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The Family Guest

Als Buch hier erhältlich:

Sie ist der perfekte Gast. Doch wer ist sie wirklich?

Als die britische Austauschsschülerin Tanya für ein Jahr bei den Merritts einzieht, hofft die Familie nach dem Tod ihrer ältesten Tochter Anabel auf einen Neuanfang. Doch während Tanya sich schnell einlebt, werden ihre Ähnlichkeiten mit Anabel von Tag zu Tag unheimlicher. Nicht nur, dass Tanya wie Anabel aussieht - was Gastmutter Natalie auf einen Zufall zurückführt -, die junge Frau fängt auch an, wie Anabel zu klingen... Während Natalie nachts im Bett liegt, fragt sie sich zunehmend: Wer schläft wirklich in ihrem Gästezimmer?


  • Erscheinungstag: 20.02.2024
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365006764

Leseprobe

Widmung

Für meine Familie.

PROLOG

Ich wollte nicht, dass sie sterben.

Es waren Unfälle.

Zumindest habe ich das der Polizei gesagt.

Und mir selbst habe ich das auch gesagt.

Aber glauben Sie mir kein Wort.

Ich bin in einem Netz aus Geheimnissen und Lügen gefangen.

Und ich kann nicht mehr damit leben.

Es muss ein Ende haben.

Heute werde ich endlich eine Beichte ablegen.

Über alles.

Jede.

Kleinste.

Sünde.

Und dann sinke ich auf die Knie und bitte um Vergebung.

EINS

Paige

Da ist sie!« Meine Mutter zeigte auf ein statuenhaftes Mädchen mit rosafarbener Baseballmütze, das vor der Ankunftshalle des internationalen Flughafens von Los Angeles stand. Ganz in Weiß gekleidet – Leinen-Capris, ein übergroßer Pullover und Designer-Pantoletten –, sprang sie aus unserem Auto, das große, selbst gebastelte Schild mit den vielen roten aufgemalten Herzen in den Händen, auf dem stand: Willkommen in L. A., Tanya! Es war so kitschig, dass ich am liebsten gekotzt hätte.

Meine Mutter schwenkte es mit beiden Händen und schrie in voller Lautstärke Tanyas Namen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, während mein Vater den Motor abstellte und ihr folgte. Lustlos stieß ich die Fondtür auf und stellte mich zu meinen Eltern an den Bordstein. Der Flughafen war überfüllt von Fahrzeugen und Reisenden, aber wir hatten einen Parkplatz in der Nähe des Terminals ergattert. Von mir aus hätte er auch eine Meile entfernt sein können. Meinetwegen sogar zehn. Ich freute mich kein bisschen darauf, unsere Austauschschülerin kennenzulernen.

Ich behielt das Mädchen im Auge, nachdem es uns entdeckt hatte. Winkend und mit einem strahlenden Lächeln bahnte unser Gast sich den Weg durch die Menge zu unserem Auto, das wir nicht unbeaufsichtigt lassen konnten. Auf dem Foto, das meine Mutter mir gezeigt hatte, war ihr Haar kürzer, eher schmutzig blond, und sie war etwas fülliger gewesen. Aber dieses Mädchen war gertenschlank, hatte langes platinblondes Haar und trug modische Röhrenjeans, einen Hoody und strahlend weiße Turnschuhe. Obwohl sie einen Rucksack und einen riesigen Rollkoffer mitschleppte, hatte sie den Gang eines Supermodels mit langen, schwungvollen Schritten. Von Weitem ähnelte sie meiner Schwester Anabel, sie war nur größer, schlaksiger und blonder. Aber für mich sahen sowieso alle Blondinen gleich aus, besonders hier in Südkalifornien – es war irgendwie unheimlich.

Vielleicht hatte meine Mutter unbewusst einen Ersatz gesucht, als sie sich entschieden hatte, diese Austauschschülerin aufzunehmen. Ein Trauma, sagte unser Familientherapeut, könnte seltsame, andauernde Auswirkungen auf uns haben. Uns, das waren übrigens ich, meine Mutter, mein Vater und mein kleiner Bruder Will, der auf irgendeiner internationalen Robotikkonferenz war, die er nicht verpassen durfte. Will war zwölf und ein Nerd. Unsere hauseigene Hackergruppe, die aus einem Mitglied bestand.

Ich hätte auch Dringendes zu erledigen gehabt, wie meine beste Freundin Jordan zu treffen, die am nächsten Tag nach Berkeley aufbrach, oder mit meinem Freund Lance abzuhängen, der den ganzen Sommer über weg gewesen war. Aber meine Mutter hatte darauf bestanden, dass ich mit zum Flughafen komme. Sie war so aufgeregt, weil ich unsere Austauschschülerin kennenlernen würde. Was wusste sie schon? Ich hatte kein Interesse an einem weiteren Familienmitglied, nicht einmal einem auf Zeit.

Meine Schwester Anabel, die fünfzehn Monate älter war als ich, war vor über zwei Jahren gestorben, und ich hatte mich damit abgefunden, die einzige Tochter zu sein. Meine Schwester und mich hatte nie viel miteinander verbunden. Sie war der Liebling meiner Mutter, und ich konnte ihr nicht das Wasser reichen. Selbst mein zweiter Platz war weit abgeschlagen. »Das ist meine Tochter Anabel«, sagte meine Mutter immer. »Und das ist meine andere Tochter, Paige.« Ich war immer die andere Tochter, und daran hatte sich auch nichts geändert.

Wenigstens für meinen Bruder war ich immer die Nummer eins gewesen. Ich liebte Will und wollte ihn nicht verlieren. Stieße ihm etwas Schreckliches zu, würde ich total ausrasten.

Tanya schlängelte sich durch die Menge der erschöpft aussehenden Menschen, die nach L. A. zurückkehrten oder unsere Stadt der Engel besuchten, ein, wie ich fand, lächerlicher Spitzname für diesen von Verbrechen geplagten Ort. Sie beschleunigte ihr Tempo, und ihr Koffer rollte neben ihr her. Es war einer von diesen schicken Hartschalenkoffern. Glänzend burgunderrot.

Endlich hatte sie uns erreicht. Meine überschwängliche Mutter stellte das Schild ab und begrüßte sie mit weit geöffneten Armen. Unser Familiengast ließ den Griff des Koffers los und stürzte sich direkt hinein. Sie hielten sich fest umschlungen wie zwei enge Freundinnen, die sich seit Jahren nicht mehr gesehen hatten. Endlich lösten sie sich voneinander.

»Ich bin so gespannt, hier zu sein, Mrs. Merritt.«

»Musstest du lange warten? Tut mir leid, dass wir zu spät sind.«

»Keine Sorge. Es ist nicht Ihre Schuld. Unser Flugzeug ist eine halbe Stunde früher gelandet. Und ich bin ruckzuck durch den Zoll gekommen. Ich habe gelächelt und nett ›Hallo‹ gesagt, da hat mich der Beamte gleich durchgelassen.« Sie hatte einen charmanten britischen Akzent, der sich sehr nach Emma Watson anhörte, und ihr Lächeln erinnerte an einen Filmstar. Es reichte von einem Ohr zum anderen und zeigte einen Satz perfekter perlweißer Zähne. Na ja, bis auf eine kleine Lücke zwischen den beiden Schneidezähnen.

Das Lächeln strahlte bis in ihre Augen. Weil ich erwartet hatte, dass sie grün-blau wie die meiner Schwester sein würden, war ich überrascht, dass sie so braun wie die meines Vaters waren. In Kombination mit ihren dichten lakritzschwarzen Augenbrauen, die ebenfalls seinen ähnelten, stellte sich mir die Frage, ob sie naturblond war. Auf jeden Fall war sie mit ihrem schlanken Körper und ihrem exotischen Aussehen einfach wunderschön.

»Wie war dein Flug, Dear?« Meine Mutter sah sie immer noch an. »Oh, und bitte nenn mich Natalie.«

Wenigstens sagte sie nicht »Mama«. Oder Nat. Das war für meinen Vater reserviert, der noch kein Wort gesagt hatte.

»Er war okay, aber wirklich sehr lang, Mrs. Merritt.« Sie besann sich und kicherte. »Ich meine, Natalie. Und übrigens, Sie sind ja so hübsch! In echt sind Sie noch hübscher als auf den Fotos!«

Was für ein krasses Geschleime.

»Ach, hör aber auf. Du bist zu freundlich!« Meine blonde blauäugige Mutter, ein ehemaliges Model, errötete. Es war, als ob sie und Tanya in dieser Sekunde eine Verbindung fürs Leben eingingen.

Ich zwang mich, Hallo zu sagen, um die Aufmerksamkeit aufzulockern, die meine Mutter ihr schenkte.

Unsere Austauschschülerin sah mich an und grinste. »Du musst Paige sein. Deine Mum hat mir schon so viel von dir erzählt.«

Ich zuckte innerlich zusammen. Was denn zum Beispiel? Sie bevorzugt Flohmarktklamotten statt Designeroutfits und trägt Birkenstocksandalen mit Socken. Sie isst komische Sachen und muss zehn Pfund abnehmen. Oh, und ich glaube, sie ist noch Jungfrau.

»Nett.« Ich brachte ein höfliches Lächeln zustande. Oder vielleicht war falsch der richtige Ausdruck.

Ich bin mir sicher, dass meine Mutter ihr Fotos von mir geschickt hatte, aber mir sagte sie nicht, dass ich in natura viel hübscher sei. Wahrscheinlich, weil ich es nicht war. Ich hatte kein bisschen von der schlanken Schönheit meiner Mutter geerbt. Gut – abgesehen von ihren großen saphirblauen Augen. Mit meinem widerspenstigen kastanienbraunen Haar, dem kantigen Kiefer und dem knochigen Körper sah ich meinem Vater sehr ähnlich. Er selbst sah zwar unfassbar gut aus, aber sein klassisches Profil hatte sich auf mich nicht besonders gut übertragen. Lost in translation. Manche Mädchen haben einfach Glück und werden schön geboren. Ich spürte einen gewissen Neid, als sich Tanyas fröhliche Stimme in meine Gedanken mischte.

»Ich freue mich schon so drauf, Zeit mit dir zu verbringen. Vielleicht können wir ja zusammen shoppen gehen?«

Letzteres war eher eine Feststellung als eine Frage.

Meine Mutter ersparte mir eine Antwort und stellte meinen Vater Matt vor. Genau, das sind meine Eltern. Matt und Nat. Ich habe oft gedacht, sie sollten eine Werbeagentur eröffnen – Nat von Matt.

Ganz der erfolgreiche Geschäftsmann, streckte mein Vater seine breite langfingrige Hand aus. (Wenigstens meine Hände hatte ich von ihm, zusammen mit seiner Sportlichkeit, die dazu beitrug, dass ich in der Mädchen-Basketballmannschaft meiner Schule der Star wurde.) Miss Einschleimer ergriff sie huldvoll und schenkte auch ihm ein süßstoffsüßes Lächeln.

»Schön, Sie kennenzulernen, Mr. Merritt.«

»Willkommen in Los Angeles, Tanya.« Er ließ den Blick länger als nötig auf ihr ruhen. Ich bin mir sicher, dass er die vage Ähnlichkeit zwischen ihr und Anabel bemerkte. Genauso wie die Größe ihrer Brüste. Sie waren unmöglich zu übersehen.

»Wir freuen uns, dass du dein letztes Schuljahr bei uns verbringst.«

Sprich für dich selbst, Dad. Tanya war nicht meine Idee gewesen. Gerade fand alles zu so etwas wie Normalität zurück – was auch immer das war –, schon gab es einen Neuzugang, der das Gleichgewicht in unserer Familie wieder durcheinanderbrachte. Eine unbekannte Variable.

Tanya bedankte sich bei meinem Vater und fügte hinzu: »Ich bin das erste Mal in Los Angeles.«

Als Tochter eines Diplomaten musste sie weit gereist sein. Doch merkwürdigerweise hatte ihr Koffer keine einzige Delle. Nicht mal einen Kratzer. Vielleicht war er nagelneu und sie hatte ihn in Heathrow in Plastikfolie eingepackt, obwohl ich keine Gepäckanhänger sah. Vielleicht hatte sie sie auch schon abgezogen, was ich immer tat.

Wie auch immer. Mein Vater antwortete: »Ich bin sicher, dass meine Frau und Paige dich gerne herumführen werden.«

»Ich kann es kaum erwarten, zu Urban Outfitters zu gehen!«

Innerlich verdrehte ich die Augen. Angesichts der Fülle an Attraktionen, die L. A. zu bieten hatte, von Museen von Weltrang bis hin zu Hollywood-Sehenswürdigkeiten, ganz zu schweigen vom nahe gelegenen Disneyland und der atemberaubenden Küste, hätte ein Einzelhandelsgeschäft, in dem man auch online einkaufen kann und das man wahrscheinlich auch in London finden konnte, auf meiner Prioritätenliste nicht weit oben gestanden. Ihre Interessen waren offensichtlich anders gelagert als meine.

Mein Vater reckte den Hals, um nach unserem Auto zu sehen. Es war immer noch dort geparkt, wo wir es abgestellt hatten. Aber nicht weit dahinter stand ein Streifenwagen der Flughafenpolizei. »Wir sollten besser los, bevor ich einen Strafzettel bekomme. Die Flughafenpolizei ist sehr streng, wenn es darum geht, wie lange man am Bordstein parken darf.«

Er bot Tanya an, ihren Koffer zu nehmen, aber sie teilte ihm mit, dass sie es schon schaffen würde. Gemeinsam eilten wir zum Auto zurück und erreichten es gerade noch, bevor wir einen Strafzettel bekamen. Ich sah zu, wie mein Vater den Griff des Rollkoffers herunterdrückte und ihn dann in den Kofferraum seines glänzenden schwarzen BMW 750i lud.

Ich war überrascht, wie mühelos er den großen roten Koffer stemmte. Mein zweiundsechzigjähriger Vater joggte, schwamm und trainierte regelmäßig mit Gewichten, aber es wirkte fast so, als wäre die Tasche schwerelos. Dann half er Tanya, ihren Rucksack abzunehmen, und stöhnte, als ob er sich einen Muskel gezerrt hätte.

»Mein Gott. Was ist in dieser Tasche? Die wiegt ja eine Tonne.«

»Oh, nur mein Laptop, etwas Make-up und meine persönlichen Sachen.« Mit diesen Worten und einem Grinsen folgte sie mir, als ich ins Auto stieg.

Als mein Vater wegfuhr, fragte ich mich: Warum habe ich bei diesem Mädchen so ein schlechtes Gefühl?

ZWEI

Natalie

Oh, mein Gott! Ihr Haus ist so schön. Es sieht genauso aus wie eine dieser Villen, die man in schicken Architekturmgazinen sieht.«

Ich lächelte über Tanyas Überschwang, als wir in die Einfahrt fuhren. Es war tatsächlich ein wunderschönes Gebäude. Ein fast sechstausend Quadratfuß großes Haus im italienischen Stil aus dem Jahr 1926, das an einer der besten Straßen von Hancock Park lag. Es war zwar keine dieser aufgemotzten Villen aus Beverly Hills, die von der Hollywoodelite und den Neureichen bevorzugt wurden, aber mit seinen hohen Decken, dem großen Foyer und der geschwungenen Marmortreppe war es das Haus meiner Träume. Viele der Einrichtungsgegenstände waren Originale, und ich hatte es sorgfältig mit Art-déco-Fundstücken eingerichtet. Einige davon waren Reproduktionen, aber alle stilecht. Nachdem ich mich von meinem Nervenzusammenbruch erholt hatte, hatte ich die Fassade mit einem frischen Anstrich in mediterranem Rosa versehen und den weitläufigen Vorgarten mit Rabatten von englischen Rosen neu bepflanzen lassen, sodass er majestätischer denn je aussah. Unser eigener kleiner Palast in L. A.

Als Matt das Auto parkte, schaute ich in den Rückspiegel und betrachtete unsere Austauschschülerin. Da sie jetzt den Schirm ihrer Baseballkappe nach hinten gedreht hatte, konnte ich ihr Gesicht besser sehen. Ihre dunklen Augen mit den langen Wimpern, die vollen, leicht geschürzten Lippen, die hohen Wangenknochen und das Kinn mit den tiefen Grübchen. Ihr staunender Blick erinnerte mich an Anabel, deren joie de vivre so einen harten Kontrast zu ihrem gewaltsamen Tod gebildet hatte. Mit einem entschlossenen Blinzeln verdrängte ich die schreckliche Erinnerung.

Die schöne, temperamentvolle Tanya würde diesem Haus das so dringend benötigte neue Leben einhauchen. Davon war ich überzeugt.

Wir lösten alle gleichzeitig unsere Sicherheitsgurte. Bis auf Paige, natürlich, die im Schneidersitz dasaß und in einem dicken Buch über Renaissancebildhauer las. Während Tanya und ich uns auf dem Heimweg angeregt über alles Mögliche unterhielten, was es in Los Angeles zu sehen und zu tun gab, sowie über die besten Einkaufsmöglichkeiten, steckte Paige die ganze Fahrt über ihre Nase in das Buch. Sie war schon immer verschlossen gewesen, aber seit dem Tod ihrer Schwester hatte sich das noch verstärkt. Sie sprach nie darüber – zumindest nicht mit mir. Aber vielleicht hatte ich ihr auch keine Gelegenheit dazu gegeben, als sie es am meisten gebraucht hätte.

Ich drehte mich um und sah meine Tochter an. »Paige, wir sind zu Hause. Bitte leg dein Buch weg, und schnall dich ab.«

Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, sagte sie mir, sie wolle ihr Buch zu Ende lesen und danach ihren Vater begleiten, wenn er Will abholte.

»Schön.« Ich kniff die Lippen zusammen, da ich vor Tanya keine Szene machen wollte, besonders nicht an ihrem ersten Tag hier. Außerdem verschaffte es mir die Gelegenheit, unseren neuen Hausgast besser kennenzulernen.

Matt sprang als Erster aus dem Auto, und mit mir und Tanya im Schlepptau brachte er ihre beiden Taschen zur Eingangstür. Mein Blick blieb an dem schlanken Körper meines Mannes haften. Selbst wenn er mir den Rücken zuwandte, machte er in seinen Designerjeans und dem eng anliegenden Hemd eine gute Figur. Groß, athletisch gebaut, mit breiten Schultern, schmalem Torso und langen, muskulösen Beinen – sein Körper war sein Tempel, und er trainierte regelmäßig. Sein Gesicht war das eines Filmstars, mit markanten, gemeißelten Zügen, beneidenswert dichten Augenbrauen und gewelltem rotbraunem Haar, das bereits erste Anzeichen von Grau zeigte, was ihn noch attraktiver machte.

Und er war reich. Nicht reich wie ein Milliardär, aber reich genug, um dieses Fünf-Millionen-Dollar-Haus zu kaufen, sich Luxusautos, Designerkleidung und Erste-Klasse-Reisen zu gönnen. Er schickte alle unsere Kinder auf Elite-Privatschulen und ermöglichte mir den Lebensstil einer Beverly-Hills-Hausfrau – eine tägliche Abfolge von Soul Cycle oder Pilates, Einkaufsbummeln auf dem Rodeo Drive, Mittagessen mit einer Freundin, hier und da ein Schönheitssalon und den philanthropischen Aktivitäten, die am jeweiligen Tag anstanden. Meine Freundinnen zogen mich damit auf, dass sie für einen Ehemann wie Matt töten würden. Er war der perfekte Ehemann.

Von wegen. Aber ich war auch nicht die perfekte Ehefrau. Wenn er meine Geheimnisse erführe, würde ich ihn bestimmt verlieren.

Stattdessen hatte ich Anabel verloren.

Ich verdrängte die finsteren Gedanken, als wir das Haus betraten.

Tanya quietschte. »Es ist innen genauso schön wie außen. Ich liebe es! Ich habe das Gefühl, ich könnte hier für immer leben!«

Das hatte ich auch, dachte ich, als Matt zu der schwarzen Limousine zurückkehrte und sie wieder zur Straße lenkte. Als ich die Haustür schloss, sah ich Paige auf dem Rücksitz, die Nase weiterhin in ihr Buch vergraben. Sie hatte kein einziges Mal Blickkontakt mit mir aufgenommen.

Manchmal dachte ich, dass sie mich hasst.

Nur nicht so sehr, wie ich mich manchmal selbst hasste.

Ein lautes Bellen, gefolgt vom Kratzen der Krallen auf dem glatten Parkettboden, beendete meinen Gedanken.

Ein riesiges pelziges Tier stürmte heran. Es steuerte direkt auf Tanya zu, stürzte sich auf sie, stellte sich auf die Hinterbeine, kläffte wie wild und warf sie fast um.

Tanya kämpfte um ihr Gleichgewicht und schrie, ihre Augen waren panisch weit aufgerissen.

Obwohl ich wusste, dass das Bellen harmlos und nur seine Aufregung war, mit der er jeden Besucher begrüßte, wäre ich an ihrer Stelle auch ausgeflippt. Unser großer brauner Hund sah bedrohlich aus.

Tanya geriet immer mehr in Panik, sie wurde ganz blass. »Nehmen Sie ihn weg! Ich habe Angst vor Hunden.«

»Keine Sorge. Er ist wirklich süß!«

»Bitte!« Ein verzweifeltes, erschrockenes Flehen.

Ich packte sein rotes Lederhalsband und versuchte ihn wegzuziehen. Er wog weit über hundert Pfund, reichte Tanya bis zu den Schultern und hatte eine beachtliche Energie, selbst mit nunmehr neun Jahren.

»Bear, aus!«, befahl ich. Er gehorchte sofort. »Guter Junge!«

»Danke …«, stammelte Tanya, die noch immer ganz mitgenommen wirkte.

Ich fühlte mich schrecklich. In den ersten Minuten, die die Austauschschülerin in unserem Haus verbrachte, passierte so etwas. Ich hatte die Kinder gebeten, ihn nach hinten in den Garten zu bringen, aber vielleicht hatten sie es nicht getan. Oder vielleicht hatte unsere langjährige Haushälterin Blanca ihn hereingelassen. Sie hatte eine Schwäche für unseren liebenswerten Hund, und es wäre nicht das erste Mal.

Ich bückte mich, packte ihn am Kragen, entschuldigte mich und stellte Bear Tanya vor. »Du brauchst keine Angst zu haben, meine Liebe. Er ist wirklich harmlos. Er ist eigentlich nur ein großer, süßer Teddybär.«

Die Kinder hatten um einen Hund gebettelt – Anabel ausgenommen, die nichts mit Gassigehen oder der Beseitigung seiner Hinterlassenschaften zu tun haben wollte. Matt war von der Idee auch nicht begeistert gewesen, aber als in unserer Nachbarschaft eine Reihe von Einbrüchen verübt wurde, änderte er seine Meinung und verkündete, wir könnten einen Hund bekommen, solange es ein Wachhund sei. Also gingen wir alle zum Tierheim und suchten nach dem größten Hund, den wir finden konnten. Und der war auch noch der süßeste. Wir brauchten ihn nur anzusehen mit seinen großen braunen Augen und dem Nehmt-mich-mit-nach-Hause-Blick, und er gehörte uns. Der entzückte vierjährige Will hatte ihm seinen Namen gegeben. »Mama, er sieht wie ein großer Teddy aus.« Und deshalb hieß er so: Bear. Ich werde nie vergessen, wie mein kleiner Junge unseren neuen Hund in die Arme nahm. Bear saß da und verteilte nasse, sabbernde Küsse über sein ganzes Gesicht.

Matt hatte sich damit abgefunden, weil er unseren Sohn nicht ärgern wollte. Später am selben Tag kaufte er zu meinem Entsetzen eine Handfeuerwaffe. Richtiger Schutz. Er bewahrte sie in unserem verschlossenen Safe auf. Geladen, versteht sich. Ich hoffte, wir müssten sie nie benutzen.

Tanya, die immer noch verängstigt wirkte, glaubte mir nicht. »Natalie, würden Sie ihn bitte von mir fernhalten?«

»Ja, natürlich. Ich bringe ihn nach draußen.« Zum Glück tobte unser Hund gerne in unserem großen Garten, und das Wetter war schön. Außerdem hatte er eine Hundehütte, in der er sich aufhalten konnte.

Als ich zurückkam, war Tanya weg.

Ich nahm an, dass sie in die Küche gegangen war, vielleicht um sich einen Tee zu machen.

Irrtum. Ich fand sie im Wohnzimmer. Sie bediente sich an einer teuren Flasche Cabernet aus unserer Bar.

»Dear, was tust du da?«, fragte ich, als sie die blutrote Flüssigkeit großzügig in ein Kristallglas goss und es fast bis zum Rand füllte.

»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Ich muss mich nach Bear erst mal beruhigen.« Sie setzte das Weinglas an ihre Lippen und trank einen großen Schluck. »Darf ich Ihnen auch etwas einschenken?«

Ich unterdrückte den Drang, sie zu tadeln. Und den Drang, Ja zu sagen. »Dein Vater erlaubt dir, Alkohol zu trinken?« Und das so früh am Tag? Es war noch nicht einmal fünfzehn Uhr.

Noch ein Schluck. »In Großbritannien ist es ab siebzehn erlaubt, zusammen mit einem Elternteil zu trinken.«

»Hmm. Das wusste ich nicht.«

Ich spürte einen Anflug von Schuldgefühlen. Manchmal hatte ich mir mit Anabel einen Schluck Wein gegönnt. Im Nachhinein wünschte ich, ich hätte es nicht getan. Vielleicht wäre sie dann noch hier bei uns.

»Tanya, mir wäre es trotzdem lieber, wenn du das Glas wegstellst und die Flasche zurückstellst.« Mit einem leichten Stirnrunzeln kam sie dem Wunsch nach. »Jetzt zeige ich dir dein Zimmer.«

Tanyas Gesicht hellte sich auf. »Ich bin schon so gespannt darauf!«

Mir wurde flau im Magen. Jetzt wünschte ich, ich hätte den Wein getrunken. Ich war seit über zwei Jahren nicht mehr in diesem Zimmer gewesen. Zumindest tagsüber nicht. Ich wappnete mich mit einem tiefen Atemzug und führte unsere Austauschschülerin die geschwungene Marmortreppe hinauf.

»Sei vorsichtig.« Ich hörte das Zittern in meiner Stimme, als ich nach hinten blickte, um nach ihr zu sehen. Meine neue Schutzbefohlene trug ihren schweren Rucksack und hatte darauf bestanden, auch ihren großen Koffer hochzutragen. So mühelos, wie sie die geschwungene Treppe heraufkam, schien sie in guter Verfassung zu sein, aber es beunruhigte mich trotzdem. »Halt dich am Geländer fest. Ich will nicht, dass du an deinem ersten Tag hier hinunterfällst.« Bei diesem Gedanken lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.

»Keine Sorge, Mrs. Merritt. Huch! Ich meine Natalie. Ich hab das im Griff.«

Zu meiner Erleichterung hielt sie sich mit der freien Hand an dem verschlungenen schmiedeeisernen Geländer fest, das ebenfalls zur Originalausstattung des Hauses gehörte. Ich atmete aus, als wir beide den Treppenabsatz erreichten.

Tanyas Blick zuckte nach links und rechts. »Wo geht es zu meinem Zimmer?«

»Nach rechts.«

Ich folgte ihr, als sie ihren Koffer durch den langen Flur zog. Er rollte leise über den glänzenden dunklen Eichenboden. Ich konnte nicht umhin zu bemerken, wie anmutig sich die schlanke, langbeinige junge Frau bewegte. Wie eine Gazelle.

»Sagen Sie mir, wann ich da bin!«, rief sie.

Wir kamen an Wills Zimmer, seinem Badezimmer, Paiges Zimmer und einem weiteren Badezimmer vorbei. Als wir zur letzten Tür am Ende kamen, sagte ich: »Halt!« Ich ging an ihr vorbei und drehte den Messingknauf. Dann stieß ich die Tür auf und wurde von einer Explosion aus schockierendem Rosa und Sonnenlicht getroffen. Mir wurde schwindlig. Und ein bisschen übel.

»Geht es Ihnen gut?« Tanya spürte, dass mit mir etwas nicht stimmte.

»J…ja. Ich bin nur ein bisschen erschöpft vom Treppensteigen«, log ich. Dank Pilates und Soul Cycling war ich in Bestform.

Ich schnappte nach Luft und ließ Tanya zuerst eintreten.

Ihre Augen weiteten sich, und sie keuchte. »Oh mein Gott, ich liebe es! Es ist wie das Zimmer einer Prinzessin.«

Das war es tatsächlich. Nichts hatte sich verändert, seit ich das letzte Mal darin gewesen war. Ich hatte Blanca angewiesen, das Zimmer genauso zu lassen, wie es zu Anabels Lebzeiten ausgesehen hatte. Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen, betrachtete das gerüschte Himmelbett mit all ihren kostbaren Stofftieren, die dazu passenden weißen Landhausmöbel, die Justin-Bieber-Poster, ihre Cheerleader-Trophäen und all die gerahmten Fotos, die ihr kurzes Leben dokumentierten. Es fehlte an nichts. Es war, als könnte Anabel jeden Moment hereinspazieren.

Tanya ließ ihre Taschen auf den rosafarbenen Flokatiteppich fallen, ging gleich zum Bett und breitete sich wie ein Seestern auf der Bettdecke aus. Sie blickte zum Baldachin hinauf und stieß einen langen, zufriedenen Seufzer aus.

»In diesem Bett könnte ich ewig schlafen. Es ist so schön!« Sie kuschelte wahllos eines von Anabels Stofftieren an ihre Brust. Einen Moment lang spielte mein Verstand mir einen Streich. Ich sah Anabel und nicht Tanya. Ich blinzelte die Fata Morgana weg, als ich ihre Stimme und ihren Akzent hörte.

»Unfassbar, dass Sie dieses Zimmer extra für mich eingerichtet haben. Es hat alles, was ich mir überhaupt nur wünschen könnte.«

Mir wurde eng um die Brust. Ich kaute auf meiner Unterlippe. »Eigentlich gehörte es meiner anderen Tochter.« Eine schmerzhafte Pause. »Anabel.«

Unser neuer Familiengast setzte sich auf, ihre langen Beine baumelten über die Bettkante. Sie umklammerte das Plüschtier, einen niedlichen Koala, und sah mich überrascht an.

»Ich wusste nicht, dass Sie noch eine Tochter haben.«

»Hatte«, korrigierte ich, und Tränen brannten in meinen Augen. »Sie ist vor ein paar Jahren gestorben.«

»Oh, das tut mir sehr leid!«

»Ich hätte es dir sagen sollen …«

»Wie alt war sie?«

»Sechzehn.« Sweet little sixteen.

Tanya schlug eine Hand vor den Mund. »Ach du meine Güte! Das ist so jung. Ist es okay, wenn ich frage, wie sie gestorben ist?«

Mein Herz schlug unregelmäßig. »Ich möchte lieber nicht darüber reden.«

»Verstehe. Das muss trotzdem sehr schwer für Sie sein.«

Ich schätzte ihr Einfühlungsvermögen und zwang mich, die schreckliche Erinnerung zu verdrängen und mich wieder auf unsere neue Mitbewohnerin zu konzentrieren. »Liebes, ich möchte, dass du dich hier wie zu Hause fühlst.«

Tanya warf den Koala auf das Bett, sprang heraus und sah sich im Zimmer um. »Kann ich ein bisschen umgestalten? Sie wissen schon, ein paar eigene Sachen hinzufügen?«

Im Nachhinein betrachtet, hätte ich Anabels persönliche Dinge wegpacken sollen. Ihre Fotos, die Poster und ihre geliebten Plüschtiere. Letztere weckten bei mir bittersüße Erinnerungen; jedes Jahr hatte ich ihr eines zum Geburtstag geschenkt. Leider war der Koala das letzte gewesen.

»Ja«, antwortete ich, »solange du die Möbel nicht umstellst. Du kannst einen Teil deiner Kleidung in ihre Schubladen legen, sie sind leer. Und den Rest in ihren Kleiderschrank. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass noch viele ihrer Kleider darin aufbewahrt werden, aber für deine müsste noch Platz sein.«

»Keine Sorge. Ich habe nicht viel mitgebracht. Wäre es okay, wenn ich mir etwas leihen würde?«

Ich zögerte, sagte dann aber Ja. Ich wollte nicht, dass unsere Austauschschülerin mich für eine besessene Verrückte hielt. Was ich in Wahrheit war. »Du hast wahrscheinlich die gleiche Größe. Pass einfach gut auf die Sachen auf.«

»Natürlich.« Sie nahm ihre Baseballkappe ab und fuhr sich mit den schlanken Fingern durch ihre langen Platinlocken. »Natalie, vielleicht könnten Sie mich Ende der Woche zum Shoppen mitnehmen. Ich könnte wirklich eine L.-A.-Garderobe gebrauchen.«

Ich lächelte. »Das mache ich gern. Sagen wir, morgen nach der Schule?«

»Cool! Ich danke Ihnen. Oh, und Natalie, eins noch: Ich muss dringend aufs Klo.« Sie kicherte. »Ich meine ins Bad. Können Sie mir zeigen, wo es ist?«

Ich deutete auf eine andere Tür. »Es ist gleich da drüben. Es hat eine Verbindungstür zu Paiges Zimmer.«

Sie verzog das Gesicht, ihre tiefschwarzen Brauen zogen sich zusammen. »Was! Im Ernst? Ich soll es mit ihr teilen?«

Ihr Tonfall war etwas befremdlich, aber vielleicht war sie auch nur müde und brauchte etwas Zuspruch. »Ja, Dear. Aber mach dir keine Sorgen. Es gibt zwei Waschbecken. Und Paige ist sehr ordentlich. Ich bin sicher, ihr beide werdet das schon hinkriegen.«

»Ich glaube auch.« Ihr Gesicht entspannte sich, aber ohne ein Lächeln.

Anabel war nie gut darin gewesen, das Bad mit Paige zu teilen. Die meiste Zeit hatte sie es in Beschlag genommen. Ich hoffte, dass es mit Tanya anders sein würde.

»Na, dann komm erst mal an. Du kannst duschen und etwas schlafen, wenn du willst, aber komm bitte um halb sieben zum Abendessen ins Esszimmer.«

»Perfekt!« Das Lächeln kehrte zurück. »Ich bin gespannt.«

Sie kam zu mir und umarmte mich. »Nochmals vielen Dank, Natalie, dass Sie mir diese unglaubliche Chance gegeben haben. Ich möchte …« Sie stockte mitten im Satz. »… ein Teil Ihrer Familie sein, solange ich hier bin. Der perfekte Hausgast.«

Ihre Worte berührten mich. Und die Wärme ihrer Umarmung war tröstlich. Ich spürte einen Anflug von Optimismus. Es würde mir guttun, ein weiteres Mädchen im Teenageralter im Haus zu haben.

Als sie mich fester drückte, wurde es mir eng um die Brust, und ich spürte, dass ich zitterte.

Würde Anabels Geist zurückkehren und mich heimsuchen?

DREI

Paige

Auf der Fahrt zu meinem Bruder hatte ich beschlossen, Tanya eine Chance zu geben. Sie wirkte zwar ein bisschen oberflächlich, aber trotzdem ganz nett. Nicht so hochnäsig wie meine Schwester. Oder so eitel. Das Mindeste, was ich tun konnte, war, es zu versuchen … aber das hier?

»Was machst du in meinem Zimmer?« Ich zwang mich, so ruhig wie möglich zu fragen.

»Oh, hallo!«, sagte sie fröhlich, ohne aufzublicken.

Unsere neue Austauschschülerin lag zusammengerollt auf meinem Bett und lackierte sich die Zehennägel. Okay, ich sah ein, dass ich das Badezimmer mit ihr teilen musste, aber das war nicht akzeptabel. Vor allem nicht, ohne mich zu fragen. Ich versuchte, die Fassung zu bewahren, aber es war nicht leicht.

Sie hatte ihr eigenes Zimmer – das meiner Schwester – auf der anderen Seite des Badezimmers. Man nannte so etwas eine »Jack-and-Jill«-Suite – es gehörte zu den sogenannten charmanten Details, die meine Mutter von diesem Haus überzeugt hatten. Sie hatte geglaubt, dadurch würden meine Schwester und ich uns besser kennenlernen. Als wir hierherzogen, war Anabel dreizehn gewesen, schon groß und schlank mit einem pfirsichfarbenen Teint; ich war zwölf, mit Babyspeck, Zahnspange und Pickeln. Unsere Hormone brodelten, ich hasste sie, und sie hasste mich. Meine Mutter hatte sich geirrt. Total geirrt.

Das Badezimmer mit einer Schwester zu teilen, die mehr Zeit vor dem Spiegel verbrachte als jedes andere Mädchen, das ich kannte, war das Allerletzte. Und sie nahm Bäder und Duschen, die tagelang zu dauern schienen. Ich kam mir immer so vor, als ob ich einen Termin vereinbaren müsste, um in Ruhe pinkeln, kacken oder duschen zu können.

Manchmal hätte ich sie am liebsten erwürgt, und das hatte ich ihr auch ins Gesicht gesagt. Obwohl ich mir nie ernsthaft gewünscht hatte, dass meine Schwester stirbt, musste ich zugeben, dass es schön war, das Badezimmer für mich allein zu haben, seit sie weg war. Ich hatte meine Mutter gedrängt, unserer Austauschschülerin das Gästezimmer zu überlassen, das sie als Büro nutzte, aber sie weigerte sich strikt mit der Begründung, sie brauche ihren persönlichen Freiraum, »ein eigenes Zimmer«, da die Galasaison vor der Tür stehe. Meine Mutter war im Vorstand zahlreicher kultureller Einrichtungen und philanthropischer Stiftungen und leitete immer irgendein Komitee, das Spendenaktionen organisierte. Im Gegensatz zu mir, die sich eher als Einzelgängerin durchschlug, war sie ein Gemeinschaftswesen. So ähnlich wie meine Schwester es gewesen war.

Die Arme vor der Brust verschränkt, wartete ich auf eine Antwort. »Und?«, fragte ich und hob etwas die Stimme.

Sie konzentrierte sich auf ihre Zehen und nahm immer noch keinen Blickkontakt mit mir auf, während sie ihren Kaugummi kaute. »Wonach sieht es aus? Ich lackiere meine Zehennägel. Gefällt dir die Farbe? Ich habe die Flasche in meinem Zimmer gefunden.«

Mein Zimmer. Ihr Gebrauch des Possessivpronomens traf mich wie ein Pfeil. Es war nicht ihr Zimmer. Es gehörte meiner Schwester. In Wahrheit gehörte ihr nichts in diesem Haus. Ich hatte nicht einmal eine Stunde mit diesem Mädchen verbracht, und die Wahrscheinlichkeit, dass ich sie mögen würde, verringerte sich von Sekunde zu Sekunde.

»Raus. Aus. Meinem. Bett.«

»Wow! Da braucht aber jemand eine Beruhigungspille.« Sie machte eine Kaugummiblase und ließ sie laut platzen. »Ich dachte, es würde Spaß machen, zusammen abzuhängen. Einander kennenzulernen. Aber keine Sorge, ich bin fast fertig.«

Ich kochte innerlich – und ich musste mich wirklich zusammenreißen – und sah ihr dabei zu, wie sie von einem Zeh zum anderen wechselte. Ich registrierte unwillkürlich, wie schlank und gewölbt ihre Füße waren, wie zierlich ihre Zehen. Der rote Metallic-Nagellack ließ ihre Zehennägel wie kleine Edelsteine aussehen und erinnerte mich sowohl an die Füße meiner Schwester als auch an die meiner Mutter. Wie alles andere hatte ich die Plattfüße meines Vaters geerbt und hatte stummelige Zehen. Und vom Basketballspielen und dem ganzen Training waren meine Zehennägel völlig ruiniert. Zackig und abgebrochen. Ein paar waren eingewachsen. Meine Mutter drängte mich immer, meine Füße besser zu pflegen und mit ihr zur Pediküre zu gehen, was sie mit Anabel wöchentlich getan hatte.

Nein danke.

Wut kochte in mir hoch, während Tanya sich Zeit ließ und vorsichtig den Nagellack auftrug. Ich hatte den brennenden Wunsch, ihr die Bettdecke unter den Füßen wegzuziehen, und ballte meine Hände zu Fäusten, um es nicht zu tun. Wutmanagement war definitiv nicht meine Stärke. Diese Eigenschaft hatte ich auch von meinem temperamentvollen Vater geerbt. Dachte ich jedenfalls.

Sie strich sich immer noch mit dem Pinsel über die Nägel und strich mit der freien Hand eine Strähne ihres verdächtig blonden Haars aus dem Gesicht. »Deine Mutter ist wirklich nett. Bevor sie mir mein Zimmer zeigte, habe ich mit ihr ein Glas Wein getrunken. Einen köstlichen kalifornischen Cab…«

Ich unterbrach sie. »Meine Mutter hat dir Alkohol erlaubt? Du bist doch noch nicht einundzwanzig, oder?«

Sie ließ eine weitere Kaugummiblase platzen. »Ich bin siebzehn, aber in Großbritannien darf man in Begleitung eines Erwachsenen zu Hause trinken. Papa und ich trinken gern etwas zusammen, wenn er in der Stadt ist.«

Meine Eltern würden mir lebenslangen Hausarrest geben, wenn sie mich beim Trinken erwischten – mit ihnen oder ohne sie. Oder wenn ich wie eines dieser verwöhnten Gossip Girls die Hausbar plündern würde. Ich fragte mich immer, ob sie gewusst hatten, dass Anabel bereits im zarten Alter von dreizehn Jahren heimlich Stoli Wodka und Jack Daniel’s aus der Bar meines Vaters stibitzte. Falls ja – warum hatten sie ihr das durchgehen lassen?

Tanya unterbrach mich in meinen Gedanken. »Wie auch immer, deine Mutter hat mir viel von euch erzählt.«

Ich wollte nichts davon hören. Die perfekte Familie. Perfekte Lügen. Das löste Wein bei meiner Mutter aus. Er gab ihr Fluchtmöglichkeiten. Zusammen mit Xanax und all den sorgfältig geplanten Aktivitäten, die jede Minute ihres faden Lebens ausfüllten.

»Was genau macht dein Vater eigentlich?«, fragte sie.

»Er ist Vermögensverwalter.«

Eigentlich verstand ich nicht richtig, was mein Vater tat. Er sagte, er investiere das Geld anderer Leute, sein Kundenstamm bestehe aus Prominenten und Mogulen. Es war eine Win-win-Situation. Sie verdienten Geld, er verdiente Geld. Und wir konnten in diesem großen Haus wohnen, uns schicke Urlaube leisten und was reiche Leute sonst noch auszeichnete. Doch alles Geld der Welt brachte mir meine Schwester nicht zurück. Der nächste Tag, das hatte ich erfahren, ist niemandem garantiert.

»Was ist mit deinem Vater?«, fragte ich Tanya und tat so, als ob ich das nicht wüsste.

»Hat deine Mutter dir das nicht gesagt?«

»Nein«, log ich. »Ich weiß ehrlich gesagt nicht viel über dich.« Das war zumindest wahr.

Sie blickte nicht von ihren Füßen auf. »Papa ist Diplomat. Er reist durch die ganze Welt. Deshalb hat er mich in ein Internat geschickt.«

»Und deine Mutter?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Oh, sie ist tot. Sie starb, als sie mich zur Welt brachte.«

»Das tut mir leid.« Das waren die einzigen Worte, die mir in den Sinn kamen. Das Mindestmaß an Freundlichkeit.

»Das muss es nicht. Ich habe sie nie kennengelernt.« Sie machte eine kleine Pause. »Es ist nicht so, als hätte man seine Schwester verloren. Das muss furchtbar gewesen sein.«

»Woher weißt du das?«

»Deine Mum hat es mir erzählt.«

Mein Blut geriet in Wallung. Was hatte sie ihr für Lügen aufgetischt? Nicht einmal ich kannte die Wahrheit über den Tod meiner Schwester. »Und was genau hat sie dir erzählt?«

Tanya untersuchte ihre Zehen. Ein Fuß war fertig. »Sie wollte nicht darüber reden.«

Gut, denn ich wollte auch nicht darüber reden. Hätte meine Schwester überlebt, wäre sie wahrscheinlich vom Hals abwärts querschnittsgelähmt, an einen Rollstuhl gefesselt und auf andere angewiesen gewesen – für sie, die so freiheitsliebend und gesellig war, wäre das ein schlimmeres Schicksal gewesen als der Tod. Vielleicht war es also ein Segen, dass sie gestorben war. Glück im Unglück.

Glücklicherweise hielt mich Tanya davon ab, an diesen verhängnisvollen Tag zurückzudenken, und wechselte das Thema. »Ich freue mich schon darauf, deinen Bruder Will kennenzulernen.«

»Er ist nervig«, antwortete ich. Ich wollte ihn nicht mit ihr teilen. Kein bisschen.

Schwungvoll tupfte sie sich einen Tropfen Lack auf ihren linken kleinen Zeh. »Es ist schön, Teil einer Familie zu werden. Und zum ersten Mal in meinem Leben eine Mutter zu haben.«

Sie ist nicht deine Mutter, hätte ich am liebsten gesagt, aber ich hielt den Mund, weil ich froh war, dass sie fertig war.

»Soll ich dir auch die Nägel machen?«, fragte sie zuckersüß.

»Danke, nein.«

»Kein Problem. Vielleicht ein anderes Mal.«

Sie stellte den Nagellack auf meinen Nachttisch, kletterte vorsichtig von meinem Bett und stellte sich auf die Fersen, wobei ihre bemalten Zehen zur Decke zeigten.

»Hey, hast du ein paar Flip-Flops, die du mir leihen kannst? Ich will meine Nägel nicht ruinieren.«

Ich bin mir sicher, dass ich irgendwo ein Paar versteckt hatte, aber ich wollte nichts mehr mit diesem Mädchen teilen. Ich verneinte.

»Kein Ding. Ich werde ein Paar auf meine Einkaufsliste setzen.« Ich sah zu, wie sie zur Tür des Badezimmers ging, das unsere Zimmer miteinander verband, und dabei auf ihren hochgebogenen Füßen stakste.

»Ich schlafe jetzt ein bisschen. Ich will nicht, dass mich der Jetlag vom Abendessen abhält. Mein erstes Familienessen seit Ewigkeiten!« Sie winkte mir mit wackelnden Fingern zu. »Bis dann. Wir sehen uns.«

Sobald sie verschwunden war, rannte ich zur Badezimmertür und sperrte sie ab. Klick. Ich wollte nicht, dass sie wieder in mein Zimmer kam. Dann eilte ich zur anderen Tür und versuchte, auch sie abzuschließen. Aber das verdammte Schloss klemmte. Wahrscheinlich war es so alt wie dieses Haus. Mein Bruder Will würde es reparieren. Er konnte alles reparieren. Ich wette, er konnte sogar einen neuen Türknauf einbauen, mit dem die Tür auch von außen abzuschließen war. Also stand ein Ausflug zum Eisenwarenladen im nahe gelegenen Larchmont Village ganz oben auf der Tagesordnung.

Und ein neuer Türknauf war nicht das Einzige, was ich kaufen würde. Ich verzog meine Mundwinkel und lächelte tückisch.

VIER

Natalie

Zum ersten Mal seit Anabels Tod genoss ich unser Abendessen. Auch wenn die meisten Familien heutzutage in der Küche zu Abend essen, zog ich unser richtiges Esszimmer vor. Wenn wir schon eins hatten, konnten wir es auch nutzen. Wegen unserer vielen, sich teilweise überlappenden Termine war das die einzige Mahlzeit, die unsere Familie gemeinsam einnahm, obwohl sowohl Paige als auch Will lieber in ihren Zimmern gegessen hätten. Doch das konnten sie sich abschminken. Da gab es kein Wenn und Aber, und mein Mann vertrat dabei voll und ganz meine Linie.

Abendessen waren meine Leidenschaft. Die Mahlzeiten wurden im Voraus geplant, und ich war immer ab fünf Uhr zu Hause, um alles vorzubereiten. Es war eine andere Form von Entspannung, und ich liebte es, neue Rezepte auszuprobieren und dabei ein Glas Wein zu genießen. Ich hatte einmal gelesen, dass selbst gekochte Mahlzeiten für die Familie ein Liebesbeweis sind. Meine Mutter, der ich völlig gleichgültig war, hatte nie in ihrem Leben gekocht, also gab es Grund zu der Annahme, dass das der Wahrheit entsprach.

Ob meine Familie das auch so sah, konnte ich jedoch nicht unbedingt sagen. Sie lobten meine Kochkünste nie, egal wie viel Mühe ich mir gegeben hatte. Paige und Will redeten nur, wenn sie angesprochen wurden, und beantworteten Fragen so knapp wie möglich, oft nur mit einem einzigen Wort.

»Wie war dein Tag?«

»Okay.«

»Was hast du gemacht?«

»Zeug.«

»Irgendwas Besonderes?«

»Mm-hm.«

Als Anabel noch lebte, freute ich mich auf das Abendessen, denn auch wenn Paige streitlustig war und Will einsilbig, verströmte sie positive Energie. Die aufgeschlossene Anabel liebte es, von ihrem Tag zu erzählen und von meinem zu hören. Sie brachte es sogar fertig, meinen arbeitswütigen Ehemann einzubinden, und ließ die bissigen Bemerkungen ihrer Schwester an sich abperlen. Seit ihrem Tod waren auch die Gespräche am Esstisch verstummt.

Aber heute Abend war es anders, mehr wie in alten Zeiten. Tanya war aufgeregt und lebhaft. Und sie stürzte sich auf meine gegrillten Lammkoteletts mit Rosmarin und Knoblauch, als hätte sie seit Ewigkeiten keine anständige Mahlzeit mehr gegessen. Vielleicht stimmte das auch. Sie war ziemlich dünn. Vielleicht war das Essen in ihrem Internat ja nicht besonders gut.

»Mrs. Merritt – ich meine Natalie –, die sind köstlich!« Mit einem breiten Lächeln gabelte sie ein weiteres Stück von dem zarten rosafarbenen Fleisch auf.

»Danke. Es freut mich, dass sie dir schmecken. Ich habe sie auf dem Original Farmers Market von meinem Metzger gekauft. Der Markt ist ein Wahrzeichen von Los Angeles aus den Dreißigerjahren, direkt neben The Grove, einem meiner Lieblings-Einkaufszentren. Dort gibt es Nordstrom und eine Sephora-Parfümerie. Und viele andere tolle Geschäfte und Restaurants. Ich kann es kaum erwarten, es dir zu zeigen.«

Tanyas Augen funkelten vor Aufregung. »Und ich kann es kaum erwarten, da hinzugehen! Das hört sich alles so toll an.«

Erfreut nahm ich noch einen Schluck von meinem Pinot Noir und bemerkte, dass Paige die Koteletts nicht angerührt hatte. Widerwillig aß sie nur den Gurkensalat, die Bohnen mit Mandeln und den Reispilaw. Ich wandte mich an sie.

»Paige, was ist los? Schmecken dir die Lammkoteletts nicht?«

Sie beantwortete meine Frage mit einer Gegenfrage. »Sind diese Bohnen und der Reis mit Butter gemacht?«

»Ja, natürlich. Das macht sie schmackhafter.«

Mit einem entsetzten Gesicht spuckte sie einen Mundvoll Reis aus. »Igitt! Ich habe es dir schon hundertmal gesagt. Ich bin Veganerin. Ich esse keine tierischen Produkte mehr.«

»Wow! Das ist so nobel von dir«, kommentierte Tanya und schnitt in eines ihrer Koteletts. »Das würde mir wirklich schwerfallen.« Paige warf Tanya einen finsteren Blick zu, dann sah sie uns alle an. »Ihr seid doch alle ein Haufen Kannibalen. Ihr würdet euch wahrscheinlich gegenseitig auffressen, wenn ihr könntet.«

Ich warf ihr einen strengen Blick zu. »Es reicht, Paige. Iss, was du willst, aber verurteile uns nicht. Und erzähl mir nachher nicht, dass du Hunger hast.«

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, stocherte sie weiter in ihrem Gemüse herum. Hoffentlich entwickelte sie keine Essstörung.

Zu meiner Erleichterung schlug Tanya ein anderes Thema an.

»Mr. Merritt …«

»Matt«, korrigierte er.

Sie lächelte und errötete bis zu den Ohren. So schöne Wangenknochen. Wenn auch nicht ganz so hoch wie die von Anabel oder mir.

»Matt …« Sein Name klang weich aus ihrem Mund. »Paige hat mir erzählt, dass Sie Vermögensverwalter sind. Das klingt faszinierend.«

Mein Mann freute sich, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, und seine mürrische Miene hellte sich auf. Im Laufe der nächsten zwanzig Minuten lösten Tanya und er einander mit Fragen und Antworten ab, und ich erfuhr Details über den Beruf meines Mannes, von denen ich bis dato nichts gewusst hatte. Ich trank mein zweites Glas Wein, während die beiden weiter scherzten. Mit großen Augen hing Tanya förmlich an seinen Lippen. Als wäre jedes einzelne Wort eine Offenbarung.

»Wo haben Sie studiert?«, wollte sie wissen.

»Grundstudium in Stanford und dann die Business School.«

»Ernsthaft? Da will ich auch hin!«

Paige spitzte die Ohren, während mein Mann sich den Mund mit der Serviette abwischte.

»Es ist eine großartige Schule. Eine der besten im ganzen Land. Wir haben entschieden, dass sich Paige dort verbindlich bewirbt.«

Meine Tochter warf ihrem Vater böse Blicke zu. »Du weißt, dass ich nicht nach Stanford will. Ich will an die RISD

Riz-Dee. Die Rhode Island School of Design. Als ich einst davon träumte, Illustratorin zu werden, wollte ich genau diese Schule besuchen. Daraus ist nichts geworden.

Matt runzelte die dichten Brauen und ließ Paiges böse Blicke an sich abprallen. »Darüber wird nicht diskutiert. Keine meiner Töchter – oder Söhne – geht auf irgendeine Heiopei-Designschule. Man braucht eine richtige Ausbildung, um in dieser Welt weiterzukommen. Wenigstens Tanya scheint das zu verstehen.«

Bei der Erwähnung ihres Namens strahlte unser Gast wie eine Laterne.

Sie starrte meinen Mann an, als wäre er Gott.

Matts Augen waren dunkel, schmal und kalt und blieben auf unsere trotzige Tochter gerichtet. Er knallte sein Besteck auf den Tisch, aber ich war dankbar, dass er weder Gabel noch Messer in das kostbare Satinholz rammte. Sein Temperament war im Laufe der Zeit immer heftiger geworden. »Paige, du bewirbst dich in Stanford, also fängst du besser bald mit den Essays an, die ja in Kürze fällig sind. Ende der Diskussion.«

»Matt, was ist eine verbindliche Bewerbung?«, fragte Tanya und legte den Kopf schief, während Paige schmollte. »Ich bin nicht so vertraut mit dem amerikanischen College-Bewerbungsverfahren.«

Matt wandte sich zu ihr. »Das heißt, man bewirbt sich vorzeitig und nur bei einem College. Wenn sie dich annehmen, musst du dich verpflichten, dort auch anzutreten.« Er nahm einen weiteren herzhaften Bissen von seinen Koteletts. »Tanya, wenn du wirklich nach Stanford gehen willst, solltest du das tun. Paige kann dir helfen, ein Bewerbungsformular herunterzuladen, und falls sie keine Lust dazu hat, kann ich es gerne. Oder du kannst meinen Sohn, Will, fragen. Er ist ein Computercrack.«

Will fuhr sich mit der Hand durch seine kastanienbraunen Locken und verdrehte seine grünen Augen. »Quatsch. Das ist doch nicht schwer. Selbst ein dummes Mädchen kann das.«

Das waren mehr Worte, als er seit Langem am Esstisch gesagt hatte. Ich ertappte Paige, die schmunzelte. Tanya wirkte beleidigt, aber das konnte ich ihr auch nicht verübeln. Ich war froh, dass sie es auf sich beruhen ließ. Ich hatte keine Lust auf einen Streit am Tisch.

»Apropos Schule, wer freut sich auf seinen ersten Schultag morgen?«

Will und Paige sahen mich beide an, als hätte ich sie gebeten, die Toilette zu putzen oder Hundekot aufzusammeln. Fast wie aufs Stichwort ertönte ein Bellen.

Will blickte von seinem Teller auf und wirkte perplex. »Wieso ist Bear noch im Garten?«

»Schatz, Tanya hat Angst vor ihm. Wir müssen ihn draußen lassen, wenn sie nicht oben in ihrem Zimmer ist.«

Mein Sohn runzelte die Stirn. »Das ist unfair!«

»Auf jeden Fall!«, stimmte Paige zu. Sie setzte sich immer und unbedingt für ihren Bruder ein. »Er gehört zur Familie und sollte drinnen bei uns sein. Will könnte ihn doch mit in sein Zimmer nehmen, wenn sie da ist?«

»Okay, das könnte funktionieren.« Ich sah Tanya an. »Wäre das in Ordnung für dich, Dear?«

»Klar.« Ich hörte die Ablehnung in ihrer Stimme. Glücklicherweise gab niemand einen weiteren Kommentar ab. Das Problem war gelöst, und ich klatschte in die Hände. »Und jetzt sagt doch bitte – Wer freut sich auf den Schulbeginn morgen?«

Paige und Will widmeten sich wieder ihren Mahlzeiten und schwiegen wie üblich am Esstisch. Manchmal hätte ich sie am liebsten geschüttelt.

»Ich!«, meldete sich Tanya. »Coldwater Academy klingt toll.«

Mit einem zustimmenden Nicken zeigte Matt ihr einen erhobenen Daumen. »Es ist die beste Privatschule in Los Angeles. Vielleicht sogar in ganz Kalifornien. Man sollte meinen, meine beiden Kinder müssten dankbar sein, so eine hervorragende Ausbildung zu bekommen – aber das sind sie nicht. Manchmal denke ich, wir sollten sie herunternehmen und auf eine öffentliche Schule schicken. Da bekommen sie einen Vorgeschmack auf die reale Welt.«

»Matt, hör auf!«, bat ich. »Ich bin sicher, dass sie zu schätzen wissen, was wir ihnen geben.«

»Darf ich bitte aufstehen?«, fragte Paige.

»Ich auch«, setzte Will nach. »Ich bringe Baer auf mein Zimmer.«

Ohne die Erlaubnis abzuwarten, sprangen die zwei von ihren Stühlen auf und stürmten aus dem Esszimmer. Sie waren wie eine Zwei-Personen-Armee. Manchmal dachte ich, wenn sie eine Waffe besäßen, würden sie sie gegen mich und ihren Vater richten. Ich hatte Horrorgeschichten über Eltern gelesen, die von ihren Kindern erschossen wurden, was meinen Kampf mit Matt um die Waffe, die er gekauft hatte, nur verschärfte. Ein Kampf, von dem ich wusste, dass ich ihn nie gewinnen würde.

»Natalie«, sagte Tanya und riss mich aus meinen Gedanken, »das war das beste Essen, das ich je hatte. Kann ich Ihnen helfen, den Tisch abzuräumen?« Ich war angenehm überrascht. So etwas hatten mir weder Paige noch ihr Bruder jemals angeboten. Auch mein arbeitssüchtiger Mann nicht, der nach dem Essen immer gleich für ein oder zwei Stunden in seinem Büro verschwand. Ich lächelte sie freundlich an.

»Darling, das ist ganz lieb von dir, aber es ist wirklich nicht nötig.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut. Du könntest doch nach oben gehen und etwas mit den Kindern machen? Oder entspann dich in deinem Zimmer. Morgen steht dir ein großer Tag bevor.«

Sie erwiderte mein Lächeln, wünschte mir und Matt höflich eine gute Nacht und bedankte sich ausgiebig für unsere Gastfreundschaft, bevor sie ging.

»Was für ein nettes Mädchen«, sagte mein Mann. »Vielleicht färben ihre Dankbarkeit und ihr gesunder Menschenverstand auf Paige ab.«

Ich lachte leise. Als ich aufstand, um den Tisch abzuräumen, dachte ich an Tanya.

Ich begann bereits, sie wie mein eigen Fleisch und Blut zu lieben.

FÜNF

Paige

Der Weckton des Handys dröhnte in meinen Ohren. Ich wurde schlagartig wach und riss die Augen auf. Es war der erste Schultag. Mein letztes Jahr auf der Highschool. Gott sei Dank. Ich wollte wirklich da weg, wollte Gleichgesinnte finden und all die Hater hinter mir lassen. Grollend setzte ich mich auf und taumelte dann ins Bad.

Ich entriegelte die Tür und schwang sie auf. Als mir ein Hitzeschwall entgegenkam, weiteten sich meine verschlafenen Augen. Das dampfende Badezimmer war ein einziges Chaos. Auf dem weißen Kachelboden breitete sich neben einem Haufen feuchter, zerknüllter Handtücher eine Wasserpfütze aus. Die Toilette war mit Gott-weiß-was verstopft, und mein Föhn, der immer noch heiß war, baumelte gefährlich darüber. Alle meine persönlichen Hygiene- und Pflegeprodukte waren benutzt worden. Von der Zahnpasta und dem Deodorant bis hin zur Feuchtigkeitscreme und dem Haarbalsam. Nichts davon war wieder weggeräumt worden. Sie hatte sogar mein Waschbecken benutzt, in dem jetzt lauter lange goldblonde Haare klebten. Igitt! Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, um sie anschreien oder erwürgen zu wollen, war jeder Quadratzentimeter des mit Minz-Mundwasser bekleckerten Tresens mit ihren Kosmetikartikeln und ihrem Make-up vollgestellt. Wimperntusche. Eyeliner. Lipgloss und mehr. So viel mehr. Der Raum sah aus wie das Innere eines Drogeriemarktes nach einem Erdbeben der Stärke  6. Die totale Katastrophe.

Diese verdammte Tanya!

Ich wurde richtig sauer und fluchte laut. Wütend drehte ich den Knauf der Tür zu ihrem Schlafzimmer und stieß sie mit solcher Wucht auf, dass ich fast hineinstolperte. Scheiß auf Jack und Jill! Die abgewrackten Geschwister oder was auch immer sie waren, sollten von mir aus in der Hölle schmoren. Und ich verstand immer noch nicht, warum sie nebeneinander liegende Schlafzimmer nach irgendeinem blöden Kinderreim benannt hatten.

»Guten Morgen!«, zwitscherte Tanya, als ich mein Gleichgewicht wiederfand. Ihre Stimme klang so hell wie ein Sonnenstrahl, meine so dunkel wie eine Gewitterwolke.

»Wie kannst du es wagen, das Bad so zu hinterlassen!«

Obwohl ich keineswegs eine Ordnungsfanatikerin war, mochte ich es sauber und aufgeräumt. Das wenigstens hatte meine narzisstische Schwester mit mir geteilt. Ich hatte das Badezimmer noch nie in einem so desolaten Zustand gesehen wie heute Morgen. Und ich fühlte mich total missbraucht, weil sie alle meine Sachen benutzte. Sie trug sogar meinen marineblauen Velours-Bademantel! Und sie stylte ihr geföhntes Haar mit meiner Entwirr-Haarbürste. Da waren jetzt bestimmt Läuse drin.

»Paige, das tut mir leid. Ich wollte es hinterher aufräumen, aber du hast mir ja keine Gelegenheit dazu gelassen. Ich hätte nicht gedacht, dass du so früh aufwachst wie ich.«

»Räum das jetzt sofort weg!«, befahl ich und wünschte mir, ich hätte mit meinem Handy ein Foto von dem Chaos gemacht. »Und leg meine Haarbürste weg!« – Obwohl das eigentlich egal war, denn ich würde mir sowieso eine neue kaufen müssen.

»Kein Problem.« Sie huschte ins Bad, und ich folgte ihr und ging in mein Zimmer, wobei ich die Verbindungstür hinter mir zuschlug. Sie stimmte einen der Lieblingssongs meiner Schwester an, Britney Spears’ »Oops! … I did it again«. Sie sang vollkommen falsch. Dann hörte ich die Toilettenspülung. Ich verabscheute die Vorstellung, den Toilettensitz mit ihr teilen zu müssen. Höchstwahrscheinlich hatte sie eine Art Geschlechtskrankheit, und ich steckte mich an.

Am liebsten hätte ich ihr den Mund mit Toilettenpapier verstopft und sie runtergespült.

Eine halbe Stunde später war ich bereit für meinen ersten Schultag. Tanya hatte das Bad inzwischen halbwegs vernünftig aufgeräumt. Es war zwar nicht perfekt, aber die heiße Dusche spülte viel von meinem Ärger weg. Ich begutachtete mich zum letzten Mal mit einem Blick in den Spiegel auf meiner Kommode und war zufrieden mit dem, was ich sah. Ich trug genau die richtige Menge Make-up, meine Haare sahen nicht zu buschig aus, und meine abgeschnittenen Jeans und mein buntes T-Shirt (beides Secondhand) schmeichelten meiner sportlichen Figur. Ich schnappte mir meinen Rucksack und ging zu meiner Zimmertür, aber als ich in den Flur trat, bekam ich den zweiten Schock des Morgens. Diesmal blieb mir fast das Herz stehen.

»Was machst du in den Sachen meiner Schwester?«, fuhr ich sie an, als mein Herz wieder schlug.

Tanya trug Anabels weißen gerüschten Minirock, der ihre langen gebräunten Beine zur Geltung brachte, und ein korallenrotes Neckholder-Top, das ihre ebenso straffen Arme und ihr ausladendes Dekolleté betonte. Sie trug sogar das silberne Armband meiner Schwester, das meine Mutter ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Obwohl ich seit dem Tod meiner Schwester nicht mehr in ihrem Zimmer gewesen war, wusste ich, dass meine Mutter nichts verändert und kein Fitzelchen von ihrer Kleidung weggegeben hatte. Sie hütete das rosafarbene Prinzessinnenzimmer mit dem Himmelbett wie einen Schrein. Manchmal, spät in der Nacht, konnte ich sie dort weinen hören. Sie betete um Vergebung.

Tanya rückte ihren Rucksack zurecht und warf mir einen verwirrten Blick zu. »Du siehst aus, als hättest du gerade ein Gespenst gesehen.«

Es war fast so. Für einen Sekundenbruchteil dachte ich, meine Schwester steht vor mir. Als ob sie von den Toten auferstanden wäre. Vermutlich waren es die langen blonden Haare und ihr schlanker, athletischer Körper. Obwohl es nur eine flüchtige Ähnlichkeit war, war ich jetzt mehr denn je davon überzeugt, dass meine trauernde Mutter sich Tanya als Ersatz ausgesucht hatte. So rebellisch, frech und mit meinem krausen Haar, konnte ich nicht als Ersatz für die schöne blonde Tochter herhalten, für die sie so geschwärmt und die sie bis zum Nervenzusammenbruch betrauert hatte.

Ich bedeutete ihr nichts.

Ich atmete tief durch und beruhigte mich. »Ich bin nur geschockt, dich in den Kleidern meiner Schwester zu sehen.«

Sie lächelte zuckersüß. »Deine Mutter hat gesagt, ich kann sie mir ausleihen, bis wir shoppen gehen.«

»Was ist mit den ganzen Klamotten in deinem großen roten Koffer?«

Sie machte eine wegwerfende Geste. »Oh, da ist fast nichts drin. Ich habe die meisten meiner Sachen zu Hause gelassen. Das waren nur schäbige Schuluniformen und nichts, was für L. A. geeignet wäre. Nur ein Haufen Klamotten für das kalte Wetter in London. Und stinklangweilig. Eine Diplomatentochter darf sich nicht in etwas zu Gewagtem blicken lassen. Das würde sofort in der Klatschpresse landen.«

Während sie sprach, erinnerte ich mich daran, wie mühelos mein Vater ihren Koffer im Kofferraum seines Autos verstaut hatte. Sie sagte wohl die Wahrheit.

»Aber Papa sagte, dass ich für L. A. was Neues zum Anziehen bekommen könnte, und hat mir einen Koffer gekauft, den ich mit all meinen neuen Kleidern füllen könnte.«

Wahrscheinlich hatte er deshalb so neu gewirkt. Da ich keinen Grund sah, mich zu streiten, forderte ich sie auf, mit mir hinunterzugehen. »Will wartet bestimmt schon. Ich will nicht zu spät zur Schule kommen.«

Und dann bekam ich meinen dritten Schock. Nicht weil der arme Bear schon im Garten war und an der Terrassentür kratzte und heulte. Zusammen mit meinen Eltern und meinem Bruder war noch jemand anders in der Küche …

Mein Freund Lance.

Ich blieb wie erstarrt stehen. Unsere Blicke begegneten sich. »He!«, rief er.

»He!«, wiederholte ich und musterte ihn.

Ich hatte ihn den ganzen Sommer nicht gesehen. Er hatte an einer anthropologischen Ausgrabung auf den Galapagos-Inseln teilgenommen und war gestern zurückgekehrt. Er sah anders aus. Größer. Gebräunter. Irgendwie … ausgefüllter. Sein sandfarbenes Haar war blonder und länger. Er sah wunderschön aus – total männlich –, und bei seinem Anblick spürte ich, wie mir warm wurde und sich mein Herzschlag beschleunigte. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden und hätte ihn so gern geküsst, bis er keine Luft mehr bekam. Aber ich zeigte meine Zuneigung nie in der Öffentlichkeit. Schon gar nicht vor meinen Eltern.

Wir texteten uns, aber wenn er Fotos und Videos auf Instagram postete, waren es meistens welche von den exotischen Orten, an denen er gegraben hatte, und den wilden Tieren, denen er begegnet war. Mein Handy war voll mit Bildern von ihm als verantwortungsvollem Fors...

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