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The Half King

Als Buch hier erhältlich:

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Was, wenn alles, was du über dein Leben wusstest, eine Lüge wäre?

Wie alle zweitgeborenen Töchter des Reiches hat sich Cerise Solon nie über das Gelände des Tempels hinausgewagt, in dem sie als Orakel in den Diensten einer Göttin lebt. Als die junge Frau trotz ihrer Unfähigkeit, auch nur eine einzige Tragödie vorherzusagen, von der obersten Seherin beauftragt wird, dem Halbkönig zu dienen, ist sie mehr als überrascht. Der junge Herrscher ist ein Mann, der tagsüber regiert und bei Sonnenuntergang zum Schatten wird. Als erstgeborener Sohn trägt er den Fluch seiner Blutlinie und ist dazu bestimmt, an seinem einundzwanzigsten Geburtstag vollständig zu verschwinden. Auf der Suche nach einem Weg, den Fluch zu brechen, kommen Cerise und der mysteriöse junge Herrscher sich und den Geheimnissen, die um sie gesponnen wurden, immer näher. Als Cerise auf eine verblüffende Offenbarung über sich selbst stößt, die eine Reihe mächtiger Gaben freisetzt, wird schon bald klar: Die Wahrheit hat ihren Preis.


  • Erscheinungstag: 25.02.2025
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704570

Leseprobe

Melissa Landers

The Half King

von schatten gekrönt

Aus dem Englischen von
Andreas Heckmann

Für Nicole, die immer an dieses Buch geglaubt hat,

und für Liz, die ihm ein gutes Zuhause gab.

Danke!

Kapitel 1

»Bring mir ein junges Kaninchen, Cerise, und zwar schnell.«

Cerise verbeugte sich vor der Ehrwürdigen Mutter, drehte sich um und eilte zum Kaninchenstall am anderen Ende des Hofs. Hastig schlängelte sie sich durch ein Labyrinth von Marmorbänken und Schreinen, bewegte sich dabei aber gleitend, weil Tempeldamen nie rannten. Als sie den Deckel des Stalls öffnete, schlug ihr der Geruch von Holzstaub und Mariengras entgegen, und sie entdeckte einen frischen Wurf Kaninchen. Die Neugeborenen sahen sie schläfrig an, und ihre flaumigen Ohren und winzigen rosa Nasen zuckten. Cerise nahm das kleinste Jungtier und wiegte es an ihrem Herzen. Während sie zur Ehrwürdigen Mutter zurückglitt, streichelte sie das feine Fell des Kaninchens und lächelte, als es ihre Handfläche beschnüffelte.

Für solche Augenblicke lebte sie.

Doch als sie sich der Bank der Ehrwürdigen Mutter näherte und die dicke Schlange bemerkte, die eingerollt darunter schlief, stockten ihre Schritte, und ihr Lächeln schwand. Sie drückte das Junge fester an ihre Brust und begriff, wozu es dienen sollte.

»Setz dich zu mir«, befahl die Ehrwürdige Mutter.

Cerise gehorchte, aber langsamer als angemessen. Beim Hinsetzen versuchte sie, die Zuversicht eines Orakels auszustrahlen und ihre Furcht wie die anderen Mädchen zu verbergen, doch sie atmete bebend aus.

Dieses Geräusch schien die Ehrwürdige Mutter milder zu stimmen. Sie legte die runzelige Hand auf Cerises Knie, und ihre langen, spiegelnden Nägel glitzerten im Sonnenlicht. »Sag, Mädchen, was empfindest du für dieses Tier?«

»Zärtlichkeit.« Cerise räusperte sich und sprach deutlicher. »Zuneigung.«

»Und sonst?«

»Verbundenheit.«

»Verspürst du eine Wärme in der Brust, die dich veranlasst, es zu beschützen?«

»Ja, Euer Gnaden. Dieses Wesen ist noch ganz klein – es braucht mich.«

»Gut. Konzentriere dich auf diese Empfindung. Sein Leben hängt davon ab.« Die Ehrwürdige Mutter drückte die Handfläche gegen ihr Brustbein und warf Cerise unter ihrem kurzen grauen Haar einen betonten Blick zu. Sie war drei-, vielleicht viermal so alt wie die neunzehnjährige Cerise. Niemand wusste das genau oder wagte danach zu fragen. »Mitgefühl ist die Quelle unserer Begabung. Lass dich davon leiten, dann wirst du sehen

Cerise nickte, als würde sie diese Worte verarbeiten, doch sie hatte sie schon tausendmal gehört. Zu ihren frühesten Erinnerungen gehörte, als Kleinkind durch diesen Hof getapst zu sein und bewundert zu haben, wie die jugendlichen Seherinnen ihre Fähigkeiten verfeinerten.

Sie hatten alles ganz leicht erscheinen lassen.

»Knie dich dorthin«, sagte die Ehrwürdige Mutter und zeigte auf eine Steinplatte. Die befand sich eine Armeslänge vor der Bank … und der Schlange darunter. »Behalte das Junge in der Hand.«

Die Steinplatte drückte unangenehm gegen Cerises Knie, doch das bemerkte sie kaum, so sehr war sie von der Schlange abgelenkt, die nun erwacht war und die gespaltene Zunge nach vorne schießen ließ. Das kleine Kaninchen schien die Gefahr zu spüren, denn sein winziges Herz schlug schneller als die Flügel einer Engelsfliege.

»Also …« Die Ehrwürdige Mutter griff hinter sich, nahm einen kleinen Drahtkäfig und stellte ihn vor Cerise. Er maß etwa zwei mal zwei Handbreit und war oben offen. An der Vorderseite befanden sich sechs Löcher, groß genug, damit die Giftschlange hineingleiten konnte, aber zu klein, als dass das Kaninchen hätte fliehen können. Die Löcher wiesen zur Schlange, die sie von ihrem Ruheplatz direkt erreichen konnte. »Setz das Junge in den Käfig.«

Cerise tat, wie ihr geheißen.

»Die Schlange wird durch eins der Löcher in den Käfig gleiten«, sagte die Ehrwürdige Mutter, »nicht von oben. Das weiß ich, weil es sich um eine schlichte Kreatur handelt. Außerdem sehe ich, welches Loch sie nehmen wird. Schließ die Augen und leere deinen Geist, dann wirst auch du es sehen. Sobald du den richtigen Eingang weißt, zeig drauf, und ich verschone dein Junges.« Die Ehrwürdige Mutter verschwieg die Alternative, doch sie hing schwerer als Blütenstaub in der Luft.

Ehe Cerise sich wappnen konnte, glitt die Schlange langsam und räuberisch unter der Bank hervor. Ihr Rücken wies ein Muster aus roten, ineinandergreifenden Kreisen auf: eine Tiefland-Flammenwinderin. Falls es eine qualvollere Todesart gab, fiel sie Cerise nicht ein. Sie kniff die Augen zu, konzentrierte sich auf die Wärme in ihrer Brust und hielt sich daran, um ihrer kribbelnden Angst nicht zu unterliegen.

Welchen Weg wird die Schlange wählen?, fragte sie sich.

Doch hinter ihren Lidern war nur Dunkelheit.

Sie versuchte erneut, ihrem geistigen Auge die Antwort zu entlocken. Welchen Weg?

Nichts. Nicht mal ein Funke hellseherischer Fähigkeit flammte in ihr auf. Kaum aber hatte sie tief ausgeatmet, um ihre Nerven zu beruhigen, geschah etwas, das ihr Blut gerinnen ließ.

Das Junge begann zu wimmern.

Cerise öffnete erschrocken die Augen. Sie hatte nie ein Kaninchen wimmern hören und nicht gewusst, dass das möglich war. Es war ein unheimliches Geräusch und so voll von menschlichen Emotionen, dass sie es fast für das Wimmern eines Säuglings gehalten hätte. Das Junge wurde lauter, je näher die Schlange kam. Dann sprang es mehrmals gegen das Drahtgitter und warf seinen winzigen Körper mit Wucht gegen die Käfigwände.

»Zieh Kraft aus deinem Mitgefühl«, sagte die Ehrwürdige Mutter.

Cerise konzentrierte sich neu und stützte sich nicht nur auf ihr Mitgefühl, sondern auf all ihre Emotionen, bis sie fürchtete, die Anspannung werde sie zerreißen. Sie schwitzte am ganzen Leibe und zitterte zugleich, leerte ihr Bewusstsein und öffnete ihr Herz. Als das nicht half, flehte Cerise die Göttin wortlos um Antwort an.

Welchen Weg wird sie wählen?

Doch sosehr sie sich auch mühte: Die Schlange erschien nicht vor ihrem geistigen Auge. Das Junge wimmerte mehrmals kurz auf – es waren Todeswimmerer –, als die Schlange den Kopf durch das dritte Loch von rechts gleiten ließ und ihn hob, um zuzubeißen.

Cerise steckte ihre Hand in dem Moment in den Käfig, als die Schlange zustieß. Zwei nadelspitze Fangzähne bohrten sich in ihren Unterarm, und sie verspürte einen so heftigen Schmerz, dass er sich nicht beschreiben ließ. Sie schrie aus Leibeskräften, ohne sich um ihren Ruf als Tempeldame zu scheren. Sollte die Göttin Shiera sie ruhig zu sich nehmen – der Tod wäre eine Gnade für sie. Feuer brachte das Blut in ihren Adern zum Kochen, und der Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihr in die Nase. Sie erwartete, dass ihr Ärmel in Flammen aufging, doch statt nach draußen zu strahlen, verschlimmerte sich die innere Hitze und verdoppelte sich noch, bis Flecken vor ihren Augen tanzten.

Als Cerise wieder zu sich kam, war die Ehrwürdige Mutter an ihrer Seite und nutzte ihre Kraft als Heilerin, um das Gift aus ihrem Körper zu holen. Blut floss in Rinnsalen aus ihren Wunden, tropfte zu Boden und gerann zu einer burgunderroten Pfütze. Neben der Lache lag eingerollt die Schlange, ob schlafend oder tot, konnte sie nicht feststellen. Das Gift schwand aus Cerise und nahm das Feuer mit, doch auch als der Schmerz zurückgegangen war, schluchzte sie noch in ihren Ärmel.

»Nimm dich zusammen«, tadelte die Ehrwürdige Mutter sie und setzte sich kopfschüttelnd auf. »Das hatte ich wirklich nicht erwartet. Du hast mich einmal mehr verblüfft. Was soll ich nur mit dir anfangen?«

»Ich habe es versucht, Euer Gnaden, wirklich.« Cerise setzte zu weiteren Worten an, obwohl es nichts mehr zu sagen gab. Beide kannten die Wahrheit und zumal deren Bedeutung. Nur Priester durften Magie ausüben. Seherinnen waren Orakel und sagten die Zukunft voraus. Und einige außergewöhnliche Seherinnen, zu denen auch die Ehrwürdige Mutter gehörte, besaßen zudem die Gabe der Heilung. Cerises einzige Gabe dagegen war es, ihre Mentorinnen zu verblüffen.

Die Ehrwürdige Mutter wandte sich dem Steinboden zu und nutzte ihre Heilkraft, um Gift und Blut zu scheiden. Die Lache teilte sich in zwei kleine Pfützen, die eine gelb, die andere rot, bis das Gift eine Perle bildete. Blut gab es genug, aber das Gift war zu wertvoll, um es zu verschwenden, vor allem angesichts der Gerüchte über einen bevorstehenden Krieg. Es würde zu einer Waffe gemacht und zur Verteidigung eingelagert werden.

»Verliere nicht den Mut«, sagte die Ehrwürdige Mutter, doch ihre Stimme klang hoffnungslos. »Wir haben noch Zeit.«

Drei Monde. So lange blieb bis zu Cerises zwanzigstem Geburtstag und dem Tag ihrer Einberufung, der letzten Gelegenheit, zu der sich ihre Begabungen zeigen konnten – sofern sie welche besaß. Würde sie bis dahin keine Seherinnengabe erhalten, würde es nie mehr dazu kommen. Das galt für alle Zweitgeborenen, die in die Dienste der Göttin gegeben wurden. Doch in den neunzehn Jahren, die Cerise im Tempel gelebt hatte, war sie nie auf eine Seherin oder einen Priester gestoßen, die so lange darauf hatten warten müssen, ihre Begabung zu empfangen. Aller Wahrscheinlichkeit nach besaß sie also keine solche Gabe, doch was sollte sie dann tun? Es gab nicht viele Möglichkeiten für Damen von adliger Herkunft, und als Zweitgeborene durfte sie nicht heiraten. Der Tempel würde sie behalten, aber nur als Dienstmagd. Bei diesem Gedanken schauderte es sie – sie würde für jede neue Klasse von Orakeln kochen und putzen müssen und darüber alt und grau werden, während die anderen immer jung und vielversprechend blieben.

Sie würde der Zeit abhandenkommen – und womöglich sich selbst.

Das leise Klacken von Schuhen drang vom Nordeingang des Tempels heran. Ein Diener kam auf sie und die Ehrwürdige Mutter zu. Als er den Hof überquerte, musterte Cerise seine Kleidung, die schlicht und grau war, also seiner Stellung als unbegabter Zweitgeborener entsprach. Hatte er davon geträumt, Priester zu werden? Hatte er sich ausgemalt, die Welt mit seiner Magie zu ändern? Und war er am Tag seiner Einberufung so am Boden zerstört gewesen, wie sie es aller Wahrscheinlichkeit nach sein würde?

»Euer Gnaden«, sagte er und verbeugte sich vor der Ehrwürdigen Mutter. »Familie Solon wartet im Besuchszimmer auf Eure Schülerin.«

Cerise blinzelte überrascht. Was machten ihre Eltern hier? Sie waren erst letzten Mond hier gewesen, und Cerise hatte sie nicht vor ihrem Einberufungstag zurückerwartet.

»Führe sie ins Gartenzimmer und biete Erfrischungen an.« Die Ehrwürdige Mutter wies mit der Hand auf Cerises blutbeflecktes Kleid. »Ihre Tochter kommt zu ihnen, sobald sie sich hergerichtet hat.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden.«

»Und bring das«, sie zeigte auf das Gift der Schlange, »in die Rüstkammer und das«, sie wies auf das Blut, »zum Opferaltar.«

»Sofort, Euer Gnaden.«

Der Diener nahm die Perle, füllte das Blut in ein Fläschchen und trug beides weg. Cerise riskierte einen Blick auf die Ehrwürdige Mutter. »Was werdet Ihr ihnen sagen?«

»Die Wahrheit, Cerise, die sie sicher lieber von dir erfahren würden.«

So war es nicht. Die Wahrheit war das Letzte, was ihre Eltern hören wollten.

»Geh dich umziehen«, sagte die Ehrwürdige Mutter und legte Cerise etwas Warmes und Weiches in die Hände: das junge Kaninchen, das still geworden war, zu still. »Beruhige dich«, fügte sie mit strengem Blick hinzu. »Das Tierchen lebt, hat aber einen Schock erlitten. Bring es zurück in den Stall, damit es sich erholt.«

Cerise streichelte die langen Ohren des Kaninchens. »Wird es überleben, Euer Gnaden?«

Statt zu antworten, betrachtete die Ehrwürdige Mutter einen Blutstropfen auf der Steinplatte neben dem Käfig, wischte ihn mit der Schuhspitze weg und wiederholte: »Geh dich umziehen.«

Kapitel 2

Von ihrem Zimmer im zweiten Stock stieg Cerise das marmorne Treppenhaus hinunter. Sie hatte Gesicht und Arme gewaschen, bis sie strahlten, und sich ein frisches Kleid angezogen. Nun strich sie über den Faltenwurf ihres Gewands und bewunderte den gleitenden Übergang von reinem Weiß am Dekolleté zu tiefem Schwarz am Saum. Die Töne gingen nahtlos ineinander über. Wie all ihre Gewänder machte auch dieses Kleid sie als Seherin in Ausbildung kenntlich – es war weniger kunstvoll gearbeitet als das goldbesetzte Kleid der Ehrwürdigen Mutter, aber edler als das graue Leinen der Dienerschaft. Der seidige Stoff war glatt wie Glas und raschelte, wenn sie sich bewegte, aber vor allem wusste sie zu schätzen, was die Töne darstellten: das Gleichgewicht von Dunkel und Licht, für das auch die Göttin Shiera stand.

Cerise fürchtete den Tag, an dem sie dieses Kleid würde abgeben müssen.

Als sie die Vorhalle am Fuß der Treppe erreichte, warf sie einen Blick nach links zum Gartenzimmer und merkte, wie verkrampft ihre Schultern waren. Sofort atmete sie mehrmals langsam durch, und während ihre Muskeln sich entspannten, blickte sie zur Kuppeldecke hinauf, deren Fresken Szenen aus der Geschichte ihres Volkes abbildeten.

Die erste Szene zeigte Shiera bei der Erschaffung von vier Kontinenten und dabei, wie sie die Erde auf eine Umlaufbahn um die Sonne brachte. Diese vier Länder – Calatris, Mortara, Solon und Petros – bargen alles bekannte Leben und wurden von gleichnamigen Dynastien regiert. Niemand kannte Shieras genaues Aussehen. Nur ein Mal hatte sie die Menschenwelt besucht, vor tausend Jahren, in der Zeit des Großen Verrats, und die Berichte von damals unterschieden sich stark. Hier war sie als große Schönheit dargestellt, mit kampfstarken Gliedern und in zwei Hälften geteiltem Gesicht, wobei die eine Seite Barmherzigkeit ausstrahlte und die andere wutverzerrt war. So zweigeteilt stellte auch Cerise sich die Göttin vor, obwohl die dunkle Hälfte sie frösteln ließ, wenn sie sie zu lange betrachtete.

Einmal mehr fröstelte es sie, und sie wandte sich ab.

Durch die Vorhalle näherte sie sich dem Gartenzimmer, aus dem ihr der süße Geruch von Mondblüten entgegenströmte. Kaum war sie eingetreten, bewegte sie sich durch sehr feuchte Luft auf ihre Eltern zu, die mit Teetassen auf einem samtbezogenen Diwan saßen und die Köpfe in leisem Gespräch zusammensteckten. Ihr Haar hatte fast den gleichen Braunton wie das von Cerise. Nun blickten sie auf, und ihre Tochter warf ihnen ein zögerliches Lächeln zu.

»Liebling«, rief ihre Mutter, setzte die Tasse auf den Servierwagen, kam ihr entgegen und öffnete ihre in einem Seidenkleid steckenden Arme. Ihre bernsteinfarbenen Augen, die Cerise geerbt hatte, strahlten so sehr vor Begeisterung, dass die Tochter ihre Sorgen fast vergaß, jedenfalls für die Dauer der Umarmung, denn danach rückte ihre Mutter von ihr ab und hob so wortlos wie fragend die Brauen.

»Es hat sich nichts geändert«, gab Cerise zu.

Ihre Mutter schlug sofort die Augen nieder und musterte den Boden. Auch ihr Vater hielt den Kopf gesenkt. Ihre Enttäuschung war beinahe so spürbar wie die aufgeheizte Feuchtigkeit im Zimmer.

Ihr Vater räusperte sich, sah aber weiter zu Boden. »Es ist noch viel Zeit, Liebes.«

»Das sagt die Ehrwürdige Mutter«, erwiderte Cerise.

»Und sie hat recht«, meldete sich eine weitere Stimme, und eine Dame trat hinter einem weinlaubbedeckten Gitter hervor. Sie war groß und schlank und trug ein elegantes Seidenkleid und einen dunklen Schleier, der Gesicht und Haar völlig verdeckte. »Das sage ich dir seit Jahren.«

Cerise schnappte nach Luft. »Nina!«

Sofort waren die Tempelregeln vergessen. Cerise stürzte zu ihrer Schwester und umarmte sie so stürmisch, dass beide gegen das Holzgitter krachten. Nina machte das nichts aus. Sie zog Cerise noch fester an sich und flüsterte: »Ich habe dich vermisst.«

»Ich dich auch«, raunte Cerise durch den Schleier. Jetzt begriff sie, warum ihre Eltern hier waren: Nina war zu Besuch gekommen. Seit dem Frühling des Vorjahrs hatte niemand aus der Familie sie mehr gesehen. Damals hatte sie einen wohlhabenden viertgeborenen Edelmann aus Calatris geheiratet und war mit ihm auf sein Landgut gezogen.

»Wie lange bleibst du?«, fragte Cerise.

»Lange genug, um dich vor meiner Abreise ein zweites Mal zu besuchen.« Nina rückte etwas von ihr ab. »Jetzt lass dich ansehen.«

»Nein, lass dich ansehen.« Cerise griff nach dem Schleier, und ihre Schwester erstarrte. Cerise sah sich um und vergewisserte sich, dass außer ihrer Familie niemand zugegen war. »Sieht doch keiner.«

»Na gut«, seufzte Nina. »Aber nur kurz.«

In aufgedrehter Erwartung hob Cerise den Schleier ihrer Schwester – und vergaß prompt zu atmen. Ihr stockte das Blut in den Adern, und sie vermochte kein Wort hervorzubringen. Sie konnte nur fasziniert das makellose Gesicht ihrer Schwester betrachten, denn Nina war absolut umwerfend. Das war sie immer gewesen. Nina hatte das kastanienbraune Haar und die smaragdgrünen Augen ihres Vaters geerbt, doch an ihr wirkte beides so, dass es unmöglich war, nicht ins Starren zu geraten. Niemand konnte sich von Nina abwenden, niemand vermochte ihr zu widerstehen.

Das war ihr Fluch als Erstgeborene.

Nicht, dass zerstörerische Schönheit eine schlimme Krankheit darstellte. Doch es hieß auch, die Erstgeborenen von Solon würden unglücklich lieben, aber galt das nicht für die meisten Leute? Wie dem auch sei – Nina behauptete, ihre Erscheinung verursache nur Probleme, doch der Reiz von Solon war sicher dem Blutdurst von Petros oder dem Wahn von Calatris vorzuziehen. Die Erstgeborenen aus diesen Familien hätten gern mit Nina getauscht. Und dann gab es den Fluch von Mortara, der einen wirklich frösteln lassen konnte.

»Das genügt.« Nina verhüllte ihr Gesicht wieder.

Cerise widersprach, was ihre Mutter einschreiten ließ.

»Jetzt setzt euch. Die Ehrwürdige Mutter kommt gleich.«

Wie auf ein Stichwort näherte sich Kleiderrascheln, und die Ehrwürdige Mutter glitt mit dem höflichen Lächeln ins Zimmer, das sie dem Adel vorbehielt. Als Hohe Seherin hatte sie einen höheren Rang als Cerises Vater, aber Adelsfamilien hatten tiefe Taschen, und der Tempel konnte nur von Steuern nicht leben.

»Willkommen«, sagte die Ehrwürdige Mutter. »Möge Shieras Licht für euch scheinen.«

Alle senkten kurz den Kopf und erwiderten im Chor: »Und möge ihr zorniges Auge wegschauen.«

Cerise setzte sich zwischen ihre Eltern auf den Diwan, während Nina auf dem Stuhl gegenüber der Ehrwürdigen Mutter Platz nahm. Als alle saßen, erwartete Cerise den üblichen Vortrag über ihre Fortschritte oder deren Ausbleiben. Die Ehrwürdige Mutter aber stieß ein Ächzen des Schmerzes aus, krümmte sich und hielt sich den Bauch, während ihr Kopf herabhing.

Cerise hielt die Arme vor ihre Eltern. »Nicht berühren«, mahnte sie, »sonst zerstört ihr die Trance.«

»Das ist keine gewöhnliche Trance«, flüsterte Nina und beobachtete, wie die Ehrwürdige Mutter zu zittern begann.

Sie hatte recht. Was stark genug war, um die Ehrwürdige Mutter so zu erschöpfen, konnte nur eine Offenbarung sein, eine ungemein seltene Gabe. Cerise lebte von Geburt an im Tempel, hatte diesem Phänomen aber nur zweimal beigewohnt. Es war empfindlicher als eine Seifenblase – eine falsche Bewegung und die geistige Verbindung würde platzen.

Die Ehrwürdige Mutter holte keuchend Luft, und ihre Stimme klang so kehlig, dass Cerise sich die Haare sträubten. »Wie darüber, so darunter. Die Flamme, die ihr zu löschen sucht, wird euch verbrennen.«

Als Cerise sich gespannt vorbeugte, nahm ihre Mutter ihre Hand und drückte sie schmerzhaft fest. Cerise befreite sich aus dem Griff, sah ihre Eltern an und stellte fest, dass sie erbleicht waren. Einer Offenbarung beizuwohnen war beängstigend, vor allem, wenn es zum ersten Mal geschah.

»Fürchtet euch nicht«, flüsterte sie.

So unvermittelt die Trance begonnen hatte, so abrupt war sie vorbei. Die Ehrwürdige Mutter kehrte blitzschnell in die Gegenwart zurück und saß mit wogender Brust und weit aufgerissenen Augen da. Was sie empfand, vermochte Cerise nicht zu deuten. Die Ehrwürdige Mutter war stets vollkommen gefasst gewesen, und nun Gefühle in ihrer Miene zu sehen, erschien Cerise seltsam.

»Euer Gnaden«, begann sie. »Geht es Euch gut? Soll ich eine Heilerin holen?«

Die Ehrwürdige Mutter musterte sie merkwürdig und studierte ihre Miene wie eine Künstlerin, die versucht, ein verschwindendes Motiv im Gedächtnis zu behalten.

»Euer Gnaden?«, wiederholte Cerise.

»Komm«, befahl die Ehrwürdige Mutter, winkte Cerise zum Ausgang, stand auf und sagte zu den Übrigen: »Bleibt bitte hier und genießt die Erfrischungen. Cerise und ich sind gleich zurück.«

Ihre Eltern tauschten einen verwirrten Blick, sagten aber nichts.

Nachdem Cerise hinter der Ehrwürdigen Mutter das Gartenzimmer verlassen und mit ihr den Lichthof betreten hatte, fragte sie erneut leise: »Euer Gnaden? Geht es Euch gut?«

»Sei endlich still«, wehrte die Ehrwürdige Mutter ab. »Ich muss nachdenken.«

Cerise drückte die Lippen aufeinander. Sie hätte eine Heilerin holen sollen, ohne erst um Erlaubnis zu bitten. Würde sie jetzt eine rufen, würde sie sich des Ungehorsams schuldig machen und müsste auf das Abendessen im Speisesaal verzichten.

»Hör zu«, sagte die Ehrwürdige Mutter, »ich habe eine Gelegenheit für dich.«

Cerise neigte den Kopf. Bisher hatte sie stets Befehle empfangen – von Gelegenheiten war nie die Rede gewesen.

»Du kannst im Tempel bleiben«, fuhr die Ehrwürdige Mutter fort, »aber ich glaube nicht, dass dein Platz hier ist. Heute habe ich erfahren, dass meine älteste Dienerin, der ich am meisten vertraut habe, gestorben ist. Ich glaube, deine Bestimmung ist es, sie als Botschafterin des Tempels bei Seiner Majestät Kian Hannibal Mortara zu ersetzen.«

»Beim Halbkönig?«, stieß Cerise hervor und errötete sofort, da sie ihn nicht mit diesem Spitznamen hätte belegen dürfen. »Ich meine: bei diesem König?«

»Gibt es noch einen?«, fragte die Ehrwürdige Mutter amüsiert.

Nein, gab es nicht. Darum befand sich das Vereinigte Reich am Rande eines Krieges. Der König war das letzte überlebende Mitglied der königlichen Familie, und alle Priester mussten ihm dienen. Aber er war ein erstgeborener Adliger und trug den Fluch seiner Dynastie. Bei Sonnenuntergang verwandelte er sich in einen Schatten, um sich bei Sonnenaufgang wieder zu materialisieren. Irgendwann würde er auch bei Tage immer länger unkörperlich sein und zuletzt komplett verschwinden, wie es allen erstgeborenen Mortaras ergangen war. Würde das geschehen, wäre das Vereinigte Reich zum ersten Mal in geschichtlicher Zeit ohne ein Oberhaupt.

»Aber warum ich?«, fragte Cerise. »Das verstehe ich nicht.« Dabei zuckte sie zusammen und wartete auf den unvermeidlichen Tadel.

Doch er blieb aus. Zum ersten Mal seit neunzehn Jahren wirkte die Ehrwürdige Mutter zwiegespalten, als trüge sie im Kopf einen unsichtbaren Kampf aus. Ihre Unentschlossenheit ängstigte Cerise mehr, als ihr Zorn das je vermocht hatte.

Schließlich gab die Ehrwürdige Mutter mit leiser Stimme zu: »Ich habe mehr gesehen als den Tod der Botschafterin. Ich habe ein mögliches Ende der Flüche gesehen.«

Cerise schnappte nach Luft. »Das ist ein Wunder, Euer Gnaden!«

»Nein«, fuhr die Ehrwürdige Mutter sie an und blickte sich um, als wollte sie sicher sein, dass niemand zuhörte. »Jedenfalls noch nicht. Deshalb müssen wir diskret vorgehen. Dass es zu diesem Ergebnis kommt, ist recht unwahrscheinlich – der Pfad dorthin ist schmaler als eine Haarsträhne. Um die Flüche zu brechen, muss die Göttin durch Bewährungsproben, Prüfungen und Opfer beschwichtigt werden.«

»Wie darüber, so darunter«, wiederholte Cerise. »Die Flamme, die ihr zu löschen sucht, wird euch verbrennen. Ist es das, was Ihr mit der Flamme gemeint habt? Ist es eine der Prüfungen?«

»Ich weiß nicht.« Die Ehrwürdige Mutter atmete schwer durch die Nase aus. »Ich konnte es nicht klar erkennen. Die Einzelheiten dieser Zukunft sind noch verborgen, weil sie mit deiner verschlungen ist.«

Cerise spürte, dass sie große Augen machte. »Mit meiner Zukunft?«

»Ja. Und jetzt verwirrst du mich mehr denn je.«

»Aber …« Cerise schüttelte den Kopf. Das alles ergab keinen Sinn. Hatte sie die Offenbarung der Ehrwürdigen Mutter beeinträchtigt? Auch wenn sie als Orakel eine totale Versagerin war, hatte sie bestimmt nicht die Kraft, heilige Visionen zu beeinflussen.

Oder doch?

»Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte sie.

Die Ehrwürdige Mutter hob eine Braue. »Sag du es mir, Cerise – hast du?«

»Nein, Euer Gnaden«, gelobte sie, obwohl das nicht ganz stimmte.

»Dann musst du dir keine Sorgen machen. Die Göttin hat mir eine klare Vision von dir erlaubt.«

Cerise merkte auf.

»In dieser Vision«, flüsterte die Ehrwürdige Mutter, »hast du an einem Schreibtisch im Palast gesessen und die Notizen und Protokolleinträge studiert, die die frühere Botschafterin dir hinterlassen hat. Du hast ihre Rolle erlernt, und zwar gewissenhaft, wie ich hinzusetzen möchte.«

Cerise hätte gern mehr gehört, aber es kam nichts mehr. Sie gab sich alle Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen. Dabei hatte sie gehofft, die Vision werde etwas Aufregendes enthüllen oder ihr zumindest verstehen helfen, warum dieser »schmale Pfad« mit ihrem Weg zusammenlief.

»Ist das alles, was ich tun soll, Euer Gnaden? Ist das meine einzige Rolle beim Brechen der Flüche? Botschafterin zu sein?«

»Ob das alles ist?«, wiederholte die Ehrwürdige Mutter und funkelte sie an. »Bist du noch bei Sinnen?«

Oh nein. Sie hatte etwas Falsches gesagt. Schon wieder.

»Hast du deine Lektionen vergessen?«, fuhr die Ehrwürdige Mutter fort. »Jedes Element eines Weges – bis hin zum einzelnen Insekt – ist für das Ergebnis entscheidend. Wir mögen die Rolle des Insekts zunächst nicht verstehen. Doch dann sticht eine Hornisse ein Wildtier und bringt es dazu, in die Schussweite von Jägern zu laufen. Haben die es erlegt, mag es Dutzenden Menschen, die sonst gehungert hätten, auf ihrer Reise Nahrung liefern. Deine Pflichten als Botschafterin können dich eine entscheidende Einzelheit ermitteln oder eine neue Verbündete finden lassen oder dich auf eine Entdeckung bringen, die zum Brechen der Flüche führt. Egal, welche Rolle du bekleidest – sie ist nicht größer, aber auch nicht geringer als die der Hornisse. Wie kannst du es also wagen, mich zu fragen, ob das alles sei

Das Feuer von zehn Sonnen glühte in Cerises Wangen. »Verzeiht, Euer Gnaden, ich hatte es anders gemeint –«

»Papperlapapp – du regst mich auf!«

Cerise hätte liebend gern keine Frage mehr gestellt, aber ihr blieb keine Wahl. Sie hob die Hand wie eine Schülerin, die austreten will … und hasste sich dafür. Könnte sie doch in die Zukunft sehen! Dann würde sie die Antworten kennen.

»Bitte, Euer Gnaden«, sagte sie.

»Was ist denn jetzt?«

»Darf ich nach meinen Aufgaben als Botschafterin fragen?«

Die Ehrwürdige Mutter nickte. »Sie bewegen sich im Rahmen deiner Fähigkeiten. Zu deinen Pflichten gehört es, Besprechungen mit dem König zu besuchen, ihn in Glaubensdingen zu beraten und deine Göttin angemessen zu repräsentieren, indem du dich wie eine Tempeldame verhältst.«

Das machte ihre Rolle nicht deutlicher. Von den ihr genannten Pflichten konnte Cerise sich nur die letzte vorstellen, denn sie wusste sich wie eine Dame zu benehmen, jedenfalls meistens.

»Also?«, fragte die Ehrwürdige Mutter. »Einverstanden?«

Cerise kämpfte die Angst nieder, die in ihr aufgestiegen war. Sie konnte unmöglich ablehnen, solange es eine noch so geringe Chance gab, durch ihre Rolle bei Hof ein tausendjähriges Leiden zu beenden. Sie hatte keine Vorstellung von der Arbeit einer Botschafterin, doch ihre Vorgängerin hatte Aufzeichnungen und Tagebucheinträge hinterlassen, an denen sie sich orientieren konnte. Das war ein Anfang.

»Ja, Euer Gnaden«, sagte sie.

»Gut. Und noch was.« Die Ehrwürdige Mutter beugte sich vor. »In meiner Vision habe ich Feinde der Göttin gespürt, namenlose und gesichtslose Männer, die falschen Idolen dienen. Es dürfte nicht einfach sein, sie von den anderen zu unterscheiden, sei also vorsichtig, wem du vertraust. Und sogar innerhalb …« Sie verstummte und schien ihre Worte zu überdenken.

»Sogar innerhalb …?«, hakte Cerise nach.

»Sogar innerhalb unseres Ordens«, flüsterte sie kaum hörbar, »gibt es übereifrige Dienerinnen der Göttin, die glauben, Buße lasse sich nur durch Leiden tun. Gut möglich, dass sie dem Leiden der Adelshäuser kein Ende setzen wollen. Meine Vision war unvollständig, bruchstückhaft. Ich konnte nicht erkennen, was der Wille der Göttin bei alldem ist. Nur die Möglichkeit, das Leiden zu beenden, habe ich geschaut. Wir müssen diese zerbrechliche Sache schützen. Versteht du, was ich meine?«

Cerise brauchte nicht die Gabe des Vorhersehens, um zu wissen, von welcher Art Priestern die Ehrwürdige Mutter sprach. Die meisten waren ruhig und freundlich, doch es gab auch andere – Männer mit scharfem, kaltem Blick, die nichts lieber zu tun schienen, als Novizinnen bei Verstößen gegen die Regeln zu erwischen. Sie gab sich schon lange alle Mühe, diesen Männern auszuweichen. Und bis der Wille der Göttin klar zutage treten würde, war es ihre heilige Pflicht, diese Vision so zu schützen wie vorhin das junge Kaninchen.

»Ja, Euer Gnaden.«

»Behalte die Offenbarung für dich«, sagte die Ehrwürdige Mutter, »bis du weißt, wer deine Verbündeten sind.«

»Ja, Euer Gnaden. Wann breche ich auf?«

»Sofort. Ich lasse eine Kutsche kommen, die dich zum Hafen bringt. Die Reise nach Mortara dauert mehrere Tage, und es gilt, keinen Augenblick zu verschwenden. Verabschiede dich von deiner Familie. Ich rufe ein paar Dienerinnen, die dir packen helfen.«

Sofort? Cerise war verunsichert. Das alles geschah zu schnell.

Benommen kehrte sie ins Gartenzimmer zurück, um ihrer Familie die Neuigkeit zu überbringen. Sie merkte kaum, was sie ihnen sagte. Als sie fertig war, antwortete niemand. Ihre Eltern saßen erstarrt mit halb offenem Mund da. Ninas Miene war hinter ihrem Schleier verborgen, doch auch sie war unnatürlich reglos. Cerise verstand die Bestürzung ihrer Angehörigen und fühlte sie selbst, hatte zugleich aber ein wenig Begeisterung seitens der Familie erwartet – oder doch Stolz darüber, dass sie so unvermutet aufgestiegen war.

»Mir ist klar, dass ich das nicht verdiene«, setzte sie hinzu. »Aber am Hof zu dienen ist eine große Ehre.«

Ihre Mutter blinzelte, als erwachte sie aus einem Traum. »Ach, mein Liebling, natürlich verdienst du diese Ehre und noch tausend weitere. Der König kann sich glücklich schätzen, dich zu haben. Wir sind bloß …«

»... besorgt«, beendete ihr Vater den Satz seiner Frau.

»Richtig«, sagte ihre Mutter. »Der Tempel ist der sicherste Ort für dich.«

»Für alle«, warf er ein.

»Für alle«, bestätigte ihre Mutter. »Und er liegt für uns nahe genug, um dich zu besuchen.«

»Zum Palast ist es für uns zu weit«, sagte ihr Vater. »Du solltest bleiben.«

Cerise schüttelte den Kopf. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. »Ich soll mich verabschieden. Die Ehrwürdige Mutter hat gesagt, ich reise gleich ab.«

Es folgte Stille und der Austausch bedeutungsschwerer Blicke. Dann zwang ihre Mutter sich ein Lächeln ab und schlug leicht auf das Kissen neben sich. Cerise setzte sich wieder zwischen ihre Eltern, und ihre Mutter zog etwas aus ihrem Seidentäschchen.

»Nimm das.« Sie drückte Cerise eine glatte, flache Scheibe in die Hand. »Vater hat auch eine. Damit kannst du während deiner Abwesenheit mit uns sprechen.«

Cerise betrachtete die Scheibe und stellte fest, dass es sich um einen jener Liebesspiegel handelte, die getrennte Paare nutzten, um heimlich miteinander zu sprechen. So einen Spiegel hatte sie nie besessen, wusste aber, wie er funktionierte. Kaum hob sie ihn, sah sie die hellbraun gefütterte Tasche ihres Vaters. Auch seine Finger wurden sichtbar, dann sein Gesicht, als er seinen Spiegel herauszog und ein Lächeln aufsetzte, das seine Augen nicht erreichte.

»So einen durftest du bislang nicht besitzen«, sagte er ins Glas. »Aber da du nun nicht mehr im Tempel lebst …«

Cerise hörte nichts anderes als die Worte da du nun nicht mehr im Tempel lebst. Sie konnte das nicht begreifen. Es wäre einfacher, sich vorzustellen, in der Haut eines anderen Menschen zu stecken. Nie hatte sie den Tempelbezirk verlassen, von kurzen Ausflügen zum Markt abgesehen. Und nun würde sie in ein ganz neues Land reisen. Ein Teil ihres Lebens würde enden, und sie hatte das nicht mal vorhergesehen.

Aufsteigende Tränen trübten ihr Sehvermögen.

»Genug davon«, befahl Nina, die so lange still gewesen war, dass Cerise ihre Anwesenheit fast vergessen hatte. »Mutter? Vater? Darf ich mich unter vier Augen von Cerise verabschieden?«

Ihre Eltern nickten und gingen in die Vorhalle.

»Hör zu, denn wir haben nicht viel Zeit«, sagte Nina, setzte sich zu Cerise auf den Diwan, griff unter den Halsausschnitt ihres Kleides, nestelte eine goldene Kette hervor, öffnete sie und zog sie unter dem Schleier heraus. An der Kette hing ein unförmiger, angelaufener Anhänger, der aussah, als sei er einst womöglich ein Ring gewesen. »Ich möchte, dass du diese Kette zu deinem Schutz trägst.«

Cerise nahm das Halsband und sah sich den ramponierten Anhänger an. Sie kannte sich mit verzauberten Reliquien kaum aus, aber nichts an diesem Gegenstand wirkte besonders. »Was ist das?«

»Das darf ich dir nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Weil es Magie gibt, die an Geheimhaltung geknüpft ist. Jetzt leg die Kette an.«

»Aber wie funktioniert sie?«

»Mach dir darüber keine Gedanken.« Ungeduldig legte Nina ihr die Kette um, fuhr mit der Hand über die Vorderseite ihres Tempelgewands und verbarg den hässlichen Anhänger zwischen den Brüsten ihrer Schwester.

»Nina!« Cerise schlug ihr die Hände weg.

»Mensch, Cerise – wir haben doch wohl beide Brüste.«

»Das heißt nicht, dass du meine berühren sollst!«

»Schon gut.« Nina hob die Hände. »Versprich mir nur, dass du diese Kette nie ablegst.«

»Nicht mal zum Baden?«

»Nicht mal dann. Und lass sie niemanden sehen, weder den König noch seine Priester noch die Ehrwürdige Mutter – niemanden.«

»Was ist mit unseren Eltern?«

Nina schlug ihren Schleier zurück und zeigte ihr Gesicht. Daran merkte Cerise, dass es ihrer Schwester ernst war. »Niemanden – versprich mir das.«

Von Ninas Schönheit benommen, hörte Cerise sich sagen: »Ich verspreche es.«

Nina verschleierte sich sofort, als die Ehrwürdige Mutter wieder zurückkehrte. »Komm, Cerise«, befahl sie. »Deine Kutsche ist da.«

»Jetzt schon?« Cerise sah in Richtung ihres Zimmers. Sie besaß sicher mehr Habseligkeiten, als eine Dienerin in der kurzen Zeit hatte einpacken können.

»Alles ist vorbereitet. Jetzt komm, Mädchen. Lass mich das nicht noch mal sagen.«

»Ja, Euer Gnaden.«

Als Cerise das Gartenzimmer verließ und das Gepäck bemerkte, das in der Vorhalle auf sie wartete, fragte sie sich, welche Kleidung die Dienerinnen für sie eingepackt hatten. Würde sie weiter gekleidet sein wie ein Orakel in Ausbildung? Würde sie stattdessen das Gewand einer Novizin unter den Seherinnen erhalten? Oder würde der König von ihr erwarten, dass sie bei Hof so feine Seide trug wie Nina und ihre Mutter? Keine dieser Rollen erschien ihr angemessen. Cerise war kein Orakel – jedenfalls hielt sie sich nicht dafür –, und ihre Stellung als Zweitgeborene bedeutete, dass sie im Dienst der Göttin stand und nicht der Welt der Menschen angehörte.

Was war sie jetzt?

Sie wollte fragen, hatte die Geduld der Ehrwürdigen Mutter aber schon zu sehr strapaziert, um ein belangloses Thema wie Kleidung zum Gegenstand der Unterhaltung zu machen. Darum blieb sie still und tauschte nur noch Abschiedsküsse mit ihrer Familie. Nachdem ihre Angehörigen gegangen waren, legte die Ehrwürdige Mutter Cerise die Hand auf die Schulter und verabschiedete sich ebenfalls.

»Hier trennen sich unsere Wege, mein Mädchen. Ich werde dich vermissen, obwohl du mich immer wieder so verblüfft hast, dass ich nicht mehr weiterwusste.«

»Bestimmt komme ich eines Tages zurück, Euer Gnaden.«

Die Ehrwürdige Mutter schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wohin dein Weg dich führt, aber in diesen Tempel kehrst du nie mehr zurück.«

Cerise beschloss, die Ehrwürdige Mutter nicht auf die vielen Male hinzuweisen, bei denen sie sich hinsichtlich ihres Weges getäuscht hatte. Die Zukunft konnte sich ändern. Sie musste an die Möglichkeit glauben, in ihren Tempel heimzukehren. Jeder andere Ausgang war zu beängstigend, um ihn überhaupt zu erwägen.

»Denk daran, mein Mädchen: Ruhe und Mitgefühl werden dich leiten. Fürchte dich nicht. Halte die Vision am Leben, auch wenn du sie für dich behalten musst.« Die Ehrwürdige Mutter hob den Blick zum Deckenfresko. »Die Göttin hat etwas mit dir vor, Cerise.«

Als auch Cerise zur Decke sah, fiel ihr Blick auf Shieras zornige Gesichtshälfte – ein Auge loderte; die halbe Oberlippe war gebleckt und ließ einen tödlichen Schneidezahn sehen. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie war sich gewiss, dass die Göttin ihrem Weg eine neue Richtung gegeben hatte.

Welche Seite von Shiera aber hatte sich diesen Kurs ausgedacht?

Kapitel 3

Da Cerises Kabine kein Fenster hatte, bekam sie Mortara erst zu Gesicht, als das Schiff anlegte und sie sich an Deck begab. Als Erstes schlug ihr Hitze entgegen. Große Göttin! Sengend und trocken war sie und strich über sie hinweg, als sei der Wind durch Feuer gegangen. Schwere Aromen lagen darin, Zitronengras und Moschus. Schon auf dem kurzen Weg zur Reling wurde ihr klar, dass sie sich andere Kleidung besorgen musste als die Samtgewänder, die sie im Tempel getragen hatte: etwas Luftiges, weit Geschnittenes wie das, was die Hafenarbeiter und Festmacher trugen, mit langen Leinenärmeln, um die Sonnenstrahlen abzuhalten.

Von überall drangen Stimmen heran, ein strapaziöses akustisches Durcheinander, während die Arbeiter mit Flaschenzügen Kisten und große Koffer auf die Kaianlagen beförderten. Cerise setzte ihr bestes Tempelbetragen auf und nickte im Vorbeigehen einigen Seeleuten zu, wandte den Blick dann von den Menschen um sie herum ab und musterte das Land, das ihre neue Heimat sein würde.

Im Westen erstreckte sich grünbrauner Klee, so weit sie schauen konnte, bis an die Bergkette am Horizont. Das Massiv reichte hoch in den Himmel, grausige, zerklüftete Spitzen, deren Anblick sie frösteln ließ.

Das also war der Ort.

Der Ort, an dem der Große Verrat geschehen war.

Auf dem höchsten Gipfel hatten sich die vier adligen Dynastien versammelt und sich verschworen, die Göttin niederzumetzeln. Doch sie waren gescheitert, und tausendjährige Flüche hatten die Erstgeborenen der Adelsfamilien und die Länder Mortaras getroffen.

Im Land wurde kaum etwas Wertvolles hergestellt – eigentlich wurden nur Gewürze angebaut und in den Bergen Edelsteine geschürft. Die Landwirtschaft konnte nur mit der Magie der Palastpriester kultiviert werden. Alles andere wurde eingeführt. Sie sah hinunter aufs Wasser, das an die Hafenanlagen schlug, und entdeckte kein Seegras.

Nicht mal Fische konnten an diesem verfluchten Ort gedeihen.

Gegen Osten erhob sich eine so hohe Stadtmauer, dass dahinter nur die Spitze des Tempels sichtbar war. Cerise wusste nicht, wovor die Mauern Schutz gewährten, aber es gab Geschichten von seltsamen Tieren und Ungetümen, die aus dem vergossenen Blut der Göttin geschaffen waren. Cerise hatte angenommen, dass vieles davon ins Reich der Fabeln gehörte.

Tja, jetzt war sie in der Fabelwelt.

***

Auf der Fahrt zum Palast dämmerte es allmählich, also würde der König bald für diesen Tag verschwinden. Cerise war erleichtert, als die Sonne langsam zum Horizont sank. Sie wollte dem König erst begegnen, wenn sie sich von der Reise erholt und sich frisch gemacht hatte. Sie wollte überhaupt niemanden treffen, solange sie nicht ausgiebig gebadet hatte. Mit etwas Glück käme sie noch rechtzeitig zum Abendessen, könnte das gegenseitige Vorstellen aber bis zum Morgen hinauszögern.

Zwei Wächter traten am Torhaus an ihre Kutsche. Ihre leichten, hellbraunen Uniformen zierte das Wappen von Mortara: ein Berg, der von einem Speer geteilt wird. Die Wächter trugen Schwerter am Gürtel. Cerise musterte die sich verjüngenden Klingen mit ihren nadelfeinen Spitzen. Noch nie hatte sie eine Waffe aus der Nähe gesehen. Im Tempel waren sie überflüssig, weil Priester Schutz und Belehrung boten.

Alle Gedanken an Waffen verschwanden, als sich das Stadttor öffnete und dahinter viel Palastvolk wartete. Cerise konnte gerade noch blinzeln, ehe die Menge in Jubel ausbrach.

Panik stieg in ihr auf. Was war hier los?

Jemand rief: »Sie ist da! Das gesegnete Orakel ist da!«

Das gesegnete Orakel?

Wurde sie verwechselt? Ihr blieb nichts anderes übrig, als in der Kutsche zu bleiben, obwohl sie am liebsten mit gerafftem Gewand zum Hafen zurückgerannt wäre. Aber schon war der Wagen von Leuten umringt, von Mägden und Köchen, Stallknechten und Hausmeisterinnen, von mindestens hundert Personen, die sich auf die Zehenspitzen stellten und den Hals reckten, um einen kurzen Blick auf sie zu erhaschen.

Als sie schon glaubte, ihr Herz springe aus der Brust, rief ein Mann: »Genug jetzt!« Sofort verstummten alle, und das Palastvolk zog sich etwas vom Torhaus zurück, sodass die Kutsche weiterfahren … und Cerise aufatmen konnte.

Kurz darauf hielt die Kutsche erneut. Der Schlag wurde geöffnet, und ein Wächter half Cerise, auf den königlichen Rasen zu treten. Sie spähte in die Menge, um den Mann zu entdecken, der all die Leute gebändigt hatte, und erkannte ihn rasch an seinem goldenen Gewand mit kunstvoll gewebten Symbolen, das seine Stellung anzeigte. Der Hohepriester von Shiera, wohl der mächtigste Mensch auf Erden, glitt auf sie zu, gefolgt von zwei Reihen Priestern.

Sofort nahm Cerise eine ehrerbietige Haltung an: Sie richtete sich kerzengerade auf, hob das Kinn, schob die Finger vor der Brust ineinander und konzentrierte sich einzig auf ihr Gegenüber. Doch je näher der Hohepriester kam, desto stärker musste sie sich bemühen, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen.

Er war beunruhigend jung; sein blondes Haar war nur an den Schläfen und am sehr gepflegten Backenbart ein wenig ergraut. Selbst in der zunehmenden Dunkelheit sah sie, dass seine Augen blauer waren als eine Pfauenfeder und sein angenehmes Gesicht Zuversicht und Besonnenheit ausstrahlte. Sie fragte sich, über welche Kräfte dieser Mann verfügen mochte, um in seinem Alter schon eine so hohe Position zu bekleiden. Seine Begabung musste unglaublich sein.

Er blieb vor ihr stehen und lächelte sie freundlich an. »Willkommen, Kind.«

Cerise sammelte sich und machte einen tiefen Knicks. »Euer Gnaden.«

»Die Ehrwürdige Mutter hatte recht. Ich spüre, dass du einen edlen Geist hast.« Er berührte ihre Wange und bedeutete ihr, sich zu erheben. »Du kannst mich Vater Padron nennen. Ich freue mich, dich im Palast willkommen zu heißen, Cerise.« Er bot ihr seinen Ellbogen. »Darf ich dich hineinführen?«

»Es wäre mir eine Ehre, Euer Gna…« Sie verbesserte sich: »Vater Padron.«

Sie nahm seinen Arm, doch die drückende Hitze ließ sie wünschen, es nicht getan zu haben. Seine zusätzliche Wärme ließ ihr Gesicht erröten, was ihm wiederum nicht entging.

»Ach, bestimmt vergehst du vor Hitze«, sagte er. »Ich habe im Stadttempel neue Gewänder für dich bestellt und sie in deine Gemächer bringen lassen.«

»Sehr aufmerksam von Euch.«

Die Menge teilte sich vor ihnen, und Cerise schritt an den Palastbediensteten vorbei, lächelte sie an und nickte ihnen zu. Sie spürte, dass jemand an ihren Röcken zog, blickte zur Seite und stellte fest, dass eine alte Magd ihr Gewand mit der einen Hand berührte und mit der anderen gebärdete. Dann tippte sie sich an die faltige Stirn und zog mit dem Finger ein Dreieck darauf. Cerise verstand nicht, was das Zeichen bedeutete, doch auch Vater Padron hatte es gesehen und blieb stehen. Sein Arm spannte sich unter ihrer Hand an.

Ihr wurde beklommen zumute. Worum es sich bei dem Zeichen auch handeln mochte – die Priester schienen es nicht zu schätzen. Vater Padron entschuldigte sich, begab sich zu einem seiner Männer und flüsterte ihm etwas zu. Dann kehrte er zu Cerise zurück, und sie gingen weiter, als wäre nichts gewesen. Als Cerise sich kurz umsah, waren die Magd und der Priester verschwunden.

»Angestarrt zu werden ist harmlos, aber vergiss nicht deine Stellung«, sagte Vater Padron. »Du bist Botschafterin und Tempeldame. Man hat dir Respekt entgegenzubringen, aber Anbetung darf es nicht geben.«

Anbetung? Hatte die alte Frau sie mit dem Dreieck etwa angebetet und vor den Augen der Priester Götzenverehrung betrieben? Nein, das Zeichen musste etwas anderes bedeuten. Niemand, der bei Verstand war, würde so unbesonnen sein.

»Ja, Euer Gnaden«, antwortete sie. »Götzenverehrung würde ich nie unterstützen.«

»Das ist mir klar, Cerise.« Vater Padron tätschelte ihr beruhigend die Hand. »Ich möchte dich zudem daran erinnern, dass du keinem Laien verpflichtet bist. Alle bei Hof werden dich mit Mylady ansprechen, selbst der König. Sollte man dir nicht respektvoll begegnen, wünsche ich das zu erfahren.«

»Danke, Euer Gnaden«, erwiderte Cerise.

Nachdem sie die letzten Bediensteten hinter sich gelassen hatten, konnte sie endlich einen ungehinderten Blick auf den Palast werfen … und schnappte nach Luft.

Die Abenddämmerung hatte die Schatten wachsen lassen, und doch glühte der Palast strahlend genug, um den Himmel zu blenden. Cerise schirmte die Augen ab und blickte staunend nach vorn. Die letzten Sonnenstrahlen glitzerten wie ein Sternenmeer an der kristallbestückten Fassade. Der Grundriss des Palasts war einfach, ein Sechseck mit einem Turm an jeder Ecke, doch alles andere hätte von seiner Schönheit nur abgelenkt. Vor ihr standen herrliche Bäume voll diverser Zitrusfrüchte. Alle waren mittels Magie aufgeschönt und begleiteten den Rasenpfad bis zum Haupteingang.

Zehn Generationen von Priestern hatten dem Palast treu gedient und schienen in seiner Umgebung sogar für eine kühle Frischluftzone gesorgt zu haben. Die Spuren ihrer Magie waren allgegenwärtig. Obwohl der Zauber alt und verblasst war, spürte Cerise seine Kraft auf der Zunge wie den Metallgeschmack vor einem Gewittersturm. Doch sie behielt diese Beobachtung für sich. Während der Ausbildung war ihr nie ein Orakel begegnet, das Magie schmecken konnte. Das vermochten nur Priester, und sie wollte dem Orden keinen Grund geben, bei ihr nach Unnatürlichem zu forschen.

»Ach ja«, sagte Vater Padron und lachte leise, »der Palast ist eine Attraktion, vor allem für Leute, die ihn zum ersten Mal sehen.«

Der Himmel dunkelte nun purpurrot. Über Cerise sprangen kugelförmige Lampen an und sorgten für Beleuchtung.

»Allerdings«, pflichtete sie ihm bei. »Danke, dass Ihr mich hier so freundlich willkommen heißt.«

»Das ist doch selbstverständlich. Ich weiß noch, wie es war, als ich den Tempel das erste Mal verließ.« Seine Lippen verzogen sich zu einem wehmütigen Lächeln. »Das war eine sehr … schwierige … Umstellung. Nun tue ich mein Bestes, um den Übergang für andere angenehmer zu machen.«

»Wo seid Ihr aufgewachsen?«, fragte Cerise.

»In einem Tempel in Calatris, im Nordwesten des Landes, um genau zu sein, wo im Sommer nur eine dünne Schicht Schnee unter den Stiefelsohlen liegt, während er sonst bis zu den Knien reicht.«

Sie stellte sich ihn in ihrem Alter vor, unschuldig und großäugig, glatt rasiert und in Mortaras Hitze schwitzend. Diese Vorstellung ließ sie lächeln. Sie konnte noch immer kaum glauben, wie jung er war – oder dass er sie persönlich in den Palast geführt hatte. Es war ein seltenes Vergnügen, überhaupt mit ihm zu reden. Die meisten Tempeldamen – und auch die Herren – begegneten dem Hohepriester des Ordens im Leben kein einziges Mal.

»Für deine psychische Gesundheit ist es wichtig, dass du feste Anbetungszeiten einhältst«, riet er ihr nun. Gerade kamen sie an säuberlich gepflanzten Birnenbäumen vorbei, die in Blüte standen. »Am besten triffst du dich mit den Mitgliedern des Ordens im Heiligtum des Palasts. Es handelt sich um ein etwas abseits gelegenes Gebäude in der Nähe der östlichen Gärten. Dort sind Laien nicht zugelassen.«

Ah. Cerise verstand die Botschaft. Das Heiligtum bot eine Rückzugsmöglichkeit aus dem höfischen Leben. Sie war froh, das zu hören, besonders angesichts der vielen Menschen, die sie begrüßt hatten. Noch immer glaubte sie, ihre Blicke im Rücken zu spüren, und konnte sich nicht vorstellen, womit sie einen solchen Empfang verdient hatte.

»Und Seine Majestät hat mich gebeten, dir sein Bedauern darüber zu übermitteln, dass er dich nicht persönlich begrüßen kann.« Vater Padron wies auf die Schatten, die von den Treppenstufen des Eingangs vor ihnen fielen. »Er ist bis zum Morgen verhindert.«

»Ich freue mich darauf, ihn kennenzulernen«, sagte Cerise. »Darf ich Fragen zu Seiner Majestät stellen?«

»Du darfst mich alles fragen, Cerise.«

»Wenn er nachts verschwindet … wohin geht er dann? Ist er in allen Schatten anwesend?«

Sie warf einen Blick auf den Umriss ihrer Gestalt am Boden, und in ihrer Vorstellung sahen sie zwei unsichtbare Augen an. Cerise hatte gehört, die Schattennächte des Königs hätten ihm die Bekanntschaft mit Dämonen eingetragen und er habe Vereinbarungen mit ihnen geschlossen, die seine Eltern davon abhalten sollten, einen weiteren Erben in die Welt zu setzen. Das glaubte sie nicht – oder doch nicht ganz –, doch im Vorjahr hatte es auch Gerüchte über unnatürliche Tode im Palast gegeben. Der frühere König und die frühere Königin waren leblos in ihren Gemächern gefunden worden, und ihre totenstarren Körper waren blaugrau. Palastbediensteten zufolge hatte diese Nachricht Kian nicht überrascht.

Gerüchte und Unsinn. Vermutlich.

Als Vater Padron antwortete, war seiner Stimme ein Lächeln anzumerken. »Seine Majestät hat mir erzählt, dass er keine Erinnerung an seine Nachtstunden hat und morgens erwacht, als habe er nur kurz geblinzelt. Ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln.«

Sie zog diese Antwort dem Gedanken vor, dass der König ihr aus dem Dunkel nachspionierte. Sie wollte eine weitere, heiklere Frage stellen. Der Mortara-Fluch war anders als der Fluch, der die anderen Adelsdynastien getroffen hatte. Für die Erstgeborenen in Solon, Calatris und Petros trat er in vollem Umfang erst am zwanzigsten Geburtstag in Kraft, dem Einberufungstag. Danach lebten die Adligen noch viele Jahre oder überlebten zumindest, falls leben ein zu wohlwollendes Wort für ihren Zustand war. Aber die Erstgeborenen von Mortara begannen schon am ersten Abend nach ihrer Einberufung, in der Nacht zu verschwinden, und im folgenden Jahr zehrte der Fluch auch ihre Tagstunden auf, bis sie verdämmerten. Nur wenige Erstgeborene von Mortara erlebten den einundzwanzigsten Geburtstag. Der König hatte vermutlich noch sechs Monde, ehe er für immer verschwand und einen Krieg um den leeren Thron hinterließ. Der genaue Zeitpunkt würde davon abhängen, wie weit der Fluch gediehen war und wie schnell er den König während des Tages aufzehrte.

»Ist Seine Majestät von Sonnenaufgang bis -untergang immer zugegen?«, wollte Cerise wissen.

»Immer zugegen?«, fragte Vater Padron. »Leider nicht. Der Fluch beeinträchtigt nun auch die Tagstunden Seiner Majestät, doch ich weiß nicht, wie sehr. Seine Majestät hält sich während des Tages von allen fern, wie es sein Vorrecht ist.«

»Verstehe.«

»Du könntest seine Kurtisane fragen«, schlug Vater Padron vor. »Sie weiß besser als ich, wie der König seine Tagstunden verbringt.«

Cerise bezweifelte, dass sie auf diesem Weg Antwort bekam. Falls seine Kurtisane den König schätzte, würde sie seine Geheimnisse nicht verraten.

»Da sind wir«, sagte Vater Padron, als sie die Stufen zum Palast erstiegen und in die Vorhalle traten. »Und da ist Daerick.« Er wies mit dem Kopf auf einen großen, dunkelhaarigen Jungen, der sich am Fuß der Treppe herumdrückte. Er trug ein blaues Seidenhemd, das in einer engen Hose steckte, und von seinem Kinn hing etwas herab, das an Bohnensprossen erinnerte. Bei näherem Hinsehen merkte Cerise, dass es sich um einen Bart handelte … mehr oder weniger. Auch Daerick beobachtete sie, aber mit Interesse, nicht mit übertriebener Begeisterung. »Er führt dich auf dein Zimmer. Ich muss mich derweil um eine Sache kümmern.«

Cerise fragte sich, ob es sich bei der »Sache« um die alte Magd handelte, die weggeführt worden war. Vater Padron wirkte freundlich, aber einige seiner Priester mochten es nicht sein, und Cerise wollte nicht, dass die Frau zu hart für das Zeichen bestraft wurde, das sie gemacht hatte. Aber trotz Vater Padrons Aufforderung, ihn alles Erdenkliche zu fragen, erschien ihr dieses Thema für ihre erste Begegnung zu heikel. Sie würde sich tags darauf danach erkundigen.

»Cerise«, sagte Vater Padron, »das ist Daerick Calatris, persönlicher Geschichtsschreiber des Königs. Über die heiligen Schriftrollen weiß niemand mehr als er. Ich glaube sogar, er kennt sie auswendig –«

»In zehn Sprachen«, unterbrach ihn Daerick. »Aber wer zählt das schon mit.«

»Wenn es also jemanden gibt, der dir bei deiner neuen Rolle behilflich sein kann, dann ist er es.«

»Für diese Hilfe bin ich dankbar«, erwiderte Cerise. »Meine Berufung als Botschafterin an den Hof Seiner Majestät kam sehr überraschend. Ich muss viel lernen und freue mich darauf, mit Euch zusammenzuarbeiten, Lord Calatris.«

Daerick verbeugte sich. »Und ich erst, Mylady«, sagte er ohne jeden Sarkasmus und bekam beim Lächeln Fältchen um die Augen. Cerise bemerkte, dass sie tiefbraun waren und ihr scharfer Blick seine Intelligenz spiegelte.

Er musste ein Erstgeborener sein.

Mitgefühl erfüllte sie. Der Calatris-Fluch war einer der grausamsten. In Schriftrollen über den Großen Verrat hieß es, ein brillanter Gelehrter aus Calatris habe den Weg entwickelt, wie sich die Göttin niedermetzeln lasse. Zur Strafe seien alle erstgeborenen Nachkommen damit geschlagen worden, mehr zu wissen, als ihr sterbliches Bewusstsein ertragen kann. Cerise mochte sich nicht vorstellen, wie Daericks lächelnde Augen blicken würden, wenn sein Einberufungstag kam und sein Bewusstsein bis zum Anschlag mit allen Geheimnissen des Universums gefüllt wurde.

Er bot ihr seinen Ellbogen. »Sollen wir?«

Als sie die Hand auf seinen Unterarm legte, zogen sich ihre Eingeweide vor Schuld zusammen. Sie hatte stets eine tiefe Verbindung zur Göttin empfunden, sogar mit der rachsücht...

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