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Tage aus Glas

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Zwei junge Frauen, zwei Welten und ein Traum vom besseren Leben

Düsseldorf im Jahr 1901. Im Deutschen Reich streiken die Glasmacher. Auch die Arbeiter der Gerresheimer Glashütte, weltweit führend in der Flaschenproduktion, löschen die Öfen – mit dramatischen Folgen.

Bille, Tochter eines Flaschenmachers, träumt davon mit ihrem Geliebten Adam nach Amerika auszuwandern. Doch Adam wird zum Streikbrecher, während Billes Familie für den Streik alles riskiert.

Leonie ist die Tochter des Arztes der Glashütte und lebt eingezwängt in großbürgerliche Konventionen. Die begabte junge Frau sucht die Nähe zur künstlerischen Bohème, doch ihr Vater hat andere Pläne.

Am selben Ort, in unterschiedlichen Welten kämpfen Bille und Leonie um Selbstbestimmung und ihre Träume von einem besseren Leben. Und müssen entscheiden, welchen Preis sie dafür bezahlen wollen.


Eindringlich erzählt Dorothee Krings von zwei Frauen um 1900, von Hoffnungen und Träumen, schicksalhaften Wendungen – und dem Leben, das seinen eigenen Regeln folgt.

Ein gänzlich unberührtes historisches Setting: Neue Einblicke in die deutsche Geschichte der Glasmacherei.

»Historische Fakten und literarische Erfindungen werden zu einem Gesellschaftsroman verwoben, der eine Spannung entwickelt, wie sie meist Krimis vorbehalten ist. Die detailgenaue, aber nie überladene, psychologisch einfühlsam, aber nie erdrückende Sprache von Dorothee Krings trägt dazu bei, dass der Lesende sich sein eigenes Bild machen kann.« – SPIEGEL-Bestsellerautorin Ulla Hahn

»Dorothee Krings erzählt die Geschichte zweier Frauen, die in ihrer Sehnsucht, aus den Verhältnissen auszubrechen, wie Schwestern verbunden sind. Sie lässt eine untergegangene Welt auferstehen und stellt erstaunliche Parallelen zur Gegenwart her, in der die Digitalisierung ganze Branchen umwälzt. Das einst Mächtige und Unerschütterliche erweist sich brüchig wie Glas.« – Jan Brandt



  • Erscheinungstag: 25.03.2025
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365009178

Leseprobe

Dorothee Krings

Tage aus Glas

Roman

HarperCollins

Sich entfernen, um nicht zu vergessen.

Dieter Forte

Diese Geschichte beruht auf Ereignissen, die sich um das Jahr 1901 an der Gerresheimer Glashütte nahe Düsseldorf ereignet haben. Alle Figuren und Schicksale, auch jene mit historischen Vorbildern, sind indes erfunden. Einige historische Entwicklungen wurden zugunsten der erzählerischen Dichte vorverlegt oder gerafft.

Prolog

Fritz legte die Hände um den Mast, rüttelte daran wie an einem Pflaumenbaum und sah hinauf, als nehme er Maß. Es war um die Mittagszeit, die Sonne schien dem Jungen senkrecht in die Segelohren. Er ließ den Mast los, setzte sich auf die ausgedörrte Wiese und zog die Stiefel aus. Sorgfältig tat er das, friemelte lange an den dreckstarren Schnüren und stellte die Schuhe schließlich ordentlich neben den Pfahl. Dann zog er die Strümpfe von den Füßen und stopfte sie in die Stiefel.

Eine Brise strich durch die Birken am Rand des Kirmesplatzes, griff in die schimmernden Kronen, und das Rauschen der Blätter klang nach Sommer. Weiter hinten auf dem Platz flogen die Schiffschaukeln schon hoch. Im holprigen Takt lugten sie über die Dächer der Schießbuden, Bierstände, Karussells und kippten immer neue Wogen Gekreische in den Wind. Die Menschen drängten hinüber zu den Schaukeln, wollten auch fliegen und lustig sein, doch als sie den Jungen am Pfahl rütteln sahen, blieben sie stehen. Das durfte man nicht verpassen.

Fritz tänzelte jetzt barfuß auf der Stelle, lockerte Arme und Beine, ein Boxer vor dem Kampf. Der Junge war vielleicht sieben. Er hatte schmale Schultern, Kinderbeine mit knorrigen Knien wie Gelenke einer Puppe. Die Leute johlten, noch ehe Fritz das Signal bekam. Als der Pfiff ihre Stimmen zerschnitt, krabbelte der Junge lautlos wie ein Käfer zwei Meter in die Höhe. Schon hing er über den Köpfen der Gaffer, die Beine um den Mast geschlungen, die nackten Fußsohlen gegen das Holz gepresst. Die Zuschauer begannen, im Rhythmus zu klatschen. Es waren noch einmal drei, vier Meter bis hinauf zur Fleischwurst. Doch nun griffen die Hände des Jungen auf den Teil des Pfahls, der glitschig schimmerte. Er geriet ins Rutschen, fing sich ab, hing nun ein Stück tiefer und sah wieder hinauf.

Die Leute rissen die Münder auf, schwatzten und lachten. Fritz kümmerte das nicht. Er schlang seine Beine noch enger um den Pfahl, schob seine Hände in die Hosentaschen, erst die rechte, dann die linke, zog die Hände wieder heraus, streckte die Arme weiter nach oben, zog sich hoch, begann wieder zu klettern, langsamer jetzt, doch glitt er nicht wieder zurück. Die Seife schien Fritz nichts mehr anzuhaben.

Mehr Schaulustige kamen und feuerten ihn an. Der Junge sah nur nach oben. Plötzlich schrie einer »Teufelsbraten!« und zeigte mit dem Finger auf die blank gewetzte Hose des Jungen. »Dä hät Sangk en sin Bux!« Da hielt Fritz schon wieder inne, schob die Hände in seine Taschen, versorgte sich mit neuem Sand, kletterte weiter, still und beharrlich. Ja, der Junge war ein Teufelsbraten! Wie sein Vater. Wie der dürre Biesenbach. Der schaufelte seit Jahren im Gemengelager der Glashütte Sand und Soda und Kalk, trank Unmengen Kaffee, aß nichts in der Pause, rauchte nur. Andere bekamen den Husten von dieser Arbeit und wurden mager wie die Straßenköter. Biesenbach nicht. Der spülte den ganzen Schmutz einfach runter und ging zum Pissen hinters Lager. Er gebe den Dreck gleich an die Hütte zurück, hatte er einem Aufseher gesagt, als der ihn rügen wollte. So einer war der Biesenbach. Sein Sohn würde es schaffen, da waren die Leute sicher.

Als die Wurst in Reichweite kam, klammerte sich Fritz eng an den Pfahl und reckte einen Arm hinauf zur Beute. Von unten sah es aus wie eine Siegergeste. Die Leute winkten ihm zu. Er war so dicht vorm Ziel. Teufelsbraten!

Da machte die Wurst einen Ruck, flog ein Stückchen höher und baumelte im Sonnenschein. Darauf hatten alle gewartet. Die Leute schauten jetzt zum Strippenzieher unten am Pfahl. Der Kerl hatte ein schmutziges Gesicht, aus dem seine Augen hervorstachen, hell und sauber, als seien sie aus Porzellan. Er kaute auf einem Holzspleiß, während er am Seil zog und die Beute in der Schwebe hielt, gerade oberhalb der Reichweite des Jungen. Irgendwann würde er Fritz belohnen. Aber noch hielt er ihn hin, damit die Leute ihren Spaß hatten und ihm später Geld in die Büchse steckten. Noch einmal ließ er die Wurst höher steigen, und sie schwang vor und zurück, drehte sich, vollführte ein gehässiges Tänzchen.

Da geschah, was sich später keiner erklären konnte. Fritz ließ den Pfahl los. Er rutschte nicht ab, sauste nicht senkrecht am Mast nach unten. Es war, als springe er der Wurst nach in den Himmel. Als stürze er sich endlich auf die Beute, bevor sie auf- und davonflog.

Ein Schrei ging durch die Menge. Der Kreis der Schaulustigen dehnte sich wie durch eine Druckwelle, im nächsten Augenblick hielten alle die Luft an, und für einen endlosen Moment war die Menge still. Nur die Birken rauschten noch immer so heiter, und das Gekreische von den Schiffschaukeln tönte herüber und kam jetzt aus einer anderen Welt. Fritz lag da, vollkommen still, als horche er in die Erde. Neben ihm standen seine Schuhe ordentlich und unversehrt.

Das Unglück hatte nichts mit dem Arbeitskampf der Glasmacher in Gerresheim zu tun. Doch die Nachricht vom Streik der Kollegen auf einer Hütte an der Weser verbreitete sich zusammen mit der Kunde vom Tod des Jungen auf dem Kirmesplatz. Und so hieß es später, dass mit dem Sturz des kleinen Biesenbach das Unheil in der Glasmachersiedlung begonnen habe.

1

Bille fasste ihren Bruder Ferdi an den Schultern und schob ihn weiter. Still und gefügig war er wie sonst nie. Der verunglückte Fritz war sein Freund gewesen. Er hatte zur Meute gehört, mit der Ferdi auf der Straße Murmeln warf und an der Wäschewiese Birnen klaute. Oft hatte Fritz Ärger bekommen, sein Vater war ein rauer Mensch, aber gepetzt hatte Fritz nie. Das Rudel der Jungs hielt zusammen, Fritz und Ferdi immer vorneweg. So wäre es weitergegangen. Irgendwann wären die beiden nebeneinander zur Schicht in die Glashütte gezogen, hätten geschuftet wie ihre Väter und auf die Vorarbeiter geschimpft wie ihre Väter, bis sie selbst Vorarbeiter geworden wären. Und immer noch hätten sie gewusst, dass sie aufeinander zählen konnten. Doch nun war Fritz nur noch der tote Junge vom Kirmesplatz.

Wenn in der Siedlung ein Kind starb, schauten die Leute zum Himmel und sagten: Wat hät sech ons Härjott bloß dobei jedaht? Und dann schüttelten sie die Köpfe. Beunruhigend war das, wenn die Jungen vor den Alten starben. Und die Alten plötzlich Fragen stellten, auf die sie keine Antwort wussten.

Bille hatte auch Fragen, aber die sagte sie nicht laut. Die blieben in ihrem Kopf. Ging ja niemanden etwas an, dass sie gern vom Härjott gewusst hätte, warum er sie mit diesem Fehler in die Welt gestellt hatte. Die eine Schulter höher als die andere, der Rücken ein wenig krumm. Als habe man die beiden Hälften ihres Körpers schludrig zusammengenäht. Sie hatte geglaubt, die in der Fabrik hätten es nicht bemerkt. Bis neulich einer der Handlanger gerufen hatte: Gib das der mit dem Buckel! Von da an hörte sie das Wort öfter.

Bille schob ihren Bruder weiter. Der lehnte sich jetzt gegen sie, schmiegte sich in ihren Rock, wurde immer zahmer, je näher sie der Grube kamen. Bille strich ihm über den Kopf. Wenn er so anhänglich war, tat sie gern wie eine liebe Mutter. Ihre eigene streichelte nicht über Kinderköpfe. Mutter hatte Bille und ihrer Schwester Henrike früher so ruppig die Zöpfe geflochten, dass ihre Köpfe zur Seite flogen und das Haar noch Stunden ziepte. Zimperlichkeit konnte Mutter nicht leiden. Vielleicht war das auch gut so. Man kam besser durchs Leben, wenn man nicht zimperlich war. Aber musste es immer so weitergehen? Auch so eine Frage, die Bille besser still in ihrem Kopf behielt. Schuften wie die Mutter, daheim und in der Fabrik, dann einen Glasmacher heiraten wie die Mutter, Kinder kriegen, ihnen beibringen, dass sie nicht zimperlich sein durften – in den Büchern, die sich Bille aus der Werksbücherei holte, standen andere Geschichten. Da waren die Mädchen schön und fleißig, hatten goldenes Haar und hübsche Kleider, und dann kam ein Mann, dem sie gefielen, und der nahm sie mit. Würde für sie auch einer kommen?

Wenn die Nachbarn bei Kaffee und Kuchen im Garten saßen oder Vaters Kollegen mit einem Krug aus dem Rotkehlchen in ihrer Küche auftauchten, redeten die Männer übers Glas und den Lohn fürs Flaschenhundert. Sie schimpften auf die »Herren Direktoren«, die noch nie gearbeitet hätten, und malten sich aus, wie sie leiden würden in der Hitze vor den Öfen. Keine Stunde würden die es aushalten, keine fünf Minuten! Und dann ging’s um die Kontrolle der Akkorde und Ruhezeiten, ums Versammlungsrecht und was sich alles ändern müsste. Warum sollte sich nicht auch in Billes Leben etwas ändern?

Aber vielleicht war es hochmütig, so zu denken. Vielleicht sollte Bille lieber froh sein, ein Dach überm Kopf zu haben, eine Arbeit, eine Sippe, zu der sie gehörte. Stattdessen dachte sie über ihren Buckel nach. Fleißig war sie, aber falsch zusammengenäht. Würde sich trotzdem einer in sie verlieben? Und was hieß das überhaupt? Eigentlich war es doch nur ein Wort, das die jungen Frauen in der Fabrik im Mund führten, um sich wichtigzumachen. Frauen wie Gerda, die sich für die Schönste von allen hielt. Was würde aus einer wie Bille? Wat hät sech ons Härjott bloß dobei jedaht?

Von weiter vorne hörte Bille die Stimmen der Männer. Ihr Vater war mit den Kollegen zur Beisetzung gegangen. Leben geht weiter. Versteht man nicht. Sind für dich da, Alfons! Die Männer von der Hütte klopften dem Biesenbach auf die Schulter mit ihren Krötenhänden, krumm geschuftet vom endlosen Drehen der Glasmacherpfeifen. Dann gingen sie schon mal vor, einen kippen auf die großen Fragen. Mutter würde Ferdinand später in die Kneipe schicken, Vater holen, damit der noch was zum Nüchternwerden in den Magen bekam. Und dann ab zur Nachtschicht. Mutter würde zu Bett gehen, viel zu früh, damit sie mit niemandem mehr reden müsste an so einem Tag. Sie haderte ja auch mit dem Härjott. Ihre Zwillinge, die ärm Wörmkes, hatten noch kein richtiges Leben gehabt, gleich nach der Nottaufe waren sie gestorben. Niemand sprach mehr davon – außer Mutter. Wenn die später in die Kammer ginge, um ihr eigenes Leid zu beweinen, wäre Bille schon fort. Sie musste mit den anderen Frauen aus der Glasmachersiedlung zur Weberei. Den Morgen hatten sie freibekommen. Wenn ein Kind aus der Siedlung starb, musste es anständig unter die Erde gebracht werden. Aber die Zeit würden sie nacharbeiten müssen.

Ferdinand griff nach Billes Hand, gemeinsam traten sie ans Grab, doch da riss der Junge sich los und verschwand in der Menge der Trauergäste. Bille sah ihm nicht nach. Sie griff nach der Schaufel, die wie vergessen im Aushub steckte, beugte sich über die Grube, schaute, wie Erde zu Erde fiel von ihrer Hand. Lange sah sie hinunter. Da schien es Bille plötzlich, als sähe sie in den Erdbrocken auf dem kleinen Sarg die Züge eines Gesichts. Und der Junge, der nach der Wurst gegriffen hatte, lächelte ihr zu.

2

In jenem Sommer stieg ein Glasmacher allein den Weg vom Sandberg nach Gerresheim hinab. Es war am Morgen, das Licht noch grau von der Nacht. Der junge Mann ging leicht gebeugt, groß und schlaksig war er, und hatte den Kragen seiner Jacke hochgeschlagen. Sein Bündel trug er unter den Arm geklemmt und seine Fäuste hatte er tief in die Taschen versenkt. Sein Blick war wach und gutmütig. Keiner von denen, die Streit suchen.

Adam schritt mit Eile gegen die Frühe und das flaue Gefühl in seinem Magen an, blieb jedoch abrupt stehen. Sein Weg hatte ihn an die Abbaukante des Sandbergs geführt. Der lichte Wald, durch den er eben noch gewandert war, endete, und es ging viele Meter senkrecht in die Tiefe. Adam beugte sich über die Klippe und betrachtete die Farben der Sandschichten, die man abgetragen hatte. Eine so gewaltige Abbaustelle hatte er noch nie gesehen. Die Klippe sah aus, als habe ein Riese seine Zähne in die Landschaft geschlagen und den halben Berg verschlungen.

Mit zusammengekniffenen Augen verfolgte der junge Glasmacher die Spuren der Sandträger, die an diesem Abhang gearbeitet haben mussten, und hatte bald einen Weg für sich ausgemacht. Ganz ungefährlich wäre der Abstieg nicht, die Trampelpfade schienen nicht mehr in Gebrauch und waren hier und da verschüttet. Doch weiter unten mündeten sie in einen Hohlweg, der schnurstracks Richtung Düsseldorf führte. Wenn er sich hinunterwagte, konnte er ein gutes Stück Weg abkürzen und wäre früher an der Hütte in Gerresheim. Adam hatte mit sich ausgemacht, bis Sonnenaufgang dort zu sein.

Der Glasmacher ging an der Abbruchkante entlang bis zu jener Stelle, wo tief unter ihm ein schmaler Vorsprung begann. Er setzte sich, warf sein Bündel hinunter, beobachtete, wie es mit einem dumpfen Schlag im Sand landete. Noch einmal ließ Adam den Blick in die Ferne schweifen. Im blassen Licht des anbrechenden Morgens suchte er nach jener Stelle am Horizont, wo die Schlote der Glasfabrik wie Zinken einer Harke in den Himmel ragten. Er kniff die Augenlider fester zusammen und versuchte, die Kamine zu zählen. Der Werber hatte nicht übertrieben. Vor ihm kauerte ein fettes Biest im Tal und schnaubte seinen Kohleatem in die Landschaft.

Nur ärgerlich, dachte Adam, dass er nicht gleich unterschrieben hatte. Schon öfter hatte ihn sein Zögern um Vorteile gebracht. Doch er hatte dem Werber nicht getraut. Der Kerl hatte blank geputzte Stiefel getragen und an seiner Weste eine goldene Uhrkette. Wer setzte sich so zu Glasmachern in die Kneipe? Und dann hatte er noch getan, als erzähle er rein zufällig von der großen Hütte im Westen und all den Vorteilen, die Glasmacher in Gerresheim hatten. Werkswohnung, Garten, Viehstall, Schweineversicherung und was nicht alles. Dabei hatte jeder gewusst, dass der Kerl ein Werber war. War ja nicht der erste in der Gegend. Natürlich hatte er noch am Abend Verträge aus der Tasche gezogen. Man hatte nur unterschreiben müssen und einen Vorschuss für die Reise bekommen, sofort ausgezahlt gegen Quittung. Bruno hatte das Geld genommen und sich gleich am Sonnabend auf den Weg gemacht. »Wir sehen uns!«, hatte er zum Abschied gesagt, so sicher war er gewesen, dass sein Freund nachkommen würde. Doch Adam hatte sich nicht entschließen können. Hatte auch nicht gewusst, ob das Rheinland günstig lag auf dem Weg aus dem Isergebirge zur Küste. Schließlich wollte er nicht mehr viel Zeit verlieren.

Doch in den Wochen darauf hatte er immer wieder von Glasmachern gehört, die gen Westen zogen, zur großen Hütte vor den Toren Düsseldorfs, und allmählich hatte ihm geschwant, dass der Werber womöglich nicht übertrieben hatte. Sein Freund Bruno hatte mal wieder den richtigen Entschluss gefasst, ohne groß zu überlegen. Da hatte sich auch Adam auf den Weg gemacht – ohne Vorschuss. Und ohne Garantie, dass er in Gerresheim überhaupt noch Arbeit bekommen würde.

Adam dachte an den Kaffee, den es an der Hütte geben sollte, so viel man wollte. Echten Bohnenkaffee, hatte der Werber versprochen. Wäre ihm lieber als das laue Bier, das es sonst überall gab. Das machte nur müde. Schon hatte Adam den Duft von gebrannten Bohnen in der Nase. Was hätte er jetzt für einen dampfenden Becher gegeben und dazu eine Kante Brot mit Schmalz? Die Nacht hatte er im Schankraum eines Gasthauses zugebracht. Erst spät am Abend war er dort angekommen und hatte von seinen letzten Groschen einen Krug Bier bestellt. Als die letzten Säufer in der Nacht gegangen waren, hatte der Wirt ihn kehren lassen. Dafür bekam er die Bank am Fenster. Reste aus der Küche hatte man ihm nicht angeboten. Und Adam war keiner, der fragte. War nun schon ein paar Tage her, dass er etwas Warmes in den Magen bekommen hatte. Im Morgengrauen hatte der Hunger ihn geweckt, da war er gleich wieder losmarschiert. Hatte sich geschworen, bis zum Schichtbeginn an der Hütte zu sein, und dann wäre es vorbei mit dem Hunger! Noch einmal blickte er zu den fernen Umrissen der Fabrik und sprang hinunter auf den Pfad.

Die Hütte erreichte Adam Malek mit Beginn der Frühschicht. Noch ehe die Sonne senkrecht in die schwarzen Schlote schien, hatte man ihn als Einleger angestellt. Nun stand er hinter einem der neuen Öfen und musste die Zutaten fürs Glas von einer staubigen Halde in die Glut schaufeln. Wie er den Schieber mit dem eisernen Arm bedienen musste, hatte man ihm schnell erklärt, doch die Hitze so dicht vor der offenen Glut war unerträglich. Immer wieder ließ Adam seinen Schieber los, drehte den Oberkörper nach hinten und rang nach Luft. Die Männer neben ihm grinsten und schaufelten weiter, als spürten sie die Hitze nicht. Doch Adam konnte es ihnen nicht nachtun. Das Feuer aus dem Ofen loderte in seiner Lunge und brannte auf seiner Haut. Bald schmerzte ihn jeder Atemzug, und sein Blick war weiß vom Licht. Doch er schaufelte weiter, sah kaum noch, was er tat, versuchte durchzuhalten.

Bisher hatte Adam an traditionellen Glasöfen gearbeitet, die für jede Schicht neu befüllt wurden. Dafür gab es flache Becken, die von den Wannenmachern getöpfert wurden. Handlanger schaufelten Rohstoffe und zerbrochenes Glas in diese Becken und schoben sie in die Glut. Erst wenn das Gemenge in den Wannen geschmolzen war, rief man die Flaschenmacher an die Öfen. Adam und seine Kumpel hatten an kleinen Luken gearbeitet, bis die Häfen leer geschöpft waren. Niemand hatte in die offene Glut schaufeln, niemand der Hölle die Stirn bieten müssen.

Doch in dieser Fabrik gab es keine Zeit, um auf die Glasschmelze zu warten. Die Öfen waren in Dauerbetrieb. Darum hatte man sie gebaut wie Tunnel, die von einer Seite befüllt, an der anderen leer geschöpft wurden. Aus den Seitenwänden dieser Tunnel loderten Gasflammen, die das Gemenge von oben befeuerten und den Fluss aus geschmolzenem Glas auf Temperatur hielten. Solche Öfen brauchten ständig Nachschub. Also wurden Männer gesucht, die es in der Hitze aushielten und den ganzen Tag frisches Gemenge in den Glasfluss schaufelten. Alte Säufer mit roten Gesichtern hielten das aus. Und junge Männer wie Adam, die Geld brauchten.

Im Vorbeilaufen hatte er am anderen Ende der Halle die Flaschenmacher gesehen. Sie standen auf hölzernen Podesten, drei, vier Stufen hoch, und schwangen ihre Pfeifen, lange Metallrohre, die ihnen so vertraut in den Händen lagen, als seien sie ein Teil ihrer selbst. Auf ihrer Seite des Tunnels waren die Öfen zugemauert, und die Männer arbeiteten an Luken, wie Adam sie kannte. Auch davor war es so heiß, dass den Püstern die Wimpern wegschmorten und der Schweiß ihnen aus jeder Pore drang. Aber daran konnte man sich gewöhnen. Die Männer legten sich feuchte Lappen in den Nacken, rieben sich den Schweiß aus dem Gesicht und schufteten weiter.

Am liebsten wäre Adam gleich zu den Flaschenmachern auf das Podest geklettert. Er kannte ihre Bewegungen, sah jetzt vor sich, wie sie ihre Pfeife in den Ofen tauchten, einen Pfropfen Glas, das Külbel, aus dem glühenden Strom schöpften, die Pfeife in die Luft schwangen, die Wangen blähten und mit kurzem Druck einen hohlen Kern in den heißen Pfropfen pusteten. Mit ihrem Atem dehnten sie das Külbel, bis es dunkler wurde, kälter, härter. Dann schoben sie das Pfeifenende mit dem Külbel zurück in die Hitze des Ofens, um es erneut geschmeidig zu machen, und zogen es hell glühend wieder heraus. Sah man ihnen länger zu, wirkte das alles wie eine einzige Bewegung, wie ein Schwingen, das, einmal in Gang gesetzt, niemals erlahmt.

War der hohle Kern genügend gewachsen, traten die Glasmacher an den Rand der Bühne, blähten die Wangen wie Frösche, beugten sich vornüber und drückten mit ihrer Puste das Glas in die eisernen Flaschenformen am Boden. Da unten hockten schon die Zuträger, flinke Jungs, die ihren Vätern mit acht, neun Jahren in die Fabrik gefolgt waren. Sie hatten gelernt, die glühenden Flaschen mit gewässerten Zangen aus den Formen zu greifen und schleunigst in den Kühlofen zu tragen. Wenn sie träumten, Schabernack trieben oder einen Rohling fallen ließen, bekamen sie einen Hieb von oben. Der Peitsche eines Flaschenmachers entkam man nicht. Die Püster hatten keine Zeit zu verlieren, sie wurden fürs Flaschenhundert bezahlt. Die guten schafften 200 Flaschen in einer Schicht, die besten 250. Im Akkord pressten sie sich die Puste aus ihren Leibern, und ihr Schweiß bildete Salzränder in ihren Hemden. Wie sehr die Frauen daheim auch schrubbten, nach jeder Wäsche tauchten die weißen Kränze wieder auf. Gewellte Linien wie Lebensringe von Bäumen.

Der kurze Blick im Vorübergehen hatte Adams Sehnsucht geweckt. Ohne zu zögern, hätte er sich einreihen können bei den Männern vor dem Ofen. Er beherrschte das Flaschenmachen wie sie. Doch am Morgen hatte man ihm gesagt, dass es in der Fabrik genug erfahrene Flaschenmacher gebe. Adam hatte verstanden, was das hieß: Die alteingesessenen Sippen hatten die begehrten Plätze unter sich aufgeteilt und duldeten keine Fremden. Neuankömmlinge mussten hinter den Ofen. Sie mussten die Drecksarbeit machen im Angesicht des Feuers. Nun gut, würde er eben Gemenge schieben, hatte Adam gedacht. Bruno würde ihm schon weiterhelfen, sicher hatte er noch einen Platz vor den Öfen ergattert. Einschieber zu werden für den Anfang, war besser als nichts.

So war er in der Hölle gelandet. Adam zog seine Kappe tiefer in die Stirn, doch seine Haut war schon versengt von der Hitze. Für das bisschen Geld eines Tagelöhners musste er sich bei lebendigem Leibe rösten lassen. Und nun gab es kein Zurück. Adam starrte auf den Berg aus Sand, Soda und Kalk, schob die nächste Fuhre in die Glut, beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, wie das Gemenge auf dem kochenden Glas eine dunkle Kruste bildete und in der gleißenden Flut versank. Er hätte sich durchschlagen sollen bis zur Küste, so wie er es eigentlich geplant hatte! Doch die riesige Hütte hatte ihn gelockt. Mehr als 100 Millionen Flaschen im Jahr gingen von Gerresheim in die ganze Welt. Am Packhof reihten sich die Güterzüge. Selbst in der Nacht wurde Ware verladen. Adam hatte Teil sein wollen von diesem gigantischen Räderwerk. Doch nun wusste er, dass der Mensch in diesem Moloch nichts zählte. Kopfüber hätte sich Adam ins Feuer stürzen können, die Männer neben ihm hätten es kaum bemerkt. Hätten weitergeschaufelt. Immer weiter.

Als Adam längst blind war vom Licht und kaum noch bei Sinnen vor Hunger und Durst, schlug man ihm auf die Schulter und ließ ihn Pause machen. Weiter hinten in der Halle sank er auf den Boden, die Kleider am Leib nass von Schweiß. Der grelle Schein des Glases in den Blick gebrannt. Einer, der neben ihm geschaufelt hatte, reichte Adam einen Becher, und darin war tatsächlich Bohnenkaffee, kalt wie Quellwasser. Adam trank den Kaffee in hastigen Zügen, rappelte sich hoch, schöpfte den Becher wieder voll. Und noch mal. Er trank, bis sein Bauch schmerzte und ihm der Kaffee über das Kinn lief. Ganz unten war er angekommen. Ein saufendes Schwein war er geworden. Keinen Tag länger würde er in Gerresheim bleiben. Nie wieder wollte er an diesen Lavaschlund treten! Dafür war er nicht gemacht. Er gehörte vor den Ofen, zu den Püstern mit den Pfeifen, nicht zu den Knechten der Hölle. Mochte diese Hütte die modernste der Welt sein, sie verschlang ihre Arbeiter, ließ sie verglühen am roten Fluss aus Glas. Er würde nicht nach Bruno suchen. Sollte der sein Glück machen, wenn er es hier aushielt. Adam würde seinen Tagelohn nehmen, sich im Wirtshaus satt essen und weiterziehen. Fort würde er sein, noch bevor der nächste Morgen graute.

Doch nach seiner ersten Schicht schleppten die Kollegen den zu Tode erschöpften Adam mit ins Rotkehlchen. Mutter Rosa setzte ihm dort ihr fettes Sauerkraut mit weißen Bohnen und Kartoffelstampf vor, und der Duft vom ausgelassenen Speck tat seine Wirkung. Adam schaufelte. Nie hatte er so fettes Sauerkraut gegessen. Nie hatte er einen solchen Hunger gehabt. Als die Kraft zurückkehrte, sah er von seinem Teller auf. An der Theke standen ältere Flaschenmacher und schwadronierten mit der dicken Frau hinter dem Buffet. Auf der Theke stand ein bauchiges Glas, aus dem Mutter Rosa Soleier schöpfte. Zwei Männern richtete sie Tellerchen mit geschmolzenem Käse an, Berge von Zwiebeln häufte sie darauf und begoss die Zwiebeln mit Essig. Immer mehr Arbeiter drängten in die Kneipe, es wurde lauter, stickiger, und Adam lehnte sich zurück, war so müde und mit einem Mal zufrieden. Er hatte geschuftet für dieses Essen, das nun warm und schwer in seinem Magen lag. Die Leute sprachen ein seltsames Deutsch, durchsetzt mit Wörtern aus anderen Sprachen. Einen Singsang ergab das, der einem im Kopf hing wie Girlanden. Jeder konnte auf seine Art einstimmen, niemand schien hier fremd.

Von den ersten Flaschenmachern, die nach der Schicht in die Kneipe kamen, erfuhr Adam, dass Bruno tatsächlich eine Stelle vor den Öfen ergattert hatte. Er könne bestimmt was deichseln, meinten die anderen, und überhaupt: Wer lief denn gleich weg nach nur einer Schicht? Noch dazu eine Woche vor dem Turnfest! Da würde ordentlich gefeiert. Da fuhr man doch nicht weiter! Und neue Mitglieder suchten sie bei den Turnern auch. Einer von den Alten bot Adam einen Platz für die erste Nacht. »Kannst in meiner Küche pennen«, sagte der Mann und versprach Adam, ihn tags darauf zu Bruno ins Männerwohnheim zu bringen. Klar kannte der alte Flaschenmacher Bruno. Er kannte hier jeden vor den Öfen, und der Mann hielt Wort, brachte den Neuen anderntags noch vor der Schicht ins Wohnheim. So kam es, dass Adam blieb.

3

Den ganzen Tag hatte die Sonne auf die Düssel geschienen. An dieser Stelle war das Flüsschen breit wie ein Tümpel, am Ufer wuchsen die Brennnesseln hüfthoch, und die Brombeeren streckten ihre dornigen Arme gierig über die Böschungen. Doch auf dem Dicken Stein, einem Felsplateau inmitten der wuchernden Uferlandschaft, konnte man sich niederlassen. Man musste nur den Trampelpfad kennen, der vom Feldweg auf den Felsen führte.

»Ich steh nie wieder auf!« Bille hatte ihre Strickjacke auf dem warmen Stein ausgebreitet und lag nun da mit geschlossenen Augen, das blasse Gesicht an die Schulter geschmiegt, den schwarzen Zopf auf der Brust, die sich ruhig hob und senkte.

Sie blinzelte. Maria war in den Schein der Nachmittagssonne getreten, sah auf Bille hinab und schüttelte den Kopf. »Was wird das?« Sie schleuderte die Pantinen von ihren Füßen und hockte sich neben ihre Freundin an den Rand des Felsens. »Warte ab, bis du zu uns versetzt wirst. Den ganzen Tag an der Spule stehen und aufs Garn starren – da kriegst du Beine wie die alte Leni. Nach so ’ner Schicht kannste hier schlafen wie Schneewittchen!«

Bille richtete sich auf und legte ihren Arm um Marias Schulter. »Weiß ich doch, dass du es am schwersten hast.«

Maria schüttelte die Umarmung ab, griff in ihre Rocktasche und zog eine Zigarette hervor. »Hat Carlo spendiert.« Sie grinste, griff wieder in die Tasche, brach ein Zündholz ab und hielt es an das Tabakröllchen.

»Carlo hat dir ’ne Zigarette geschenkt?« Bille warf ihrer Freundin einen ungläubigen Blick zu. Maria zog vorsichtig an dem Tabak, hielt das Röllchen zwischen Daumen und Zeigefinger, wie die Weber es taten.

»Er hat seinen Spind offen stehen lassen. Das zählt als Einladung, würde ich sagen.«

Maria reichte die Zigarette an Bille. Die nahm einen tieferen Zug und spürte, wie etwas Sengendes in ihre Lungen eindrang und sich weiter vorfraß wie durch ein Wurzelwerk. Sie gab die Zigarette zurück, genoss den leichten Schwindel, als sie über die Düssel blickte. Der Rauch war genau das Richtige gegen den Staub in ihrem Hals. Gewöhnlich musste sie sich die Flusen aus der Fabrik mühsam von der Brust husten.

»Wollte immer schon mal eine mit dir rauchen.« Maria hielt die Zigarette wieder zwischen den Fingerspitzen. Die Pose schien ihr zu gefallen.

»Nun zieh schon! Das Ding brennt ja einfach runter!« Bille schnippte ungeduldig mit den Fingern, doch Maria lehnte sich vor. Hatte etwas entdeckt unten am Bachlauf.

»Da sind die beiden!« Bille folgte Marias Blick zur anderen Seite des Ufers und sah ein gutes Stück den Fluss hinauf einige Jungen aus der Siedlung am seichten Wasser hocken. Tatsächlich, da waren auch Adam, der Wanderarbeiter, der vor Kurzem bei ihnen gepennt hatte, und dessen Freund Bruno, die beiden Neuen. Vater hatte Adam im Rotkehlchen aufgelesen. Halb verdurstet war er nach seiner ersten Schicht in der Kneipe gelandet. Riesen Kohldampf, keine Bleibe. Mit solchen Jungs hatte Vater Mitleid. Er nahm den Neuen mit nach Hause und warf einen Strohsack neben den Herd. »Eine Nacht. Morgen bring ich dich in die Menage«, hatte er gesagt und war in die Kammer geschlurft. Bille lauschte auf der Treppe, huschte dann noch mal in die Küche, trank am Hahn, als habe sie so spät noch Durst, und riskierte einen Blick. Der junge Arbeiter lag zur Seite gerollt, den Kopf auf die Hände gebettet. Seine Stirn war noch gerötet von der Hitze am Ofen, aber sein Gesicht, so in den Schlaf gesunken, wirkte friedlich und war viel feiner geschnitten als bei den Jungs in der Nachbarschaft. Und diese Sanftmut in den Zügen eines Fremden berührte Bille. Sie stand reglos auf den kalten Dielen, ein witterndes Tier am Waldrand, verwundert über den ungekannten Zauber dieses Moments. Am nächsten Morgen lieferte Vater Adam im Wohnheim ab. Noch vor der Schicht. Wie es sich gehörte.

Am Ufer hatte Adam seinen schmalen Körper ganz in das Wasser gestreckt. Die Ellbogen in den Sand gestemmt, schien er über die Wasseroberfläche zu wachen wie ein Krokodil. Die anderen saßen etwas dahinter auf der Wiese. Bruno war dabei, die Gruppe zu unterhalten. Wegen seiner dunklen Locken hatten Bille und Maria ihn heimlich »den Italiener« getauft. Bruno sprach mit wilden Gesten, die Männer lachten. Plötzlich sprang er auf, legte den Finger verschwörerisch an den Mund und warf sich direkt neben Adam in den Fluss. Das Wasser spritzte, eine Woge schwappte Adam über den Kopf, doch der blieb ungerührt liegen. Auch als die anderen aufsprangen und lärmend in den Bach hineinliefen.

»Der Italiener ist so ein Kindskopf.«

Bille nickte. »Angeber. Tut, als wäre er schon der Anführer hier. Der Stille ist viel schlauer.«

»Wat is nu?« Maria nickte Richtung Wasser. »Vom Rumliegen lernste nie schwimmen. Und gleich kommen die anderen, dann ist mit dir wieder nichts los.«

»Ich kann ja schwimmen. Ich tu’s nur nicht so gern.«

»Du zappelst wie ein Hund. Und wehe, dir schwappt Wasser übern Kopf …« Maria lachte. »Wer Angst vorm Döppen hat, kann nicht schwimmen.«

»Du hast gut reden. Ich genier mich halt, wenn man meinen Rücken sieht.«

»Schiss haste, sonst gar nichts.« Maria zog Rock und Bluse aus und ging zur Stelle seitlich am Felsen, an der man hinunter ans Wasser klettern konnte. Jetzt stand auch Bille auf, streckte ihren schiefen Rücken. Da sah sie am Feldrand andere Frauen aus der Weberei auf den Pfad zum Dicken Stein einschwenken. Gerda ging voran, die Haare offen, den Rock gerafft, als müsse sie auf eine kostbare Robe achten. Eine Königin mit Hofstaat auf dem Weg zum samstäglichen Bad.

»Gerda und ihre Truppe kommen.« Bille nickte hinüber zum Feld.

Maria trat zurück zu ihrer Freundin und sah zu den Frauen aus der Fabrik. »Ich hab’s dir gesagt! Zieh dich schnell aus, und ab ins Wasser.«

Doch Bille hockte sich wieder neben ihr Bündel und fingerte unentschlossen an den Knöpfen ihrer Bluse. Da tauchte hinter ihr schon Gerdas Kopf über der Felskante auf.

»Ratet, wer schon da ist«, rief sie über die Schulter zurück zu ihren Freundinnen. »Die Akkordbrecherinnen haben sich breitgemacht!« Mit einem Sprung war Gerda auf dem Felsen. »Sieh an, sieh an! Maria und die Bucklige. Heute keine Überstunden? Hatte Krüger keine Sonderaufgaben für euch? Keine Botengänge ins Lager? So was aber auch!« Sie warf ihr Bündel an den Rand des Felsens und musterte Bille feindselig.

Etwas weiter den Bach hinauf tobten die jüngeren Kinder aus der Siedlung. An dieser Stelle war das Wasser flacher, und ein paar Flaschenmacher hatten zu Beginn des Sommers einen Handkarren aus der Hütte im Fluss versenkt. Unter Wasser konnte man sich auf das Gestänge hocken, die Füße um die Streben schlingen und die Strömung an sich vorüberziehen lassen. Die Plätze waren begehrt. Das Gekreische der Kinder schallte am Ufer entlang. Warum waren Maria und sie nicht zum Karren gegangen, dachte Bille. Keiner hätte Notiz von ihnen genommen. Ungestört hätte sie ein paar Schwimmübungen machen können. Zu spät. Nun waren sie in Gerdas Revier eingedrungen. Da musste sie nun durch. Bille drehte sich zu Gerda und sah ihrer Gegnerin direkt in die Augen. »Lass mal gut sein, Gerda! Können wir nichts dazu, wenn Krüger dich auf dem Kieker hat.«

»Wie sprichst du denn mit mir?« Gerda wandte sich wieder zu den anderen Frauen, die nun ebenfalls auf den Dicken Stein geklettert waren und dem Streit begierig folgten. »Habt ihr das gehört? Der Buckel ranzt mich an, als wär’ se was Besseres. Das kann ich ja gar nicht leiden! Was willst du überhaupt hier mit deinem …?« Gerda zeigte auf Billes Rücken. »Kann man denn schwimmen mit sonem Ding?« Sie zog eine Schulter hoch und tapste auf Bille zu. »Sag schon! Mit so ’nem Höcker kann man doch nicht schwimmen«, ein Grinsen zog durch ihr Gesicht. »Aber nen Buckel machen vor Meister Krüger und seinen Leuten, das kannste, ne?!« Die anderen lachten.

Wut schoss Bille ins Gesicht. »Pass auf, was du sagst! Bei Krüger kriegste nichts auf die Kette, und hier tönst du rum! Was geht’s dich an, wie ich aussehe? Auf alle Fälle schwimm ich besser als du, kannste Gift drauf nehmen!«

Erschreckt starrte Maria auf die beiden Frauen, die einander beäugten wie Straßenkatzen. Ihre Freundin neigte nicht zu Jähzorn, aber wenn es an ihren Stolz ging, vergaß Bille alle Vorsicht. Buckel, sie hatte gar keinen Buckel, keinen starken jedenfalls, man konnte es übersehen.

»Komm, Bille! Wir wollten eh grad gehen.« Maria griff nach ihren Kleidern.

»Ihr wart doch noch gar nicht im Wasser!« Gerda witterte jetzt Morgenluft. »Na, los, Buckel, wenn du besser schwimmen kannst, dann zeig’s uns! Ich wette, ohne Hilfe kommst du nicht mal hier runter.«

Plötzlich schien Bille tödlich entspannt. Sie wandte sich ab, knöpfte wortlos ihre Bluse auf, zog sie aus, drehte sich langsam wieder zu ihrer Feindin. »So, Gerda, ich zeig dir jetzt, wie ich hier runterkomme! Springst du mit? Oder hasste Schiss? Wolltest du nur deine dreckigen Füße ins Wasser halten?«

Gerda starrte Bille an. Maria starrte ihre Freundin an. »Bille, um Himmels willen! Nu’ ist gut. Wir gehen nach Hause, wie wir es vorhatten.«

Bille schüttelte nicht mal den Kopf. Sie legte ihre Schürze ordentlich zusammen, stieg aus ihrem Rock. Da begann auch Gerda, ihre Kleider abzulegen, und schimpfte dabei. »Schiss? Ich? Vor einer wie dir? Deine Schuld, wenn du mich herausforderst. Jammer bloß nicht hinterher. Ist schließlich deine Idee gewesen.« Als Gerda in ihrer Unterwäsche dastand, griff sie sich in die Haare, schüttelte ihre Mähne, war jetzt eine Löwin. Ihre Gefährtinnen begannen, Gerda anzufeuern. Fünf Schritte gingen die beiden Frauen zurück bis zum hinteren Rand des Felsens. Gerda hielt Bille am Arm, zählte rückwärts von zehn – und sie liefen los.

Ein dumpfer Schlag. Bille musste im Wasser aufgetroffen sein.

»Der dumme Krüppel ist tatsächlich gesprungen!« Gerda stand an der Felskante, die Hände in die Hüften gestemmt, und presste ein Lachen aus sich heraus. Niemand stimmte ein. Selbst die Mädchen, die gerade noch für sie geklatscht hatten, blickten entsetzt auf die Böschung, von der Bille gesprungen war.

Maria stürzte an den Rand. Unten sah sie Wellen im Wasser, keine Spur von Bille. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie lief an der Felskante entlang zu der Stelle, an der man hinabklettern konnte, sah noch einmal nach unten zum Bach. Da! Fast verdeckt von den Büschen: zwei Arme, die wild um sich schlugen, nun in ein Paddeln verfielen, hastig wie ein Hund. Fast hätte Maria gejauchzt vor Erleichterung, aber Gerda sollte nicht merken, dass Bille aufgetaucht war. Sollte sie ruhig glauben, Bille sei ihretwegen ertrunken.

Maria sammelte ihre Kleider ein, klemmte sich auch Billes Sachen unter den Arm und begann den Abstieg. Als sie etwa auf halber Höhe am Felsen nach Halt suchte, fiel ihr Blick zu der Stelle weiter oben am Fluss, wo die Jungs lungerten. Bruno und die anderen sprangen noch immer in der Bucht herum. Maria ließ ihren Blick über den Bachlauf gleiten. Da sah sie Adam unterhalb des Felsens im Wasser treiben. Ihm gegenüber kletterte Bille gerade an Land und ließ sich ins Gras fallen. Darauf schwamm Adam mit kräftigen Zügen zu seinen Freunden zurück.

Bille hockte triefend am Rand der Uferböschung, rang nach Luft und versuchte zu verstehen, was gerade geschehen war. Der fremde Junge, der neulich auf ihrem Küchenboden geschlafen hatte, war plötzlich bei ihr gewesen. Wie wild hatte sie gezappelt, um an die Wasseroberfläche zu kommen. Den Kopf im Nacken, dass es schmerzte, den Mund weit aufgerissen. Luft, Luft, bloß nicht wieder versinken, nur nicht untergehen und verschwinden. Denn so war das ja mit dem Wasser, es konnte hell und lustig sein, den Menschen schweben lassen. Und es konnte packen, schwer machen, verschlingen. Doch etwas hatte Bille plötzlich berührt, hatte sie am Arm gefasst und Richtung Ufer geschoben. Billes Fuß war auf Grund gestoßen, und der Schlund unter ihr hatte sich geschlossen. Da hatte sie das sanfte Gesicht gesehen und Augen, die ihr folgten. Und obwohl Adam sie gleich losließ, und obwohl er kein Wort zu ihr gesprochen hatte, war das der Beginn ihrer Geschichte.

4

Ein Mann mit groben Schuhen, das Leinenhemd schludrig in die weite Hose gestopft, lief die Straße zur Pumpe hinunter, nicht im Schatten der Häuser, sondern mitten auf dem staubigen Weg im Zenit der Sonne. Niemand in der Glasmachersiedlung war so unvernünftig.

Egbert Tjaden trug ein Holzgestell auf dem Rücken mit eingeklappten Beinen, die bei jedem Schritt klapperten, dazu eine Ledertasche, deren Riemen sich tief in seine Schulter grub. Er lehnte sich gegen das Gewicht wie ein Gaul im Geschirr, sein Hemd war unter den Achseln schon dunkel von Schweiß, und das Haar klebte ihm am Kopf. Die Kinder auf der Straße rannten ihm nach, eine aufdringliche Meute, die er ohne Mitleid hätte vertreiben müssen. Doch der Besucher strich den Kleinen über die Köpfe und ging weiter inmitten des Rudels. Ohne Scheu sah er sich dabei um.

In vielen Häusern standen die Fenster weit geöffnet. Die Frauen hatten Jacken und Hosen zum Lüften in die Öffnungen gehängt. Dahinter blickte man in schwarze Zimmerschluchten, aus denen in den trägen Stunden des Nachmittags nur hier und da Geschrei drang. Viele Frauen arbeiteten um diese Zeit im Garten. Die aus den Häusern acht bis zwölf hatten Waschtag und kochten im Kesselhaus den Schweiß aus den Kleidern ihrer Männer. Die Kinder blieben in der Siedlung zurück und mit ihnen die Greise. Hier und da saßen sie auf wackeligen Stühlen vor dem Haus, kauten ihren Tabak und starrten auf die staubige Straße wie auf einen gemächlich dahinfließenden Strom. Dass sie Veteranen der Glashütte waren, verrieten ihre Gesichter mit Wangen, die wie schlaffe Säcke herabhingen, zerdehnt von den unzähligen Flaschen, die sie mit ihrem Atem in die Formen gepresst hatten, und den ewig triefenden Augen, die zu viel Licht gesehen hatten. Widerschein des kochenden Glases, heller als die Sonne.

In den schmalen Wegen zwischen den Häusern blühte auf dem Gerümpel dottergelb der Löwenzahn. Magere Katzen voller Blessuren aus den nächtlichen Revierkämpfen zwängten sich in die Ritzen des Gerümpels und brachten in den Hohlräumen ihre Jungen zur Welt. Abends tauchten aus anderen Ritzen Ratten auf und begannen ihre Runden um die Häuser. Der Mann spazierte ruhig an all dem vorbei. Niemand bewegte sich sonst so langsam durch die Siedlung. Er blickte den Menschen ins Gesicht. Mit wachem Blick. Als suche er jemanden.

Bille saß auf den Stufen zu ihrem Haus, ein Buch im Schoß, den schiefen Rücken so weit nach vorn gebeugt, dass es aussah wie bei jedem anderen, und nagte an einem Apfel. Seit sie wie ihre ältere Schwester bei Grochard arbeitete, in der Weberei neben der Glashütte, gehörten sie nicht mehr zum Rudel der Kinder auf der Straße. Wie die anderen Mädchen, die bald heiraten würden, hockte sie samstagabends im Hauseingang, bis die Männer aus der Abendschicht die Straße hinaufzogen.

Henrike kam jetzt auch aus dem Haus, schob ihre Schwester mit dem nackten Fuß zur Seite und zwängte sich neben Bille auf die Stufe. Die hatte ihren Apfel samt Kitsche verputzt, holte aus und warf den Stil auf ein Häuflein Dreck in der Gosse. »Treffer.« Sie wischte sich die Finger an der Schürze ab und schlug ihr Buch auf.

Henrike seufzte. »Den hätte sogar Addi getroffen.« Sie verzog das Gesicht, wie um den alten Mann von gegenüber nachzuahmen. Addi hatte sich bei einem Feuerschlag am Glasofen das Gesicht verbrannt. Seitdem lebte er im Invalidenheim und tappte jeden Tag die Straße hinauf bis zur Wohnung seines Sohnes. Bille tat, als sehe sie die Grimasse ihrer Schwester nicht. Henrike schnaubte verächtlich, zog etwas aus ihrer Rocktasche, beugte sich vor, klemmte das Stück Spiegel zwischen die Knie und ruckte mit dem Kopf vor und zurück, bis sie ihren Mund in der Scherbe sehen konnte. Sie begann, Hautfetzen von den Lippen zu zupfen, spitzte den Mund zum Kuss, rupfte weiter.

»Bist schön genug!« Bille blätterte in ihrem Buch.

»Wenn du es sagst!« Henrike rieb die Lippen gegeneinander und gab der Luft einen Schmatzer. »Hauptsache, die Jungs sehen, dass du deine Nase in Bücher steckst! Glaubst du, das macht Eindruck?« Henrike steckte den Spiegel ein und lehnte sich zurück. Dabei stützte sie die Ellbogen auf eine höhere Stufe und schielte hinunter auf ihre Brüste. In dieser Haltung wirkten sie groß und prall. Sie pustete gegen ein paar Haarsträhnen, die ihr sofort zurück ins Gesicht fielen.

Egbert Tjaden war stehen geblieben. Er klemmte sich das Holzgestell zwischen die Beine, wischte sich den Schweiß von der Stirn, steckte das Tuch umständlich wieder in die Tasche. Vielleicht wollte er Zeit schinden, die Mädchen an seine Anwesenheit gewöhnen. Vielleicht war er unbeholfen und ein wenig verlegen. Jedenfalls schaute er zu den Schwestern, während er sein Tuch verstaute, dann klappte er die Staffelei auf, ging hinüber zu den beiden und fragte, ob er sie malen dürfe. Er meinte, auf der Stelle, im satten Licht des Nachmittags auf der Treppe vor dem Haus.

Die Mädchen sahen ihn an und schwiegen. Da holte er ein paar Münzen aus seiner Tasche und hielt sie ihnen auf der ausgestreckten Hand hin, wie die Kutscher am Markt ihren Pferden Haferkörner hinhalten. Henrike starrte auf die Hand. Doch Bille nahm das Geld, lief ins Haus, und als sie zurückkam, nickte sie dem Fremden zu.

Der Maler bat die jungen Frauen, sich wieder auf die Stufen zu setzen. Genau wie zuvor. Er fasste Henrike an den Schultern, Bille am Kinn, und es dauerte eine Weile, bis er sie so zurechtgebogen hatte, dass sie in seinen Augen wieder so saßen wie zuvor. Dann zeichnete er die Schwestern mit Stiften, schwarz wie Kohle, und Linien, grob wie Rinde. Und dieser schwere Strich ließ alles Unwichtige verschwinden. Doch als Tjaden seine Skizze zu den Mädchen herumdrehte, unwillig und nur kurz, wichen die zurück. Auf sie wirkte die Zeichnung schmutzig, und ihre eigenen Gesichter schauten ihnen fremd entgegen.

»Na, wenn Sie meinen.« Henrike zuckte mit den Schultern, stand auf und verscheuchte die Kinder, die sich hinter dem Maler drängten, um auf sein Zeichenpapier zu glotzen. Henrike klatschte in die Hände, und als die Kinder nicht spurten, zog sie ihren Bruder Ferdinand am Ohr von der Staffelei fort. Der riss sich los, warf Henrike einen empörten Blick zu und wetzte die Straße hinauf zur Knickerbahn. Die anderen folgten ihm sofort. Henrike sah den Kindern nach. Für sie war das seltsame Posieren damit vorbei.

Bille aber blieb auf der Stufe sitzen. Sie beobachtete den Maler beim Zusammenpacken und dachte nach. Zum ersten Mal hatte sie erlebt, wie einer sie sah, der nicht aus der Siedlung kam. Das Bild war grob und trist gewesen. Der Mann hatte ihren schiefen Körper gemalt. Hässlich hatte sie ausgesehen und einsam, als wisse sie nicht, wohin.

Vielleicht hatte es mit der schwarzen Skizze des Malers zu tun, dass Bille von da an ihre Umgebung beäugte, als sei ihr alles fremd. Der Schweineeimer neben dem Herd, auf dem die Fliegen krabbelten. Die grauen Handtücher auf der Leine über dem Ofen. Ihr gebeugter Rücken im Spiegel über dem Spülbecken. In dieser Zeit kam ihr der Gedanke, dass sie ihr Leben gerne tauschen würde. Mit wem, wusste sie nicht. Aber das weiß man vorher nie.

5

Seit sein Sohn Fritz auf der Kirmes vom Himmel gefallen war, ging der alte Biesenbach nicht mehr in die Kneipe. Gibt sich wieder, hatten die Kollegen gedacht. Schließlich war Alfons Biesenbach ein Säufer vor dem Herrn. Wenn die Glasmacher, die Korbmacher, die Gemengemacher nach der Schicht von der Glashütte ins Rotkehlchen pilgerten, hatte Alfons sein Glas immer ruckzuck leer auf den Tisch gedonnert. »Das Erste gegen den Dreck«, hatte er gerufen, »das Zweite gegen den Durst, und dann trinken wir.« Den Schnaps hatte er aus Wassergläsern getrunken, trotzdem nie eine schwere Zunge gehabt. Bei so einem war Abstinenz vorübergehend, hatten die Kollegen gemeint. Aber beim Alfons hatte es sich nicht gegeben. Auch Wochen nach dem Tod seines Sohnes hatte er sich nach der Schicht eine Zigarette angezündet und war nach Hause gelaufen. Hatte unterwegs kaum aufgesehen. Da kapierten die Männer aus dem Gemengelager, wie es um ihn stand, und sie taten sich zusammen. Zwei große Krüge Bier ließen sie im Rotkehlchen zapfen und klopften bei ihm an. Und dabei war es dann rausgekommen. 

Bille strich sich die Haare hinter das Ohr. Sie sah Vaters Gesicht vor sich, wie er die Geschichte erzählte, brühwarm, hatte ja alles aus erster Hand. Alfons hatte seinen Jungen am Räucherhaus erwischt. Fritz hatte den Mund noch voll fetter Wurst gehabt, als sein Vater um die Ecke bog. So schnell hatte er gar nicht schlucken können, wie Alfons zwei und zwei zusammenzählte. Die Baumanns hatten ja gerade erst Schlachttag gehabt, war klar, wo der Fritz herkam. Da hatte der Biesenbach sich seinen Sohn vorgeknöpft, hatte den Fritz geschüttelt und verdroschen, und zwar nicht zu knapp. »Ein Vater muss dem Sohn schließlich beibringen, was richtig und was falsch ist.« Aber dann hätte er es gut sein lassen sollen. Strafe war Strafe, und dann war Unrecht getilgt. Doch Alfons hatte sich geschämt: Sein Sohn ein Dieb – wenn das herumging in der Siedlung! Also hatte er ein Exempel statuieren wollen. Alfons hatte tatsächlich diese Worte gewählt: ein Exempel statuieren – weiß Gott, woher er das hatte. Jedenfalls holte er am Abend eine Wurst aus der eigenen Kammer, eine fette, grobe Räucherwurst, ein pralles Ding, schnitt sie in Stücke und verteilte sie an seine Kinder. Auch an die Mädchen. Nur dem Fritz gab er nichts. Trocken Brot sollte der essen. Aber der Junge rührte keine Scheibe an. Mit gesenktem Kopf saß er den ganzen Abend da. Wer fressen will, muss auch arbeiten, soll Alfons gebrüllt haben, schließlich lebten sie nicht in Schlaraffia, wo die Würste vom Himmel fielen. Als Alfons das erzählte, soll er geschluchzt haben. Den Kollegen soll da ganz anders geworden sein, weil der Alfons doch sonst nie geflennt hat. Und schon gar nicht so. Hatte er doch nicht wissen können, dass sein Sohn zwei Tage später zum Rummel laufen und sich die Wurst vom Himmel holen würde, als könne er fliegen.

Bille schrak aus ihren Gedanken. Hatte die Dampfpfeife geschrillt? An den armen Fritz hatte sie denken müssen und an den knurrigen Biesenbach, der nicht wusste, wohin mit seiner Schuld. Bille steckte die restlichen schwarzen Kreuzspulen auf die Stifte und schob das Schärgatter auf. Zehn Stunden hatte sie hinter der Gitterwand gestanden und die Stifte darin immer wieder mit frischen Spulen bestückt. Außen wurden die Fäden vom Gatter zu einer Maschine geführt, in der sich ein Kettbaum drehte. Eine der älteren Arbeiterinnen stand hinter der Maschine und hielt die surrenden Fäden im Blick. Riss ein Faden, hatte sie ihn so schnell angezettelt, dass die Maschine kaum stillstand. Bille musste sich beeilen. Während außen die Fäden abspulten, steckte sie innen neue Rollen auf. Man musste nicht viel überlegen bei dieser Arbeit, konnte seinen Gedanken nachhängen, aber schnell musste man sein. Waren die Kettbäume nicht fertig, wenn die Weber ein neues Tuch beginnen wollten, standen die Zählwerke an ihren Webstühlen still, und sie warfen den Frauen ihre Brocken an den Kopf.

»Musste grad wieder an den Fritz denken.« Bille drängte neben Maria aus der Halle, vorbei an der Meisterbude, vorbei an Friedrich Krüger, der hinter der Scheibe stand und den Blick über den Websaal schweifen ließ wie jeden Abend. Ein Kapitän auf der Brücke. »Ich komm einfach nicht los von der Geschichte.«

Maria blieb abrupt stehen. »Glaubst du auch, dass Kinderseelen umgehen?« Sie senkte die Stimme. »Sagt die Leni nämlich, dass der Kleine noch keine Ruhe gefunden hat und in der Siedlung herumspukt. Wie der Geist im Haus vom Arzt oben auf dem Hügel.«

»Kann man nicht wissen.« Bille ging weiter. »Aber ich hab den Kleenen ja nicht gesehen. Nur an ihn gedacht – und an die ganze traurige Geschichte. Vielleicht sind wir es, die keine Ruhe finden.«

Die beiden traten jetzt auf die Straße. »Ach was, traurige Geschichte!« Maria versetzte ihrer Freundin einen Knuff. Und warf ihr einen verschwörerischen Blick zu.

»Was?«

»Ich schätze, ich geh dann wohl allein nach Hause. Dein Retter von der Düssel ist da.«

Adam wartete gegenüber in einer Toreinfahrt. Bille blieb stehen. Noch nie hatte einer am Werktor auf sie gewartet. Schön war das. Ihr Herz klopfte fast so wild wie auf dem Dicken Stein, als sie in den Bach gesprungen war. Adam stand gegen die Mauer gelehnt und schien auf ein Zeichen von ihr zu warten. Bille nickte leicht und wandte sich Richtung Sandberg. Adam hatte verstanden. Erst am Feldrand holte er sie ein.

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