörte, wie ich unserer Haushälterin gegenüber einen gereizten Ton anschlug, zwang sie mich dazu, mich vor versammelter Mannschaft zu entschuldigen, und verbannte mich anschließend in eines der Gästezimmer, ohne Fernseher oder andere Unterhaltungsmöglichkeiten. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, durfte ich meine Hausaufgaben machen und etwas essen, doch anschließend wurde ich wieder auf das Zimmer geschickt, in dem ich mich zwei Wochen lang schrecklich langweilte.

Seltsamerweise wusste ich zu schätzen, dass meine Großmutter mir Manieren beibrachte. Ich sprach nie wieder so mit einem Mitglied unseres Haushalts. Stattdessen verhielt ich mich nun auch den Angestellten gegenüber sehr schüchtern und begann, mir Gedanken darüber zu machen, was sie von mir dachten. Und es war mir auch wichtig, was meine Großmutter von mir hielt.

So sehr ich meine Großmutter auch liebte, es war nicht einfach, mit ihr zusammenzuleben. Hinter ihrem harten Äußeren schlug ein verwundetes Herz, und sie hatte panische Angst, das einzige Familienmitglied, das ihr noch geblieben war, zu verlieren. Also wurde ich ängstlich behütet. An außerschulischen Aktivitäten durfte ich nur teilnehmen, wenn sie auf unserem Anwesen stattfanden. Keine Freunde, keine Schulausflüge, keine Pläne fürs College, wenn es sich nicht im Staat New York befand. Sie erlaubte mir nicht einmal, zum Debütantinnenball zu gehen, obwohl, wie ich wusste, mein Vater damals meine Mutter zu ihrem Gesellschaftsdebüt begleitet hatte.

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