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Sternschnuppen

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Das Leben ist eine Wundertüte

Svenja hat alles im Griff. Sie hat einen großen Sprung auf der Karriereleiter gemacht, ist Chefin eines Luxushotels. Ihr Freund Carsten will bald zu ihr ziehen, alles läuft rund und wie geplant. Nur mit Kindern hat es nie geklappt, daher fällt sie aus allen Wolken, als sie erfährt, dass sie schwanger ist – gleich mit Zwillingen. Damit enden die Überraschungen aber nicht: Carsten betrügt sie, und plötzlich steht Svenja allein da. Wie soll sie Kinder und Karriere unter einen Hut bekommen? Die Antwort: alles eine Frage der Organisation. Zumindest denkt Svenja das und sucht für ihre beiden Sternschnuppen eine Nanny. Dass es allerdings der attraktive Alexej wird, war nicht geplant. So nimmt das Chaos seinen Lauf …


  • Erscheinungstag: 21.02.2023
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749904853
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Ursula von der Leyen –
und für Mary Poppins!

Leben ist das, was passiert, während du gerade andere Pläne machst.

JOHN LENNON

Prolog

Natürlich habe ich schon viele solche Geschichten gehört. In meinem Job wird man rund um die Uhr von irgendwelchen Leuten zugelabert. Meistens nicke ich dann nur freundlich und gebe mir Mühe, einen möglichst interessierten Eindruck zu machen – wobei ich in Wahrheit innerlich auf Durchzug schalte.

Besonders schlimm war es in der Zeit, als ich nach meiner Ausbildung den Job in einem großen Kölner Hotel bekam und die ersten Monate an der Bar arbeiten musste. Kaum zu glauben, mit welcher Hartnäckigkeit sich Gäste – vor allem einsame Geschäftsleute – am Tresen festkrallen können, um einem stundenlang und in epischer Breite ihre gesamte Lebensgeschichte auseinanderzusetzen. Ob man sie hören will oder nicht. Wie sie einmal mit bloßen Händen einen wild gewordenen Kampfhund gebändigt haben. Wie das damals war, als sie ihre Frau kennengelernt haben – und warum die Schlampe dann später mit ihrem besten Kumpel durchgebrannt ist und auch noch den Porsche mitgenommen hat. Wobei meist der Verlust des Porsches und des Kumpels wesentlich mehr zu schmerzen schien als das Entschwinden der Gattin. Und irgendwann, nach dem achten bis zehnten Gin Tonic, holen solche Typen dann immer die Fotos ihrer Kinder aus dem Portemonnaie und zeigen sie mit stolzgeschwellter Brust herum, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt, die zur Fortpflanzung fähig sind. Genau zu diesem Zeitpunkt kommt stets eine Ausführung über die dramatische Geburt des Sprösslings. Wie sie damals, drei Wochen vor Termin, mit ihrer Frau überstürzt ins Krankenhaus mussten, weil plötzlich die Wehen eingesetzt hatten. Im Taxi, bei Schnee und Regen, Orkanböen und Katastrophenwarnungen. Beinahe noch während der Fahrt, quasi auf der Rückbank des Wagens, ist das Kind schließlich zur Welt gekommen, nur mit Mühe und Not hat man es noch in den Kreißsaal geschafft, wo die Ärzte eigentlich nur die Nabelschnur durchtrennen mussten. Ein Wettlauf mit der Zeit, ein gnadenloser Kampf um Leben und Tod …

Na ja, bisher habe ich dann immer gedacht, dass an solchen Geschichten wahrscheinlich nur eine einzige Sache stimmt: die Fahrt mit dem Taxi zum Krankenhaus. Gibt’s doch in der heutigen Zeit und bei der modernen Medizin gar nicht mehr, so eine Geburt kann man schließlich richtig schön gemütlich planen. Genau so habe ich das gesehen. Bis vor ungefähr zwanzig Minuten jedenfalls. Seit neunzehn Minuten liege ich nämlich selbst auf der Rückbank eines Taxis. Und wenn der Fahrer nicht gleich aufhört, vor jeder dunkelgelben Ampel brav anzuhalten, stehen die Chancen gut, dass ich ihm für alle Zeiten die Sitze versaue.

Bevor ich ihn anbrüllen kann, dass er gefälligst aufs Gas drücken soll, wenn er nicht Augenzeuge einer blutigen Sturzgeburt werden will, fährt mir ein stechender Schmerz durch den Körper. Ich kann nur noch laut nach Luft schnappen und mich zusammenkrümmen.

»Vsjo horoschó, chto horoschó koncháetsya.«

Ach ja, als wäre meine Lage an sich nicht schon misslich genug, sitzt neben mir auf der Rückbank auch noch ein Kerl, der hektisch meinen Kopf tätschelt und dabei verständnisloses Zeug redet. Alexej heißt er, allerdings wird er lieber Sascha genannt. Als ich ihn vor einem guten halben Jahr kennenlernte, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich ausgerechnet in seiner Gegenwart mein Leben aushauchen würde. Aber ich habe mir in meinem Leben so einiges nicht träumen lassen. Meine eigentlichen Pläne wurden vor nicht allzu langer Zeit durch diverse Widrigkeiten in Schutt und Asche gelegt. Da kommt es auf so eine Kleinigkeit wie die genauen Umstände meiner ersten Entbindung auch nicht mehr an.

»Vsjo horoschó, chto horoschó koncháetsya!«, ruft Sascha jetzt noch einmal beschwörend, nimmt meinen Kopf in beide Hände wie in eine Schraubpresse und beugt sich über mich. Seine grünen Augen mustern mich eindringlich, als wolle er per Hypnose die Geburt verzögern. »Vsjo horoschó, chto horoschó koncháetsya!«

»Was faselst du da eigentlich?«, bringe ich stoßweise mit letzter Kraft hervor.

»Ich mache dir Mut«, erklärt Sascha. »Das ist ein Sprichwort aus meiner Heimat, von meiner Mama: Alles ist gut, was gut endet. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das schon schaffen, Svenja.« Sein stark durchbrechender russischer Akzent straft ihn Lügen, denn eigentlich spricht Sascha ziemlich akzentfrei Deutsch. Er scheint also sehr nervös zu sein.

Trotz meiner Schmerzen bringe ich so etwas wie ein Lächeln zustande. »Ja, das schaffen wir schon«, erwidere ich mit dem Optimismus der Verzweifelten. Jetzt lächelt Sascha auch und streicht mir über den Kopf.

»Alles wird gut«, meint er wieder. »Ich bin da. Ich bleibe immer da.«

Immer?

Ob das wirklich so gut ist?

Fünf Minuten später haben wir die Frauenklinik des Universitätskrankenhauses Eppendorf erreicht, und ich werde von zwei geübten Helfern auf ein rollbares Bett gewuchtet. Als wir den Eingang zum Kreißsaal erreichen, sehe ich ein bekanntes Gesicht – die Hebamme von der Voranmeldung! Sie begrüßt mich freundlich.

»Na, Frau Christiansen? Ich dachte, wir sehen uns erst in drei Wochen?«

»Dachte ich auch«, erwidere ich schlapp. »Aber offenbar hat’s hier irgendwer etwas eiliger.«

»Versuchen Sie, sich zwischen den Wehen zu entspannen. Ich werde Sie gleich untersuchen.« Sie nickt dem Pfleger, der mittlerweile die Sanitäter abgelöst hat, zu. »Kreißsaal 3 ist frei, ich komme sofort hinterher.«

Sascha steht ein wenig unschlüssig herum und tritt von einem Bein aufs andere.

»Ich bin übrigens Hebamme Barbara«, stellt sie sich ihm vor. »Kommen Sie mit. Sie wollen doch bestimmt Ihre Frau bei der Geburt unterstützen.« Sofort nickt er erfreut und marschiert hinter meinem Bett her. Ich will das Missverständnis aufklären, aber die nächste Wehe trifft mich mit einer derartigen Wucht, dass ich nur noch aufstöhnen kann und mich ergeben in mein Schicksal füge.

Eigentlich wollte meine Schwester Merle bei der Geburt dabei sein, aber die war weder zu Hause noch auf dem Handy zu erreichen. Dann also Sascha statt Merle, ich werde mit ihr telefonieren, wenn ich das alles hier hinter mir habe. Was hoffentlich bald ist, denn noch so eine Wehe, und ich lasse mich freiwillig einschläfern.

»So, mal sehen …« Die Hebamme beginnt mit ihrer Untersuchung. »Hm, der Muttermund ist noch ziemlich fest, die Wehen waren wohl noch nicht so effektiv. Sind zwar schon in sehr kurzen Abständen, aber sie müssen noch stärker werden.« Bitte? Was sagt die dumme Kuh da? Hat die eine Ahnung, welche grauenhaften Schmerzen ich erlebe?

»Auf alle Fälle haben wir noch Zeit, ein CTG zu schreiben.« Als sie Saschas Blick sieht, erklärt sie kurz: »Cardiotokogramm. Das ist ein Gerät, das die Wehen der Gebärenden und die Herztöne des Kindes aufzeichnet. Damit man immer weiß, wie es dem Baby geht.«

Ein CTG, auch das noch! Bei allen Vorsorgeuntersuchungen musste ich dafür zwanzig Minuten still liegen, das schaffe ich jetzt unter keinen Umständen. Außerdem sagt mir mein Gefühl, dass wir keineswegs noch so viel Zeit haben. Es wird mich garantiert gleich zerreißen – ich könnte wetten, dass ich noch in der nächsten halben Stunde Mutter werde.

Während mich die Hebamme verkabelt, greife ich unwillkürlich nach Saschas Hand. Sie ist weich und warm, und als er meinen Druck erwidert, fühle ich mich ein ganz kleines bisschen sicherer. »Ich bleibe da«, flüstert er und lächelt mich an. »Wir haben’s schon bald überstanden.«

Ich würde lachen, wenn ich nicht so große Schmerzen hätte.

Wir? Ja, aber sicher doch!

Eine Viertelstunde später steht fest, dass ich recht damit behalte, dass es nicht mehr lange dauern kann. Allerdings anders als gedacht. Die Hebamme guckt kurz auf die Aufzeichnung des CTG, dann holt sie einen Weißkittel, der sich uns als Dr. Meyer-Klose vorstellt. Auch er schaut sich das Blatt an, wendet sich dann zur Hebamme und nuschelt etwas von »pathologischem CTG«. Sie nickt, dann zieht sich Meyer-Klose einen Stuhl an mein Bett, setzt sich und fällt sein Urteil.

»Frau Christiansen, ich denke, wir werden jetzt einen Kaiserschnitt machen. Die kindlichen Herztöne sind nicht besonders gut, und eine natürliche Geburt wäre wahrscheinlich zu anstrengend. Ich würde auch lieber eine Vollnarkose machen, denn dann können wir schneller operieren, als wenn wir jetzt noch warten, bis die Spinale sitzt.«

»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht ganz«, versuche ich so gefasst wie unter Wehen möglich herauszubringen.

»Bei einer spinalen, also einer Rückenmarksbetäubung, wären Sie während der Operation bei Bewusstsein. Die Vorbereitungszeit dafür dauert aber länger, und ich möchte den Kaiserschnitt jetzt so schnell wie möglich machen, damit die Herztöne nicht noch schlechter werden.«

Mir wird auf einmal ganz kalt, ich merke, dass Panik in mir hochkriecht. Sascha hält meine Hand jetzt ganz fest, und darüber bin ich wirklich verdammt froh.

»Worauf warten wir also?«, krächze ich matt.

»Keine Sorge, es geht gleich los. Das Team erwartet uns schon im OP.« Dr. Meyer-Klose strahlt mich über den Rand seiner genau genommen randlosen Brille an, und ich frage mich, ob er diesen Wird-schon-werden-Blick auf irgendeinem Kommunikationsseminar gelernt hat. Was für ein furchtbarer Tag!

Vor dem Operationssaal muss sich Sascha von mir verabschieden, er darf nicht mit hinein. »Viel Glück«, sagt er und streichelt meine Hand. »Ich warte hier, vor dem Operationssaal.« Er tätschelt noch einmal meine Hand. »Ich weiß, du wirst schaffen.« Ich werde weggerollt, bevor ich etwas erwidern kann. Die Tür schließt sich hinter mir, und Sascha winkt mir noch einmal durch die Verglasung zu.

Im OP ist es saukalt, und als ich mich umgucke, blicke ich in fünf grün vermummte Gesichter. Auweia! Jetzt wird’s ernst.

»So, Frau Christiansen, ich bin Florian Müller und als Anästhesist zuständig für die Narkose«, begrüßt mich einer der Vermummten. »Entspannen Sie sich! Wenn Sie wieder aufwachen, sind Sie schon Mutter. Wollen mal kurz gucken«, er dreht sich zur Seite und studiert den Kalender, der an der Wand hängt. 13.04.2007. »Uih, Freitag der Dreizehnte – na, Sie sind ja hoffentlich nicht abergläubisch?«, erkundigt er sich.

Und wenn – würde das etwas ändern? Ich kann jetzt wohl kaum einfach nach Hause gehen, bin ich versucht zu sagen. Aber ich lasse es, und bevor ich mir noch weiter Gedanken darüber machen kann, ob der Operateur möglicherweise an böse Omen glaubt und deswegen zittrige Hände hat, geht bei mir das Licht aus … und ich träume. Träume davon, wie zum Teufel ich eigentlich hier gelandet bin. Von Carsten. Von dem letzten Abend, an dem ich ihn gesehen habe. Von Merle, Sascha, von den ungefähr tausend neuen Menschen, die mir in den vergangenen Wochen begegnet sind. Und von meinem ersten Tag im neuen Job. Gut sechs Monate liegt der jetzt zurück. Damals dachte ich, dass in meinem Leben nun alles richtig schön glatt verlaufen würde. So, wie ich es mir vorgenommen hatte. Tja. Dachte ich.

1. Kapitel

»Herzlich willkommen im Royal Fürstenberger! Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Anreise und werden in diesem Haus einen guten Start haben!« Peer Steinfeld schüttelt euphorisch meine Hand und zeigt dabei sein strahlend weißes Hollywood-Gebiss. Sieht ein bisschen aufgesetzt aus, aber vielleicht kann er ja nicht anders lächeln. Er ist groß und schlank, steckt in einem schwarzen Anzug, hat seine leicht grau melierten Haare ordentlich zurückgegelt und trägt eine Gucci-Brille. Ende vierzig schätze ich ihn, vielleicht auch schon kurz über fünfzig. In jedem Fall sieht er ganz genau so aus, wie man sich einen Hoteldirektor vorstellt.

»Vielen Dank, Herr Steinfeld, das hoffe ich auch«, erwidere ich höflich und strahle ihn ebenso breit an. Dann lasse ich meinen Blick durch die großzügige Lobby schweifen, in der er mich gerade in Empfang genommen hat.

Das Royal Fürstenberger ist Hamburgs erste Adresse, ein Grandhotel wie in alten Zeiten mit jeder Menge Prunk und Pomp. Direkt am Alsterufer gelegen, im Nobelstadtteil Pöseldorf, umgeben von herrschaftlichen Villen, teuren Restaurants und noch viel teureren Boutiquen. Zum Hotel gehören eine eigene Spielbank und ein kleiner Park, durch den die Gäste flanieren können. Das letzte Mal – von meinem Gespräch mit der Geschäftsleitung der Fürstenberger-Gruppe mal abgesehen – war ich vor zwanzig Jahren hier, als ich als Schülerin ein dreiwöchiges Praktikum gemacht habe. Schon damals dachte ich, dass es ein absoluter Traum sein müsste, einmal in diesem Hotel zu arbeiten. Und am nächsten Montag übernehme ich nun also ganz offiziell die Leitung des Luxustempels. Mit meinen nur sechsunddreißig Jahren verantworte ich dann eines der wichtigsten Fürstenberger-Hotels – ich könnte platzen vor Stolz!

»Dann will ich Sie mal in die Örtlichkeiten einweisen«, sagt Steinfeld und bedeutet mir, ihm zu folgen. Ich verzichte darauf, ihm zu erklären, dass ich das Hotel schon kenne; zum einen würde das besserwisserisch wirken, zum anderen ist mein Praktikum ja wirklich schon ein paar Jahre her.

Wir schlendern über den dicken, kostbaren Teppich, der das Geräusch jedes Schrittes aufzusaugen scheint. Hier und da nickt Peer Steinfeld einem Mitarbeiter zu, ich tue es ihm gleich und fühle mich wie die Queen von England, die durch das Meer ihrer Untertanen schreitet. Ich wünschte, Carsten könnte mich jetzt sehen! Aber leider musste ich ihn bis auf Weiteres in München zurücklassen. Jedenfalls so lange, bis er einen neuen Job in Hamburg gefunden hat und mir hinterherziehen kann. Was hoffentlich bald sein wird …

Prompt wandern meine Gedanken zu Carsten ab, während ich brav hinter Herrn Steinfeld hertrotte. »Muss das denn unbedingt sein?«, meinte mein Freund, als ich ihm im Sommer erzählte, dass die Fürstenberg-Gruppe mich in die engere Wahl für den Direktorenposten des Hamburger Hauses in Betracht ziehen würde. Dr. Hubert Wiedemeyer, Deutschlandchef und mein persönlicher Mentor, hatte mir in einem Vieraugengespräch erklärt, dass meine Chancen in der Tat ausgezeichnet seien.

»Wenn ich die Stelle bekomme – ja, dann muss es sein«, lautete meine Antwort.

»Aber warum bieten sie dir nicht einfach die Leitung in München an? Hotel ist doch Hotel!«

»Zum einen hat das Münchener Fürstenberger erst seit einem Jahr einen neuen Direktor. Und außerdem ist das nun einmal so in dieser Branche. Wer aufsteigen will, muss die Stadt und oft sogar das Land wechseln.«

»Toll, und ich darf hinterherziehen!«, maulte er.

»Das haben wir mal so ausgemacht, erinnerst du dich? Beim nächsten Stellenwechsel bin ich dran, hast du damals gesagt. Schließlich habe ich vor acht Jahren für dich auf den Job in Singapur verzichtet.«

»Für uns«, korrigierte Carsten mich prompt. »Für uns hast du das getan. Und für die Familie, die wir gründen wollten.« In dem Moment, in dem er das sagte, tat es ihm offenbar schon wieder leid. »Entschuldige«, schob er schnell hinterher. »So war das nicht gemeint.«

»Doch, so war’s gemeint«, erwiderte ich, wobei ich ihn aber gleichzeitig versöhnlich anlächelte. »Aber es hat nun einmal nicht geklappt mit Kindern, das ist nicht zu ändern.«

Nachdem sowohl Carsten als auch ich einige Jahre kreuz und quer durch die Welt gereist waren – er als Wirtschaftsprüfer, ich durch alle möglichen Hotels und alle möglichen Bereiche – und uns mehr oder weniger nur ein paar Tage im Monat sehen konnten, wollten wir endlich unser gemeinsames Leben beginnen. Also zogen wir zusammen nach München, wo Carsten bei einer großen Unternehmensberatung und ich im Royal Fürstenberger anfangen konnten. Ich war damals achtundzwanzig, Carsten fast dreißig – genau der richtige Zeitpunkt, um ein paar niedliche Kinder in die Welt zu setzen und für eine Weile Erziehungsurlaub zu nehmen.

Wir versuchten wirklich alles, ich rannte von einem Arzt zum nächsten, in die Kinderwunschklinik, zu diversen Heilpraktikern, aber ich wurde einfach nicht schwanger. Mit dreißig gab ich dann frustriert auf – und konzentrierte mich wieder voll und ganz auf meine Karriere. Wenn ich schon kein Baby bekam, dann wollte ich diese Unabhängigkeit dazu nutzen, beruflich richtig durchzustarten. Mit Erfolg: Zuerst leitete ich den Empfang, wurde dann Reservierungschefin und unter dem neuen Direktor sogar Stellvertreterin – tja, und jetzt bin ich also hier. Natürlich auch dank Wiedemeyer, wie er mir gegenüber immer wieder betont. »Frau Christiansen«, teilte er mir in unserem letzten Gespräch gewichtig mit. »Ich habe mich sehr für Sie eingesetzt. Sie sind nun die erste weibliche Direktorin in einem deutschen Fürstenberger. Enttäuschen Sie mich nicht!«

»Keine Sorge«, hatte ich erwidert. »Das habe ich nicht vor. Sie werden sehen, dass Sie in mir genau die richtige Frau für den Job gefunden haben.« Mittlerweile hat Carsten sich auch an den Gedanken gewöhnt und schon jede Menge Bewerbungen in Hamburg laufen. Müsste wirklich mit dem Teufel zugehen, wenn sich da nicht bald etwas ergeben würde.

»Am Sonntag«, unterbricht Peer Steinfeld meine Gedanken, »lernen Sie dann die gesamte Belegschaft kennen. Wir haben eine kleine Nachmittagsveranstaltung geplant.«

»Sehr schön.«

»Immerhin haben wir gut hundert Mitarbeiter, die Aushilfen nicht mit eingerechnet.« Er bleibt kurz stehen und mustert mich intensiv. »Es ist ein großes Haus, Frau Christiansen, aber ich denke, das werden Sie schon schaffen.«

»Das denke ich auch«, erwidere ich mit einem strahlenden Lächeln, obwohl in seinem Ton ein Hauch von »Na, mal sehen, ob die das wuppt!« mitschwingt. Typisch Kerl, kann sich nicht vorstellen, dass eine Frau seine würdige Nachfolgerin sein kann. Aber dem werde ich es schon noch zeigen! Das heißt, ihm persönlich wohl eher nicht, nächste Woche macht Steinfeld sich nach Hongkong davon, wo er die Leitung des dortigen Royal Fürstenberger übernehmen wird. Bis Montag soll er mich kurz mit den Mitarbeitern und den wichtigsten Abläufen vertraut machen, eine Aufgabe, die er offenbar gern übernimmt, denn jetzt erklärt er mir mit großspuriger Geste:

»Dort drüben ist die Rezeption.«

»Ach was, so sieht eine Rezeption also aus?«, liegt mir auf der Zunge, aber im Job habe ich mir angewöhnt, meine spontane Seite zu unterdrücken. Als jüngere Frau muss man gelegentlich darauf pochen, wirklich ernst genommen zu werden, da ist die Rolle des Klassenclowns nicht eben hilfreich. Also sage ich nichts und folge Peer Steinfeld weiter. Ich blicke an die Decke und bewundere den riesigen Kristallleuchter, der direkt über uns baumelt. Mein Vorgänger bemerkt meinen Blick. »Wir haben eine Reinigungsfirma, die sich einmal im Monat um die Kronleuchter kümmert. Ansonsten wird hier natürlich täglich gesaugt und geputzt, aber ich habe Ihnen bereits eine Mappe zusammengestellt, in der alles steht.«

»Sehr gut«, bedanke ich mich. Dann nicke ich den zwei Damen zu, die hinter der Rezeption stehen und uns mit unverhohlener Neugierde mustern. Beide tragen die Hotel-Livree, ein schmal geschnittenes, nachtblaues Kostüm mit goldenen Reversknöpfen. Als Direktorin werde ich diese Uniform glücklicherweise nicht tragen müssen, ich fühle mich in so etwas immer irgendwie verkleidet. Ein schlichter, grauer Hosenanzug, wie ich ihn heute Morgen angezogen habe, die langen blonden Haare ordentlich hochgesteckt – eben ganz business woman.

»Meine Damen«, ruft Peer Steinfeld den zwei Frauen zu, als er mit mir vor der Rezeption stehen bleibt. »Darf ich vorstellen: Das ist Svenja Christiansen, meine Nachfolgerin.«

»Angenehm«, sage ich und schüttele der Frau links hinterm Tresen die Hand.

»Birgit Krumbach«, stellt sie sich vor und lächelt mich freundlich an.

»Und ich bin Petra Hauser«, meint die andere und reicht mir ebenfalls eine Hand.

»Freut mich sehr.« Die üblichen Floskeln, davon werde ich in den nächsten Tagen und Wochen vermutlich noch einige vom Stapel lassen. Erfahrungsgemäß dauert es etwa drei bis sechs Monate, bis man sich in einem neuen Hotel einigermaßen eingewöhnt hat und mit den Kollegen etwas wärmer geworden ist. Und bis man sich die meisten Namen merken kann, wobei die Angestellten hier praktischerweise Namensschilder tragen. Trotzdem versuche ich schon jetzt, mir die Gesichter von Birgit Krumbach und Petra Hauser einzuprägen. Macht sich immer ganz gut, wenn man das so schnell wie möglich draufhat.

»Wir veranstalten am Sonntag einen kleinen Welcome-Treff für Frau Christiansen«, teilt Steinfeld nun auch den beiden Rezeptionistinnen mit, »von 16.00 bis 18.00 Uhr im Weißen Saal. Da können Sie sich dann alle ausgiebig …«, er kichert, »beschnuppern.«

Ich habe zwar nicht die geringste Ahnung, was daran jetzt so witzig ist, aber ich nicke einfach mal zustimmend.

»Wollen wir dann weiter?«, fragt Steinfeld.

»Gern«, erwidere ich. »Könnte ich nur vorher kurz einmal entschwinden?« Ich deute auf das Schild, das Richtung Damentoilette weist. Irgendwie bin ich in den letzten Tagen so aufgeregt und nervös, dass ich ziemlich häufig auf die Toilette muss. Hoffentlich ist es wirklich nur die Nervosität, eine Blasenentzündung könnte ich gerade nicht gebrauchen.

»Selbstverständlich.«

Ich verschwinde kurz und stehe fünf Minuten später wieder neben Herrn Steinfeld. »Also, weiter geht’s.« Ich folge ihm, vorbei an Bar, Restaurant und den hoteleigenen Boutiquen, weiter durch die drei großen Ballsäle, von denen der größte bis zu vierhundert Personen fasst. Dann zeigt er mir die verschiedenen Konferenzräume und diverse dunkle Abstellkammern. Als Nächstes geht’s durch die Hotelküche, die Parkgarage und den Wellnessbereich mit Schwimmbad, Sauna, Dampfbädern und Beauty-Spa, wo ich mich schon wieder kurz entschuldigen muss, um auf die Toilette zu gehen. Das ist mir zwar etwas unangenehm, aber lieber soll Peer Steinfeld glauben, ich hätte eine Sextanerblase, als dass ich mir noch in die Hosen pinkele.

Anschließend erkunden wir die verschiedenen Gästezimmer. Mit jedem Stockwerk, das wir erklimmen, wird die Einrichtung prunkvoller, bis wir schließlich in der großen Alster-Suite landen. Hundertzwanzig Quadratmeter Luxus pur, zwei Schlafzimmer, ein riesiges Bad mit Whirlpool, Flachbildschirm mit Dolby-Surround-Anlage, ein antiker Sekretär im Louis-XV-Stil und so weiter und so fort. Dazu eine kleine Dachterrasse, von der aus man die gesamte Alster überblicken kann.

»Hier kann man es sich ja wirklich gut gehen lassen«, meine ich anerkennend.

»Für einen Preis von tausendfünfhundert Euro pro Nacht darf man das wohl auch erwarten«, stellt Peer Steinfeld belehrend fest. »Diese Suite ist selbstverständlich unseren besten Kunden vorbehalten. Botschafter und Öl-Milliardäre, Hollywoodschauspieler und hohe Politiker.«

»Das wundert mich aber. Ich hätte gedacht, diese Suite wäre genau das Richtige für Krethi und Plethi aus Paderborn.« Hupps – habe ich das jetzt wirklich gesagt? Oder habe ich es nur gedacht? Ein Blick auf Steinfeld zeigt mir, dass ich diesen Gedanken anscheinend wirklich laut ausgesprochen habe! Etwas brüskiert rückt er seine Brille zurecht. Komisch, was ist bloß momentan mit mir los? Normalerweise habe ich mich sehr im Griff, auch wenn ich privat gerne Sprüche klopfe.

»Frau Christiansen«, beginnt Steinfeld prompt eine kleine Strafpredigt, »ich schätze eine fröhliche, lockere Art.« Sein Ton lässt erahnen, dass er mit fröhlich-locker nicht das Geringste am Hut hat. »Und ich halte die Entscheidung von Dr. Hubert Wiedemeyer und der Geschäftsleitung, dieses Haus einer Frau anzuvertrauen, vom Grundsatz her auch nicht für verkehrt.«

Vom Grundsatz her? Ich muss kurz darüber nachdenken, ob ich das für eine Unverschämtheit halte, aber Herr Steinfeld spricht schon weiter.

»Seit über zehn Jahren, Frau Christiansen, leite ich dieses Haus. Und ich kann mit Stolz behaupten, dass ich es zu dem gemacht habe, was es ist. Ich würde es sehr begrüßen, wenn dies auch so bleiben würde. Ihre, nun … kindische Bemerkung ist da völlig fehl am Platze, wir sind ein Haus mit langer Tradition.« Er wirft mir einen weiteren strengen Blick zu.

So, das kann ich allerdings besser, Herr Steinfeld! Wenn der meint, er könnte mich hier als kleines Mädchen abwatschen, dann hat er sich getäuscht!

»Herr Steinfeld«, erwidere ich betont gelassen, »es tut mir leid, wenn meine kleine Randbemerkung Sie derart aus der Fassung gebracht hat, aber ich war schon immer der Ansicht …«

»Aus der Fassung?«, hakt er sofort nach und nimmt Anlauf für eine weitere Predigt.

»Lassen Sie mich ausreden!« Ich funkele ihn, wie ich hoffe, autoritär an. Der soll nicht noch einmal wagen, ein Revier abzupinkeln, das ganz eindeutig nicht mehr seins ist. Ab sofort bin ich hier die Chefin, jawoll! »Ich bin mir durchaus bewusst, wofür das Royal Fürstenberger steht. Wenn das jemand beurteilen kann, dann ich, denn ich habe hier schon vor zwanzig Jahren zum ersten Mal gearbeitet.« Nun rutscht mir das mit dem Praktikum doch raus, aber egal.

»Vor zwanzig Jahren?«

»So ist es. Und ich habe hart dafür gearbeitet, um eines Tages ein Haus wie dieses leiten zu dürfen.«

»Das habe ich ja auch nicht bestreiten wollen«, macht Steinfeld den lahmen Versuch, mich zu beruhigen. Ist ihm wohl etwas unheimlich, sich von einer Frau mal richtig eine zu fangen.

»Ich habe«, fahre ich unbeirrt fort, »mein in langen Jahren aufgebautes Netzwerk und meinen Lebensgefährten in München zurückgelassen, um diese Chance wahrzunehmen. Also werfen Sie mir nicht vor, ich würde den Job nicht ernst nehmen.«

»Das wollte ich doch gar nicht, ich …«

»Dann verstehen wir uns ja: schön!«, schneide ich ihm das Wort ab. »Und jetzt wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie die Führung fortsetzen würden.«

»Natürlich.« Die Art und Weise, wie er mich auf einmal ansieht, zeigt mir, dass mir mein kleiner Vortrag offenbar ein wenig Respekt eingebracht hat. Mit eiligen Schritten geht er zur Tür der Suite, öffnet sie und lässt mir galant den Vortritt hinaus in den Flur. Na bitte, geht doch. Ein Eins-a-Auftritt – wäre da nicht die unschöne Tatsache, dass ich draußen im Flur schon wieder nach einer Damentoilette Ausschau halten muss.

»Verzeihen Sie die indiskrete Frage«, meint Peer Steinfeld, als ich zum nunmehr dritten Mal innerhalb einer Stunde von der Toilette zurückkehre, »aber geht es Ihnen nicht gut?«

»Doch.« Ich lächele ihn selbstbewusst an. »Mir geht es bestens.«

»Äh, ja … gut.« Er geht nicht weiter darauf ein. Was hätte ich auch anderes antworten sollen? Tut mir leid, aber ich bin inkontinent, und meine Tena-Lady sitzt nicht richtig? Trotzdem beschließe ich, mir später in der Apotheke einen Blasentee zu besorgen. Sicher ist sicher. Zumal sich nun auch noch ein unangenehmes Ziepen im Unterleib dazugesellt.

Nach einem fünfminütigen Fußmarsch erreichen wir den hintersten Teil des Hotels. Was um Himmels willen will er mir hier zeigen? Die Hausmeisterwohnung?

Damit liege ich gar nicht so verkehrt. »Und hier«, erklärt Steinfeld, während er eine Tür am Ende dieses Ganges aufschließt und mir danach den Schlüssel in die Hand drückt, »werden Sie bis auf Weiteres wohnen. Das Appartement ist für den jeweiligen Direktor, ich hoffe, es wird Ihnen gefallen.« Ach ja, natürlich. Meine Dienstwohnung. Ich trete ein und sehe mich um. Nicht ganz so schick wie der Rest des Hotels, aber auch nicht schlecht. Ein Schlaf-, ein Gäste- und ein Wohnzimmer, Kitchenette, Bad und dazu sogar noch ein Extraraum, in dem nur ein Schreibtisch steht. Die Wohnung ist zwar geschmackvoll möbliert, ansonsten aber leer.

»Sie wohnen nicht hier?«, will ich wissen. Herr Steinfeld nickt.

»Ich habe das Appartement nur im ersten halben Jahr genutzt. Dann bin ich mit meiner Familie in ein eigenes Haus gezogen, ab da habe ich es nicht mehr gebraucht.«

»Ja, so ähnlich werden wir es auch machen. Mein Lebensgefährte orientiert sich gerade Richtung Hamburg. Sobald er eine Stelle gefunden hat, werden wir uns auch nach einer eigenen Wohnung umsehen.«

»Dann drücke ich Ihrem Partner natürlich die Daumen, dass es möglichst schnell klappt. Arbeitet er auch in der Hotelbranche?«

»Nein, er ist Wirtschaftsprüfer in einer Unternehmensberatung. So gesehen ist es fast egal, wo er wohnt – Hauptsache, es gibt einen Flughafen in der Nähe.« Wir lachen beide dieses typisch wissende Lachen, mit dem sich zwei Alphatiere signalisieren, dass sie einer eingeschworenen Gemeinschaft angehören. Ich mag das nicht besonders. Aber es gehört zum Spiel dazu.

»Wissen Sie schon, wann Ihre Sachen im Hotel ankommen werden?«, wird Steinfeld dann schnell wieder geschäftsmäßig.

»Montag. Ich telefoniere nachher noch einmal mit der Spedition. Es sind aber nur fünf Kartons, die wichtigsten Dinge sind in zwei Koffern, die ich noch bei meiner Schwester deponiert habe. Sie wohnt auch in Hamburg.«

»Wenn Sie möchten, kann ich die Koffer abholen lassen«, bietet Steinfeld an.

»Das ist nett, aber wahrscheinlich nicht nötig. Ich melde mich andernfalls.« Ich sehe mich noch einmal in der Wohnung um. Auf der Anrichte neben dem Bett steht eine Vase mit einem großen Willkommensblumenstrauß.

»Möchten Sie sich noch das Bad genauer angucken?« Peer Steinfeld grinst, und ich frage mich, ob das nun ein freundschaftlicher Witz oder eine gezielte Gemeinheit sein sollte. Bei dem weiß man nie, also lehne ich dankend ab.

»Nicht nötig, wir können weiter.«

»Gut«, meint Peer Steinfeld. »Dann bringe ich Sie jetzt in Ihr Büro, wo Sie auch Ihren Stellvertreter Georg Trautwein kennenlernen.« Wir haben den Fahrstuhl noch nicht ganz erreicht, als es mir schon leidtut, seinem Angebot nicht nachgekommen zu sein. Halt durch, Svenja, mache ich mir selbst Mut, ewig kann das hier ja nicht mehr dauern.

»Frau Christiansen! Da sind Sie ja endlich!« Georg Trautwein kommt auf mich zugestürzt, als sei ich die verloren geglaubte Tochter. Mit einer stürmischen Bewegung ergreift er meine Hand und schüttelt sie, als wolle er überprüfen, ob sie auch wirklich fest am Arm sitzt. Huch, was ist denn in den gefahren?

»Äh, ja, freut mich auch.« Ich betrachte ihn und stelle fest, dass wir etwa im gleichen Alter sind, vielleicht ist er zwei, drei Jahre älter. Wie Peer Steinfeld hat auch Georg Trautwein seine blonden Haare zurück in den Nacken gegelt, sogar die gleiche Gucci-Brille und einen ziemlich ähnlichen Anzug trägt er. Sieht aus wie ein Steinfeld-Klon in jünger.

»Das ist also Ihr Stellvertreter, Frau Christiansen«, erklärt Peer Steinfeld. »Außerdem ist Herr Trautwein für die Leitung des Verkaufs zuständig.«

»Na ja«, Georg Trautwein winkt bescheiden ab, »ich sehe mich in erster Linie als rechte Hand des Direktors. Verzeihung«, verbessert er sich dann, »der Direktorin.«

Der haut ja mächtig auf die Tonne, denke ich, da muss ich glatt aufpassen, auf seiner Schleimspur nicht auszurutschen. Aus den Augenwinkeln bemerke ich den missbilligenden Blick, den Steinfeld Georg Trautwein zuwirft. Die zwei scheinen also nicht gerade Freunde zu sein.

Nach einem kurzen Wortgeplänkel mit Georg Trautwein und der gegenseitigen Versicherung, wie sehr wir uns auf die kommende Zusammenarbeit freuen, zeigt Peer Steinfeld mir noch kurz mein neues Büro neben dem meines Stellvertreters.

Als wir das Vorzimmer zu meinem Büro betreten, fällt mein Blick auf eine hübsche junge Frau, die mit geschlossenen Augen in ihrem Bürostuhl lehnt. Die Füße hat sie auf den Schreibtisch gelegt, dabei gurrt sie ins Telefon: »Nur ein halbes Stündchen für deine süße Brina!«

»Hm, hm«, räuspert Peer Steinfeld sich, woraufhin die junge Frau die Augen öffnet. Erschrocken starrt sie mich und den Direktor an, dann legt sie ohne ein weiteres Wort den Hörer auf und schnellt aus ihrem Stuhl. Sie läuft fast so rot an wie der große Stein auf dem Anhänger ihrer auffälligen Kette, die um ihren Hals baumelt.

»Herr Steinfeld«, stammelt sie, »ich … äh … ich …«

»Frau Christiansen«, sagt Peer Steinfeld, ohne auf das Gestotter einzugehen, »das ist Sabrina Hoppe, Ihre persönliche Assistentin.«

Ich lächle sie so freundlich wie möglich an, damit sie weiß, dass ich ihren Auftritt überhaupt nicht schlimm finde. »Freut mich sehr, Frau Hoppe.« Ich schüttle ihre Hand.

»Frau Hoppe kümmert sich um Ihre Termine, erledigt die Korrespondenz, eben alles, was anliegt.«

»Das eben«, setzt Sabrina Hoppe nun wieder entschuldigend an, »tut mir leid … ich, ich wusste nicht …«

»Schon gut«, beruhige ich sie. »Sie haben doch nur telefoniert.« Dann zwinkere ich ihr zu, woraufhin sie endlich auch einmal lächelt. Eigentlich geht so etwas natürlich gar nicht, aber ich will hier nicht gleich am ersten Tag den Superboss raushängen lassen. Dafür ist Steinfeld noch zuständig, bis zu meinem wirklichen Antritt kann ich noch ein bisschen Good-Guy-Bad-Guy spielen. »Ich freue mich schon auf unsere Zusammenarbeit.«

Sie lächelt mich an. »Ich mich auch.« Wieder fällt mein Blick auf ihre außergewöhnliche Kette.

»Ein schönes Stück«, stelle ich fest.

»Danke«, sagt sie etwas verlegen. »Die habe ich selbst gemacht, in meiner Freizeit entwerfe ich Aztekenschmuck.«

»Sieht wirklich toll aus.«

»Gut«, werde ich von Steinfeld unterbrochen, dem das Gespräch anscheinend zu feminin wird. »Dann gehen wir am besten jetzt in Ihr Büro.« Er öffnet die große Glastür, die das Vorzimmer von meinem Reich trennt. In der Mitte des Raums steht ein eindrucksvoller, antiker Schreibtisch, der fast vollständig von diversen Papieren und einem Computer verdeckt wird. Ein riesiger Ledersessel steht dahinter, an den Wänden hängen Bilder mit maritimen Motiven, in den Regalen herrscht ein wenig Aktenchaos.

»Ich bin noch nicht ganz fertig mit dem Aufräumen«, entschuldigt Peer Steinfeld sich. »Aber bis Sonntag habe ich alles sortiert und für Sie vorbereitet.« Er lässt seinen Blick durch den Raum schweifen, und ich meine, einen etwas wehleidigen Gesichtsausdruck zu bemerken.

»Fällt nicht ganz leicht, nach so langer Zeit, oder?«, sage ich mitfühlend.

»Na ja«, gibt Peer Steinfeld zu, »ich habe zehn Jahre lang für dieses Hotel gelebt, Tag und Nacht.« Dann lächelt er. »Aber Hongkong ist natürlich eine echte Herausforderung, auf die ich mich sehr freue.«

»Ich werde alles tun, um Ihnen eine gute Nachfolgerin zu sein.«

Steinfeld sinniert noch einen Moment vor sich hin, dann strafft er seine Schultern und sieht mich – diesmal tatsächlich richtig freundlich – an. »Das glaube ich Ihnen, Frau Christiansen.«

2. Kapitel

markus.giese@fuerstenberger-hamburg.de

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Alle Abteilungen

Betreff:

E-Mail-Account neue Direktorin

Datum:

29.09.2006, 15.25 Uhr

Ich habe soeben den E-Mail-Account unserer neuen Direktorin eingerichtet und freigeschaltet. Sie erreichen Frau Christiansen im globalen Adressbuch ab sofort unter svenja. christiansen@fuerstenberger-hamburg.de

Kollegiale Grüße

Markus Giese

Technischer Leiter

georg.trautwein@fuerstenberger-hamburg.de

An:

Alle Abteilungen

Betreff:

Re: E-Mail-Account neue Direktorin

Datum:

29.09.2006, 15.32 Uhr

Hallo, lieber Markus,

ich habe sie übrigens gerade kennengelernt, unsere neue Direktorin. Ich muss sagen – oh, là, là! Schnittiges Teil. Überaus blond und überaus gut aussehend, was unseren Reservierungsleiter Lutz freuen und unsere Hausdame Maja nervös machen dürfte … Auf der Homepage vom Fürstenberger München ist ein Foto von ihr. Bin mal auf deine Meinung gespannt!

Grüße

Georg Trautwein

Stellvertretender Direktor & Verkaufsleiter

markus.giese@fuerstenberger-hamburg.de

An:

Georg Trautwein

Betreff:

Re: Re: E-Mail-Account neue Direktorin

Datum:

29.09.2006, 15.37 Uhr

Hey Georg,

ich sag’s nicht gern, aber du bist echt eine Flasche! Wenn du bei einer Rundmail auf »Antwort« klickst, wählst du automatisch »Antwort an alle«. Deine schwärmerischen Zeilen hat jetzt also jeder Mitarbeiter inklusive unseres Herrn Direktors im Postfach. Und da die Christiansen schon bei uns im Verteiler ist, hast du die Mail auch an sie rausgeschickt, du Trottel. Aber keine Sorge: Bezüglich der Christiansen konnte ich dich retten, hab ihren Account noch einmal lahmgelegt und schalte ihn gleich wieder frei. Bei Steinfeld musst du dich allerdings selbst rauslavieren … Also pass in Zukunft auf, wem du was mailst. Jetzt schuldest du mir was!

Markus Giese

Technischer Leiter

peer

An:

Georg Trautwein

Betreff:

Re: Re: E-Mail-Account neue Direktorin

Datum:

29.09.2006, 15.54 Uhr

Herr Trautwein,

überschreiten Sie bitte nicht schon wieder Ihre Kompetenzen! Was sollen solche Rundschreiben? Im Übrigen verbitte ich mir derart despektierliche Bemerkungen über Ihre künftige Vorgesetzte. Reißen Sie sich zusammen, konzentrieren Sie sich auf Ihre Arbeit und machen Sie ansonsten ein freundliches Gesicht – mehr wird von Ihnen nicht verlangt, und das dürften doch selbst Sie hinbekommen, oder?

Peer Steinfeld

Direktor

lutz.stroemel@fuerstenberger-hamburg.de

An:

Georg Trautwein

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Re: Re: E-Mail-Account neue Direktorin

Datum:

29.09.2006, 15.59 Uhr

Georg,

wie ich sehe, hast du nichts zu tun, anders kann ich mir nicht erklären, warum du uns mit deinem belanglosen Krempel nervst. Kümmere dich lieber darum, dass du deine Wochenend-Sonderpakete mit Musicalbesuch und Dampferfahrt verscherbelt kriegst, die Christiansen wird bestimmt nicht begeistert sein, wenn sie sieht, dass wir im Moment nur eine Zimmerbelegung von 60 Prozent haben.

Außerdem kannst du dir mal zwei Sachen merken: Ich bin nicht Reservierungsleiter, sondern Revenue-Manager. Und lass die blöden Witzchen mit Maja, ich hab schon ewig nichts mehr mit der!

Lutz Strömel

Revenue-Manager

maja.friedrichs@fuerstenberger-hamburg.de

An:

Georg Trautwein

Betreff:

Re: Re: E-Mail-Account neue Direktorin

Datum:

29.09.2006, 16.00 Uhr

Haha, wie lustig! Lutz und ich haben unsere Differenzen längst bereinigt und führen wieder eine sehr harmonische und liebevolle Beziehung, da kannst du noch so bescheuerte Bemerkungen machen. Übrigens finde ich überhaupt nicht, dass die Christiansen auf dem Foto sonderlich blond aussieht.

Maja Friedrichs

Leiterin Housekeeping

sabrina.hoppe@fuerstenberger-hamburg.de

An:

Georg Trautwein

Betreff:

Re: Re: E-Mail-Account neue Direktorin

Datum:

29.09.2006, 16.51 Uhr

Also, ich habe sie auch schon kennengelernt und finde, sie macht einen netten Eindruck.

Sabrina Hoppe

Assistentin der Direktion

»Ein Hoch auf die neue Hoteldirektorin!« Meine Schwester Merle empfängt mich mit zwei Gläsern Sekt direkt an ihrer Haustür. Ich nehme eins davon und proste ihr zu.

»Vielen Dank!«

»Und? Wie ist es gelaufen?«

»Ziemlich gut, die Belegschaft scheint sehr nett und bemüht zu sein, also jedenfalls die Mitarbeiter, die ich schon getroffen habe.« Ich nehme einen Schluck und folge Merle ins Wohnzimmer. »Sonntag veranstaltet der scheidende Direktor sogar einen kleinen Empfang für mich, da werde ich dann dem Rest der Mannschaft vorgestellt«, erzähle ich weiter, als wir auf dem großen, bequemen Rattansofa Platz genommen haben.

»Ist bestimmt komisch, so viele Leute auf einen Haufen kennenzulernen«, meint Merle. »Ein bisschen wie der erste Schultag in einer neuen Klasse.«

»Stimmt«, gebe ich zu, »aber das kenne ich ja schon. Hab ja einige Umzüge und Jobwechsel hinter mir.« Merle schenkt uns noch einmal nach. »Danke übrigens, dass ihr mir noch die Koffer vorbeigebracht habt. Ich habe mich in meiner Hotelwohnung zwar noch nicht eingerichtet, aber jetzt ist immerhin schon mal meine Zahnbürste da, wo sie hingehört.«

»Gern geschehen«, erwidert meine Schwester. »Ich war neugierig, wie deine neue Schaffensstätte aussieht. Bisher kannte ich sie nur von außen, aber jetzt habe ich wenigstens schon mal kurz in die Lobby geschnuppert.«

»Schon imposant, oder?«

Merle zuckt mit den Schultern. »Sicher. Aber irgendwie auch … na ja, ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich in so einem Kasten auf Dauer heimisch fühlen kann.«

»Von Dauer spricht ja auch niemand«, erkläre ich ihr. »Sobald Carsten einen neuen Job hat, suchen wir uns so schnell wie möglich was Eigenes. Bin schließlich auch nicht scharf drauf, dass meine Mitarbeiter mich in allen Lebenslagen zu Gesicht bekommen.«

»Du kannst immer noch bei uns wohnen«, bietet Merle an und klopft mit der flachen Hand auf das Sitzpolster des Sofas. »Das Ding hier ist saubequem.«

Ich muss lachen.

»Nee, danke«, lehne ich ab. »Noch weniger scharf bin ich darauf, euch in allen Lebenslagen zu Gesicht zu bekommen.«

Merle zieht einen Schmollmund. »So schlimm sind wir auch nicht, in der Regel geht’s bei uns recht harmonisch zu.«

»War doch nicht so gemeint.« Ich lege meiner kleinen Schwester einen Arm um die Schulter. »Aber die nächsten Wochen werden echt stressig, da muss ich bestimmt oft bis spät in die Nacht arbeiten oder frühmorgens raus. Ich denke, für euer Familienleben wäre es nicht sonderlich entspannend, wenn hier jemand zu den unmöglichsten Zeiten durch die Wohnung stolpert.«

Merle seufzt. »Trotzdem ist es wirklich schön, dass du endlich wieder in Hamburg bist. Ich erwarte, dass du mindestens ein paar Jahre bleibst!«

»Das habe ich auch vor«, versichere ich. »Carsten und ich haben sogar schon darüber gesprochen, ob es sich lohnt, wenn wir uns hier oben eine Eigentumswohnung kaufen.«

»Wirklich? Das wäre ja toll! Im Falkenried-Gelände sind gerade ein paar Neubauten zu haben«, schlägt sie begeistert vor. »Die sollen ganz schick sein und liegen sehr zentral, wir können ja mal …«

»Nicht ganz so eilig«, bremse ich sie in ihrer Euphorie. »Jetzt müssen wir uns erst einmal sortieren.« Lächelnd betrachte ich meine kleine Schwester, wie sie da so aufgekratzt und fröhlich neben mir auf dem Sofa sitzt. Ja, sie hat mir auch gefehlt, über viele Jahre habe ich sie nur in sehr unregelmäßigen Abständen gesehen. Und jetzt gerade freue ich mich total, bei ihr zu sein, einfach wieder ein Stück Familie zu haben. Im Hotelgewerbe schließt man zwar sehr schnell Freundschaften – und auch Feindschaften –, aber sie bleiben letzten Endes immer bis zu einem gewissen Grad an der Oberfläche, weil in dieser Branche ein ständiges Kommen und Gehen herrscht. Und Blut ist eben doch dicker als Wasser. Merle scheint es jedenfalls genauso zu gehen, was vielleicht auch daran liegt, dass unsere Eltern vor fünf Jahren nach Teneriffa ausgewandert sind, um dort ihren sonnigen Ruhestand zu genießen. So richtig haben wir jetzt nur noch uns, denn wir haben, ich durch meinen Job, Merle durch die Kinder, keine Zeit, permanent auf die Kanaren zu jetten.

»Was guckst du denn so nachdenklich?«, will meine Schwester wissen.

»Ach nichts«, erwidere ich und mache eine wegwerfende Handbewegung. »Nur ein kleiner Anflug von Sentimentalität. Ich bin einfach richtig froh, hier zu sein.«

»Dann lass uns das endlich gebührend feiern«, meint Merle und prostet mir ein weiteres Mal zu.

»Gern. Aber vorher muss ich kurz Carsten anrufen. Den habe ich den ganzen Tag noch nicht erwischt.«

Mehr Glück habe ich diesmal allerdings auch nicht, weder im Büro noch zu Hause ist er zu erreichen und auf seinem Handy läuft nur die Mailbox. Also gehe ich rüber zu Merle – natürlich nicht, ohne vorher meinen obligatorischen Besuch auf der Toilette absolviert zu haben –, die unser Lager mittlerweile in die Küche verlegt hat, wo sie gerade eine neue Flasche aus dem Kühlschrank holt. Mit einem weiteren Glas Sekt mache ich es mir auf einem der Barhocker am Küchentresen gemütlich.

»Na, was sagt Carsten?«, will Merle wissen.

»Leider nichts, ich habe ihn immer noch nicht erwischt. Weiß der Himmel, wo der steckt.«

»Er sucht sich also schon einen Job hier oben«, nimmt meine Schwester den Faden von vorhin wieder auf, »und ihr plant eventuell einen Wohnungskauf. Dann hat Carsten es offensichtlich verdaut, dass ihr euch in Hamburg ansiedelt.«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich denke schon«, meine ich. »Immerhin hat er jede Menge Bewerbungen rausgeschickt.«

»Ist ja nicht einfach, heutzutage was zu finden«, gibt Merle zu bedenken. Ich schüttle energisch den Kopf.

»Also, wenn der mit seinem Lebenslauf nichts Vernünftiges findet – das würde mich doch sehr wundern.«

»Ich drück euch jedenfalls die Daumen. Und jetzt erzähl doch noch mal in Ruhe, wie es heute war.«

Ich berichte von meinem Rundgang, von Steinfeld, Trautwein und meiner ersten eigenen Sekretärin Sabrina Hoppe – und ende lachend mit der Schilderung meiner nervösen Reizblase. »Ich glaube, Steinfeld hat sich schon gefragt, ob ich heimlich auf dem Klo kokse, so seltsam hat er mich angeguckt.«

»Kauf dir doch mal einen Blasentee oder geh zum Arzt«, kommt es nun prompt von Merle. »Oder am besten beides.« Sie klingt wie eine besorgte Oma. Ich muss unwillkürlich lächeln, denn eigentlich habe ich mich früher immer um meine drei Jahre jüngere Schwester gekümmert, nicht umgekehrt. Bevor Merle Sebastian geheiratet hat, war sie ein ziemlich verrücktes Huhn und hat unseren Eltern zahlreiche schlaflose Nächte beschert. Die Kerle gaben sich bei ihr die Klinke in die Hand, während ich immer eher die Brave war. Schließlich habe ich meinen Traummann Carsten bereits im letzten Schuljahr kennengelernt – da war es gar nicht nötig, ständig auf die Piste zu gehen. Tja, und jetzt geht Merle in ihrer Mutterrolle mit ihren zwei Töchtern vollkommen auf, vorbei sind die wilden Zeiten. Aber sie scheint damit sehr glücklich zu sein, zumindest wirkt sie immer äußerst ausgeglichen.

Schon verrückt, wenn ich so darüber nachdenke. Früher war ich felsenfest davon überzeugt gewesen, dass ich die Erste von uns beiden sein würde, die heiratet und Kinder bekommt. So kann man sich täuschen.

»In Ordnung«, antworte ich auf ihren Vorschlag, »ich verspreche, wenn es morgen nicht besser wird, gehe ich in die Apotheke … und kaufe mir mindestens drei schurwollene Unterhosen.«

Merle lacht und verprustet dabei einen Gutteil ihres Sekts.

»Okay, ich gebe zu, ich klinge wie eine Glucke. Aber so ist das eben, wenn man kleine Kinder hat.«

»Apropos kleine Kinder«, wende ich ein. »Schlafen meine Nichten schon? Ich wollte ihnen eigentlich noch gute Nacht sagen.« Lea und Finja sind zwei richtig niedliche Racker. Vielleicht ein bisschen so, wie Merle und ich früher waren. Wobei ich mich nicht mehr wirklich daran erinnern kann, wie wir mit drei und fünf Jahren waren. Aber ich schätze mal, so ähnlich.

Anfangs ist es mir nicht leichtgefallen, zu akzeptieren, dass Merle Kinder bekommen hat und ich nicht. Aber mittlerweile sind die beiden Mädchen meine absoluten Lieblinge. Und das Beste an den beiden ist, dass sie mich für die tollste Tante der Welt halten. Diese Tante bringt ihnen nämlich in regelmäßigen Abständen genau die rosafarbenen Plüsch-Einhörner und singenden Barbiepuppen mit, die ihre Mutter aus pädagogischen Erwägungen niemals kaufen würde.

»Die sind zum Glück schon eingeschlafen«, beantwortet Merle meine Frage. »Aber du kannst die Mädchen ja morgen sehen.« Sie wirft einen Blick auf die Uhr. »Gleich acht, da müsste Sebastian eigentlich jeden Moment kommen. Sobald er da ist, können wir los.« Merle hat mir schon gestern erzählt, dass sie darauf besteht, dass wir heute zur Feier des Tages auf den Kiez gehen und den Stätten unserer Jugend noch mal die Ehre erweisen. Das heißt, genau genommen Merles Stätten ihrer Jugend, ich war ja mehr das Modell Stubenhocker. Ihren Mann Sebastian hat Merle zum Babysitten verdonnert. Da er aber sowieso keine Lust hat, mit zwei kichernden Frauen über die Reeperbahn zu eiern, ist es für ihn wohl nicht weiter tragisch. Ich bin zwar immer noch keine ausgeprägte Pistengängerin, aber heute freue ich mich richtig darauf, mit meiner Schwester um die Häuser zu ziehen.

»Hallo Mädels!« Kaum hat Merle den Satz beendet, guckt schon Sebastians brauner Wuschelkopf hinter der Küchentür hervor. »Na, bereit für die Party?«

Ich stehe auf und gebe meinem Schwager ein Begrüßungsküsschen. »Ja, von uns aus kann’s losgehen.«

»Wo wollt ihr denn hin?«, fragt Sebastian.

»Wieso, willst du uns einen Aufpasser hinterherschicken?« Merle grinst ihn an.

»Klaro, am liebsten zwei. Ich weiß ja, was passiert, wenn meine Frau auf die Rolle geht«, gibt Sebastian zurück. »Nein, im Ernst, reine Neugier. Ein alter Knacker wie ich will eben wissen, was bei den jungen Dingern so angesagt ist.«

Ich muss lachen: Verglichen mit dem durchschnittlichen Besucher der angesagten Szenebars auf dem Kiez sind Merle und ich bestenfalls Omas, wahrscheinlich eher Uromas.

»Da hast du Pech, mein Alter«, Merle streicht Sebastian durch die Haare, »unsere Pläne für heute Abend sind absolut geheim.«

3. Kapitel

»Und du bist sicher, dass wir hier viel Spaß haben werden?« Skeptisch beäuge ich den Eingang der Kneipe, in die Merle mich schleppen will. Sieht aus wie eine heruntergekommene Spelunke. Die Scheiben sind so dreckig, dass man kaum durchgucken kann, und der Putz der Außenfassade blättert auch schon ab. Und dann der Name: Bangkok Bar. Klingt für mich eher nach Sextourismus als nach einem lustigen Freitagabend.

»Ach, Mensch, du warst echt zu lange in München. Langsam wirst du richtig Schickimicki. Die Bangkok Bar ist momentan der Renner auf dem Kiez, total angesagt. Wirst du schon sehen«, versucht Merle, mich zu überzeugen.

»Na, hör mal, München ist überhaupt nicht Schickimicki. Und nur, weil da nicht überall der Müll rumfliegt, muss es nicht gleich langweiliger sein als Hamburg«, verteidige ich meine alte Wahlheimat, sehe aber schon an Merles Gesichtsausdruck, dass das sinnlos ist. Sie würde Hamburg niemals länger als vier Wochen am Stück verlassen. Eingefleischte Hanseatin eben.

Während wir noch über Schickimicki-oder-nicht frotzeln, schwingt plötzlich die Tür der Bangkok Bar auf, und ein Trupp angetrunkener Typen fällt uns lachend entgegen. Einer trägt ein bemaltes Shirt und hat dazu noch eine Art Bauchladen umgeschnallt. Ein Junggesellenabschied also.

»Hallo, Ladys«, spricht er uns lallend an. »Ein paar Kondome gefällig? Ich mach euch auch einen super Preis. Ein Euro pro Stück. Ach, was sage ich? Fünfzig Cent!« Bei den letzten Worten verliert er sein Gleichgewicht und fällt mir schwankend um den Hals. »Hoppala!«, murmelt er und versucht, sich wieder von mir loszumachen. »Ui – ’tschuldigung!«

Seine Fahne haut mich fast um, ich winde mich schnell aus seiner Umarmung. Puh, das riecht ja entsetzlich. Normalerweise bin ich da nicht so empfindlich, aber das ist mir eindeutig zu viel, der muss eine ganze Schnapsbatterie leer gesoffen haben.

Mittlerweile haben die Jungs ihren Kumpel wieder eingefangen, aufgestellt und versuchen nun, Merle in ein Verkaufsgespräch zu verwickeln. Die scheint sich blendend zu amüsieren, allerdings hat sie im Freudenhaus, wo wir unseren Kieztrip gestartet haben, auch schon drei Viertel Chardonnay zum Essen getrunken. Ich bin hingegen noch relativ nüchtern, irgendwie ist Alkohol heute nicht so meins. Allerdings: Wenn sich der Abend so weiterentwickelt, werde ich das dringend ändern müssen. Nüchtern ist das nicht zu ertragen!

»Hm, was meinst du«, fragt meine Schwester, »was besser schmeckt? Erdbeere oder Banane?« Merle legt die Stirn in Falten, als denke sie ernsthaft über diese Frage nach.

»Also, meine Verlobte mag Banane lieber«, bemüht sich der Hobbyverkäufer um eine fachmännische Beratung. Vielen Dank, so genau will ich es gar nicht wissen.

Merle leider schon. »Echt? Na ja, Banane passt doch auch irgendwie gut.« Beide brechen in hysterisches Gelächter aus. So, das reicht jetzt. Sanft ziehe ich Merle am Ärmel.

»Komm, mir wird langsam kalt, lass uns mal reingehen.«

»Mann, die waren doch lustig! Was hast du es denn auf einmal so eilig?« Merle blickt mich vorwurfsvoll über den Rand ihrer Bierflasche an, nachdem wir uns an einen der vielen freien Tische gesetzt haben.

»Also, meine Sorte Humor ist das offen gestanden nicht. Aber vielleicht finde ich das nach dem nächsten Bier auch komischer.«

Merle verzieht den Mund, sagt aber nichts. Auf ihrer Stirn steht allerdings so etwas wie langweilige Spießer-Schwester geschrieben. Egal, mit dem Vorwurf kann ich leben.

»So«, sage ich und blicke mich im Barraum um, der langsam etwas voller wird, »und jetzt erklär mir doch mal, warum du nun gerade in diese Kaschemme wolltest? Ich kann hier beim besten Willen nichts Spektakuläres erkennen. Für mich sieht’s eher ein bisschen runtergekommen aus.« Und das ist noch untertrieben. Das Licht in dem verwinkelten Raum ist schummrig, weil die Hälfte der Deckenlampen kaputt zu sein scheint. Die Tische sind aus braunem Resopal, und irgendjemand hat anscheinend versucht, das traurige Ambiente mit ein paar zerfledderten Lampions und Girlanden aufzuwerten. Erfolglos, so viel steht mal fest.

»Warte ab – und vertrau mir. Siehst du die Bühne da in der Ecke?« Ich drehe mich um. Tatsächlich, schräg gegenüber der Bar befindet sich ein provisorisch aus Sperrholz zusammengezimmertes Podest. »Ab zehn, also in einer Viertelstunde, wird hier die ultimative Karaoke-Show starten. Wahnsinnig lustig, echt saukomisch!«

Na großartig. Karaoke. Genau mein Fall.

»Ich dachte, so was sei schon wieder völlig out«, werfe ich ein.

»Ja, diese nachgemachten Amateur-Karaokes in irgendwelchen Dorfdiscos. Aber hier ist das anders: Hier singen wirkliche Könner, da sind die paar betrunkenen Deppen zwischendurch erst recht zum Schreien. Und der DJ, der die ganze Sache hier managt, hat sogar schon in Tokio aufgelegt. Also, ich war zwar erst einmal hier, aber da hatte ich einen der besten Abende meines Lebens.«

Oha! Das will bei Merle allerdings etwas heißen. Ich bin gespannt.

Tatsächlich kommt bis zehn Bewegung in die Bar. Durch die Tür strömen noch einmal gefühlte fünfzig Leute, alle offensichtlich bestens gelaunt. Das Schummerlicht wird ersetzt durch etwas, was beinahe den Namen Lightshow rechtfertigen würde – verschiedenfarbige Blitze schießen durch den Raum, der sich auf einmal zu drehen scheint. Dann erscheint auf dem Podest ein zierlicher junger Mann mit einem Mikrofon.

»Hello and welcome to Bangkok Bar. I’m Tom and I will be your host tonight. So whichever song you want to perform, just let me know. Enjoy!« Aha, Tom, unser Gastgeber. Offensichtlich der Tokio-DJ. Dem Äußeren nach zu urteilen, stammt er selbst aus Thailand. Schon drängelt sich ein kleiner Pulk Singwilliger vor ihm und drückt ihm kleine Zettel in die Hand.

»Was machen die da?«, will ich von Merle wissen.

»Auf jedem Tisch gibt es ein Songbook, siehst du?« Stimmt, da liegt tatsächlich etwas, das ich bisher für die Speisekarte gehalten habe. »In dem Buch sind alle Lieder, die Tom auf seiner Karaoke-Maschine hat, mit Nummern verzeichnet. Du suchst dir aus, welches Lied du singen möchtest, schreibst die Nummer auf einen der kleinen Zettel, die neben den Bierdeckeln liegen, und gibst ihn Tom. Tja, und meist bist du dann innerhalb der nächsten zehn Minuten dran. Der Text erscheint auf der Leinwand gegenüber der Bühne, damit du dein Publikum auch schön ansingen kannst. Ganz einfach.«

Ich blättere in dem Buch. Von George Michael über die Black Eyed Peas bis zu Metallica scheint so ziemlich alles drin zu stehen, was Rang und Namen hat.

»Na, was willst du singen?« Neugierig lugt Merle über meine Schulter.

»Natürlich gar nichts – ich wollte nur mal schauen, was uns hier so erwartet. Zwei Stunden Wildecker Herzbuben könnte ich nämlich nicht ertragen.«

»Och bitte, du musst auch singen! Sonst bringt das doch keinen Spaß.«

»Sagtest du nicht etwas von ›hier singen die Profis‹? Du hast mich anscheinend noch nie singen hören. Damit kriegen wir die Bangkok Bar schneller leer als mit einem Feueralarm.«

Merle grinst. »Stimmt, das war immer nicht so dolle. Aber ich will auf alle Fälle singen.« Kein Wunder, meine Schwester ist tatsächlich ein kleines Goldkehlchen und hat auch einen gewissen Hang zur Selbstdarstellung. Da kommt ihr so eine Gelegenheit natürlich gerade recht. Ich seufze und gebe ihr das Songbook. Sie blättert kurz, dann tippt sie auf eine Seite.

»Hier, Nummer A34, Elton John, Your Song. Was meinst du?«

»Spielt es eine Rolle, was ich meine?«

»Klar, warum nicht? Klingt bestimmt schön.« Begeistert kritzelt Merle die Zahl auf den Zettel. Mittlerweile hat der erste Freiwillige die Bühne erklommen, und auf der Leinwand wird der Titel eingeblendet. Sing Hallelujah. Na dann.

Drei Lieder und fünfzehn extrem lange Minuten später bin ich sehr froh, dass mit Merle nun endlich jemand ans Mikro gelassen wird, der wirklich singen kann. Denn bisher hat sich von den vielbeschworenen Profis noch keiner blicken lassen, und ich bekomme langsam Ohrensausen. Wie grausam – die Leute müssen doch merken, dass sie immer einen Viertelton drunter- oder drüberliegen! Brrr, ich muss mich wohl wirklich betrinken, um den Abend heil zu überstehen.

It’s a little bit funny this feeling inside

I’m not one of those who can easily hide

I don’t have much money but boy if I did

I’d buy a big house where we both could live

Merle beginnt zu trällern, und schlagartig wird es in der Bar ruhiger. Sie hat wirklich eine wunderschöne Stimme und etwas, das Dieter Bohlen beim Recall wahrscheinlich mit Mann, du knallst voll rein! bezeichnen würde. Klasse! Ich merke, dass ich gerade ziemlich stolz auf meine kleine Schwester bin.

If I was a sculptor, but then again, no

Or a man who makes potions in a travelling show

I know it’s not much but it’s the best I can do

My gift is my song and this one ’s for you

Bei den letzten Worten dreht sie sich zu mir und kommt mir von der Bühne ein paar Schritte entgegen, um meine Hand zu nehmen. Ich bin ganz gerührt.

And you can tell everybody this is your song

Ich bin ja eigentlich eher unsentimental veranlagt, aber jetzt merke ich, dass mir auf einmal Tränen in die Augen schießen. Was ist bloß los mit mir? Ich bin so gerührt, dass ich auf der Stelle in hemmungsloses Schluchzen ausbrechen könnte. Gott sei Dank lässt Merle meine Hand wieder los und schlendert zurück Richtung Bühne.

It may be quite simple but now that it’s done

I hope you don’t mind

I hope you don’t mind that I put down in words

How wonderful life is while you’re in the world.

Die letzten Takte verklingen, Merle gibt Tom das Mikrofon zurück. Puh, das war knapp. Verstohlen schniefe ich in ein Taschentuch. Gut, dass mich hier niemand kennt! Merle genießt die allgemeine Aufmerksamkeit sichtlich, sie badet in dem tosenden Applaus, der nach ihrem Auftritt aufbrandet.

»Na, wie war ich?«, fragt sie, als sie strahlend an den Tisch zurückkommt.

»Sensationell, Süße. Der bisherige Höhepunkt des Abends. Obwohl das auch nicht sonderlich schwer war.«

Merle streckt mir die Zunge raus. »Ätsch, sing doch selbst.« Doch dann mustert sie mich plötzlich besorgt. »Sag mal, geht’s dir nicht gut?«

»Doch, bestens. Warum?«

»Du siehst irgendwie so mitgenommen aus.«

»Ich bin nur ein bisschen müde, außerdem habe ich was ins Auge bekommen.«

»Wenn es dir partout nicht gefällt, können wir auch woandershin gehen. Heute scheinen wirklich überwiegend Amateure hier zu sein.«

Während ich gerade entgegnen will, dass ich tatsächlich noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen habe, die überhaupt nicht singen können, tut sich auf der Bühne wieder etwas. Die Auferstehung von Elvis. Zumindest stimmlich. Gänsehaut, sofort!

On a cold and gray Chicago mornin’

A poor little baby child is born

In the Ghetto

Mein absolutes Lieblingslied: In the Ghetto! Und offenbar vom King selbst gesungen. Denn anders ist kaum zu erklären, warum ich auf einmal das Gefühl habe, von der runtergerockerten Bangkok Bar direkt nach Vegas gebeamt worden zu sein. Merle scheint es ähnlich zu gehen, ihre Lippen formen ein WOW, und sie fliegt geradezu herum Richtung Bühne.

Dort steht allerdings nicht Elvis persönlich, sondern ein Typ, der irgendwie an Jake Gyllenhall in Kombination mit Heath Ledger in schwarzhaarig erinnert, also quasi die Brokeback-Mountain-Mischung. Ungefähr Ende zwanzig, Anfang dreißig. Dazu hat er unglaublich grüne Augen, wie ich sogar von meinem Sitzplatz aus erkennen kann. Die einzige Übereinstimmung mit Elvis ist die schwarze Haarlocke, die durch etwas zu viel Haarlack wie festgetackert an der Stirn klebt. Natürlich sieht er sehr gut aus, aber auch irgendwie … witzig. »Der hat ja eine irre Stimme!« Merle ist völlig beeindruckt. Dann wendet sie sich triumphierend zu mir um.

»Siehst du, ich hab dir doch gesagt, dass hier die Könner auftreten.«

»Von die Könner sind wir noch weit entfernt, außer dir sehe ich hier bisher nur einen. Aber ich muss zugeben, dass dieser Junge wirklich was draufhat. Ich dachte erst, der King wäre zu uns herabgestiegen!«

»Ja, der ist echt toll.«

»Hast du den schon mal gesehen?«

Merle schüttelt den Kopf, kneift aber gleichzeitig angestrengt die Augen zusammen. »Nö, hier war der damals nicht, das hätte ich nicht vergessen.« Ich werfe einen Blick auf das mittlerweile dritte Bier, das Merle sich geholt hat. Ich selbst würde jedenfalls bei den Mengen, die sie sich heute reinschüttet, vermutlich so einiges vergessen. Nicht zuletzt meinen eigenen Namen. Aber Merle schüttelt wieder den Kopf. »Nee, das wüsste ich noch, so eine Stimme vergisst man nicht. Aber ist wirklich ein toller Typ.«

Da hat sie recht. Wie er da so auf der Bühne steht und selbstbewusst den Elvis gibt – das hat schon was.

Viel schneller, als mir lieb ist, findet das Lied ein Ende. Offensichtlich ist Elvis mit seinem Fanclub hier aufgetaucht, jedenfalls hat sich eine Gruppe kreischender Pseudogroupies vor der Bühne versammelt und ermöglicht dem King ein Bad in der Menge. Er verteilt Küsschen und schüttelt Hände, anscheinend hat er auch das Gefühl, in Las Vegas zu sein. Er macht noch eine tiefe Verbeugung, gibt Tom das Mikro zurück und springt mit einem eleganten Satz von der Bühne.

Und dann steuert er geradewegs auf unseren Tisch zu und setzt sich unter den neidischen Blicken seiner Entourage neben Merle und mich! Ohne zu fragen, ohne irgendwas, als wäre es das Normalste der Welt. Wirklich, der Mann ist sehr selbstbewusst.

Und ich mehr als nur ein bisschen irritiert.

»Ladys«, begrüßt er uns mit tiefer Stimme und legt in besitzergreifender Manier seine Hände auf jeweils eine unserer Stuhllehnen. Auweia! »Ich freue mich, heute Abend so hübsche und begabte Frauen im Publikum zu sehen.«

Uh, wie platt. Der Junge sollte sich aufs Singen beschränken. Was für ein dämlicher Spruch. Allerdings schwingt ein leichter, sehr interessant klingender Akzent mit. Französisch? Portugiesisch?

»Ich bin Alexej«, sagt er, als sei sein Name Erklärung genug. Dann streckt er Merle eine Hand entgegen, die diese sofort begeistert ergreift und schüttelt. »Meine Freunde sagen Sascha«, fährt er fort. Aha, also offensichtlich ein Russe. »Als ich dich habe singen hören, dachte ich, wir müssen unbedingt zusammen ein Duett vortragen«, schmachtet er Merle an.

So eine lahme Anmache. Damit kann er doch höchstens beim Seniorentanz im Altersheim punkten. Bevor ich eine entsprechende Bemerkung machen kann, fällt Merle mir schon ins Wort.

»Super Idee – hast du an was Bestimmtes gedacht?« Meine Schwester strahlt über das ganze Gesicht. Ich bin fassungslos.

»Wie wär’s denn mit Something Stupid?«, schlägt er vor. Oder ›Someone Stupid‹, würde es mir fast entfahren, aber ich halte lieber den Mund. Hier sind ganz eindeutig zwei Künstler unter sich. Dass ich direkt danebensitze, scheint keinen von beiden sonderlich zu interessieren, ich bin mit einem Schlag Luft geworden.

»Gute Idee«, meint Merle, »aber schön finde ich auch Up where we belong.« Die beiden stecken ihre Köpfe ins Songbook, ich meinen in die Getränkekarte.

»Ich bestell mir noch was«, sage ich und will Richtung Tresen.

»Oh, bringst du mir einen Gin Tonic mit?«, bittet Merle, bevor sie mit ihrem neuen Seelenverwandten und mindestens drei Zetteln in Richtung Tom steuert. Ich habe das untrügliche Gefühl, dass das hier ein sehr langer Abend werden wird.

Zwei Stunden später haben Sascha und Merle mindestens achtzig Prozent des Songbook-Repertoires zum Vortrag gebracht und fast alle Amateure so eingeschüchtert, dass sich nur noch die ganz betrunkenen auf die Bühne trauen. Ich habe zumindest einen leichten Schwips, aber das ist nichts, verglichen mit der Schräglage, in der sich Merle mittlerweile befindet. Gut, wer die Cocktailkarte einmal rauf und runter trinkt, muss einfach mit Ausfallerscheinungen rechnen. Man kennt das ja. Singen kann sie allerdings auch jetzt noch, selbst wenn hier und da ein paar Text- und Artikulationsschwierigkeiten zu bemängeln sind. Zwischendurch muss sie sich ein Auge zuhalten, um noch lesen zu können, was auf der Leinwand steht.

Endlich macht Tom eine kleine Pause, und ich nutze die Gelegenheit, Merle ein bisschen Mineralwasser einzuflößen. Sascha haben wir in der Zwischenzeit offenbar adoptiert, er weicht nicht mehr von unserer Seite.

Da Merle mit einer geregelten Konversation in ihrem Zustand überfordert wäre, übe ich artig Smalltalk mit unserem neuen Freund. Meine Schwester hat derweil ihren Kopf gegen die Wand gelehnt und hält ein kleines Kurznickerchen.

»Wo kommst du eigentlich her?«, will ich wissen.

»Moskau. Aber wir haben eine deutsche Babuschka, die immer mit uns deutsch gesprochen hat.« Die liebe Oma also, wie rührend!

»Das hört man«, mache ich ihm ein Kompliment. »Beziehungsweise man hört eigentlich fast gar keinen Akzent. Finde ich immer toll, wenn Menschen zweisprachig aufwachsen.« Sascha gähnt. Okay, Bildungsthemen sind seine Sache nicht.

»Und was machst du normalerweise so?«

»Ich bin Sänger – aber das hast du wahrscheinlich schon gemerkt.«

»Ja, zumindest habe ich so etwas vermutet. Wo singst du denn? In einem Musical?«

»Großer Gott!« Sascha macht eine dramatische Handbewegung. »Da wird man verheizt. Ich habe eine eigene Band, wir treten bei High Class Events auf. Presseball, Sportball, solche Sachen«

»Ball des Sports«, verbessere ich ihn.

»Richtig«, sagt er nun, »Ball des Sports.«

Ich verstehe, der Herr ist also wichtig. Fragt sich nur, warum er dann in der Bangkok Bar rumhängt und kleine Mädchen beeindruckt.

»Toll!«, gebe ich mich trotzdem interessiert. »Wie heißt die Band denn?«

»Total Spirits. Du hast wahrscheinlich schon von uns gehört, oder?«

»Äh, nicht wirklich«, muss ich zugeben. »Aber ich bin auch gerade erst von München hierhergezogen, und da habe ich … also, da kenne ich mich noch nicht so mit der Szene aus.«

Jetzt schnauft Sascha entrüstet. »Wir sind überall bekannt.«

»Ich, äh, bin mehr so für Klassik«, versuche ich, die Situation zu retten.

»Weißt du«, meint Sascha nun und nimmt das Songbook in die Hand. »Ich habe schon so viel mit deiner Schwester gesungen. Jetzt will ich mit dir singen.«

»O nein!«, wehre ich mit erhobenen Händen ab. »Ich kann im Gegensatz zu meiner Schwester leider überhaupt nicht singen.«

»Macht doch nichts«, meint Sascha, »ist doch nur zum Spaß.«

»Nein«, wiederhole ich, »das ist wirklich nichts für mich.«

»Komm schon, das wird ganz schön.«

»Bestimmt nicht«, meine ich grinsend. »Das wird höchstens ganz schrecklich.«

»Ist doch egal«, lässt Sascha nicht locker. »Das hier ist nur die Bangkok Bar.« Mit diesen Worten will er mich am Ärmel von meinem Stuhl hochziehen.

»Nein!«, entfährt es mir eine Spur energischer, als ich will. Sascha hält in seiner Bewegung überrascht inne. »Weißt du«, versuche ich ihm zu erklären, »ich mache nur Dinge, in denen ich gut bin.«

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