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Tess Gerritsen - Krimi-Paket (3in1)

hier erhältlich:

DAS GEHEIMLABOR

Erneut kämpfte er sich im Beifahrersitz hoch.
"Bitte, lehnen sie sich zurück", flehte sie.
"Dieser Wagen …"
"Ist nicht mehr da."
"Sind Sie sicher?"
Sie blickte in den Rückspiegel. Durch den Regen sah sie nur ein schwaches Funkeln, aber das mussten nicht unbedingt Scheinwerfer sein. "Ich bin sicher", log sie.

Ein Schuss! Weiter, nur weiter. Voller Panik stolpert Victor Holland durch den nächtlichen Wald. Die Schritte seines Verfolgers unerbittlich hinter ihm. Plötzlich Lichter; eine Straße, endlich in Sicherheit …
Cathy kann den Aufprall nicht mehr verhindern, als der Mann aus der Dunkelheit vor ihr Auto stürzt. Auf der Fahrt ins Krankenhaus schaut er sich immer wieder um. Bevor man ihn in den OP schiebt, will er Cathy noch unbedingt etwas sagen — aber seine Kräfte verlassen ihn.
Als Cathy am nächsten Tag ihre Schulfreundin tot auffindet, wird ihr klar: Victor wollte sie warnen!

VERRAT IN PARIS

All die Jahre hat Beryl Tavistock eine Lüge geglaubt: Ihre Eltern, die für den MI 6 arbeiteten, sind nicht bei einem Einsatz ums Leben gekommen. Stattdessen soll ihr Vater, zuvor als Doppelagent entlarvt, ihre Mutter erschossen haben, bevor er sich selbst richtete. Beryl beginnt in Paris eine gefährliche Suche nach der Wahrheit. Zusammen mit dem undurchsichtigen Amerikaner Richard Wolf verstrickt sie sich dabei immer tiefer in einem Netz aus Intrigen und längst überholt geglaubten Feindbildern.

DIE MEISTERDIEBIN

Jordan Tavistock ist sich nicht sicher, ob er der Frau trauen soll: Clea Rice sagt, sie ermittelt in einem Versicherungsbetrug und ist daher auf der Suche nach dem "Auge von Kaschmir", einem legendären Dolch. Aber muss sie dafür nachts in ein fremdes Schlafzimmer eindringen? Als kurz darauf eine Bombe explodiert, die für sie bestimmt war, weiß er immerhin, dass Clea in Gefahr schwebt und er sie beschützen muss.

"Tess Gerritsen ist eine der Besten in ihrem Metier"

USA Today


  • Erscheinungstag: 02.08.2018
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 912
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959678568
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Tess Gerritsen

Tess Gerritsen - Krimi-Paket (3in1)

Tess Gerritsen

Das Geheimlabor

Roman

Aus dem Amerikanischen von Rainer Nolden

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:
Whistleblower

Copyright © 1992 by Terry Gerritsen erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto

Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

ISBN 978-3-959-67996-1

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Äste peitschten ihm ins Gesicht, und das Herz hämmerte ihm so heftig in der Brust, dass er das Gefühl hatte zu explodieren. Aber er musste weiterlaufen, denn der Mann hinter ihm kam immer näher. Jeden Moment rechnete er damit, dass eine Kugel durch die Dunkelheit flog und ihn im Rücken traf. Vielleicht war es sogar schon geschehen. Vielleicht hinterließ er eine Blutspur. Die Angst hatte ihn vollkommen gefühllos gemacht. Nur ein verzweifelter Überlebenswillen trieb ihn voran.

Eiskalter Winterregen prasselte ihm ins Gesicht und auf die verwelkten Blätter. Orientierungslos stolperte er durch die Nacht und landete bäuchlings im Schlamm. Das Geräusch seines Sturzes war ohrenbetäubend. Sein Verfolger, von den knackenden Ästen auf seine Fährte gelenkt, änderte die Richtung und kam nun direkt auf ihn zugelaufen. Das dumpfe Plopp eines Schalldämpfers und das Zischen einer Kugel, die an seiner Wange vorbeischoss, verrieten ihm, dass er entdeckt worden war. Mühsam rappelte er sich wieder auf, wandte sich nach rechts und lief im Zickzack zurück zur Autobahn. Hier im Wald war er ein toter Mann. Aber wenn er Aufmerksamkeit auf sich lenken und ein Auto anhalten konnte, hatte er vielleicht eine Chance.

Brechende Zweige, ein unterdrückter Fluch. Sein Verfolger war gestürzt. Er hatte ein paar kostbare Sekunden gewonnen. Trotzdem verlangsamte er sein Tempo nicht, obwohl er nur erahnen konnte, wohin er lief. Abgesehen vom schwachen Schimmer der Wolken wies ihm kein Licht den Weg. Weiter vorne musste die Straße sein. Jeden Moment würde er den Asphalt unter seinen Sohlen spüren.

Und dann? Wenn kein Auto vorbeifährt, mir keiner zu Hilfe kommt?

Aber dann sah er tatsächlich durch die Bäume zwei kleine Lichtpunkte, die rasch größer wurden.

Mit letzter Kraft hastete er dem Auto entgegen. Seine Lungen brannten, seine Sicht war getrübt von den tief hängenden Zweigen und dem strömenden Regen. Eine zweite Kugel pfiff an ihm vorbei und blieb mit einem hohlen Knall in einem Baumstamm stecken. Aber der Schütze hinter ihm war auf einmal völlig bedeutungslos. Nur diese Scheinwerfer waren wichtig, die durch die Dunkelheit stachen und Rettung versprachen.

Er erschrak, als er den Asphalt unter den Schuhsohlen spürte. Die Lichter zitterten immer noch irgendwo weit hinter den Baumstämmen. Hatte er das Auto verpasst? War es schon um die nächste Kurve gefahren? Nein, die beiden Punkte wurden heller. Der Wagen näherte sich. Er rannte ihm entgegen, folgte der Biegung in dem Bewusstsein, dass er auf freier Straße ein leichtes Ziel war. Seine eigenen Schritte auf dem nassen Asphalt dröhnten ihm in den Ohren. Die Scheinwerfer kamen schwankend näher. In diesem Moment hörte er den dritten Schuss. Er fiel auf die Knie, und wie durch einen dichten Nebel spürte er, dass ihn die Kugel in die Schulter getroffen hatte. Warm floss das Blut über seinen Arm, doch er achtete nicht auf den Schmerz. Er musste sich darauf konzentrieren, seinem Verfolger zu entkommen. Mit letzter Kraft rappelte er sich wieder auf und machte einen Schritt nach vorn …

… und wurde vom grellen Scheinwerferlicht geblendet. Es war zu spät, um beiseitezuspringen, sogar, um in Panik zu geraten. Reifen quietschten über den Asphalt und spritzten einen Schwall von Regenwasser hoch.

Er spürte den Aufprall nicht. Plötzlich lag er auf dem Rücken. Regen tropfte ihm in den Mund, und ihm war sehr, sehr kalt.

Und er wusste, dass er noch etwas zu tun hatte. Etwas sehr Wichtiges.

Mit letzter Kraft griff er in die Tasche seines Anoraks. Seine Finger umklammerten den kleinen Plastikzylinder. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, warum er so wichtig war, aber er war noch da, und das erfüllte ihn mit Erleichterung. Er schloss ihn fest in seine Hand.

Jemand rief etwas. Eine Frau. Durch den Regen konnte er ihr Gesicht nicht erkennen, aber er hörte ihre Stimme, heiser vor Panik, durch das Brummen in seinem Schädel. Er versuchte zu sprechen, wollte sie warnen vor dem Tod, der irgendwo im Wald lauerte. Doch er brachte nur ein Stöhnen hervor.

1. KAPITEL

Drei Meilen vor Redwood Valley war ein Baum auf die Straße gestürzt. Das Unwetter und ein Stau sorgten dafür, dass Catherine Weaver fast drei Stunden benötigte, ehe Willits hinter ihr lag. Da war es bereits zehn Uhr, und ihr war klar, dass sie Garberville nicht vor Mitternacht erreichen würde. Hoffentlich wartete Sarah nicht die ganze Nacht auf sie. Aber wie sie ihre Freundin kannte, hatte sie noch Essen auf dem Herd stehen und ein Feuer im Kamin lodern. Wie mochte ihr wohl die Schwangerschaft bekommen? Ausgezeichnet bestimmt. Seit Jahren sprach Sarah schon von diesem Baby; lange vor der Befruchtung hatte sie sich bereits für einen Namen entschieden. Sam oder Emma. Dass sie keinen Ehemann mehr hatte, war eher nebensächlich. „Man kann nur eine gewisse Zeit auf den richtigen Vater warten“, hatte Sarah erklärt. „Irgendwann muss man die Sache selbst in die Hand nehmen.“

Und das hatte sie getan. Während die biologische Uhr immer lauter tickte, war Sarah zu ihr nach San Francisco gefahren und hatte in den Gelben Seiten nach einer Samenbank gesucht. Selbstverständlich eine der liberaleren, in der man Verständnis hatte für die Sehnsüchte einer alleinstehenden Neununddreißigjährigen. Die Befruchtung selbst sei eine rein medizinische Angelegenheit gewesen, hatte sie später erzählt. Rauf auf den Tisch, die Füße in die Halterung gesteckt, und fünf Minuten später war man schwanger. Nun ja, fast. Aber es war eine simple Prozedur; die Spender verfügten alle über ein Gesundheitszeugnis, und das Beste war, dass eine Frau ihre mütterlichen Instinkte ohne dieses ganze Brimborium einer Hochzeit ausleben konnte.

Ach ja, die gute alte Ehe. Sie hatten sie beide durchlitten. Und nach den jeweiligen Scheidungen einfach weitergemacht – wenn auch mit Narben und blauen Flecken auf der Seele.

Wie mutig Sarah ist, dachte Cathy. Sie hat wenigstens den Mumm, das alleine durchzuziehen.

Die alte Wut flammte wieder auf – so stark, dass sie ihre Lippen zusammenpresste. Ihrem Exmann Jack konnte sie eine Menge Dinge verzeihen. Seinen Egoismus. Seine herrische Art. Seine Untreue. Aber dass er kein Kind mit ihr haben wollte, würde sie ihm nie vergeben können. Sie hätte sich natürlich über seine Wünsche hinwegsetzen und trotzdem schwanger werden können, aber ihr war es wichtig gewesen, dass er es auch wollte. Während ihrer zehnjährigen Ehe war er allerdings nie „so weit“ gewesen, noch war jemals der „richtige Zeitpunkt“ gewesen.

Er hätte ihr besser die Wahrheit gesagt: dass er viel zu selbstsüchtig war, um mit einem Baby belastet werden zu wollen.

Ich bin siebenunddreißig, dachte sie. Ich bin geschieden. Ich habe nicht mal einen festen Freund. Und doch wäre mir das alles egal, wenn ich nur mein eigenes Kind in den Armen halten könnte.

Zumindest würde Sarah bald Mutter werden.

In vier Monaten sollte das Kind zur Welt kommen. Sarahs Baby. Trotz des nervigen Regens, der unentwegt auf ihre Windschutzscheibe trommelte, musste Cathy lächeln. Obwohl sie die Scheibenwischer auf die höchste Stufe geschaltet hatte, schafften sie die Wassermassen kaum. Die Straße konnte sie nur noch verschwommen erkennen. Beim Blick auf ihre Armbanduhr stellte sie fest, dass es bereits halb zwölf war. Außer ihr war niemand mehr unterwegs. Wenn sie jetzt eine Panne hätte, würde sie die ganze Nacht hier draußen verbringen und zusammengekauert auf dem Rücksitz auf Hilfe warten müssen.

Angestrengt starrte sie in die Dunkelheit hinaus und versuchte, den Mittelstreifen zu erkennen. Doch alles, was sie sah, war eine undurchdringliche Wand aus Wasser. Zu blöd. Sie wäre besser in dem Motel in Willits abgestiegen. Aber die Tatsache, nur noch fünfzig Meilen vom Ziel entfernt zu sein, ließ ihr keine Ruhe, zumal sie schon so weit gefahren war.

Vor ihr tauchte ein Schild auf: Garberville 10 Meilen. Sie war also schon näher als gedacht. In fünfundzwanzig Meilen kam die Abzweigung, und dann waren es nur noch fünf Meilen durch einen dichten Wald bis zu Sarahs Holzhaus. Dass sie so nahe war, ließ sie ungeduldig werden. Sie drückte aufs Gaspedal und peitschte ihren alten Datsun auf fünfundvierzig Meilen hoch. Ziemlich riskant, besonders unter diesen Wetterbedingungen, aber der Gedanke an ein warmes Haus und eine heiße Schokolade war zu verführerisch.

Sie hatte nicht mit der Kurve gerechnet. Erschrocken riss sie das Steuer nach rechts. Das Auto geriet ins Schlingern und zog Zickzacklinien über den nassen Asphalt. Sie war geistesgegenwärtig genug, nicht die Bremse durchzutreten. Stattdessen umklammerte sie das Lenkrad und versuchte, die Kontrolle zurückzugewinnen. Dabei rutschte sie ein paar Meter über den unbefestigten Straßenrand. Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals. Gerade als sie glaubte, an einem Baum entlangzuschrammen, gerieten die rechten Reifen wieder auf festen Untergrund. Die Tachonadel zeigte immer noch zwanzig Meilen an, aber wenigstens fuhr sie keine Schlangenlinien mehr. Mit klammen Händen bewältigte sie den Rest der Kurve.

Doch was dann geschah, brachte sie vollkommen aus der Fassung. Hatte sie sich gerade noch dazu beglückwünscht, eine Katastrophe vermieden zu haben, starrte sie nun entsetzt durch die Windschutzscheibe.

Der Mann war aus dem Nichts aufgetaucht. Er hockte zusammengekrümmt auf der Straße, erstarrt wie ein wildes Tier im Licht ihrer Scheinwerfer. Reflexartig trat sie auf die Bremse, doch es war bereits zu spät. Das Quietschen der Reifen wurde übertönt von dem dumpfen Schlag, als sie mit der Kühlerhaube gegen den Körper prallte.

Eine Weile lang – es kam ihr wie eine Ewigkeit vor – blieb sie wie erstarrt sitzen, umklammerte das Steuer und starrte durch die Scheibe, auf der die Wischerblätter hektisch hin und her fuhren. Als ihr bewusst wurde, was soeben geschehen war, öffnete sie die Tür und stürzte hinaus in den Regen.

Durch die dichten Schleier konnte sie zunächst gar nichts erkennen – bis auf einen Streifen glänzenden Asphalts im schwachen Schein der Rücklichter. Wo ist er, dachte sie voller Panik. Der Regen verwischte ihren Blick, als sie an der dunklen Straße entlanglief. Plötzlich hörte sie durch das Rauschen des Regens ein leises Stöhnen. Es kam vom Straßenrand nahe der Bäume.

Sie drehte sich um, tauchte ein in den Schatten und versank knöcheltief in weicher Erde und Tannennadeln. Wieder vernahm sie das Stöhnen, näher jetzt, zum Greifen nahe.

„Wo sind Sie?“, schrie sie. „Helfen Sie mir, damit ich Sie finden kann.“

„Hier …“ Die Antwort kam so leise, dass sie sie kaum hören konnte. Aber mehr brauchte sie nicht. Erneut änderte sie die Richtung, und nach ein paar Schritten wäre sie in der Dunkelheit fast über den zusammengekrümmten Körper gestolpert. Zuerst erschien er ihr lediglich wie ein verwirrendes Knäuel aus durchgeweichten Kleidern, doch dann fand sie seine Hand und tastete nach seinem Puls. Er ging schnell, aber gleichmäßig – vermutlich gleichmäßiger als ihr eigener, der wie wild galoppierte. Unvermittelt griffen seine Finger verzweifelt nach ihrer Hand. Beim Versuch hochzukommen, zog er sie näher zu sich.

„Bewegen Sie sich nicht“, bat sie. „Bitte.“

„K…kann nicht hierbleiben …“

„Wo sind Sie verletzt?“

„Keine Zeit. Helfen Sie mir. Schnell …“

„Erst müssen Sie mir sagen, wo Sie verletzt sind.“ Er griff nach ihrer Schulter und versuchte mühsam, auf die Füße zu kommen. Zu ihrer Verblüffung gelang ihm das tatsächlich. Schwankend standen sie nebeneinander. Doch dann verließen ihn seine Kräfte, und zusammen sanken sie auf die Knie in den Schlamm. Sein Atem ging keuchend und unregelmäßig, und sie überlegte, wie schwer seine Verletzung wohl sein mochte. An inneren Blutungen konnte er innerhalb kürzester Zeit sterben. Sie musste ihn so schnell wie möglich in ein Krankenhaus bringen, selbst wenn es bedeutete, dass sie ihn zu ihrem Wagen schleifen musste.

„Versuchen wir es noch mal“, sagte sie, nahm seinen linken Arm und legte ihn sich über die Schultern. Sie zuckte zusammen, als er vor Schmerz aufschrie. Sofort ließ sie ihn los. Sein Arm hinterließ eine klebrige warme Flüssigkeit in ihrem Nacken. Blut.

„Die andere Seite ist in Ordnung“, ächzte er. „Noch mal.“

Sie wechselte auf seine rechte Seite und legte den anderen Arm um den Hals. Wäre sie nicht so panisch gewesen, hätte sie die Szene durchaus als komisch empfunden: Sie mühten sich ab wie zwei Betrunkene, die aufstehen wollten. Als ihnen das endlich gelungen war, fragte sie sich, ob er stark genug sei, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Alleine würde sie es nicht bis zum Wagen schaffen. Er war zwar schlank, aber auch sehr viel größer, als sie erwartet hatte. Mit ihren Einsfünfundsechzig konnte sie ihn unmöglich ohne Hilfe bewegen.

Doch etwas schien ihn vorwärtszutreiben; ein Aufgebot seiner letzten Kraftreserven. Selbst durch ihre nasse Kleidung hindurch spürte sie die Hitze seines Körpers und seinen Willen durchzuhalten. Zahllose Fragen schossen ihr durch den Kopf, aber sie keuchte zu sehr, um sprechen zu können. Sie musste sich voll und ganz darauf konzentrieren, ihn in ihren Wagen zu setzen und schnellstmöglich ins Krankenhaus zu bringen.

Sie legte den Arm um seine Hüfte und schob die Finger durch seinen Gürtel. Mühsam kämpften sie sich Schritt für Schritt bis zur Straße vor. Schwer wie eine Eisenstange lag sein Arm auf ihrer Schulter. Alles an ihm schien sich zu verkrampfen. Die Art, wie er seine Muskeln anspannte, um vorwärtszukommen, hatte etwas Verzweifeltes. Seine Willenskraft übertrug sich auf sie. Seine Furcht war ebenso spürbar wie die Wärme seines Körpers, und plötzlich hatte sie den gleichen dringenden Wunsch, so schnell wie möglich von hier wegzukommen – ein Drang, der durch den Umstand, dass sie kaum vorwärtskamen, noch verstärkt wurde. Alle paar Schritte musste sie anhalten und sich die nassen Haare aus dem Gesicht schieben, um sehen zu können, in welche Richtung sie ging. Die Dunkelheit und der heftige Regen um sie herum verbargen die Gefahr, die möglicherweise auf sie lauerte.

Die Rücklichter ihres Wagens glühten wie rubinrote Augen in der Nacht. Mit jedem Schritt wurde der Mann schwerer, und sie hatte das Gefühl, ihre Beine seien aus Gummi. Hoffentlich fielen sie nicht wieder hin. Sie hätte nicht mehr die Energie gehabt, ihn noch einmal hochzuziehen. Kraftlos sank sein Kopf an ihre Wange, und das Wasser aus seinem Haar lief ihr in den Nacken. Das Gehen war zu einem Automatismus geworden, sodass ihr nicht einmal der Gedanke kam, den Fremden auf die Straße zu setzen und ihren Wagen zu holen. Außerdem waren die Rücklichter schon nah – nur noch wenige Meter durch den dichten Schleier aus Regen.

Als sie mit ihm auf der Beifahrerseite angelangt war, befürchtete sie, der Arm würde ihr abfallen. Sie schaffte es kaum, die Tür zu öffnen, ohne dass der Mann auf den Boden zu rutschen drohte. Zu schwach, um behutsam mit ihm umzugehen, schob sie ihn kurzerhand ins Auto.

Er sank auf dem Beifahrersitz zusammen. Seine Beine waren noch draußen. Sie hockte sich hin, umklammerte erst die eine, dann die andere Wade und schob sie in den Wagen. Bei diesen großen Füßen kann er sich unmöglich elegant bewegen, dachte sie unwillkürlich.

Als sie sich hinters Steuer setzte, versuchte er, seinen Kopf zu heben. Da ihm die Kraft fehlte, ließ er ihn sofort zurück auf die Brust sinken. „Schnell“, flüsterte er.

Sie drehte den Zündschlüssel. Der Motor begann zu stottern und erstarb. Um Himmels willen, dachte sie. Spring an! Spring an! Sie drehte den Schlüssel zurück, zählte langsam bis drei und versuchte es erneut. Dieses Mal sprang der Motor an. Vor Erleichterung hätte sie fast gejubelt. Sie legte den Gang ein und startete mit quietschenden Reifen Richtung Garberville. Selbst in einer so kleinen Stadt musste es doch ein Krankenhaus geben. Die Frage war bloß: Würde sie es in diesem Unwetter finden? Und wenn sie sich irrte? Wenn das nächstgelegene Krankenhaus in Willits war – also in der entgegengesetzten Richtung? Dann würde sie kostbare Minuten verschwenden, während der Mann in ihrem Wagen verblutete.

Die Vorstellung ließ die Panik wieder in ihr aufflammen. Besorgt schaute sie ihren Beifahrer an. Im schwachen Licht des Armaturenbretts bemerkte sie, dass sein Kopf nach hinten gesunken war. Er bewegte sich nicht.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, rief sie.

Die Antwort war ein bloßes Flüstern. „Ich bin noch da.“

„Himmel. Ich habe gerade befürchtet …“ Sie schaute auf die Straße. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. „Hier muss doch irgendwo ein Krankenhaus sein.“

„In der Nähe von … Garberville … gibt es eins.“

„Wissen Sie, wo genau?“

„Ich bin daran vorbeigefahren – etwa fünfzehn Meilen von hier.“

Wenn er daran vorbeigefahren ist – wo ist dann sein Wagen? „Was ist denn passiert?“, erkundigte sie sich. „Hatten Sie einen Unfall?“

Gerade als er antworten wollte, flackerte ein schwaches Licht durch den Wagen. Mühsam richtete er sich auf, drehte den Kopf nach hinten und starrte auf die Scheinwerfer des Wagens, der in weitem Abstand hinter ihnen herfuhr. Als er einen Fluch ausstieß, warf sie einen besorgten Blick in den Außenspiegel.

„Was ist los?“

„Dieser Wagen.“

Sie schaute in den Innenrückspiegel. „Was ist damit?“

„Wie lange folgt er uns schon?“

„Ich weiß nicht. Seit ein paar Meilen? Warum?“

Die Anstrengung, den Kopf gedreht zu halten, schien plötzlich zu viel für ihn zu sein. Stöhnend ließ er ihn sinken. „Ich kann nicht mehr klar denken“, wisperte er. „Himmel, ich kann nicht mehr klar denken.“

Er hat zu viel Blut verloren. Sie trat auf das Gaspedal. Der Wagen machte einen Satz nach vorn. Das Steuerrad vibrierte unter ihrem Griff, und Gischt spritzte von den Reifen hoch. Nahezu blind raste sie durch die Dunkelheit, die sich vor der Windschutzscheibe ausbreitete. Langsam! Fahr langsam. Oder wir landen an einem Baum.

Sie nahm den Fuß vom Gaspedal, bis sich die Tachonadel bei fünfundvierzig Meilen einpendelte. So hatte sie den Wagen besser unter Kontrolle. Erneut kämpfte der Mann sich im Beifahrersitz hoch.

„Halten Sie Ihren Kopf unten“, flehte sie.

„Dieser Wagen …“

„Ist nicht mehr da.“

„Sind Sie sicher?“

Sie schaute in den Rückspiegel. Durch den dichten Regen nahm sie nur einen schwachen Lichtpunkt wahr, der nicht unbedingt ein Autoscheinwerfer sein musste. „Ich bin mir sicher“, log sie und war erleichtert, als er wieder nach vorn schaute. Wie weit ist es noch? überlegte sie. Fünf Meilen? Zehn? Ein anderer Gedanke gewann die Oberhand: Er könnte vorher sterben.

Sein Schweigen jagte ihr Angst ein. Sie musste seine Stimme hören, um sicher zu sein, dass er nicht ohnmächtig geworden war. „Reden Sie mit mir“, beschwor sie ihn. „Bitte.“

„Ich bin müde …“

„Hören Sie nicht auf. Reden Sie weiter. Wie … wie heißen Sie?“

Die Antwort war ein bloßes Flüstern: „Victor.“

„Victor. Ein schöner Name. Er gefällt mir. Was machen Sie beruflich, Victor?“

Er schwieg. Das Reden strengte ihn sehr an. Er durfte das Bewusstsein nicht verlieren! Aus irgendeinem Grund erschien es ihr plötzlich sehr wichtig, dass er wach blieb. Die Stimme war seine einzige Verbindung zum Leben. Wenn dieser fragile Kontakt abbrach, würde ihr der Mann vermutlich endgültig entgleiten.

„Na gut.“ Sie zwang sich, ruhig und leise zu sprechen. „Dann werde ich Ihnen etwas erzählen. Sie brauchen gar nichts zu sagen. Hören Sie einfach nur zu. Ich heiße Catherine. Cathy Weaver. Ich lebe in San Francisco – in Richmond. Kennen Sie die Stadt?“ Sie erhielt keine Antwort, aber aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung seines Kopfes, als wollte er ihre Frage bejahen. „Gut“, fuhr sie fort, um die Stille mit Worten zu füllen, „vielleicht kennen Sie die Stadt ja auch nicht. Spielt auch keine Rolle. Ich arbeite bei einer Independent-Filmgesellschaft. Genauer gesagt, es ist Jacks Filmgesellschaft. Jack ist mein Exmann. Wir produzieren Horrorfilme. Eigentlich nur B-Movies, aber sie sind ganz profitabel. Unser letzter hieß Das Reptil. Ich war für die Spezial-Make-ups verantwortlich. Ziemlich schreckliches Zeug. Jede Menge grüner Schuppen und Schleim …“ Sie lachte. Ihr Lachen klang seltsam angespannt. Beinahe schon hysterisch.

Es kostete sie eine ungeheure Anstrengung, die Kontrolle zu bewahren.

Ein Lichtreflex blitzte im Rückspiegel auf. Sofort sah sie hoch. Die Scheinwerfer waren durch den Regen kaum zu erkennen. Ein paar Sekunden lang ließ sie sie nicht aus den Augen und überlegte, ob sie Victor darauf hinweisen sollte. Doch dann verschwanden die Lichtpunkte in der Dunkelheit wie zwei Phantome.

„Victor?“, rief sie leise. Die Antwort war ein undefinierbares Grunzen, aber das reichte ihr schon. Er lebte noch. Er hörte ihr zu. Ich muss ihn wach halten. Krampfhaft dachte sie über ein neues Gesprächsthema nach. Belangloser Small Talk, den die Filmleute auf ihren Cocktailpartys perfekt beherrschten, war noch nie ihre Stärke gewesen. Fieberhaft versuchte sie, sich einen Witz ins Gedächtnis zu rufen – egal, wie albern er war. Hauptsache, er war halbwegs lustig. Lachen heilt. Hatte sie das nicht irgendwo gelesen? Dass man mit viel Gelächter sogar einen Tumor zum Schrumpfen bringen konnte? Klar, schalt sie sich selbst. Bring ihn zum Lachen, und seine Wunde hört auf wundersame Weise auf zu bluten

Aber ihr fiel kein Witz ein – nicht ein einziger. Also kehrte sie zu dem Thema zurück, das ihr als Erstes eingefallen war: ihre Arbeit.

„Unser nächstes Projekt ist für Januar vorgesehen. Der Leichenfresser. Wir drehen in Mexiko, was mir überhaupt nicht gefällt. Dort ist es so heiß, dass das Make-up ständig zerfließt …“

Sie schaute zu Victor, aber er reagierte nicht. Er bewegte sich nicht einmal. Erneut geriet sie in Panik. Sie durfte ihn nicht verlieren. Sie tastete nach seinem Puls und stellte fest, dass er seine Hand tief in der Tasche seines Anoraks vergraben hatte. Überraschenderweise reagierte er sofort mit heftigem Widerstand, als sie versuchte, die Hand herauszuziehen. Mit geschlossenen Augen schlug er unkontrolliert nach ihr und versuchte, ihre Hand wegzudrücken.

„Es ist alles in Ordnung, Victor“, beschwichtigte sie ihn, während sie versuchte, seine Attacke abzuwehren und gleichzeitig den Wagen in der Spur zu halten. „Alles okay. Ich bin’s, Cathy. Ich versuche nur, Ihnen zu helfen.“

Beim Klang ihrer Stimme wurden seine Schläge schwächer. Die Anspannung in seinem Körper ließ nach, und er lehnte den Kopf an ihre Schulter. „Cathy“, wisperte er. Er klang verwundert, erleichtert. „Cathy …“

„Stimmt. Ich bin’s nur.“ Vorsichtig strich sie ihm die nassen Haarsträhnen aus der Stirn. Welche Farbe mochten sie haben? Es war zwar vollkommen irrelevant, aber trotzdem beschäftigte sie der Gedanke. Er griff nach ihrer Hand. Seine Finger umschlossen sie erstaunlich fest und beruhigend. Ich bin noch da, gab er ihr mit seiner Berührung zu verstehen. Mir ist warm, ich lebe und atme. Er drückte ihre Handfläche an seine Lippen. Die Geste war so zärtlich, dass sie erschrak, als seine unrasierten Wangen ihre Haut streiften. Es war eine Berührung zwischen Fremden, die sie verwirrte und erbeben ließ.

Erneut umklammerte sie das Lenkrad und konzentrierte sich auf die Straße. Er sagte nichts mehr, aber das Gewicht seines Kopfes auf ihrer Schulter und der warme Atem in ihrem Haar irritierten sie.

Der Wolkenbruch war in einen gleichmäßigen Dauerregen übergegangen, und sie beschleunigte auf fünfzig Meilen pro Stunde. Sie fuhren am Sunnyside Up Café vorbei, einem kleinen Kiosk unter einer einsamen Straßenlaterne, die Victors Gesicht kurz erhellte. Sie sah nur sein Profil: eine hohe Stirn, eine scharf geschnittene Nase, ein vorspringendes Kinn – und dann wurde es wieder dunkel, und er war nur noch ein Schatten, der leise an ihrer Schulter atmete. Aber sie hatte genug gesehen, um zu wissen, dass sie dieses Gesicht nie vergessen würde. Sein Profil hatte sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt, sodass sie es auch dann noch vor sich sah, als sie wieder in die Dunkelheit schaute.

„Wir müssen bald da sein.“ Sie sagte es mehr, um sich selbst zu beruhigen. „Wo ein Café ist, kann eine Stadt nicht weit sein.“ Keine Antwort. „Victor?“ Immer noch keine Antwort. Sie schluckte ihre Panik herunter und beschleunigte auf fünfundfünfzig Meilen.

Das Sunnyside Up Café lag bereits mehr als eine Meile hinter ihnen, doch die Straßenlaterne war immer noch nicht aus ihrem Rückspiegel verschwunden. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie nicht ein, sondern zwei Lichter sah – und dass sie sich bewegten: das Licht von zwei Autoscheinwerfern, das über die Straße huschte. War es das Auto von vorhin?

Wie gebannt betrachtete sie die beiden Lichtstreifen, die zwischen den Baumstämmen aufblitzten. Dann waren sie plötzlich verschwunden, und zurück blieb komplette Dunkelheit. Ein Geist? fragte sie sich. Wie albern! Sie rechnete damit, dass die beiden Lichtkegel jeden Moment wieder auftauchten und das gespenstische Flackern im Wald weiterging. So sehr war sie auf den Rückspiegel konzentriert, dass sie fast das Ortsschild übersehen hätte:

Garberville (5750 Einwohner)

Tankstellen – Restaurants – Motels

Eine halbe Meile weiter standen Straßenlaternen und tauchten die Umgebung in fahles gelbes Licht. Ein Tieflader donnerte in die entgegengesetzte Richtung vorbei. Obwohl hier nur noch fünfunddreißig Meilen erlaubt waren, hielt sie den Fuß fest auf dem Gaspedal. Zum ersten Mal in ihrem Leben betete sie darum, von einem Streifenwagen verfolgt zu werden.

Wie aus dem Nichts tauchte das Schild mit dem Hinweis Krankenhaus auf. Sie trat auf die Bremse und schlitterte auf die Abzweigung. Nach einer weiteren Viertelmeile führte ein Hinweis mit der Aufschrift Notaufnahme zu einem Seiteneingang. Sie ließ Victor auf dem Beifahrersitz zurück, hastete durch die Tür in einen menschenleeren Warteraum und rief einer Schwester, die am Schreibtisch saß, zu: „Bitte helfen Sie mir. Ich habe einen Mann in meinem Wagen …“

Die Schwester reagierte sofort. Sie folgte Cathy nach draußen, warf nur einen kurzen Blick auf den zusammengesunkenen Mann und verständigte sofort den diensthabenden Arzt.

Selbst mit Unterstützung des stämmigen Mediziners hatten sie Probleme, Victor aus dem Wagen zu hieven. Er war zur Seite gerutscht, und sein Arm steckte unter der Handbremse.

„Miss, gehen Sie auf die andere Seite, und befreien Sie seinen Arm“, wies der Arzt Cathy an.

Cathy kletterte auf den Fahrersitz. Dort zögerte sie, weil sie seinen verletzten Arm bewegen musste. Vorsichtig griff sie nach seinem Ellbogen und versuchte, ihn von der Handbremse zu lösen. Dabei entdeckte sie, dass sich seine Armbanduhr in der Tasche seines Anoraks verhakt hatte. Nachdem sie das Uhrband geöffnet hatte, griff sie nach dem Arm und hob ihn über die Bremse. Vor Schmerzen stöhnte er laut auf. Kraftlos fiel der Arm zurück.

„Gut, der Arm ist frei“, stellte der Doktor fest. „Schieben Sie ihn vorsichtig in meine Richtung, und ich übernehme.“

Über die Handbremse hinweg hob sie behutsam Victors Kopf und Schultern. Dann kroch sie wieder hinaus und half den anderen, ihn auf die Trage zu legen. Mit drei Gurten wurde er fixiert. Laut dröhnte es in ihren Ohren, als die Trage durch die geöffneten Doppeltüren ins Krankenhaus gerollt wurde, und auf einmal sah sie alles wie durch einen Nebel.

„Was ist passiert?“, fragte der Arzt über seine Schulter hinweg.

„Ich habe ihn angefahren … auf der Straße.“

„Wann?“

„Vor fünfzehn oder zwanzig Minuten.“

„Wie schnell sind Sie gefahren?“

„Ungefähr fünfunddreißig Meilen.“

„War er bei Bewusstsein, als Sie ihn fanden?“

„Noch etwa zehn Minuten … dann ist er ohnmächtig geworden.“

Eine Krankenschwester sagte: „Sein Hemd ist blutdurchtränkt. Und er hat Glasscherben in der Schulter.“

In der von grellem Neonlicht beschienenen Hektik konnte Cathy Victor zum ersten Mal deutlich erkennen: das schlanke, dreckverschmierte Gesicht, ein vor Schmerz verkrampfter Kiefer, eine breite Stirn, auf der hellbraune Haarsträhnen klebten. Er streckte den Arm aus und griff nach ihrer Hand.

„Cathy …“

„Ich bin hier, Victor.“

Fest hielt er ihre Hand umklammert. Der Druck seiner Finger tat ihr fast weh. Gequält blinzelte er sie an. „Ich muss Ihnen etwas sagen …“

„Später“, fuhr der Doktor dazwischen.

„Nein, warten Sie.“ Victor versuchte, Blickkontakt zu ihr zu halten. Das Sprechen fiel ihm sichtbar schwer. Vor Schmerzen verzog er das Gesicht.

Cathy beugte sich zu ihm. Seine verzweifelte Miene ging ihr ans Herz. „Ja, Victor?“, flüsterte sie, während sie ihm durchs Haar strich, um seine Schmerzen zu mildern. Die Berührung ihrer Hände und der Blickkontakt schienen ewig zu dauern. „Sagen Sie es mir.“

„Wir können nicht länger warten“, entschied der Arzt. „Rollen Sie ihn in den OP.“

Unvermittelt wurde ihr Victors Hand entrissen. Sie schoben ihn in den Operationssaal, der mit seinen Apparaturen aus Edelstahl und dem grellen Licht wie aus einem Albtraum zu stammen schien. Victor wurde vorsichtig auf den Operationstisch gelegt.

„Puls hundertzehn“, verkündete eine Krankenschwester. „Blutdruck fünfundachtzig zu fünfzig.“

„Wir legen zwei Kanülen“, befahl der Arzt. „Blutgruppe bestimmen und sechs Einheiten bestellen. Verständigen Sie einen Chirurgen. Wir brauchen Unterstützung …“

Das Stimmengewirr und das Geklapper von Gerätschaften waren ohrenbetäubend. Niemand beachtete Cathy, die an der Tür stand und ebenso entsetzt wie fasziniert zusah, als eine Krankenschwester begann, Victors blutige Kleidung aufzuschneiden. Mit jedem Schnitt wurde mehr Haut freigelegt, bis das Hemd und der Anorak vollständig abgestreift waren. Der breite Brustkorb war mit dichtem braunen Haar bedeckt.

Für die Ärzte und Krankenschwestern war es nur ein Körper, um den sie sich kümmern mussten – ein weiterer Patient, der gerettet werden musste. Für Cathy dagegen war er ein Mensch, der ihr etwas bedeutete – und sei es nur, weil sie die vergangenen schrecklichen Minuten gemeinsam durchgestanden hatten. Die Krankenschwester konzentrierte sich auf seinen Gürtel, den sie rasch löste. Mit einem energischen Ruck zog sie seine Hose und Boxershorts hinunter und warf sie auf den Haufen der anderen schmutzigen Kleidungsstücke.

Cathy registrierte die Nacktheit des Mannes kaum – ebenso wenig wie die Krankenschwestern und die Ärzte, die in den Behandlungsraum eilten. Entsetzt starrte sie auf Victors linke Schulter, aus der frisches Blut auf den Tisch rann. Sie erinnerte sich an die Abwehrreaktion seines Körpers, als sie ihn bei dieser Schulter gepackt hatte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr er gelitten haben musste.

Ein saurer Geschmack stieg ihr in die Kehle. Jeden Augenblick würde sie sich übergeben müssen.

Irgendwie gelang es ihr, zum nächsten Stuhl zu wanken und darauf Platz zu nehmen, während sie die Übelkeit bekämpfte. Die chaotische Hektik um sie herum nahm sie gar nicht wahr. Entsetzt stellte sie fest, dass ihre Hände blutverschmiert waren.

„Da sind Sie ja“, sagte jemand. Eine Schwester trat aus dem Operationssaal, in den Händen die persönlichen Dinge des Patienten. Sie winkte Cathy zu einem Schreibtisch. „Wir brauchen Ihren Namen und Ihre Anschrift, falls die Ärzte noch Fragen haben. Außerdem muss die Polizei verständigt werden. Oder haben Sie das bereits getan?“

Wie betäubt schüttelte Cathy den Kopf. „Ich … ich denke, ich sollte …“

„Sie können dieses Telefon benutzen.“

„Danke.“

Es läutete achtmal, ehe jemand antwortete. Die Stimme am anderen Ende klang rau, als sei ihr Besitzer aus dem Tiefschlaf gerissen worden. Offenbar war in Garberville zu wenig los, als dass es sich für die Polizei gelohnt hätte, die ganze Nacht wach zu bleiben. Der diensthabende Beamte notierte Cathys Angaben und sagte, man würde sich später bei ihr melden, wenn seine Kollegen den Unfallort besichtigt hatten.

Die Krankenschwester hatte damit begonnen, Victors Brieftasche nach Kredit- und Visitenkarten zu durchsuchen, um mehr über ihn zu erfahren. Cathy sah ihr dabei zu, wie sie die Felder auf dem Patientenformular ausfüllte. Name: Victor Holland. Alter: 41. Beruf: Biochemiker. Nächste Angehörige: unbekannt.

Das war also sein voller Name. Victor Holland. Cathy betrachtete den Stapel Karten. Eine erregte ihre Aufmerksamkeit: Es schien ein Sicherheitsausweis für eine Firma namens Viratek zu sein. Ein farbiges Passfoto zeigte Victors ausdrucksloses Gesicht. Die grünen Augen blickten direkt in die Kamera. Selbst wenn sie ihn nicht kennen würde, hätte sie sich ihn genau so vorgestellt: neutrale Miene, durchdringender Blick. Sie berührte ihre Handfläche an der Stelle, wo er sie geküsst hatte. Fast glaubte sie, noch die Bartstoppeln auf der Haut zu spüren.

Leise fragte sie: „Wird er durchkommen?“

Die Krankenschwester schrieb weiter. „Er hat eine Menge Blut verloren. Aber er sieht ziemlich zäh aus …“

Cathy nickte. Selbst die höllischen Schmerzen hatten Victor nicht davon abgehalten, all seine Kräfte zu mobilisieren und durch den Regen zu laufen. Ja, sie wusste, was für ein zäher Brocken er war.

Die Krankenschwester reichte ihr einen Kugelschreiber und das Formular. „Schreiben Sie bitte Ihren Namen und Ihre Adresse ganz unten hin. Falls der Doktor noch Fragen an Sie hat.“

Cathy holte eine Karte aus ihrem Portemonnaie und notierte Sarahs Adresse und Telefonnummer auf das Papier. „Ich heiße Cathy Weaver. Unter dieser Nummer können Sie mich erreichen.“

„Sie bleiben in Garberville?“

„Drei Wochen. Auf Besuch.“

„Oh. Ein großartiger Start für einen Urlaub.“

Seufzend stand Cathy auf. „In der Tat. Wirklich großartig.“

Vor dem Behandlungszimmer blieb sie kurz stehen. Was mochte da drinnen wohl passieren? Sie wusste, dass Victor um sein Leben kämpfte. Ob er noch bei Bewusstsein war? Würde er sich noch an sie erinnern? Auf einmal war es ihr sehr wichtig, dass er sich an sie erinnerte.

Cathy wandte sich an die Schwester. „Sie rufen mich doch an, nicht wahr? Ich meine, Sie sagen mir Bescheid, ob er …“

Die Schwester nickte. „Wir halten Sie auf dem Laufenden.“

Sie trat ins Freie. Der Regen hatte aufgehört, und durch den Riss in der Wolkendecke schimmerten ein paar Sterne. Trotz ihrer Müdigkeit schaute sie fasziniert zum Himmel. Nach einem Sturm herrschte stets eine ganz eigenartige Stimmung. Als sie vom Parkplatz des Krankenhauses fuhr, zitterte sie beinahe vor Erschöpfung. Den Wagen, der auf der anderen Straßenseite stand, bemerkte sie nicht – ebenso wenig das kurze Aufglühen einer Zigarette, ehe sie ausgedrückt wurde.

2. KAPITEL

Nur eine Minute nachdem Cathy das Krankenhaus verlassen hatte, betrat ein Mann die Notaufnahme. Mit ihm wehte das Ambiente einer sturmgepeitschten Nacht durch die Flügeltüren. Die diensthabende Schwester war damit beschäftigt, den Aufnahmebogen des neuen Patienten auszufüllen. Als die kühle Nachtluft über den Schreibtisch hinwegzog, schaute sie auf. Ein Mann kam auf sie zu. Er war etwa fünfunddreißig und hatte ein hageres, verschlossenes Gesicht. Sein dunkles Haar war grau gesprenkelt. Wassertropfen glänzten auf seinem braunen Burberry-Regenmantel.

„Kann ich Ihnen helfen, Sir?“ Sie schaute ihm in die Augen, die aussahen wie schwarze Kiesel in einem Teich.

Er nickte. „Ist hier eben ein Mann eingeliefert worden? Victor Holland?“

Die Schwester blickte auf das Formular auf ihrem Schreibtisch. Der Name stimmte. Victor Holland. „Ja“, bestätigte sie. „Sind Sie ein Verwandter?“

„Ich bin sein Bruder. Wie geht es ihm?“

„Er ist erst vor Kurzem gebracht worden. Er wird gerade operiert. Wenn Sie warten wollen, erkundige ich mich, wie es ihm geht …“ Sie unterbrach sich, als das Telefon läutete. Es war einer der Assistenzärzte, der ihr die Laborteste des neuen Patienten mitteilte. Sie notierte die Zahlen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass der Besucher sich zu der verschlossenen Tür des Operationssaals umgedreht hatte. Die wurde jetzt aufgerissen, und ein Krankenpfleger mit einem prall gefüllten und blutverschmierten Plastikbeutel stürzte heraus. Aus dem Raum drangen erregte Stimmen:

„Blutdruck auf hundertzehn zu siebzig.“

„Wir können mit der OP beginnen.“

„Wo ist der Chirurg?“

„Unterwegs. Er hatte Probleme mit seinem Wagen.“

„Wir röntgen. Alle zurücktreten.“

Langsam schloss sich die Tür. Die Stimmen klangen wieder gedämpft. Die Schwester legte den Hörer auf, als der Krankenpfleger den Plastikbeutel auf ihren Schreibtisch legte. „Was ist das?“, wollte sie wissen.

„Die Kleider des Patienten. Sie sind ziemlich verdreckt. Soll ich sie entsorgen?“

„Ich nehme sie mit nach Hause“, schaltete der Mann im Regenmantel sich ein. „Ist das alles?“

Der Krankenpfleger warf der Schwester einen verunsicherten Blick zu. „Ich weiß nicht, ob er das … ob er das möchte. Sie sind ziemlich … schmutzig …“

„Mr Holland, sollen wir uns nicht lieber um die Kleidung kümmern?“, unterbrach ihn die Schwester. „In dem Beutel sind keine Wertsachen. Die habe ich hier.“ Sie schloss eine Schublade auf und holte einen braunen Umschlag hervor. Darauf stand: Holland, Victor; Inhalt: Brieftasche, Armbanduhr. „Die können Sie mitnehmen. Wenn Sie mir diese Empfangsbestätigung unterschreiben wollen …“

Der Mann nickte und signierte mit seinem Namen: David Holland. „Sagen Sie, ist Victor wach?“ Er steckte den Umschlag ein. „Hat er irgendwas gesagt?“

„Ich fürchte, nein. Er war halb bewusstlos, als er hergebracht wurde.“

Der Mann nahm die Auskunft schweigend zur Kenntnis. Seine Reaktion irritierte die Schwester plötzlich. „Entschuldigen Sie, Mr Holland, aber wie haben Sie eigentlich von dem Unfall Ihres Bruders erfahren?“, fragte sie. „Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, irgendwelche Familienmitglieder zu benachrichtigen …“

„Die Polizei hat mich verständigt. Victor war mit meinem Wagen unterwegs. Sie haben ihn am Straßenrand gefunden. Totalschaden.“

„Oh. Das ist keine angenehme Art, es zu erfahren.“

„Ja. Der Stoff, aus dem Albträume sind.“

„Jedenfalls hat Sie jemand kontaktiert.“ Sie blätterte durch die Papiere auf ihrem Schreibtisch. „Geben Sie mir Ihre Adresse und Telefonnummer? Falls wir mit Ihnen in Verbindung treten müssen.“

„Natürlich.“ Der Mann nahm das Formular zur Hand und überflog es mit einem raschen Blick, ehe er seinen Namen und seine Telefonnummer in die Rubrik Nächste Angehörige kritzelte. „Wer ist diese Catherine Weaver?“ Er deutete auf den Namen und die Adresse, die unten auf dem Blatt standen.

„Die Frau, die ihn hierhergebracht hat.“

„Ich muss mich bei ihr bedanken.“ Er gab ihr das Formular zurück.

„Schwester?“

Sie drehte sich um. Der Doktor stand an der Tür zum Behandlungszimmer. „Ja?“

„Rufen Sie bitte die Polizei an. Sie sollen so schnell wie möglich herkommen.“

„Die Polizei ist schon verständigt, Doktor. Sie sind über den Unfall informiert.“

„Rufen Sie sie noch mal an. Das war nämlich kein Unfall.“

„Wie bitte?“

„Wir haben gerade die Röntgenaufnahmen bekommen. Der Mann hat eine Kugel in der Schulter.“

„Eine Kugel?“ Der Schwester lief eine Gänsehaut über den Rücken, als ob ein eisiger Wind hereinwehte. Langsam drehte sie sich zu dem Mann im Regenmantel um – dem Mann, der behauptete, Victor Hollands Bruder zu sein. Zu ihrer Verblüffung stand niemand mehr vor ihr. Dafür kam nun eine kühle nächtliche Brise durch die Flügeltüren, die sich langsam schlossen.

„Wohin, zum Teufel, ist er verschwunden?“, flüsterte der Krankenpfleger.

Ein paar Sekunden lang starrte sie nur auf die geschlossene Tür. Dann fiel ihr Blick auf die leere Stelle auf ihrem Schreibtisch. Der Beutel mit Victor Hollands Kleidung war verschwunden.

„Warum hat die Polizei noch mal angerufen?“

Langsam legte Cathy den Hörer zurück. Obwohl sie einen kuscheligen Morgenmantel trug, zitterte sie vor Kälte. Sie drehte sich um und schaute in die Küche zu Sarah. „Der Mann auf der Straße … sie haben eine Kugel in seiner Schulter gefunden.“

Überrascht hielt Sarah im Teegießen inne. „Du meinst, jemand hat auf ihn … geschossen?“

Wie betäubt ging Cathy zum Küchentisch und starrte blicklos auf die Tasse Zimttee, die Sarah ihr zugeschoben hatte. Ein heißes Bad und eine Stunde vor dem gemütlich knisternden Feuer im Kamin hatten dafür gesorgt, dass ihr die Ereignisse der Nacht nur noch wie ein schlimmer Traum vorkamen. In Sarahs Küche mit den Chintzvorhängen und dem Duft von Zimt und anderen Gewürzen schien die Brutalität der Welt meilenweit entfernt.

Sarah beugte sich zu ihr. „Wissen sie, was passiert ist? Hat er irgendetwas gesagt?“

„Er ist gerade aus dem OP gekommen.“ Sie schaute zum Telefon. „Vielleicht sollte ich noch mal im Krankenhaus anrufen …“

„Nein, das solltest du nicht. Du hast alles getan, was du tun konntest.“ Sanft berührte Sarah ihren Arm. „Außerdem wird dein Tee kalt.“

Mit zitternden Fingern wischte Cathy sich eine feuchte Strähne aus der Stirn und ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Eine Kugel in der Schulter. War es der willkürliche Angriff eines Heckenschützen, der aus seinem Wagen auf einen völlig Fremden geschossen hatte? In der Zeitung hatte sie von solchen Vorfällen auf den Highways gelesen.

Oder war es ein gezielter Angriff gewesen? Hatte man Victor Holland erschießen wollen?

Von draußen drangen ein Klappern und ein metallisches Scheppern herein. Sofort saß Cathy kerzengrade. „Was war das?“

Sarah lachte. „Ganz bestimmt nichts, wovor man Angst haben müsste.“ Sie ging zur Küchentür und griff zur Klinke.

„Sarah!“, rief Cathy panisch, als ihre Freundin die Tür öffnete. „Warte.“

„Schau selbst.“ Sarah öffnete die Tür. Das Licht der Küchenlampe fiel auf einige Mülltonnen im Carport. Ein Schatten glitt zu Boden und huschte davon. Er hinterließ eine Spur von leeren Pizza- und Fast-Food-Kartons auf der Straße. „Waschbären“, erklärte Sarah. „Wenn ich die Mülltonnendeckel nicht verschließe, verteilen diese Biester den Abfall im ganzen Garten.“

Ein weiterer Schatten lugte aus einer Mülltonne. Glühende Augen starrten sie aus der Dunkelheit an. Sarah klatschte in die Hände und schrie: „Verschwinde, hau ab!“ Der Waschbär rührte sich nicht. „Hast du kein Zuhause?“ Endlich ließ sich der Waschbär zu Boden fallen und verschwand zwischen den Bäumen. „Von Jahr zu Jahr werden sie kühner“, seufzte Sarah und schloss die Tür. Dann drehte sie sich zu Cathy und zwinkerte ihr zu. „Mach dir nichts draus. Das hier ist nun mal nicht die Großstadt.“

„Daran wirst du mich öfter erinnern müssen.“ Cathy nahm eine Scheibe Bananenbrot und bestrich sie mit Butter. „Ich glaube, Sarah, Weihnachten mit dir zu feiern ist tausendmal schöner als mit Jack.“

„Oje. Wenn wir schon von unseren Exmännern sprechen …“, Sarah schlurfte zu einem Schrank, „… sollten wir uns auch in die richtige Stimmung bringen. Ein Tee ist da wenig hilfreich.“ Grinsend schwenkte sie eine Flasche mit Brandy.

„Sarah, du trinkst doch nicht etwa Alkohol?“

„Der ist nicht für mich.“ Sarah stellte die Flasche und ein Glas vor sie hin. „Aber ich glaube, du könntest einen Schluck gebrauchen. Nach dieser ungemütlichen und schrecklichen Nacht. Dafür sitzen wir jetzt hier im Warmen und können über die Deppen herziehen – soweit sie männlich sind.“

„Na ja, wenn du es so siehst …“ Cathy goss sich einen großzügigen Schluck ein. „Auf die Deppen dieser Welt“, verkündete sie und trank. Sie spürte, wie der Brandy die Kehle hinunterlief. Es fühlte sich gut an.

„Wie geht’s denn dem guten Jack?“, erkundigte Sarah sich.

„Wie immer.“

„Blondinen?“

„Er hat zu Brünetten gewechselt.“

„Er brauchte nur ein Jahr, um alle Blondinen dieser Welt abzuhaken?“

Cathy zuckte mit den Achseln. „Möglicherweise hat er ein paar ausgelassen.“

Beide mussten lachen – ein unbeschwertes Lachen, welches verriet, dass ihre Wunden allmählich verheilten und Männer für sie Geschöpfe waren, über die man ohne Wut und Trauer reden konnte.

Cathy betrachtete ihr Glas. „Glaubst du, dass es noch anständige Männer gibt? Ich meine, einer müsste doch irgendwo da draußen herumlaufen. Vielleicht eine Mutation. Ein halbwegs anständiger Kerl?“

„Sicher. Wahrscheinlich in Sibirien. Aber er ist bestimmt hundertzwanzig Jahre alt.“

„Ältere Männer habe ich schon immer attraktiver gefunden.“

Wieder lachten sie, doch dieses Mal klang es nicht so unbeschwert. Als sie vor vielen Jahren zusammen auf dem College waren, hatten sie noch nicht daran gezweifelt – nein, sie waren davon überzeugt gewesen, dass es überall nur so von Märchenprinzen wimmelte.

Cathy leerte ihr Glas und stellte es ab. „Was bin ich für eine rücksichtslose Freundin. Eine Hochschwangere vom Schlaf abzuhalten. Wie spät ist es eigentlich?“

„Erst halb drei früh.“

„Um Himmels willen, Sarah. Ab ins Bett mit dir!“ Cathy ging zum Spülbecken und befeuchtete eine Handvoll Papiertücher.

„Was hast du vor?“, wollte Sarah wissen.

„Ich möchte die Wagensitze reinigen. Ich habe noch nicht das ganze Blut wegwischen können.“

„Das habe ich schon getan.“

„Wie bitte? Wann?“

„Als du gebadet hast.“

„Sarah, du bist verrückt.“

„He, ich hatte keine Fehlgeburt oder sonst etwas Außerplanmäßiges. Ach, das hätte ich fast vergessen.“ Sarah zeigte auf eine winzige Filmdose auf der Küchentheke. „Das lag auf dem Boden deines Autos.“

Seufzend schüttelte Cathy den Kopf. „Die gehört Hickey.“

„Hickey! Dieser Mann ist die reinste Verschwendung.“

„Er ist ein guter Freund.“

„Mehr als ein Freund wird er für eine Frau auch nie sein. Was ist denn auf dem Film drauf? Nackte Frauen – wie immer?“

„Ich will es gar nicht wissen. Als ich ihn am Flughafen abgesetzt habe, hat er mir ein halbes Dutzend Filmrollen in die Hand gedrückt und gesagt, er würde sie bei mir abholen, wenn er wieder zurück ist. Wahrscheinlich wollte er sie nicht mit nach Nairobi nehmen.“

„Nairobi? Dorthin ist er geflogen?“

„Er fotografiert ‚fantastische Afrikanerinnen‘ oder so ähnlich.“ Cathy steckte die Filmdose in die Tasche ihres Bademantels. „Die muss aus dem Handschuhfach gefallen sein. Hoffentlich ist es nichts Pornografisches.“

„Wie ich Hickey kenne, wahrscheinlich doch.“

Wieder mussten sie lachen. Ironischerweise war Hickman von Trapp, dessen Beruf es war, Frauen in erotischen Posen zu fotografieren, überhaupt nicht am anderen Geschlecht interessiert – mit Ausnahme vielleicht seiner Mutter.

„Einer wie Hickey ist doch der beste Beweis für mein Argument“, meinte Sarah über ihre Schulter, während sie durch den Flur ins Schlafzimmer ging.

„Und das wäre?“

„Dass es auf der Welt keine anständigen Männer mehr gibt.“

Es war das Licht, das Victor aus den Tiefen seiner Bewusstlosigkeit holte – ein Licht, das heller strahlte als ein Dutzend Sonnen und durch seine Lider drang. Er wollte nicht aufwachen. Tief im Unterbewusstsein spürte er, dass er Schmerzen und Übelkeit und noch einiges Unangenehme mehr spüren würde, wenn er gegen diese angenehme Bewusstlosigkeit kämpfen würde: nämlich pure Angst. An den Grund dafür konnte er sich allerdings nicht erinnern. Der Tod? Nein, das hier war der Tod – oder zumindest war es nahe daran, und es fühlte sich warm und schwarz und behaglich an. Aber er hatte etwas Wichtiges zu tun – etwas, das er auf keinen Fall vergessen durfte. Angestrengt überlegte er, doch das Einzige, an das er sich erinnern konnte, war eine Hand, die ihn sanft, aber nachdrücklich streichelte, über seine Stirn fuhr, und eine Stimme, die leise in der Dunkelheit zu ihm sprach.

Ich heiße Catherine …“

Mit der Erinnerung an ihre Berührung und ihre Stimme kam auch die Angst zurück. Nicht seinetwegen (er war ja schließlich tot, oder?), sondern wegen ihr. Die starke, freundliche Catherine. Er hatte ihr Gesicht nur kurz gesehen und konnte sich kaum daran erinnern, aber dennoch wusste er, dass sie wunderschön war – das instinktive Wissen eines Blinden, der ohne sehen zu können ahnt, dass ein Regenbogen oder der Himmel oder das Gesicht seines eigenen Kindes wunderschön ist. Und jetzt hatte er Angst um sie.

Wo sind Sie? hätte er am liebsten gerufen.

„Er kommt zu sich“, sagte eine weibliche Stimme (nicht die von Catherine, sie klang zu harsch und schrill), und ein verwirrendes Stimmengewirr setzte ein.

„Achten Sie auf die Kanüle.“

„Mr Holland, bleiben Sie ganz ruhig. Alles wird gut …“

„Die Kanüle, habe ich gesagt.“

„Geben Sie mir die zweite Blutkonserve.“

„Bewegen Sie sich nicht, Mr Holland …“

Wo bist du, Catherine? Die Frage explodierte in seinem Kopf. Er kämpfte gegen die Versuchung an, zurück in die Bewusstlosigkeit zu sinken. Mühsam öffnete er die Augen. Zunächst sah er Licht und Farben nur verschwommen, und dennoch war der Eindruck so intensiv, dass es ihm wie ein Stich durch die Augenhöhlen ins Gehirn erschien. Allmählich wurden durch den Nebel Gesichter deutlich, Fremde in blauer Kleidung, die ihn stirnrunzelnd betrachteten. Als er versuchte, sich auf sie zu konzentrieren, rebellierte sein Magen.

„Mr Holland, bleiben Sie ganz ruhig“, hörte er eine energische Stimme. „Sie sind im Krankenhaus – im Aufwachzimmer. Ihre Schulter ist gerade operiert worden. Ruhen Sie sich einfach nur aus und schlafen noch ein bisschen …“

Nein, ich kann nicht, wollte er sagen.

„Gebt ihm fünf Milligramm Morphium“, befahl jemand, und Victor spürte ein warmes Gefühl in seinem Arm, das sich bis zum Brustkorb ausbreitete.

„Das müsste wirken“, hörte er. „Und jetzt schlafen Sie. Alles ist wunderbar gelaufen …“

Sie verstehen überhaupt nichts, hätte er am liebsten geschrien. Ich muss sie warnen … Es war sein letzter Gedanke, ehe die Lichter erneut von einer weichen Dunkelheit verschluckt wurden.

Lächelnd lag Sarah in ihrem männerlosen Ehebett. Nein, sie lachte! Ihr ganzer Körper schien in dieser Nacht vor Lachen zu beben. Am liebsten hätte sie gesungen und getanzt, am offenen Fenster gestanden und ihre Freude in die Welt hinausgeschrien! Man hatte ihr gesagt, dass es die Hormone seien – das chemische Chaos der Schwangerschaft hatte in ihrem Körper eine Achterbahnfahrt der Gefühle verursacht. Sie sollte sich besser ausruhen und ihren Zustand mit Gelassenheit sehen, aber heute Nacht war sie überhaupt nicht müde. Die arme Cathy dagegen war so erschöpft gewesen, dass sie nur mit Mühe die Stufen ins Dachzimmer geschafft hatte, in dem ihr Bett stand. Und Sarah war hellwach!

Sie schloss die Augen und konzentrierte ihre Gedanken auf das Kind in ihrem Bauch. Wie geht es dir, mein Schatz? Schläfst du? Oder lauschst du meinen Gedanken?

Das Baby bewegte sich in ihrem Bauch. Dann wurde es wieder ruhig. Es war eine Antwort – heimliche Worte, die nur sie beide miteinander tauschten. Fast war Sarah froh, dass es keinen Ehemann gab, der sie von dieser stummen Unterhaltung ablenken konnte, der als unbeteiligter Außenseiter eifersüchtig neben ihr lag. Es gab nur Mutter und Kind, das uralte Band, die mystische Verbindung.

Arme Cathy. Die Achterbahn raste vom Gipfel der Freude in ein Tal der Trauer, die sie für ihre Freundin empfand. Sie wusste, dass Cathy sich ebenfalls sehnlichst ein Kind wünschte, aber die biologische Uhr tickte immer lauter. Cathy war zu sehr Romantikerin, um zuzugeben, dass der Mann und die Umstände möglicherweise niemals perfekt sein würden. Hatte sie nicht zehn lange Jahre gebraucht, bis sie endlich eingesehen hatte, dass ihre Ehe ein schreckliches Desaster war? Dabei hatte sie sich ständig bemüht, ihre Beziehung zu retten. Sie war, nein, sie wollte blind sein gegenüber Jacks Fehlern – vor allem gegenüber seinem Egoismus. Erstaunlich, dass eine so intelligente und einfühlsame Frau die Dinge so lange hatte schleifen lassen. Aber so war Cathy nun mal. Selbst mit siebenunddreißig war sie auf geradezu idiotische Weise loyal und vertrauensselig.

Das Knirschen von Kies auf der Einfahrt erregte ihre Aufmerksamkeit. Mucksmäuschenstill lag sie im Bett und lauschte. Einen Moment lang hörte sie nur das vertraute Ächzen der Bäume und das Rascheln der Blätter, wenn die Zweige gegen das Schindeldach schlugen. Da – schon wieder dieses Geräusch. Steine kullerten über die Straße und dann das leise Quietschen von Metall. Schon wieder diese Waschbären! Wenn sie sie nicht verjagte, würden sie den Müll über die gesamte Fahrbahn verteilen.

Seufzend setzte sie sich auf und tastete in der Dunkelheit nach ihren Pantoffeln. Geräuschlos schlurfte sie aus dem Schlafzimmer hinaus in den Korridor und schlug instinktiv den Weg zur Küche ein. Sie fand die Dunkelheit zu anheimelnd, um sie durch unnötiges Licht zu vertreiben. Anstatt die Lampe im Carport einzuschalten, griff sie zu der Taschenlampe, die am gewohnten Platz auf dem Küchenregal lag, und schloss die Tür auf.

Der Mond warf ein milchiges Licht durch die Wolkendecke. Sie richtete die Lampe auf die Mülltonnen, aber im Strahl leuchteten keine Waschbäraugen auf, und ebenso wenig entdeckte sie verräterischen Abfall. Der Schein der Lampe spiegelte sich im Metall der Tonnen. Ratlos durchquerte sie den Carport und blieb vor Cathys Datsun stehen, den sie in der Einfahrt geparkt hatte.

In diesem Moment bemerkte sie das schwache Licht im Wagen. Durch die Scheibe konnte sie erkennen, dass das Handschuhfach offen stand. Zuerst dachte sie, dass es von selbst aufgegangen war oder Cathy vergessen hatte, es zu schließen. Dann entdeckte sie die Straßenkarten, die über den Beifahrersitz verstreut waren.

Entsetzt fuhr sie zurück. Die Angst war auf einmal so überwältigend, dass sie das Gefühl hatte, keinen Schritt tun zu können. Unvermittelt spürte sie eine unheimliche Nähe. Jemand wartete in der Dunkelheit. Sie fühlte seine Gegenwart wie einen kühlen Windstoß in der Nacht.

Rasch machte sie kehrt. Das Licht der Taschenlampe wischte durch die Dunkelheit – und gefror auf dem Gesicht eines Mannes. Die Augen, die auf sie herabschauten, waren kalt und schwarz wie Kieselsteine. Den Rest seines Gesichts nahm sie kaum wahr: weder die Hakennase noch die dünnen blutleeren Lippen. Sie sah nur die Augen. Es waren die Augen eines Mannes ohne Seele.

„Guten Abend, Catherine“, flüsterte er. In seiner Stimme hörte sie den herannahenden Tod.

Bitte, wollte sie schreien, als er ihr Haar nach hinten riss und ihren Hals freilegte. Lass mich leben.

Aber sie brachte keinen Ton hervor. Die Worte blieben ihr ebenso in der Kehle stecken wie seine Klinge.

Am nächsten Morgen wurde Cathy vom Gezänk der Blauhäher geweckt. Sie musste lächeln, als sie diese merkwürdigen Geräusche hörte – Flügel, die aufgeregt gegen die Fensterscheibe schlugen, das hektische Kreischen gefiederter Gegner. Es klang ganz anders als das Dröhnen der Busse und Autos, an das sie gewöhnt war. Das Krächzen der Blauhäher entfernte sich aufs Dach, und ihre Flügel flatterten gegen die Schindeln, während sie ihre Kämpfe ausfochten. Sie lauschte den Klängen des Streits – hinauf auf der einen Seite des Daches und zur anderen Seite wieder hinunter. Schließlich wurde ihr langweilig, und sie schaute zum Fenster.

Die Strahlen der Morgensonne tauchten das Dachzimmer in sanftes Licht. Es war das perfekte Kinderzimmer. Sarah hatte schon eine Menge geändert … die Vorhänge mit den Märchenmotiven, die Tierbilder an der Wand. Plötzlich empfand sie eine tiefe Freude bei dem Gedanken, dass demnächst hier ein Baby schlafen würde. Lächelnd wickelte sie sich die Bettdecke um die Knie. Ihr Blick fiel auf ihre Armbanduhr auf dem Nachttisch. Schon halb zehn. Der halbe Morgen war bereits vorbei!

Zögernd verließ sie die Wärme des Betts und suchte in ihrem Koffer nach einem Sweatshirt und einer Jeans. Mit dem Gezänk der Blauhäher als Hintergrundmusik zog sie sich an. Die Vögel hatten sich mittlerweile in die Baumkronen verzogen. Durch das Fenster beobachtete sie sie dabei, wie sie von Ast zu Ast hüpften, bis einer von ihnen sozusagen die weiße Flagge hisste und geschlagen das Feld räumte. Der Sieger, dessen Autorität nicht länger infrage gestellt wurde, stieß einen letzten Schrei aus und machte sich wieder daran, sein Gefieder zu putzen.

Erst jetzt fiel Cathy die Stille im Haus auf – eine Stille, in der ihr jeder Herzschlag und jeder Atemzug erschreckend laut erschienen.

Sie verließ die Dachstube und stieg die Treppe hinunter. Das Wohnzimmer war leer. Im Kamin lag die Asche vom Feuer der vergangenen Nacht. Eine silberne Girlande war vom Weihnachtsbaum gerutscht. Auf dem Kaminsims stand ein Engel aus Papier mit glitzernden Flügeln. Sie durchquerte den Korridor und bemerkte, dass die Tür zu Sarahs Zimmer offen war. Stirnrunzelnd betrachtete sie das zerwühlte Bett und das Laken auf dem Boden. „Sarah?“

Die Stille verschluckte ihre Stimme. Konnte ein Cottage wirklich so geräumig sein? Sie ging zurück durchs Wohnzimmer in die Küche. Die Teetassen vom Abend zuvor standen noch in der Spüle. Auf der Fensterbank zitterte Spargelkraut im Luftzug, der durch die offene Tür wehte.

Cathy trat in den Carport, in dem Sarahs alter Dodge stand. „Sarah?“, rief sie.

Etwas raschelte auf dem Dach. Erschrocken schaute sie hoch und musste lachen, als sie den Blauhäher im Baum über ihr kreischen sah – zweifellos eine Triumphrede. Selbst im Tierreich gab es selbstgefällige Kreaturen.

Gerade als sie ins Haus zurückgehen wollte, bemerkte sie den Fleck auf dem Kies neben dem Hinterreifen des Wagens. Ein paar Sekunden lang starrte sie verständnislos auf die rostbraune Stelle. Langsam ging sie am Wagen vorbei und entdeckte weitere Flecken. Ihr Blick folgte der sich schlängelnden Spur.

Sie umrundete das Heck des Wagens und konnte die gesamte Einfahrt überschauen. Der getrocknete rotbraune Bach mündete in einen purpurroten See, in dem eine einzige Schwimmerin lag – reglos und mit weit geöffneten Augen.

Unvermittelt hörte der Blauhäher mit seinem Gezeter auf, als ein anderer Laut in die Baumkronen stieg: Cathys Schrei.

„He, Mister. Mister, hallo!“

Victor versuchte, die Stimme zu ignorieren, aber sie blieb hartnäckig in seinem Ohr – wie eine lästige Fliege, die sich nicht vertreiben ließ.

„He, Mister. Sind Sie wach?“

Victor öffnete die Augen. Es kostete ihn ungeheure Mühe, das krumme Gesicht mit dem grauen Backenbart klar und deutlich erkennen zu können. Die Erscheinung grinste, und schwarze Lücken wurden sichtbar, wo eigentlich Zähne sein sollten. Victor starrte in dieses dunkle Loch, das ein Mund war, und dachte: Ich bin gestorben und in der Hölle gelandet.

„He, Mister, haben Sie eine Zigarette?“

Victor schüttelte den Kopf und presste mühsam hervor: „Ich glaube nicht.“

„Können Sie mir dann einen Dollar leihen?“

„Lassen Sie mich in Ruhe“, stöhnte Victor und schloss die Augen, um das grelle Tageslicht auszublenden. Angestrengt versuchte er, sich zu erinnern, wo er war, aber sein Kopf schmerzte höllisch, und die Stimme des kleinen Mannes ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.

„Ich krieg hier nirgendwo Zigaretten. Ist wie im Knast. Warum stehe ich nicht einfach auf und gehe hinaus? Aber wissen Sie, um diese Jahreszeit ist es draußen auf der Straße verdammt kalt. Die ganze Nacht hat’s geregnet. Hier drinnen ist es wenigstens warm …“

Die ganze Nacht hat’s geregnet … Plötzlich erinnerte Victor sich wieder. Der Regen. Er war durch den Regen gelaufen … immer weitergelaufen.

Victor riss die Augen auf. „Wo bin ich?“

„Station Nummer drei, Ostflügel. Das Reich der Hexen.“

Mühsam richtete er sich auf. Vor Schmerz hätte er beinahe laut gestöhnt. Der Metallständer, an dem die Infusionsflüssigkeit hing, die in das Röhrchen tropfte, verschwamm vor seinen Augen. Er drehte den Kopf und bemerkte den Verband an seiner linken Schulter. Und bei einem Blick aus dem Fenster stellte er fest, dass es bereits heller Tag war. „Wie spät ist es?“

„Keine Ahnung. Neun Uhr vielleicht. Das Frühstück haben Sie jedenfalls verpasst.“

„Ich muss hier raus.“ Victor schwang die Beine aus dem Bett und stellte fest, dass er unter dem dünnen Krankenhaushemd nackt war. „Wo sind meine Sachen? Meine Brieftasche?“

Der alte Mann zuckte mit den Schultern. „Das sollte die Schwester wissen. Fragen Sie sie.“

Victor fand den Rufknopf zwischen den Laken. Er drückte ein paarmal darauf. Danach begann er, das Pflaster abzuziehen, mit dem die Kanüle an seinem Arm befestigt war.

Die Tür flog auf, und eine weibliche Stimme erklang: „Mr Holland! Was machen Sie da?“

„Ich verschwinde von hier“, erwiderte Victor, während er das letzte Pflaster abriss. Ehe er die Kanüle herausziehen konnte, eilte die Schwester an sein Bett, so schnell es ihre stämmigen Beine erlaubten, und legte eine Gazebinde über den Katheter.

„Machen Sie mir bloß keine Vorwürfe“, kreischte der kleine Mann.

„Lenny, gehen Sie sofort in Ihr Bett zurück. Und Sie, Mr Holland“, wandte sie sich an ihn und richtete den stahlblauen Blick ihrer Augen auf Victor, „haben zu viel Blut verloren.“ Sie drückte seinen Arm gegen ihren wuchtigen Bizeps und begann, den Katheter wieder zu befestigen.

„Holen Sie mir einfach meine Kleidung.“

„Keine Diskussionen, Mr Holland. Sie müssen hierbleiben.“

„Warum?“

„Weil Sie eine Transfusion bekommen“, blaffte sie ihn an, als ob dies eine Entscheidung wäre, die nicht rückgängig gemacht werden konnte.

„Ich will meine Sachen haben.“

„Da muss ich in der Notaufnahme nachfragen. Die haben nichts von Ihnen hier hochgebracht.“

„Dann rufen Sie die Notaufnahme an, verdammt noch mal.“ Als er ihr missbilligendes Stirnrunzeln sah, fügte er hinzu: „Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“

Es dauerte eine weitere halbe Stunde, ehe eine Frau von der Patientenaufnahme auftauchte, um zu erklären, was mit Victors Sachen geschehen war.

„Ich fürchte, wir … nun ja, wir scheinen Ihre persönlichen Dinge … sie sind jedenfalls nicht mehr da, Mr Holland“, stammelte sie verlegen.

„Was soll das heißen – sie sind nicht mehr da?“

„Sie wurden …“, sie räusperte sich „… gestohlen. Aus der Notaufnahme. Glauben Sie mir, das ist noch nie passiert. Es tut uns sehr leid, Mr Holland, und ich bin sicher, dass wir für Ersatz sorgen können …“

Sie war zu sehr damit beschäftigt, sich zu entschuldigen, um Victors alarmierten Gesichtsausdruck zu bemerken. Fieberhaft versuchte er, sich zu erinnern. Die Ereignisse der vergangenen Nacht lagen wie in einem dichten Nebel. Was war mit der Filmrolle passiert? Er wusste, dass er sie auf der endlos langen Fahrt zum Krankenhaus in seiner Tasche gehabt hatte. Er erinnerte sich daran, dass er sie fest in der Hand gehalten und ziellos nach der Frau geschlagen hatte, als sie versucht hatte, die Hand aus seiner Tasche zu ziehen. Und dann … war da nur noch eine große Leere, ein dunkles Loch. Habe ich sie verloren? Habe ich meinen einzigen Beweis verloren?

„Ihr Geld ist weg, aber die Kreditkarten sind noch alle vorhanden. Glücklicherweise.“

Verständnislos schaute er sie an. „Was?“

„Ihre Wertsachen, Mr Holland.“ Sie zeigte auf seine Brieftasche und die Armbanduhr, die sie auf den Nachttisch gelegt hatte. „Einer der Sicherheitsleute hat sie in der Mülltonne neben dem Krankenhaus gefunden. Sieht so aus, als hätte es der Dieb nur auf Ihr Bargeld abgesehen.“

„Und meine Klamotten. Stimmt.“

Kaum hatte die Frau das Zimmer verlassen, drückte Victor den Knopf, um die Krankenschwester, Ms Redfern, zu holen. Sie kam mit einem Frühstückstablett zurück. „Essen Sie etwas, Mr Holland“, befahl sie. „Vielleicht sind Sie unterzuckert. Das würde Ihr Verhalten erklären.“

„Eine Frau hat mich in die Notaufnahme gefahren“, sagte er. „Ihr Vorname war Catherine. Ich muss unbedingt mit ihr reden.“

„Oh, schauen Sie nur: Rührei und Cornflakes. Hier ist Ihre Gabel …“

„Ms Redfern, würden Sie endlich diese verdammten Cornflakes wegnehmen?“

Energisch stellte Ms Redfern die Cornflakesschachtel ab. „Kein Grund, gleich ausfallend zu werden!“

„Ich muss diese Frau finden!“

Ohne ein weiteres Wort machte Ms Redfern auf dem Absatz kehrt und rauschte aus dem Zimmer. Ein paar Minuten später kam sie zurück und drückte ihm ein Stück Papier in die Hand. Darauf stand der Name Catherine Weaver, gefolgt von einer Adresse in der Nähe.

„Sie sollten sich mit dem Essen beeilen“, riet die Schwester ihm. „Draußen wartet ein Polizist, der mit Ihnen reden will.“

„Na prima“, brummte er, während er eine Gabel mit kaltem Rührei in den Mund stopfte.

„Ein Mann vom FBI hat auch angerufen. Er ist bereits unterwegs hierher.“

Alarmiert schaute Victor hoch. „FBI? Wie hieß er?“

„Herrje, woher soll ich das wissen? Klang irgendwie polnisch, glaube ich.“

Victor schaute sie unverwandt an, während er die Gabel sinken ließ. „Polowski“, sagte er leise.

„Ja, so hat es sich angehört. Polowski.“ Sie drehte sich um. Im Hinausgehen murmelte sie: „Das FBI, soso. Was hat er wohl angestellt, dass sie sich für ihn interessieren?“

Noch ehe die Tür ins Schloss fiel, sprang Victor aus dem Bett und zerrte an der Kanüle. Er spürte kaum den Schmerz, als er sich ein paar Härchen mit dem Pflaster herausriss. Er musste so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus verschwinden, ehe Polowski auftauchte, denn er war davon überzeugt, dass er dem FBI-Agenten den Hinterhalt von vergangener Nacht zu verdanken hatte. Und auf einen weiteren Angriff verspürte er nicht die geringste Lust.

Abrupt wandte er sich seinem Bettnachbarn zu. „Lenny, wo sind Ihre Sachen?“

Zögernd schaute Lenny zu einem Schrank neben dem Waschbecken. „Ich habe keine anderen Kleider. Außerdem würden die Ihnen sowieso nicht passen …“

Victor riss den Schrank auf und zog ein ausgefranstes Baumwollhemd und eine schlabbrige Kunstfaserhose heraus. Die Hose war etwa zwölf Zentimeter zu kurz, so dass Victors Waden unter dem Saum hervorlugten, aber den Gürtel konnte er problemlos schließen. Die eigentliche Schwierigkeit bestand darin, Schuhe in Größe sechsundvierzig zu finden. Zu seiner Erleichterung entdeckte er im Schrank auch ein Paar von Lennys Sandalen. Seine Ferse stand zwar mindestens drei Zentimeter über, aber wenigstens musste er nicht barfuß laufen.

„Das sind meine“, protestierte Lenny.

„Hier. Die gebe ich Ihnen dafür.“ Victor warf dem alten Mann seine Armbanduhr zu. „Wenn Sie die verkaufen, können Sie sich von Kopf bis Fuß neu einkleiden.“

Misstrauisch hielt Lenny die Uhr an sein Ohr. „Der reinste Schrott. Die tickt ja nicht mal.“

„Ist eine Quarzuhr.“

„Ach so. Wusste ich natürlich.“

Victor steckte seine Brieftasche ein und ging zur Tür, die er nur einen Spaltbreit öffnete, um auf den Korridor zu schauen, an dessen Ende das Schwesternzimmer lag. Die Luft war rein. Er drehte sich nach Lenny um. „Machen Sie’s gut, Kumpel. Und grüßen Sie Ms Redfern von mir.“

Er schlüpfte aus dem Raum und schlich über den Korridor. Die Feuerleiter lag am entgegengesetzten Ende vom Schwesternzimmer. Auf der Tür prangte der Hinweis: Nicht öffnen! Alarmgesichert! Unbeirrt schritt er darauf zu. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, vermied er es zu laufen. Doch als er die Tür fast erreicht hatte, schallte eine vertraute Stimme über den Korridor.

„Mr Holland! Kommen Sie sofort zurück!“

Victor sprang zur Tür, drückte die Sperre hinunter und hastete ins Treppenhaus.

Laut hallten seine Tritte auf dem Zement, während er die Stufen hinunterrannte. Er hatte bereits das Erdgeschoss erreicht, als er Ms Redferns Schritte hinter sich hörte, und öffnete die letzte Tür zur Freiheit.

„Mr Holland!“, schrie Ms Redfern.

Ihre Stimme gellte ihm noch im Ohr, als er bereits über den Parkplatz hastete.

Acht Häuserblocks weiter verschwand er in einem Supermarkt. Er brauchte nur zehn Minuten, um ein Hemd, Jeans, Unterwäsche, Socken und Tennisschuhe Größe sechsundvierzig zu kaufen, für die er mit seiner Kreditkarte bezahlte. Lennys Klamotten entsorgte er in einem Abfallkorb.

Ehe er wieder auf die Straße trat, sondierte er die Lage durch das Schaufenster. Alles sah nach einem ganz normalen Dezembermorgen in einer Kleinstadt aus. Kunden liefen unter der Weihnachtsdekoration hindurch, und ein halbes Dutzend Wagen warteten geduldig vor einer roten Ampel. Er wollte gerade hinausgehen, als er den Streifenwagen bemerkte, der langsam die Straße entlangfuhr. Sofort duckte er sich hinter eine nackte Schaufensterpuppe und sah dem Wagen durch die Lücke zwischen Arm und Oberkörper dabei zu, wie er den Supermarkt passierte und langsam in Richtung Krankenhaus rollte. Offensichtlich suchten sie jemanden. War er derjenige?

Ein Bummel über die Hauptstraße wäre zu riskant, da er keine Ahnung hatte, wer außer Polowski ein doppeltes Spiel mit ihm trieb.

Für den Fußmarsch bis an den Stadtrand brauchte er fast eine Stunde. Anschließend konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Der Adrenalinschub, der ihm bei der Flucht aus dem Krankenhaus geholfen hatte, war längst verbraucht. Zu müde für einen weiteren Schritt sank er auf einen Felsblock am Rand der Autobahn und streckte zögernd den Daumen raus. Zu seiner großen Erleichterung scherte bereits das erste Fahrzeug aus – ein Pick-up, der mit Brennholz beladen war. Dankbar stieg Victor ein und ließ sich auf den Sitz fallen.

Der Fahrer spuckte aus dem Fenster und musterte Victor aus zugekniffenen Augen unter einer Baseballkappe. „Haben Sie ’nen weiten Weg?“

„Nur ein paar Meilen. Bis zur Oak Hill Road.“

„Okay. Da komme ich vorbei.“ Der Mann fuhr zurück auf die Fahrbahn. Schwarzer Rauch quoll aus dem Auspuff, als er Gas gab. Aus dem Radio dröhnte Countrymusik.

Durch die Gitarrenmusik vernahm Victor ein Geräusch, das ihn kerzengrade sitzen ließ. Eine Sirene. Er wandte den Kopf und sah einen Streifenwagen, der rasch näher kam. Das war’s also, dachte Victor. Sie haben mich gefunden. Sie werden diesen Truck anhalten und mich verhaften

Aber mit welcher Begründung? Weil er aus dem Krankenhaus geflohen war? Weil er Ms Redfern beleidigt hatte? Oder hatte Polowski irgendeine Anschuldigung gegen ihn erfunden?

Gewappnet für das drohende Unheil, wartete Victor darauf, dass der Streifenwagen überholte und sie zum Anhalten aufforderte. Er war sich dessen so sicher, dass er dem Wagen nur verblüfft hinterherstarren konnte, als das Einsatzfahrzeug sie überholte und über die Autobahn davonsauste.

„Da gibt’s wohl irgendwo Probleme.“ Der Fahrer deutete mit dem Kopf auf den Streifenwagen.

Victor räusperte sich mühsam. „Probleme?“

„Jau. Die haben nicht oft Gelegenheit, die Sirene einzuschalten, aber wenn sie es tun, Junge, Junge, dann brennt die Hütte wirklich.“

Victor lehnte sich zurück und zwang sich zur Ruhe. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen. Der Polizeieinsatz galt nicht ihm, sondern etwas anderem. Was mochte in dieser Kleinstadt wohl passiert sein, dass gellende Sirenen zum Einsatz kamen? Wahrscheinlich waren es bloß ein paar Jugendliche, die Papas Wagen für eine Spritztour stibitzt hatten.

Als sie die Abzweigung zur Oak Hill Road erreichten, hatte Victors Puls sich wieder beruhigt. Er bedankte sich bei dem Fahrer, kletterte aus dem Wagen und schlug den Weg zu Catherine Weavers Haus ein. Die Straße war ziemlich lang und schlängelte sich durch einen Pinienwald. Ab und an kam er an einem Briefkasten vorbei, und wenn er durch die Bäume spähte, konnte er dahinter Häuser ausmachen. Rasch näherte er sich Catherines Adresse.

Was, um alles in der Welt, sollte er ihr bloß sagen? Bis zu diesem Moment hatte er sich nur auf den Weg konzentriert. Jetzt, da er Catherines Haus fast erreicht hatte, wurde es Zeit, sich eine plausible Erklärung auszudenken, warum er aus dem Krankenhaus geflüchtet und sich in seinem Zustand die Mühe gemacht hatte, sie aufzusuchen. Ein einfaches „Danke, dass Sie mein Leben gerettet haben“ würde wohl kaum ausreichen. Er musste unbedingt herausfinden, ob sie die Filmrolle hatte. Sie würde dann natürlich wissen wollen, warum dieses verdammte Ding so wichtig war.

Du könntest ihr die Wahrheit erzählen.

Vergiss es! Nur zu gut konnte er sich vorstellen, wie sie reagieren würde, wenn er ihr eine fantastische Geschichte von Viren, ermordeten Wissenschaftlern und FBI-Agenten erzählte, die ein doppeltes Spiel spielten. Das FBI ist hinter Ihnen her? Verstehe. Und wer ist sonst noch hinter Ihnen her, Mr Holland? Es war so absurd, dass er fast gelacht hätte. Nein, von alldem konnte er ihr nichts erzählen, wenn er es vermeiden wollte, wieder in einem Krankenhaus zu landen – aber dann in einer Anstalt, die Ms Redferns Station Nummer drei, Ostflügel, wie ein Paradies erscheinen lassen würde.

Catherine brauchte davon nichts zu erfahren. Es wäre sogar besser für sie. Die Frau hatte ihm das Leben gerettet, und er dachte nicht im Traum daran, sie in Gefahr zu bringen. Er wollte nur den Film von ihr. Und dann würde sie ihn nie mehr wiedersehen.

Er war so tief in seine Gedanken versunken, dass er die Streifenwagen erst bemerkte, als er um eine Kurve bog. Wie vom Donner gerührt, blieb er stehen, als ihm die drei Einsatzwagen den Weg versperrten. Vermutlich war die gesamte Wagenflotte der Polizei von Garberville vor dem rustikalen Holzhaus vorgefahren. Ein halbes Dutzend Nachbarn hatten sich auf der Kieseinfahrt eingefunden. Einige schüttelten ungläubig den Kopf. War Catherine vielleicht etwas zugestoßen?

Er bekämpfte den Wunsch, auf dem Absatz kehrtzumachen und wegzulaufen. Victor drückte sich an den Polizeiwagen und den Gaffern vorbei. Ein uniformierter Beamter hielt ihn auf.

„Tut mir leid, Sir, aber weiter dürfen Sie nicht.“

Verwirrt schaute Victor auf das gelbe Absperrband. Langsam wanderte sein Blick zu dem alten Datsun, der vor dem Carport stand. War das Catherines Wagen? Mühsam versuchte er, sich daran zu erinnern, ob sie einen Datsun gefahren hatte. Doch in der Nacht zuvor war es so dunkel gewesen, und er hatte vor lauter Schmerzen nicht darauf geachtet. Er wusste nur noch, dass es ein Kleinwagen gewesen war, in dem seine Beine kaum Platz gefunden hatten. Dann entdeckte er den verblichenen Aufkleber auf der Heckstoßstange – ein Parkberechtigungsschein für Studio A.

„Ich arbeite bei einer Independent-Filmgesellschaft“, hatte sie ihm erzählt.

Es war Catherines Wagen.

Zögernd folgte er der Spur der Flecken auf den Kieseln, und obwohl ihm sein Verstand sagte, dass dieses seltsame Rot nur getrocknetes Blut sein konnte, wollte er es sich nicht eingestehen. Er redete sich ein, dass es eine andere Erklärung für diese Flecken geben musste – und für diese beunruhigende Ansammlung von Polizisten.

Er versuchte zu sprechen, aber seine Stimme klang, als habe er Kieselsteine in der Kehle.

„Was haben Sie gesagt, Sir?“, fragte der Polizeibeamte.

„Was … was ist denn passiert?“

Betrübt schüttelte der Beamte den Kopf. „Vergangene Nacht ist hier eine Frau umgebracht worden. Unser erster Mord in zehn Jahren.“

Mord?“ Noch immer starrte Victor entgeistert auf die blutverschmierten Kieselsteine. „Aber … warum?“

Der Officer zuckte mit den Schultern. „Das wissen wir noch nicht. Raubmord vielleicht. Aber die Beute war nicht sehr groß.“ Mit dem Kopf deutete er auf den Datsun. „Nur der Wagen ist aufgebrochen worden.“

Falls Victor etwas erwiderte, konnte er sich später nicht mehr daran erinnern. Wie durch einen Nebel bekam er mit, dass seine Beine ihn durch die Zuschauergruppe trugen, vorbei an den drei Streifenwagen zurück zur Straße. Die Sonne schien so hell, dass ihm die Augen schmerzten und er kaum etwas erkennen konnte.

Ich habe sie getötet, dachte er. Sie hat mir das Leben gerettet, und ich habe sie getötet.

Das überwältigende Schuldgefühl nahm ihm den Atem. Wie betäubt blieb er stehen und ließ den Kopf hängen. Der Schmerz war so intensiv, dass er nicht weiterlaufen konnte. Lange verharrte er reglos am Straßenrand, die Sonne im Gesicht, das Gekreisch von Blauhähern im Ohr, und trauerte um eine Frau, die er überhaupt nicht kannte.

Als er den Kopf endlich wieder heben konnte, fühlte er Wut in sich aufsteigen. Wut, die ihm genügend Energie verlieh, den Weg zurückzulaufen, und Wut auf Catherines Mörder. Und er war wütend auf sich selbst, weil er sie in Gefahr gebracht hatte. Der Mörder hatte den Film gesucht und vermutlich im Datsun gefunden. Andernfalls hätte er auch das Haus auf den Kopf gestellt.

Und nun? überlegte Victor. Er glaubte nicht, dass sein Aktenkoffer, in dem er die meisten Beweise aufbewahrte, noch in seinem demolierten Wagen lag. Dort hatte der Mörder wohl zuerst gesucht. Ohne den Film hatte Victor allerdings nichts in der Hand. Sein Wort würde gegen das von Viratek stehen. Die Medien würden in ihm nichts weiter sehen als einen Exangestellten mit Wut im Bauch. Und nach Polowskis doppeltem Spiel konnte er auch dem FBI nicht mehr trauen.

Bei diesem Gedanken beschleunigte er seine Schritte. Je eher er aus Garberville verschwand, umso besser. Sobald er den Highway erreichte, würde er versuchen, ein weiteres Fahrzeug anzuhalten. Wenn er erst einmal die Stadt hinter sich gelassen hatte, konnte er über den nächsten Schritt nachdenken.

Er beschloss, nach Süden zu fahren. Nach San Francisco.

3. KAPITEL

Vom Fenster seines Büros bei Viratek beobachtete Archibald Black die Limousine, die durch die von Bäumen gesäumte Einfahrt rollte und vor dem Haupteingang stehen blieb. Black schnaubte verächtlich. Der Cowboy war zurück in der Stadt. Mist! Dabei schwafelte dieser Mann andauernd über die Wichtigkeit von Geheimhaltung und davon, dass niemand von seinem kleinen Geheimnis erfahren dürfe. Und jetzt fuhr dieser Schwachkopf in einer Protzlimousine vor – mit einem livrierten Chauffeur am Steuer. Nicht zu fassen!

Black wandte dem Fenster den Rücken zu und ging hinüber zu seinem Schreibtisch. Er musste sich eingestehen, dass er sich, obwohl er seinen Besucher verachtete, in dessen Gegenwart unwohl fühlte – so wie es ihm bei allen „Männern der Tat“ erging. Leider mehr Muskeln als Hirn. Die Schwachköpfe haben zu viel Macht in den Händen, überlegte er. War das nicht bezeichnend für die Typen, denen man die Führung des Landes anvertraute?

Die Wechselsprechanlage summte. „Mr Black?“, meldete sich seine Sekretärin. „Ein Mr Tyrone möchte Sie sprechen.“

„Lassen Sie ihn bitte hereinkommen.“ Black war bemüht, sich seine Abneigung nicht anmerken zu lassen. Stattdessen begrüßte er Matthew Tyrone mit höflicher Beflissenheit, als er das Büro betrat.

Die beiden Männer schüttelten sich die Hand. Tyrones Griff war unangemessen fest, als wollte er Black damit zu verstehen geben, wer der Mächtigere war. Sein Auftreten verriet in Aussehen und Habitus den Exmarine, der er gewesen war. Nur sein Bauchansatz ließ darauf schließen, dass Tyrones Zeit als Soldat schon lange Geschichte war.

„Wie war der Flug von Washington?“, erkundigte Black sich, während sie Platz nahmen.

„Furchtbarer Service. Die zivilen Fluggesellschaften sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Wenn man bedenkt, dass der Durchschnittsamerikaner viel Geld dafür bezahlt …“

„Wahrscheinlich kein Vergleich zu einem Flug mit der Air Force One.“

Tyrone lächelte. „Kommen wir zum Geschäftlichen. Erzählen Sie mir, wie es um Ihr kleines Problem steht.“

Black entging Tyrones Wortwahl nicht. Ihr kleines Problem! Jetzt ist es also mein Problem, dachte er. Natürlich. Das meinten sie mit Bestreitbarkeit: Wenn etwas schiefläuft, ist immer jemand anders schuld. Wenn irgendetwas davon bekannt werden sollte, würde Blacks Kopf rollen. Aber genau deshalb war dieser Vertrag auch so lukrativ, weil er – beziehungsweise Viratek – bereit war, das Risiko auf sich zu nehmen.

„Wir haben die Dokumente retten können“, begann Black. „Und die Filmrollen. Die Negative werden gerade entwickelt.“

„Und Ihre beiden Angestellten?“

Black räusperte sich. „Es ist nicht nötig, weitere Maßnahmen zu ergreifen.“

„Sie stellen ein Risiko für die nationale Sicherheit dar.“

„Sie können sie nicht einfach töten.“

„Können wir nicht?“ Tyrones Augenfarbe war ein kaltes Stahlgrau. Eine passende Farbe für jemanden, der sich „der Cowboy“ nannte. Man diskutierte nicht mit einem Mann, der solche Augen hatte. Nicht, wenn man über einen gesunden Selbsterhaltungstrieb verfügte.

Ergeben neigte Black den Kopf. „Ich bin an diese Art von … Geschäft nicht gewöhnt. Und ich möchte mit Ihrem Mr Savitch nichts zu tun haben.“

„Mr Savitch hat bereits ausgezeichnete Arbeit für uns geleistet.“

„Er hat einen meiner leitenden Wissenschaftler getötet!“

„Dann war es wohl notwendig.“

Bekümmert betrachtete Black seinen Schreibtisch. Allein der Gedanke an dieses Monster Savitch jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

„Warum genau hat Martinique sich gegen uns gewandt?“

Weil er ein Gewissen hat, dachte Black. Er schaute Tyrone an. „Das hatte niemand vorhersehen können. Zehn Jahre lang hat er in der Abteilung für Forschung und Entwicklung gearbeitet. Er war nie ein Sicherheitsproblem. Wir haben erst vergangene Woche herausgefunden, dass er geheime Dokumente gestohlen hatte. Und dann ist Victor Holland in die Sache hineingezogen worden …“

„Wie viel weiß Holland?“

„Holland hatte mit dem Projekt nichts zu tun. Aber er ist intelligent. Falls er einen Blick auf die Unterlagen geworfen hat, dürfte er eins und eins zusammenzählen können.“

Tyrone wurde nervös. Er trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. „Erzählen Sie mir von Holland. Was wissen Sie über ihn?“

„Ich habe mir seine Personalakte angeschaut. Er ist einundvierzig Jahre alt, geboren und aufgewachsen in San Diego. Hat die dortige Universität besucht, aber nach einem Jahr abgebrochen. Anschließend war er in Stanford und dann beim MIT. Doktor in Biochemie. Bei Viratek ist er seit vier Jahren angestellt. Einer unserer vielversprechendsten Forscher.“

„Was ist mit seinem Privatleben?“

„Seine Frau ist vor drei Jahren an Leukämie gestorben. Lebt seitdem ziemlich zurückgezogen. Ein ruhiger Typ. Liebt klassischen Jazz und spielt selbst Saxofon in einer Band.“

Tyrone lachte. „Der typische verschrobene Wissenschaftler.“ Das war genau der dämliche Kommentar, den man von einem Exsoldaten wie Tyrone erwarten konnte. Auch Black fühlte sich von der Beleidigung getroffen. Lange bevor er Viratek Industries gegründet hatte, war er selbst als Biochemiker in der Forschung tätig gewesen.

„Es dürfte nicht schwer sein, ihn loszuwerden“, meinte Tyrone. „Er hat keine Erfahrung mit solch einer Situation. Und wahrscheinlich Angst.“ Er griff nach seiner Aktentasche. „Mr Savitch ist Experte auf diesem Gebiet. Ich schlage vor, Sie überlassen es ihm, das Problem zu lösen.“

„Natürlich.“ Insgeheim überlegte Black, dass ihm gar keine Wahl blieb. Nicholas Savitch war wie eine böse, Furcht einflößende Kraft, die nicht mehr unter Kontrolle zu bringen war, wenn man sie einmal von der Leine gelassen hatte.

Die Wechselsprechanlage summte. „Mr Gregorian aus dem Fotolabor ist hier“, verkündete die Sekretärin.

„Schicken Sie ihn herin.“ Black warf Tyrone einen Blick zu. „Der Film wurde entwickelt. Wollen mal sehen, was Martinique fotografieren konnte.“

Gregorian kam mit einem dicken Umschlag herein. „Hier sind die Kontaktbögen, die Sie haben wollten“, erklärte er, während er die Hand über den Schreibtisch streckte und Black den Umschlag gab. Dabei musste er sich das Lachen verkneifen.

„Mr Gregorian?“ Irritiert sah Black ihn an.

„Nichts, Sir.“

„Dann lassen Sie uns mal sehen“, schaltete Tyrone sich ein.

Black zog die fünf Kontaktbögen heraus und legte sie auf den Schreibtisch, so dass jeder sie sehen konnte. Die Männer bekamen große Augen.

Lange Zeit sagte keiner etwas. Schließlich ergriff Tyrone das Wort. „Soll das ein Witz sein?“

Jetzt brach Gregorian in schallendes Gelächter aus.

„Was, zum Teufel, ist das?“, fragte Black.

„Das sind die Negative, die Sie mir gegeben haben, Sir“, antwortete Gregorian glucksend. „Ich habe sie persönlich entwickelt.“

„Das sind die Fotos, die Sie bei Mr Holland gefunden haben?“ Tyrones Stimme klang gefährlich leise und wurde immer lauter. „Fünf Kontaktbögen mit nackten Frauen?“

„Das ist ein Irrtum“, sagte Black. „Es ist der falsche Film …“

Gregorian konnte sich gar nicht mehr einkriegen.

„Seien Sie still!“, schrie Black. Ratlos sah er Tyrone an. „Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte.“

„Dann ist der Film, den wir wollen, noch da draußen?“

Black nickte kraftlos.

Tyrone griff nach seinem Handy. „Wir müssen das in Ordnung bringen. Und zwar schnell.“

„Wen rufen Sie an?“, wollte Black wissen.

„Den Mann, der den Job erledigen kann.“ Tyrone drückte auf die Tasten. „Savitch.“

In seinem Motelzimmer auf der Lombard Street lief Victor auf dem avocadogrünen Teppichboden hin und her und dachte fieberhaft über Alternativen nach. Irgendeine Alternative. Sein gut strukturiertes Wissenschaftlergehirn hatte die Situation bereits in die Elemente eines Forschungsprojekts segmentiert. Erkenne das Problem: Jemand will mich umbringen. Formuliere die Hypothese: Jerry Martinique hat etwas Gefährliches herausgefunden; dafür wurde er getötet. Jetzt glauben sie, dass ich die Informationen habe – und die Beweise. Was ich nicht tue. Das Ziel: am Leben bleiben. Die Methode: alles, was dazu nötig ist!

Während der vergangenen beiden Tage hatte seine einzige Strategie darin bestanden, sich in billigen Motelzimmern zu verstecken und Trampelpfade auf den Teppichböden zurückzulassen. Er konnte nicht für immer unsichtbar bleiben. Wenn das FBI in die Sache verwickelt war – und er hatte Grund zu der Annahme, dass es so war –, würde man ihn mithilfe der Spuren, die seine Kreditkarte hinterließ, bald ausfindig machen.

Ich brauche einen Angriffsplan.

Sich dem FBI anzuvertrauen kam nicht infrage. Sam Polowski war der Agent, den Victor kontaktiert hatte und der ihn in Garberville treffen wollte. Außer ihnen beiden sollte niemand etwas von dem Termin erfahren. Aber Sam Polowski war nicht aufgetaucht.

Dafür jemand anders. Victors schmerzende Schulter war eine ständige Erinnerung an diese um ein Haar tödliche Begegnung.

Ich könnte mich an die Zeitungen wenden. Doch wie sollte er einen skeptischen Reporter überzeugen? Wer würde seiner Geschichte über ein Projekt Glauben schenken, das so gefährlich war, dass es Millionen töten konnte? Sie würden seine Geschichte für die Hirngespinste eines paranoiden Gehirns halten.

Aber ich bin nicht paranoid.

Er ging zum Fernsehgerät und schaltete die Fünf-Uhr-Nachrichten ein. Eine perfekt frisierte Moderatorin strahlte vom Bildschirm, als sie etwas von den letzten Schultagen, glücklichen Kindern und Weihnachtsferien erzählte. Danach wurde sie ernst und setzte eine besorgte Miene auf. Wie gebannt starrte Victor auf das Gerät, als sie zur nächsten Meldung kam.

„Keine neuen Spuren haben sich im Zusammenhang mit dem Mord an einer Frau in Garberville, Kalifornien, ergeben. Das Opfer wurde am Mittwochmorgen gefunden. Eine Bekannte, die sich im Haus aufhielt, hatte die neununddreißigjährige Sarah Boylan in der Einfahrt entdeckt. Sie wurde mit Messerstichen in den Hals getötet. Das Opfer war im fünften Monat schwanger. Die Polizei ist noch auf der Suche nach einem Motiv für diese schreckliche Tragödie ebenso wie nach einem Verdächtigen. Und nun zu den landesweiten Nachrichten …“

Nein, nein, nein! dachte Victor. Sie war nicht schwanger gewesen. Und sie hieß auch nicht Sarah. Das war ein Irrtum …

Oder doch nicht?

Ich heiße Catherine“, hatte sie ihm erzählt.

Catherine Weaver. Ja, so lautete ihr Name, da war er ganz sicher. An diesen Namen würde er sich bis zu seinem letzten Tag erinnern.

Er setzte sich auf das Bett. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Sarah. Cathy. Ein Mord in Garberville.

Schließlich stand er wieder auf. Er musste unbedingt etwas unternehmen. Fast stieg so etwas wie Panik in ihm auf. Entschlossen griff er zum Telefonbuch, das im Zimmer lag, und blätterte bis zum Buchstaben W. Allmählich wurde ihm klar, was geschehen war. Der Mörder hatte einen Fehler gemacht. Falls Cathy Weaver noch lebte, war die Filmrolle möglicherweise noch in ihrem Besitz – oder sie wusste, wo sie sich befand. Victor musste sie unbedingt ausfindig machen.

Ehe es jemand anderes tat.

Cathy fühlte eine unsägliche Traurigkeit, als sie in ihre Wohnung in San Francisco zurückkehrte. Dabei hatte sie geglaubt, alle Tränen in jener Nacht in dem Motel in Garberville vergossen zu haben – die Nacht nach Sarahs Tod. Doch kaum war sie hier, brach sie erneut in Tränen aus und versank in tiefschwarze Melancholie. Die Fahrt in die Stadt hatte sie ein wenig abgelenkt. Aber als sie nun die Treppe in den ersten Stock hinaufstieg und die tödliche Stille ihres Apartments sie umfing, hatte sie das Gefühl, vom Kummer erstickt zu werden. Ebenso groß war ihre Fassungslosigkeit. Warum musste ausgerechnet Sarah sterben?

Bedrückt und halbherzig begann sie, ihren Koffer auszupacken. Um sich abzulenken, schaute sie anschließend in den Kühlschrank und stellte fest, dass er praktisch leer war. Das war genau die Entschuldigung, die sie brauchte, um ihr Apartment fluchtartig zu verlassen. Sie streifte einen Pullover über und war geradezu erleichtert, als sie die vier Blocks zum nächsten Supermarkt lief. Dort kaufte sie nur das Wichtigste – Brot, Eier und Obst. Genug für die nächsten Tage. Bis dahin hatte sie den Schock hoffentlich überwunden und wieder Appetit auf ein ordentliches Essen.

Mit einer Tüte voller Lebensmittel in jedem Arm schlenderte sie durch die zunehmende Dunkelheit zurück zu ihrem Apartmenthaus. Die Nacht war kühl, und sie bedauerte es, keinen Mantel angezogen zu haben. Durch ein geöffnetes Fenster rief eine Frau auf die Straße hinaus: „Zeit fürs Abendessen!“ Zwei Kinder unterbrachen ihr Ballspiel und trollten sich nach Hause.

Als Cathy ihr Haus erreichte, zitterte sie am ganzen Körper, und die Arme schmerzten vom Gewicht der Einkaufstüten. Sie schleppte sich die Stufen zur Haustür hinauf. Mit einer Tüte auf der Hüfte schaffte sie es, den Schlüssel aus der Tasche zu fischen und die Sicherheitstür aufzuschließen. Als sie eintrat, hörte sie Schritte. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einen Schatten, der sich ihr näherte. Eine der Tüten rutschte ihr aus dem Arm. Äpfel kullerten über den Boden. Sie stolperte und hielt sich am Holzgeländer fest. Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss.

Sie fuhr herum, bereit, sich gegen ihren Angreifer zu wehren.

Es war Victor Holland.

„Sie“, flüsterte sie entgeistert.

Er schien sich nicht so sicher zu sein, was ihre Identität anging. Gehetzt betrachtete er ihre Gesichtszüge, wie um sicherzugehen, dass er vor der richtigen Frau stand. „Cathy Weaver?“

„Was wollen Sie …?“

„Wo ist Ihre Wohnung?“, unterbrach er sie.

„Was?“

„Wir können nicht hier draußen stehen bleiben.“

„Sie ist … sie ist oben.“

„Kommen Sie.“ Er griff nach ihrem Arm, aber sie trat einen Schritt zurück.

„Mein Essen.“ Sie betrachtete die Äpfel, die auf dem Boden verteilt waren.

Rasch sammelte er das Obst ein, warf es in eine der Tüten und drängte sie zur Treppe. „Wir haben nicht viel Zeit.“

Cathy ließ sich von ihm die Treppe hinaufschieben. Als sie die Hälfte des Korridors zurückgelegt hatten, blieb sie abrupt stehen. „Warten Sie. Erzählen Sie mir erst mal, was das alles soll, Mr Holland. Vorher gehe ich keinen Schritt weiter.“

„Geben Sie mir Ihren Schlüssel.“

„Sie können doch nicht einfach …“

„Geben Sie mir Ihren Schlüssel!“

Schockiert von seinem Befehlston, starrte sie ihn an. Plötzlich bemerkte sie die Panik in seinen Augen. Es war der Blick eines gejagten Menschen.

Automatisch reichte sie ihm die Schlüssel.

„Warten Sie hier“, befahl er. „Lassen Sie mich erst einen Blick in Ihr Apartment werfen.“

Verblüfft sah sie ihm dabei zu, wie er die Tür aufschloss und vorsichtig hineinging. Einige Minuten lang hörte sie nichts. Sie stellte sich vor, wie er durch die Wohnung lief und versuchte, abzuschätzen, wie lange er brauchen würde, um jeden Raum zu inspizieren. Es war ein kleines Apartment. Warum benötigte er dafür so lange?

Vorsichtig näherte sie sich der Tür. Als sie sie erreichte, steckte er den Kopf heraus, und vor Schreck schrie sie leise auf. Im letzten Moment griff er nach der Einkaufstüte, die ihr erneut fast aus der Hand gefallen wäre.

„Alles in Ordnung“, versicherte er ihr. „Kommen Sie rein.“

Kaum war sie über die Schwelle getreten, warf er die Tür zu und verriegelte sie. Dann durchquerte er das Wohnzimmer, schloss die Fenster und zog die Vorhänge vor.

„Wollen Sie mir nicht erzählen, was los ist?“, fragte sie, während sie ihm ins Zimmer folgte.

„Wir haben ein Problem.“

„Sie meinen, Sie haben ein Problem.“

„Nein. Ich meine wir. Wir beide.“ Er drehte sich um und schaute sie an. Sein Blick war offen und aufrichtig. „Haben Sie den Film?“

„Wovon reden Sie?“ Der plötzliche Themenwechsel verwirrte sie.

„Eine Filmrolle. Fünfunddreißig Millimeter. In einem kleinen schwarzen Plastikbehälter. Haben Sie den?“

Sie antwortete nicht. Aber eine Szene vom vergangenen Abend, Sarahs letztem, stieg in ihrer Erinnerung auf: Auf der Küchentheke lag eine Filmrolle. Sie hatte geglaubt, der Film gehöre ihrem Freund Hickey. Sie hatte die Rolle in die Tasche ihres Bademantels und später in ihre Handtasche gesteckt. Aber sie würde es ihm nicht verraten – jedenfalls nicht, ehe er ihr erzählte, was er eigentlich wollte. Deshalb bemühte sie sich, seinen Blick so unverfänglich wie möglich zu erwidern.

Frustriert holte er Luft und begann noch einmal von vorn. „In der Nacht, als Sie mich gefunden haben … auf dem Highway … hatte ich ihn in meiner Tasche. Als ich im Krankenhaus aufgewacht bin, hatte ich ihn nicht mehr. Möglicherweise habe ich ihn in Ihrem Wagen verloren.“

„Warum wollen Sie diesen Film haben?“

„Ich brauche ihn. Als Beweis …“

„Wofür?“

„Das zu erklären würde zu lange dauern.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe gerade nichts vor.“

„Verdammt!“ Er stellte sich vor sie, packte sie bei den Schultern und zwang sie, ihn anzuschauen. „Verstehen Sie denn nicht? Wegen des Films ist Ihre Freundin ermordet worden. Als sie nachts Ihren Wagen aufgebrochen haben, haben sie nach dem Film gesucht.“

Sie starrte ihn an. Plötzlich dämmerte es ihr, und in ihrer Miene zeichnete sich Entsetzen ab. „Sarah …“

„… war zur falschen Zeit am falschen Ort. Der Mörder muss Sie beide verwechselt haben.“

Er musterte sie so durchdringend, dass sie das Gefühl hatte, in einer Falle zu sitzen. Und ihr wurde bewusst, welche Bedrohung mit seinen Worten einherging. Die Knie wurden ihr weich. Sie sank auf den nächsten Stuhl und schwieg wie betäubt.

„Sie müssen von hier verschwinden“, drängte er. „Bevor sie Sie finden. Ehe sie herausbekommen, dass Sie die Cathy Weaver sind, nach der sie suchen.“

Sie rührte sich nicht. Sie war starr vor Entsetzen.

„Kommen Sie, Cathy. Uns bleibt nicht viel Zeit.“

„Was war auf dem Film?“, fragte sie leise.

„Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Beweismaterial. Gegen eine Firma namens Viratek.“

Sie runzelte die Stirn. „Ist das die Firma, für die Sie arbeiten?“

„Für die ich gearbeitet habe.“

„Was haben sie getan?“

„Sie sind an einer Art illegalem Forschungsprojekt beteiligt. Einzelheiten kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Warum nicht?“

„Weil ich sie selbst nicht kenne. Ich bin nicht derjenige, der die Beweise gesammelt hat. Ein Kollege – ein Freund – hat sie mir gegeben, kurz bevor er ums Leben kam.“

„Was meinen Sie mit ums Leben kam?“

„Die Polizei glaubt, dass es ein Unfall war. Ich bin anderer Meinung.“

„Sie behaupten, er ist wegen eines Forschungsprojekts umgebracht worden?“ Sie schüttelte den Kopf. „Dann muss er aber an einer sehr gefährlichen Sache gearbeitet haben.“

„Ich weiß nur, dass es um biologische Waffen geht. Womit die Forschung illegal wäre. Und ausgesprochen riskant.“

„Waffen? Für welche Regierung?“

„Unsere.“

„Das verstehe ich nicht. Wenn das ein staatliches Projekt ist, dann ist es doch legal, oder?“

„Keineswegs. Es gab schon häufiger Leute in höheren Positionen, die gegen die Regeln verstoßen haben.“

„Über welche Höhe reden wir?“

„Keine Ahnung. Ich bin mir bei niemandem mehr sicher. Weder bei der Polizei noch beim Justizministerium. Und erst recht nicht beim FBI.“

Sie kniff die Augen zusammen. Seine Worte klangen wie Anschuldigungen eines paranoiden Menschen. Aber er sprach mit vollkommen normaler Stimme, und auch der Blick seiner Augen wirkte klug und besonnen. Meergrün waren diese Augen. Sie schauten sie offen und ehrlich an. Hätte es eines weiteren Vertrauensbeweises bedurft?

Doch so schnell gab sie sich nicht zufrieden.

„Sie behaupten also, dass das FBI hinter Ihnen her ist“, fragte sie mit ruhiger Stimme. „Ist das so?“

Unvermittelt blitzte Ärger in seinen Augen auf. Er verschwand so schnell, wie er gekommen war. Stöhnend sank er auf die Couch und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, wenn Sie mich für verrückt halten. Manchmal frage ich mich das sogar selber. Aber ich habe geglaubt, wenn ich jemandem vertrauen könnte, dann am ehesten Ihnen …“

„Warum?“

Er schaute sie an. „Weil Sie mir das Leben gerettet haben. Deshalb stehen Sie als Nächste auf der Liste derer, die sie töten werden.“

Ihr wurde eiskalt. Nein, das war Irrsinn. Er versuchte, sie in seine Albtraumwelt aus Mord und Verschwörung hineinzuziehen. Sie sollte seine Wahnvorstellungen für bare Münze nehmen. Das kam überhaupt nicht infrage! Sie stand auf und wollte das Zimmer verlassen, aber seine Stimme hielt sie zurück.

„Cathy, überlegen Sie doch mal. Warum wurde Ihre Freundin Sarah ermordet? Weil die sie mit Ihnen verwechselt haben. Mittlerweile wissen sie, dass sie die falsche Frau getötet haben. Sie müssen zurückkommen, um ihren Fehler gutzumachen. Sie könnten ja etwas wissen. Sie könnten Beweise haben …“

„Das ist verrückt!“, schrie sie und hielt sich die Ohren zu. „Niemand wird …“

„Sie haben es schon getan.“ Er zog einen Zeitungsausschnitt aus seiner Hemdtasche. „Auf meinem Weg zu Ihnen bin ich an einem Zeitungsstand vorbeigekommen. Das hier stand auf der Titelseite der Abendausgabe.“ Er reichte ihr den Ausschnitt.

Verwirrt betrachtete sie das Foto einer Frau mittleren Alters, die ihr vollkommen unbekannt war. „Frau aus San Francisco auf den Stufen ihres Hauses erschossen“ lautete die Schlagzeile.

„Das hat doch nichts mit mir zu tun“, erwiderte sie schließlich.

„Schauen Sie auf ihren Namen.“

Cathys Blick wanderte zum dritten Absatz des Artikels, in dem der Name des Opfers erwähnt wurde.

Sie hieß Catherine Weaver.

Der Zeitungsausschnitt glitt ihr aus den Händen und flatterte zu Boden.

„Im Telefonbuch von San Francisco stehen drei Catherine Weavers“, erklärte er. „Diese hier wurde heute Morgen um neun Uhr erschossen. Was mit der zweiten passiert ist, weiß ich nicht. Vielleicht ist sie schon tot. Damit wären Sie die Nächste auf der Liste. Zeit genug, Sie ausfindig zu machen, haben sie gehabt.“

„Ich war gar nicht in der Stadt – ich bin erst vor einer Stunde zurückgekommen …“

„Das erklärt auch, warum Sie noch am Leben sind. Vielleicht waren sie schon früher hier. Vielleicht haben sie beschlossen, zuerst die beiden anderen Frauen aufzusuchen.“

Plötzlich verspürte sie den dringenden Wunsch, so schnell wie möglich wegzukommen. „Ich muss ein paar Sachen packen …“

„Nein! Lassen Sie uns einfach nur verschwinden.“

Ja! Tu, was er sagt, riet ihr eine innere Stimme.

Sie nickte, drehte sich um und lief zur Tür, die vor ihren Augen verschwamm. Auf halber Strecke blieb sie stehen. „Meine Handtasche …“

„Wo ist sie?“

Sie ging zurück, an einem Fenster vorbei, dessen Vorhänge geschlossen waren. „Ich glaube, ich habe sie …“

Der Rest des Satzes wurde von dem lauten Knall der berstenden Fensterscheibe verschluckt. Nur die Vorhänge verhinderten, dass die Splitter ihre Haut durchbohrten. Reflexartig ließ Cathy sich zu Boden fallen, als der zweite Pistolenschuss ertönte. Im Bruchteil einer Sekunde hatte Victor Holland sich auf sie geworfen und bedeckte ihren Körper, als die dritte Kugel in die gegenüberliegende Wand einschlug. Holzsplitter und Gipsbrocken spritzten von der Wand.

Die Vorhänge blähten sich auf, dann hingen sie still.

Einen Moment blieb Cathy starr liegen – nicht nur wegen des Schreckens, sondern auch wegen Victors Körper, der schwer auf ihr lag. Dann setzte die Panik ein. Sie schlängelte sich unter ihm hervor und wollte aus der Wohnung fliehen.

„Bleiben Sie unten!“, befahl Victor.

„Sie wollen uns umbringen.“

„Dann machen Sie es ihnen nicht zu leicht.“ Er zog sie auf den Boden zurück. „Wir kommen schon raus. Aber nicht durch die Tür.“

„Wie …?“

„Wo ist die Feuertreppe?“

„Neben meinem Schlafzimmerfenster.“

„Führt sie bis zum Dach?“

„Ich bin mir nicht sicher … ich glaube schon.“

„Dann los.“

Auf Händen und Knien krochen sie über den Flur in Cathys unbeleuchtetes Schlafzimmer. Unter dem Fenster hielten sie an und lauschten. Aus der Dunkelheit drang kein Laut. Von weit unten hörte man das Klirren zerbrechenden Glases. Jemand verschaffte sich gewaltsam Zugang durch die Eingangstür.

„Er ist schon im Haus“, zischte Victor. Er riss das Fenster auf. „Raus hier!“

Cathy musste sich nicht lange bitten lassen. Mit zitternden Händen kletterte sie hinaus und hockte sich auf die Feuertreppe. Victor kam sofort hinterher.

„Rauf aufs Dach“, flüsterte er.

Und dann? überlegte sie, während sie die Treppe zum zweiten Stock hinaufstieg – vorbei an Mrs Changs Wohnung. Mrs Chang war in dieser Woche nicht in der Stadt; sie besuchte ihren Sohn in New Jersey. In der Wohnung brannte kein Licht, und die Fenster waren verschlossen. Hier kamen sie nicht hinein.

„Weiter“, drängte Victor.

Nur noch ein paar Stufen.

Endlich zog sie sich über die Brüstung auf das asphaltierte Dach. Eine Sekunde später ließ Victor sich schwer neben sie fallen, so dass die Pflanzen in den Töpfen erbebten. Es war Mrs Changs Dachgarten. Der Duft von chinesischen Kräutern und Gemüse wehte durch die Nachtluft.

Victor und Cathy bahnten sich einen Weg zwischen den Töpfen hindurch bis hinüber zum anderen Ende des Daches, das an das Nachbarhaus stieß.

„Weiter?“, fragte Cathy.

„Weiter.“

Sie sprangen auf das benachbarte Dach und rannten weiter, bis sich zum nächsten Gebäude ein Abgrund von einem knappen Meter Breite auftat. Sie verschwendete keinen Gedanken an die Gefahr beim Springen, sondern setzte über die Lücke hinweg und hastete weiter in dem Bewusstsein, dass sie die Gefahr mit jedem Schritt ein bisschen weiter hinter sich ließ.

Erst auf dem Dach des vierten Gebäudes blieb Cathy stehen und schaute hinunter auf die Straße. Endstation! Plötzlich wurde ihr bewusst, dass die Straße ziemlich weit unten lag. Und die Feuertreppe sah auch nicht gerade vertrauenerweckend aus.

Sie schluckte. „Das ist vielleicht nicht gerade der passende Moment, Ihnen das zu sagen, aber …“

„Was zu sagen?“

„Ich habe Höhenangst.“

Er kletterte über den Sims. „Dann schauen Sie einfach nicht nach unten.“

Klar, dachte sie, während sie mit weichen Knien auf die Feuertreppe glitt. Schau einfach nicht nach unten. Ihre Hände waren schweißnass, sodass sie sich kaum am Geländer festhalten konnte. Als sie von einer Schwindelattacke überfallen wurde, erstarrte sie zur Eissäule. Verzweifelt umklammerte sie die dünnen Streben.

„Bleiben Sie nicht stehen“, wisperte Victor von unten. „Klettern Sie weiter.“

Doch sie kletterte nicht. Sie drückte ihr Gesicht so fest an die Strebe, dass ihr das Eisen ins Gesicht schnitt.

„Es ist alles in Ordnung, Cathy“, beschwor er sie. „Kommen Sie.“

Der Schmerz wurde so intensiv, dass er sogar den Schwindel und die Angst überlagerte. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sich die Welt stabilisiert. Mit Beinen wie Gummi kletterte sie die Leiter hinunter. Auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock blieb sie stehen, um sich die schweißnassen Hände an ihren Jeans abzuwischen. Dann stieg sie weiter hinunter bis zur ersten Etage. Bis zum Boden waren es noch immer knapp drei Meter. Sie entriegelte die Ausziehleiter und wollte sie nach unten schieben, doch sie quietschte so durchdringend, dass Victor ihr sofort Einhalt gebot.

„Viel zu laut. Wir müssen springen.“

„Aber …“

Verblüfft schaute sie ihm dabei zu, wie er über das Geländer kletterte und sich zu Boden fallen ließ. „Kommen Sie!“, forderte er sie mit unterdrückter Stimme auf. „Es ist nicht so tief. Ich fange Sie auf.“

Mit einem Gebet auf den Lippen kletterte sie über das Geländer und sprang.

Zu ihrer Überraschung fing er sie wirklich auf, ließ sie aber sofort wieder los. Die Schusswunde in seiner Schulter schwächte ihn offenbar immer noch. Beide stürzten zu Boden. Sie landete auf ihm, ihre Beine rittlings auf seinen Hüften, ihre Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Verdattert starrten sie einander an. Beinahe hätten sie das Atmen vergessen.

Weiter oben wurde ein Fenster aufgerissen, und jemand schrie: „He, ihr Penner, wenn ihr nicht sofort verschwindet, rufe ich die Polizei!“

Sofort rollte Cathy von Victor und stieß gegen eine Mülltonne. Der Deckel fiel herunter und landete scheppernd auf dem Gehweg.

„Lange genug Pause gemacht“, grummelte Victor und rappelte sich auf. „Kommen Sie.“

Sie hasteten die Straße hinunter, bogen in eine Gasse ein und liefen weiter. Erst nach fünf Häuserblocks blieben sie atemringend stehen und schauten sich um.

Die Straße war leer.

Sie waren in Sicherheit.

Nicholas Savitch stand neben dem makellos gemachten Bett und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Es war unverkennbar das Zimmer einer Frau. Im Schrank hingen ein halbes Dutzend schlichter, aber sehr eleganter Kleider; auf dem Frisiertisch standen Puderdosen und Lotionen in Reih und Glied. Er musste nur einmal quer durch das Schlafzimmer gehen, um sich vorzustellen, wie die Frau aussah, zu der es gehörte. Sie war schlank, trug Kleidergröße sechsunddreißig bis achtunddreißig und Schuhgröße siebenunddreißig. Die Haare an der Bürste waren brünett und schulterlang. Sie besaß nur wenig Schmuck und bevorzugte natürliche Düfte – Rosenwasser und Lavendel. Ihre Lieblingsfarbe schien grün zu sein.

Im Wohnzimmer setzte er seine Erkundungstour fort. Die Frau hatte Fachzeitschriften über die Filmindustrie abonniert. Ihr Geschmack in puncto Musik war – ebenso wie ihr literarischer – vielseitig. Sein Blick fiel auf einen Zeitungsausschnitt, der auf dem Boden lag. Er hob ihn auf und überflog den Artikel. Das war ja interessant! Der Tod von Catherine Weaver I war Catherine Weaver III also nicht entgangen.

Er steckte den Artikel in die Tasche. Dann entdeckte er die Handtasche, die beim Fenster mitten zwischen Glasscherben lag.

Bingo!

Er kippte den Inhalt auf den Couchtisch. Heraus fielen eine Brieftasche, ein Scheckheft, Kugelschreiber, Wechselgeld und … ein Adressbuch. Er öffnete es bei B – und fand den Namen, den er gesucht hatte: Sarah Boylan.

Jetzt wusste er, dass sie die Catherine Weaver war, nach der er gesucht hatte. Zu dumm, dass er seine Zeit mit der Jagd nach den beiden anderen vergeudet hatte.

Er blätterte durch das Adressbuch und fand etwa ein halbes Dutzend Anschriften in San Francisco. Die Frau war zwar so clever gewesen, ihm dieses Mal zu entwischen. Aber ganz im Verborgenen zu bleiben war schon schwieriger. Und dieses kleine Buch mit den Namen von Freunden, Verwandten und Kollegen würde ihn vermutlich auf schnellstem Wege zu ihr führen.

Irgendwo in der Ferne jaulte eine Polizeisirene.

Es war Zeit zu verschwinden.

Savitch steckte das Adressbuch und die Brieftasche der Frau ein und verließ das Haus. In der kalten Luft kondensierte sein Atem zu Nebelwolken, während er gemächlich über die Straße schlenderte.

Er konnte sich Zeit lassen.

Im Gegensatz zu Catherine Weaver und Victor Holland.

4. KAPITEL

Ihnen blieb keine Zeit zum Ausruhen. Sie ließen sechs weitere Häuserblocks hinter sich. Cathy kam die Strecke unendlich lang vor. Victor schritt unbeirrt voran. Er führte sie durch Nebenstraßen und vermied belebte Kreuzungen. Sie überließ ihm das Denken und Führen. Ihre Angst wich langsam einem Gefühl der Taubheit und Unwirklichkeit, so dass sie manchmal überlegen musste, wo sie sich überhaupt befand. Die Stadt erschien ihr wie die Kulisse aus einem Traum – Asphalt und Straßenlaternen, endlose Gehwege, Ecken und Kurven, eine Wüste aus Beton. Das einzig Reale war der Mann, der dicht neben ihr herlief, mit wachem Blick und zielstrebigem Gang. Bestimmt hatte er ebenfalls Angst, aber die ließ er sich nicht anmerken.

Er nahm ihre Hand. Die Wärme seiner Berührung und die Stärke seines Griffs schienen in ihre kalten, erschöpften Glieder zu fließen.

Sie beschleunigte ihre Schritte. „Ich glaube, am Ende der Straße ist eine Polizeiwache“, sagte sie. „Wenn wir noch ein oder zwei Häuserblocks laufen …“

„Wir gehen nicht zur Polizei.“

„Was?“ Wie vom Donner gerührt, blieb sie stehen und sah ihn an.

„Noch nicht. Nicht bis ich ein wenig darüber nachgedacht habe.“

„Victor“, begann sie langsam, „da versucht uns jemand umzubringen. Mich umzubringen. Was meinen Sie damit, dass Sie noch ein wenig darüber nachdenken müssen?“

„Hören Sie, wir können nicht hier herumstehen und darüber diskutieren. Wir müssen weg von der Straße.“ Wieder nahm er ihre Hand. „Kommen Sie.“

„Wohin?“

„Ich habe ein Zimmer. Es ist ganz in der Nähe.“

Sie ließ sich nur ein paar Meter mitziehen, ehe sie die Energie fand, sich aus seinem Griff zu befreien. „Warten Sie. Warten Sie einen Moment.“

Er drehte sich zu ihr um, Verdrossenheit im Ausdruck. „Warten worauf?“, fragte er barsch. „Dass uns dieser Irre erwischt? Dass uns wieder Kugeln um die Ohren fliegen?“

„Auf eine Erklärung!“

„Ich werde Ihnen alles erklären. Wenn wir in Sicherheit sind.“

Sie trat einen Schritt zurück. „Warum haben Sie Angst vor der Polizei?“

„Weil ich denen nicht trauen kann.“

„Haben Sie einen Grund, sie zu fürchten? Was haben Sie getan?“

Er stellte sich vor sie hin und fasste sie bei den Schultern. „Schon vergessen? Ich habe Sie gerade aus einer Todesfalle gerettet. Die Kugeln haben Ihr Fenster durchschlagen, nicht meins.“

„Vielleicht waren sie für Sie bestimmt.“

„Okay.“ Er ließ sie los. Sofort trat sie zurück, um ihm nicht so nahe zu sein. „Wollen Sie es allein versuchen? Nur zu. Vielleicht ist die Polizei ja eine Hilfe. Vielleicht auch nicht. Aber ich kann das nicht riskieren. Nicht ehe ich sämtliche Spieler kenne, die in dem Spiel mitmischen.“

„Sie lassen mich gehen?“

„Sie sind nicht meine Gefangene.“

„Nein.“ Sie holte tief Luft. Als sie ausatmete, bildeten sich Nebelwolken in der kalten Luft. Sie schaute die Straße hinunter zur Polizeiwache. „Das wäre das Vernünftigste“, murmelte sie. „Dafür sind die ja schließlich da.“

„Stimmt.“

Sie runzelte die Stirn, während sie sich die Situation ausmalte. „Sie werden eine Menge Fragen stellen.“

„Was werden Sie ihnen erzählen?“

Sie schaute ihm in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken. „Die Wahrheit.“

„Die bestenfalls unvollständig ist. Und im schlimmsten Fall unglaubwürdig.“

„Der Boden meines Apartments liegt voller Glassplitter. Wenn das kein Beweis ist!“

„Ein vorbeifahrender Amokschütze, der ziellos in der Gegend rumballert.“

„Es ist deren Job, mich zu beschützen.“

„Und wenn sie glauben, dass Sie nicht beschützt werden müssen?“

„Ich werde von Ihnen erzählen. Und von Sarah.“

„Vielleicht nimmt man Sie ernst. Vielleicht auch nicht.“

„Sie müssen mich ernst nehmen! Schließlich versucht jemand, mich zu töten.“ Ihre Stimme, schrill vor Verzweiflung, hallte über die Straße.

Ruhig entgegnete er: „Ich weiß.“

Erneut schweifte ihr Blick zur Polizeiwache. „Ich gehe jetzt dahin.“

Er schwieg.

„Und Sie?“, wollte sie wissen.

„Ich bin erst mal auf mich allein gestellt.“

Nach zwei Schritten blieb sie stehen, ohne sich umzudrehen. „Victor?“

„Ich bin noch hier.“

„Sie haben mir das Leben gerettet. Danke.“

Er antwortete nicht. Sie hörte, wie er langsam davonging, und fragte sich, ob sie das Richtige tat. Natürlich tat sie das. Ein Mann, der sich vor der Polizei fürchtete und dessen Geschichte so paranoid klang, musste gefährlich sein.

Aber er hat mir das Leben gerettet!

Und in einer regnerischen Nacht in Garberville hatte sie seines gerettet.

Wie ein Film liefen die Ereignisse der vergangenen Tage in ihrem Kopf ab. Der unerklärliche Mord an Sarah. Die andere Catherine Weaver, die vor ihrer Haustür erschossen worden war. Die Filmrolle, die Sarah aus dem Wagen geholt und Cathy in die Tasche ihres Morgenrocks gesteckt hatte …

Victors Schritte waren nicht länger zu hören.

In diesem Moment wurde ihr schlagartig klar, dass sie den einzigen Mann, der ihr bei der Lösung all dieser Fragen helfen konnte, zu verlieren drohte. Der Mann, der ihr in ihrer schlimmsten Situation beigestanden hatte. Der Mann, dem sie vertrauen konnte, wie ihr eine innere Stimme ins Ohr flüsterte. Als sie über die leere Straße blickte, fühlte sie sich auf einmal einsam und verlassen. In heller Panik machte sie auf dem Absatz kehrt. „Victor!“

Eine Silhouette am Ende des Häuserblocks blieb stehen und drehte sich um. Sie schien die einzige Rettungsinsel in einem Meer von Verrücktheiten und Gefahren zu sein. Cathy setzte sich in Bewegung, lief der Gestalt entgegen, wurde immer schneller, bis sie zu rennen begann. Sie sehnte sich nach dem Schutz seiner Arme – den Armen eines Mannes, den sie kaum kannte. Seltsamerweise fühlte er sich gar nicht wie ein Fremder an, der sie an seine Brust nahm und in schützender Umarmung an sich drückte. Sie spürte das Klopfen seines Herzens, den festen Griff seiner Finger auf ihrem Rücken, und irgendetwas sagte ihr, dass dies ein Mann war, auf den sie sich verlassen konnte, einer, der nicht kneifen würde, wenn sie ihn am dringendsten brauchte.

„Ich bin hier“, beruhigte er sie. „Ich bin hier.“ Er streichelte ihr durch das vom Wind zerzauste Haar und wickelte eine Strähne um den Finger. Sein warmer Atem streifte ihr Gesicht und vermischte sich mit ihren eigenen zitternden Atemzügen. Unvermittelt trafen sich ihre Lippen, und er küsste sie gierig und leidenschaftlich. Sie antwortete mit einem Kuss, der ebenso verzweifelt und hungrig war. Obwohl er ein Fremder war, hatte er ihr beigestanden und war noch immer hier. In seinen Armen war sie vor den Schrecken der Nacht in Sicherheit.

Sie schmiegte das Gesicht an seine Brust und hätte sich am liebsten noch fester an ihn gedrückt. „Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe solche Angst, Victor, und ich weiß nicht, was ich tun soll …“

„Wir schaffen das zusammen, einverstanden?“ Er nahm ihr Gesicht in die Hände und hob es hoch, um ihr in die Augen zu sehen. „Du und ich, wir schaffen das schon.“

Sie nickte. In seinem entschlossenen Blick fand sie die Bestätigung, die sie brauchte.

Eine Windböe fegte über die Straße, und sie schauderte. „Was machen wir zuerst?“, wisperte sie.

Er zog seinen Anorak aus und legte ihn ihr über die Schultern. „Zuerst sorgen wir mal dafür, dass dir wieder warm wird. Von außen und von innen.“ Er nahm ihre Hand. „Komm. Ein heißes Bad und ein gutes Abendessen werden dich wieder zu Kräften bringen.“

Bis zum Kon-Tiki-Motel waren es weitere fünf Blocks. Es war kein Fünfsternehaus, eher schlicht und anonym und fügte sich unauffällig in eine Reihe von etwa einem Dutzend weiterer Motels ein. Sie stiegen die Stufen zum Zimmer 214 hinauf, von dessen Fenster aus man einen Blick auf den halb leeren Parkplatz hatte. Victor schloss die Tür auf und ließ sie eintreten.

Sie genoss die Wärme, die ihr entgegenströmte. Während sie in der Mitte dieses unpersönlichen Motelzimmers stand, wunderte sie sich, wie gut es sich anfühlte, von vier Wänden geschützt zu werden. Die Einrichtung beschränkte sich auf das Nötigste: Doppelbett, Kleiderschrank, zwei Nachttische mit Lampen und ein Sessel. An der Wand hing ein Druck einer namenlosen Insel im Südpazifik. Eine billige Reisetasche aus Nylon auf dem Boden war das einzige Gepäckstück. Vor Kurzem hatte jemand im Bett geschlafen, die Laken waren zerknüllt und die Kissen gegen das Kopfende gedrückt.

„Nichts Großartiges“, entschuldigte er sich. „Aber es ist warm. Und bezahlt.“ Er schaltete den Fernseher ein. „Wir sollten die Nachrichten im Auge behalten. Vielleicht gibt’s Neuigkeiten über die andere Catherine Weaver.“

Die andere Catherine Weaver, überlegte sie. Das hätte ich sein können. Wieder begann sie zu zittern, aber dieses Mal nicht vor Kälte. Sie ließ sich auf das Bett sinken und schaute auf den Fernseher, ohne die Bilder wahrzunehmen, die über den Schirm flimmerten. Seine Gegenwart war ihr allerdings sehr wohl bewusst. Er lief durchs Zimmer, kontrollierte die Fensterverriegelung, probierte das Türschloss aus.

Er bewegte sich geräuschlos und zielstrebig, und sein Schweigen verriet ihr einiges über die Gefährlichkeit der Situation, in der sie sich befanden. Die meisten Männer, die sie kannte, gerieten ins Schwätzen, wenn sie Angst hatten. Doch Victor Holland schwieg einfach. Allein seine Gegenwart war überwältigend. Er schien das ganze Zimmer zu füllen.

Er setzte sich neben sie, und sie zuckte zusammen, als er ihre Hände nahm und sie mit den Handflächen nach oben vorsichtig untersuchte. Als sie ebenfalls ihre Hände betrachtete, entdeckte sie die blutigen Kratzer und die Rostspuren, die die Feuertreppe auf ihrer Haut hinterlassen hatte.

„Ich muss ziemlich schrecklich aussehen“, murmelte sie.

Lächelnd streichelte er ihr Gesicht. „Du könntest wirklich etwas Wasser und Seife gebrauchen. Nur zu. Ich besorge uns inzwischen etwas zu essen.“

Sie zog sich ins Badezimmer zurück. Durch die geschlossene Tür konnte sie den Fernseher hören und darüber die Stimme Victors, der am Telefon eine Pizza bestellte. Sie ließ sich heißes Wasser über ihre kalten, tauben Hände laufen. Aus dem Spiegel über dem Waschbecken schaute ihr ein wenig schmeichelhaftes Bild ihrer selbst entgegen – das Haar zerzaust, das Kinn mit Schmutz bedeckt. Sie wusch sich das Gesicht und rieb neues Leben in ihre Wangen, die bleich und kühl waren. Ihr Blick fiel auf Victors Rasiermesser auf der Ablage. Der Anblick der Klinge ließ sie ihre Situation in einer neuen Perspektive sehen – einer, die ihr Angst machte.

Sie nahm das Messer zur Hand und überlegte, wie tödlich diese Klinge aussah – und wie verletzlich sie in dieser Nacht war. Victor war ein großer Mann, fast ein Meter neunzig, und er hatte sehr kräftige Arme. Sie war knapp ein Meter fünfundsechzig und nicht besonders stark. Es gab nur ein Bett im Zimmer. Sie war freiwillig mitgekommen. Was sollte er von ihr denken? Dass sie ein williges Opfer war? Sie dachte an die vielen Möglichkeiten, die ein Mann hatte, ihr wehzutun oder sie zu töten. Dazu brauchte er nicht einmal ein Rasiermesser. Victors Hände reichten aus. Was tue ich hier eigentlich? überlegte sie. Verbringe die Nacht mit einem Mann, den ich kaum kenne.

Doch das war nicht der richtige Zeitpunkt für Zweifel. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Jetzt musste sie sich auf ihren Instinkt verlassen, und ihr Instinkt sagte ihr, dass Victor Holland sie niemals verletzen würde.

Vorsichtig legte sie das Rasiermesser zurück. Sie würde Victor vertrauen müssen. Es blieb ihr gar nichts anderes übrig.

Im Nebenzimmer fiel eine Tür ins Schloss. War er gegangen?

Sie öffnete die Tür einen Spalt und lugte hinaus. Der Fernseher lief noch immer. Aber keine Spur von Victor. Zögernd verließ sie das Bad und stellte fest, dass sie allein war. Langsam schritt sie durch das Zimmer und hielt nach Dingen Ausschau, die ihr mehr über den Mann verrieten. Die Schubladen des Schreibtischs waren ebenso leer wie der Kleiderschrank. Offenbar hatte er nicht vor, lange hier zu bleiben. Eine Nacht vielleicht, möglicherweise zwei. Sie ging zu der Reisetasche und schaute hinein. Sie fand ein sauberes Paar Socken, eine ungeöffnete Packung mit Unterwäsche und eine Ausgabe des San Francisco Chronicle vom Vortag. Das verriet ihr nur, dass der Mann sich auf dem Laufenden hielt und mit leichtem Gepäck reiste.

Wie ein Mann auf der Flucht.

Sie grub tiefer und fischte die Quittung eines Geldautomaten heraus. Gestern hatte er versucht, Bargeld abzuheben. Auf der Quittung stand: Der Vorgang kann nicht ausgeführt werden. Bitte setzen Sie sich mit Ihrer Bank in Verbindung. Warum hat man ihm das Bargeld verweigert? fragte sie sich. Hatte er sein Konto überzogen? Oder war der Automat außer Betrieb gewesen?

Beim Geräusch des Schlüssels im Schloss zuckte sie erschrocken zusammen. Sie schaute auf, als die Tür aufging.

Der Blick, mit dem er sie anschaute, ließ sie schuldbewusst erröten. Langsam erhob sie sich. Verlegen schwieg sie, als sie den Vorwurf in seiner Miene sah.

Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss.

„Ich denke, es ist vernünftig von dir, das zu tun“, meinte er schließlich. „Meine Sachen zu durchsuchen.“

„Es tut mir leid. Ich habe nur …“ Sie schluckte. „Ich musste mehr über dich wissen.“

„Und welche schrecklichen Dinge hast du ausgegraben?“

„Keine.“

„Keine dunklen Geheimnisse? Hab keine Angst. Sag’s mir, Cathy.“

„Nur … nur, dass du Probleme hattest, Geld von deinem Konto abzuheben.“

Er nickte. „Ziemlich frustrierender Zustand. Nach meinen Schätzungen muss ich ungefähr sechstausend Dollar auf dem Konto haben. Und jetzt komme ich offenbar nicht daran.“ Er ließ sich in den Sessel fallen, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Was hast du sonst noch so herausgefunden?“

„Du … du liest Zeitung.“

„Das tun viele Leute. Und?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Du trägst Boxershorts.“

In seinen Augen blitzte es amüsiert. „Jetzt wird’s aber persönlich.“

„Du …“ Sie holte tief Luft. „Du bist auf der Flucht.“

Lange sah er sie an, ohne ein Wort zu sagen.

„Deshalb willst du nicht zur Polizei gehen“, fuhr sie fort. „Hab ich recht?“

Er wandte den Kopf und starrte die gegenüberliegende Wand an. „Dafür gibt es Gründe.“

„Nenn mir einen, Victor. Ein guter Grund reicht mir aus, und ich stelle keine weiteren Fragen.“

Er seufzte. „Das bezweifle ich.“

„Versuch’s doch einfach. Ich habe allen Grund, dir zu glauben.“

„Du hast allen Grund, zu glauben, ich sei paranoid.“ Er beugte sich nach vorn und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. „Himmel, manchmal glaube ich es ja selbst schon.“

Langsam ging sie zu ihm und kniete sich neben den Sessel. „Victor, diese Leute, die mich umbringen wollen – wer sind sie?“

„Ich weiß es nicht.“

„Du hast gesagt, es könnten Leute in höheren Positionen sein.“

„Das ist nur eine Vermutung. Es handelt sich um Steuergelder, die in illegale Forschung fließen. Tödliche Forschung.“

„Und staatliche Gelder werden nur von Menschen in einflussreichen Positionen verteilt.“

Er nickte. „Es muss jemand sein, der sich das Gesetz zurechtgebogen hat. Jemand, der von einem politischen Skandal weggefegt werden kann. Vielleicht versucht er, sich zu schützen, indem er das FBI beeinflusst. Oder sogar die Polizei in deiner Stadt. Deshalb wende ich mich nicht an sie. Deshalb habe ich auch nicht hier vom Motel aus telefoniert.“

„Wann?“

„Eben, als du im Bad warst. Ich habe die Polizei von einer Telefonzelle aus angerufen, damit man den Anruf nicht zurückverfolgen kann.“

„Du hast doch gerade gesagt, dass du sie nicht um Hilfe bitten würdest.“

„Den Anruf musste ich machen. Im Telefonbuch steht noch eine dritte Catherine Weaver. Schon vergessen?“

Ein drittes Opfer auf der Liste. Plötzlich wurden ihr die Knie weich, und sie musste sich aufs Bett setzen. „Was hast du ihnen erzählt?“, fragte sie leise.

„Dass ich Grund zu der Annahme habe, sie könnte in Gefahr sein. Sie geht nicht ans Telefon.“

„Du hast es versucht?“

„Zwei Mal.“

„Haben sie dich angehört?“

„Sie haben mich nicht nur angehört, sie wollten unbedingt meinen Namen wissen. Da habe ich gemerkt, dass ihr schon etwas zugestoßen sein muss. Ich habe aufgelegt und bin sofort raus aus der Telefonzelle. So einen Anruf kann man innerhalb von Sekunden zurückverfolgen. Dann hätten sie mich gehabt.“

„Das wären dann also drei“, flüsterte sie. „Die beiden anderen Frauen. Und ich.“

„Sie können dich nicht ausfindig machen. Nicht solange du nicht in deine Wohnung zurückgehst. Bleib einfach …“

Beide erstarrten vor Schreck.

Jemand hatte an die Tür geklopft.

Sie schauten einander an. In ihren Augen lag nackte Angst. Victor zögerte kurz, ehe er fragte: „Wer ist da?“

„Dominos Lieferservice“, antwortete eine dünne Stimme.

Vorsichtig öffnete Victor die Tür. Vor ihm stand ein Teenager, der eine Tüte und eine flache Pappschachtel in der Hand hielt.

„Hi“, piepste der Junge, „eine große Pizza Mista nach Art des Hauses, zwei Cokes und extra Servietten. In Ordnung?“

„In Ordnung.“ Victor drückte dem Jungen ein paar Scheine in die Hand. „Der Rest ist für dich“, sagte er und schloss die Tür. Er drehte sich um und warf Cathy einen verlegenen Blick zu. „Tja, da kannst du mal sehen“, meinte er. „Wenn es an der Tür klopft, ist es manchmal tatsächlich nur der Pizzabote.“

Sie mussten lachen. Es klang eher nervös als befreit. Der kurze Moment der Entspannung schien sein Gesicht zu verwandeln – von wachsam zu zugänglich. Ohne die harschen Linien könnte man ihn fast gut aussehend nennen, dachte sie.

„Ich mache dir einen Vorschlag“, begann er. „Lass uns eine Weile nicht an dieses Desaster denken. Warum widmen wir uns nicht dem wirklich wichtigen Anliegen des Tages? Dem Essen.“

Sie nickte und streckte die Hand nach der Schachtel aus. „Gib mir besser rasch ein Stück. Ehe ich die Bettdecke aufesse.“

Während die Zehn-Uhr-Nachrichten über den Bildschirm liefen, fielen sie wie ausgehungerte Tiere über die Pizza her. Es war ein üppiges und ausgesprochen zufriedenstellendes Mahl auf einem Motelbett. Sie redeten kaum, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt waren, Käse und Peperoni zu verschlingen. In den Nachrichten berichtete ein Moderator von einer Umstrukturierung im Büro des Bürgermeisters und der Kündigung des Stadtdirektors – Nachrichten, die ihnen angesichts ihrer derzeitigen Situation lächerlich trivial erschienen. Gerade einmal dreißig Sekunden wurden dem morgendlichen Mord an Catherine Weaver I gewidmet, und noch kein Verdächtiger war verhaftet worden. Von einem zweiten Opfer gleichen Namens war allerdings keine Rede.

Victor runzelte die Stirn. „Offenbar hat es die andere Frau nicht bis in die Nachrichten geschafft.“

„Oder ihr ist nichts geschehen.“ Fragend schaute sie ihn an. „Und wenn es der zweiten Catherine Weaver gut geht? Als du mit der Polizei gesprochen hast, wollten sie dir vielleicht nur ein paar Routinefragen stellen. Wenn man unter Stress steht, geschieht es leicht, dass man sich …“

„… Dinge einbildet?“ Fast hätte sie sich auf die Zunge gebissen, als sie seinen Blick bemerkte.

„Nein“, erwiderte sie ruhig. „Falsch interpretiert. Die Polizei kann schließlich nicht jedem anonymen Anruf nachgehen. Ist doch logisch, dass sie einen Namen wollen.“

„Das war mehr als eine Routinefrage, Cathy. Sie konnten es kaum erwarten, mich zu verhören.“

„Ich bezweifle deine Worte nicht. Ich spiele nur den Advocatus Diaboli und versuche, in dieser verrückten Situation einen so klaren Kopf wie möglich zu bewahren.“

Nachdenklich schaute er sie an. Schließlich nickte er. „Die Stimme einer rationalen Frau“, seufzte er. „Genau das, was ich im Moment brauche. Die mich davon abhält, mich vor meinem eigenen Schatten zu erschrecken.“

„Und dich daran erinnert weiterzuessen.“ Sie reichte ihm noch ein Stück Pizza. „Du hast dieses Riesending bestellt. Also hilf mir, es aufzuessen.“

Sofort ließ die Anspannung zwischen ihnen nach. Er machte es sich auf dem Bett bequem und nahm das angebotene Stück an. „Dieser mütterliche Blick steht dir gut“, spottete er. „Genau wie die Pizzasoße.“

„Was?“ Sie wischte sich übers Kinn.

„Du siehst aus wie eine Zweijährige, die sich das Gesicht mit Fingerfarben angemalt hat.“

„Um Himmels willen! Gibst du mir mal bitte die Servietten?“

„Ich mach das schon.“ Er beugte sich vor und wischte die Soße vorsichtig weg. Dabei schaute sie in sein Gesicht, bemerkte die Lachfältchen in seinen Augen und die silbernen Strähnen, die sein braunes Haar durchzogen. Sie erinnerte sich an das Foto dieses Gesichts auf einem Viratek-Firmenausweis. Wie düster er in die Kamera geschaut hatte – das ernste Porträt eines Wissenschaftlers. Jetzt erschien er ihr jung und lebendig und beinahe glücklich.

Als er ihren Blick spürte, hob er den Kopf und schaute ihr in die Augen. Langsam wich das Lächeln von seinem Mund. Keiner von ihnen sagte ein Wort, als hätten sie in den Augen des anderen etwas entdeckt, das ihnen zuvor noch nicht aufgefallen war. Die Stimmen aus dem Fernseher kamen auf einmal wie aus weiter Ferne. Sie spürte seinen Finger, der über ihre Wange strich. Es war nur eine leichte Berührung, aber sie ließ sie erschauern.

Leise fragte sie: „Was passiert jetzt, Victor? Was sollen wir machen?“

„Wir haben mehrere Möglichkeiten.“

„Zum Beispiel?“

„Ich habe Freunde in Palo Alto. Wir könnten uns an sie wenden.“

„Oder?“

„Oder wir bleiben, wo wir sind. Zumindest eine Weile.“

Wo wir sind. In diesem Zimmer, auf diesem Bett. Sie hätte nichts dagegen. Überhaupt nichts.

Sie lehnte sich an ihn, gezogen von einer Macht, gegen die sie sich nicht zu wehren vermochte. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände – große Hände, aber unendlich zärtlich. Sie schloss die Augen in der Erwartung, dass dieser Kuss ebenso zärtlich sein würde.

Und das war er auch. Es war kein Kuss aus der Angst oder der Verzweiflung geboren. Es war ein Verschmelzen von Wärme und Seelen. Sie neigte sich zu ihm und spürte seine Arme im Rücken, die sie fest an ihn zogen, sodass es kein Entrinnen gab. Es war ein gefährlicher Moment. Sie stand kurz davor, sich ganz diesem Mann zu ergeben, den sie kaum kannte. Schon hatte sie die Arme um seinen Nacken gelegt, und mit den Händen fuhr sie durch sein dichtes braunes, von silbernen Strähnen durchzogenes Haar.

Er küsste ihren Hals und erkundete mit seinem Mund den Weg bis zu ihrer Kehle. All die Wünsche, die in den vergangenen Jahren in ihr geschlummert hatten, der Hunger und die Begierde schienen sich in ihr zu rühren und unter seinen liebkosenden Händen zu erwachen.

Und dann, innerhalb von Sekunden, war der magische Moment zu Ende. Sie verstand nicht, warum er sich plötzlich zurückzog. Kerzengrade richtete er sich auf. Seine Miene war starr vor Staunen. Verblüfft folgte sie seinem Blick und sah, dass er auf das Fernsehgerät hinter ihrem Rücken gerichtet war. Sie drehte den Kopf, um nachzuschauen, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Ein irritierend bekanntes Gesicht sah vom Bildschirm zurück. Sie erkannte das Viratek-Logo am oberen Rand und den zielgerichteten Blick des Mannes auf dem Foto. Warum, um alles in der Welt, zeigten sie Victor Hollands Ausweis im Fernsehen?

„… wird wegen des Verdachts auf Industriespionage gesucht. Es gibt Hinweise auf eine Verbindung zwischen Dr. Holland und dem Tod eines seiner Kollegen. Dr. Gerald Martinique hatte ebenfalls als Wissenschaftler bei Viratek gearbeitet. Die Ermittler befürchten, dass der Verdächtige bereits umfangreiche Forschungsergebnisse an einen europäischen Konkurrenten verkauft haben könnte …“

Beide blieben wie angewachsen auf dem Bett sitzen. Sie starrten nur ungläubig auf den Moderator. Und dann kam der Werbeblock. Rosinen tanzten ausgelassen über ein Feld und warben für die Wunder, die die Sonne Kaliforniens zustande brachte. Die hektische Begleitmusik nervte kolossal.

Schließlich stand Victor auf und schaltete den Fernseher aus.

Langsam drehte er sich um und schaute sie an. Das Schweigen zwischen ihnen wurde allmählich qualvoll.

„Es ist nicht wahr“, sagte er. „Nichts davon ist wahr.“

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