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Starling Nights 1

Als Buch hier erhältlich:

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Alles, was Mabel an der Universität Cambridge will, ist in Ruhe ihr Studium durchzuziehen. Doch als ihre beste Freundin Zoe in die Kreise einer geheimen Verbindung rutscht, gerät Mabels Stabilität ins Wanken. Schon bald findet sie heraus, dass der Bund der Stare seit Jahrhunderten eine Reihe seltsamer Ereignisse nach sich zieht. Ehe Mabel sich‘s versieht, befindet sie sich mittendrin – und damit ganz nah an Cliff, dessen Unergründlichkeit sie sofort fasziniert. Doch je näher sie ihm und seinen Freunden kommt, desto mehr bringt sie sich selbst in Gefahr …


  • Erscheinungstag: 24.10.2023
  • Aus der Serie: Starling Nights
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 504
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704136
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meine Familie.
Für die Bücher, die Reisen, die Welten.

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr auf der letzten Seite eine Themenübersicht, die Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Leseerlebnis.

Eure Merit und euer Team von reverie

PROLOG

Damals

Es gab viele Mythen, die über Cambridge erzählt wurden. Geschichten, die aus Gerüchten und verdrehten Wahrheiten gewoben waren und deren dünner Stoff lediglich im Halbschatten von Hand zu Hand weitergereicht wurde. Studierende flüsterten sie sich in den Warteschlangen der thronsaalartigen Cafeterias zu, Dozierende trugen sie als ausgeschmückte Anekdoten vor, wann immer ein neuer Jahrgang mit ehrfurchtsvollen, leicht ängstlichen Blicken vor ihnen saß.

Das meiste von diesem Erzählten glitt höchstens haarscharf an der Oberfläche der Wahrheit entlang. Der eigentliche Geheimnisträger war Cambridge selbst. Nicht nur die Stadt mit ihren verwinkelten Gassen, vor allem ihre Universität. Die goldleuchtenden Gebäude, die Grasbetten, die das steinerne Collegegeflecht zersetzten, die still fließende Cam.

Das leblose Herz der Stadt war das lebendigste an ihr, weil sie seit Jahrhunderten Generationen von Studierenden überdauerte. Sie sah unendlich viele unterschiedliche und doch ähnliche Gesichter an sich vorbeiziehen, während sich ihr eigenes nur sanft veränderte. Keine Falten, nur ein müdes Zwinkern, je mehr Jahre verstrichen und dabei dünne Schichten ihrer Fassade abrieben.

Die Universität bewahrte die echten, ungefilterten Geheimnisse dieses Ortes. Nur Auserwählte konnten verstehen, was sie darüber erzählte. So wie wir. Wir verstanden sie, weil wir ein Teil davon waren. Denn wir, wir waren das größte Geheimnis, das Cambridge hütete.

»Versteckst du dich vor uns?«

Fast hätte ich geseufzt. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis mich einer von ihnen hier fand. Wir kannten einander einfach zu gut: Unsere Seelen waren Landkarten, die wir im Laufe der Jahre eingehend studiert hatten. Heute brauchte keiner von uns noch Schilder oder Wegweiser, um zu wissen, was der andere dachte oder fühlte – oder wo er war.

Ich wandte mich um, sah der jungen Frau entgegen, die mit zielstrebigen Schritten den Kirchengang entlang und auf mich zulief. »Als ob ich das überhaupt könnte. Manchmal halte ich einfach ganz gern inne, stell dir vor.«

Sie blieb vor mir stehen und grinste breit. Das Licht des Mosaikfensters warf blaue Schatten auf ihr symmetrisches Gesicht, die Zahnlücke war ein dunkler Fleck in einer Reihe aus strahlendem Weiß. »Das kannst du, wenn du tot bist.«

Ich verdrehte die Augen. »Bei dem, was ihr schon wieder geplant habt, ist das gar nicht mal so abwegig, hm?«

»Jetzt werde nicht beleidigend.« Sie sah mich spöttisch an, während sie mit den Fingern an der dünnen Kette um ihren Hals spielte. Der schlichte Ring, der daran hing, glänzte immer wieder auf, wenn das bunte Mondlicht auf das Gold traf. Diese Geste verriet, dass sie an den Menschen dachte, der das Duplikat dieses Schmuckstücks trug. »Und verdirb uns nicht die Laune, okay? Nicht heute.«

»Was ist besonders an heute?« Unsere Tage waren Perlen an einer nie endenden Kette. Sie waren alle schön, kostbar und eigen, gleichzeitig waren sie sich in dieser Besonderheit auch irgendwie … ähnlich. Manchmal fragte ich mich insgeheim, ob man sich an Schönheit sattsehen konnte. Oder an Glück sattfühlen. Es war nichts, was ich aktiv spürte, eher etwas, vor dem ich mich im Stillen fürchtete. Eine leise Angst vor der Zukunft, die ich jedes Mal schnellstmöglich mit ganz viel Jetzt zuschüttete.

»Nichts. Ich will nur … ich brauch das. Euch alle.« Sie trat auf mich zu und fasste an den Kragen meines Hemdes, glättete den Stoff. Ein ungewohnt zartes Lächeln umspielte ihren Mund. »Meine besten Freunde«, flüsterte sie und strich mit den Fingerkuppen über die Narbe an meiner Schläfe, »die vierköpfige Liebe meines Lebens.«

Ich griff nach ihrer auffallend warmen Hand und drückte sie sanft. »Dein Leben ist noch nicht vorbei. Vielleicht findest du noch etwas Besseres als uns.«

»Nein, niemals.« Ihr Lächeln wurde breiter, und doch tauchte etwas Trübes in ihren Augen auf. Wäre sie mir nicht so vertraut gewesen, hätte ich es für Traurigkeit gehalten.

Ich runzelte die Stirn. »Alles in Ordnung mit dir?«

Sie schwieg einen Moment, dann löste sie sich von mir und trat einen Schritt zurück. Rotes Licht statt blauem, ein betont fröhliches Grinsen statt aufrichtiger Freude. »Klar. Ist es doch immer. Ich will einfach einen erinnerungswürdigen Abend für uns schaffen – lässt du mich?«

Kurz war ich versucht nachzufragen, aber ich kannte sie genauso gut wie sie mich. »Natürlich«, sagte ich deswegen nur und warf einen Blick auf meine Armbanduhr. »Lass uns …« Ich hielt inne, als ich bemerkte, dass die Zeiger sich nicht bewegten. Mehrmals tippte ich auf das goldene Zifferblatt, nichts geschah. »Meine Uhr ist stehen geblieben.«

Sie holte tief Luft. »Sag bloß.«

Warnend blinzelte ich zu ihr hoch. »Spar dir das.«

»Ich kann nicht, das ist eindeutig ein Zeichen.« Sie klopfte mit der Fingerspitze auf das Glas und legte sich gleichzeitig theatralisch eine Hand an die Brust. »Ex hoc momento pendet aeternitas.«

Meine Mundwinkel zuckten, weil sich die Bedeutung dieser Phrase immer auf dieselbe, angenehm warme Weise um meine Lippen schmiegte. Es war nur eine lateinische, altertümliche Floskel – aber für uns war es gleichzeitig ein Versprechen.

An diesem Augenblick hängt die Ewigkeit.

Niemand liebte und lebte diese Worte so wie die Frau vor mir. Sie sagte sie oft, meistens dann, wenn es ganz und gar nicht stimmte. An Abenden wie diesem, an dem wir vorhatten, gegen etliche Hausordnungen zu verstoßen, indem wir auf das Dach des höchsten Gebäudes der Universität kletterten, um den besten Ausblick auf einen Meteorschauer zu haben. Wenn es eigentlich heißen müsste: An diesem Augenblick hängt unser Leben. Dennoch widersprach ich ihr nie, das tat keiner von uns. Denn manchmal, in den allerbesten Momenten, kam es einem tatsächlich wie dasselbe vor.

Also schüttelte ich auch diesmal nur den Kopf und verließ neben ihr die Kirche. Draußen roch es nach Rhododendren, dem Wasser der Cam und den Düften, die aus den offenen Wohnheimfenstern drangen: Räucherstäbchen, Papier und Tinte, Waschmittel und Parfums. Bruchteile von unsagbar vielen Leben, die stets betonten, wie außergewöhnlich unseres war.

Ich neigte das Gesicht nach hinten, bis es in das unverfärbte Mondlicht eintauchte. Und ich lächelte und atmete und lebte und erkannte wieder einmal: An diesem Augenblick hing vielleicht nicht die Ewigkeit, aber alles, was wir waren.

Erst einige Zeit später würde ich mir wünschen, ich hätte etwas anderes begriffen: Wenn alles daran hing, dann konnte auch alles fallen.

1

MABEL

»Jetzt warte!«

Ich wickelte meinen Mantel enger um mich und versuchte, mit Zoe Schritt zu halten. Ihr blondes Haar wehte hinter ihr her, im gleichen Schwung, den ihr silbrig glänzendes Tüllkleid vorgab. Die eisige Abendluft prickelte auf meiner Nasenspitze, als ich meine beste Freundin eingeholt hatte und mich ihrem Tempo anschloss. »Das ist eine verdammt schlechte Idee.«

Zoe seufzte und hakte sich bei mir unter. Ihr Mantel war hochwertig, der Stoff samten und um einiges wärmer als meiner. Das löchrige, schwarze Ding war im Frühling und Herbst meine Übergangsjacke, im Winter in Kombination mit dicken Wollpullovern mein einziger Schutz gegen die Kälte. Jetzt hatten wir zwar Oktober, aber schon die herbstliche Frische reichte aus, um geschickt unter den Stoff zu kriechen und mir eine Gänsehaut zu bescheren.

»Die besten Geschichten fangen mit schlechten Ideen an.«

Mit einem breiten Grinsen reichte Zoe mir die halb geleerte Weinflasche. Zögerlich griff ich danach. Ich hatte nach der Bibliothek keine Zeit mehr gehabt zu kochen, ehe Zoe in die Küche gestürmt kam. Sie hatte mich daran erinnert, dass ich ihr in einem schwachen Moment versprechen musste, sie heute zu begleiten. Mehr als eine halbe Tafel Schokolade hatte ich seit dem Frühstück nicht gegessen, der Wein würde mir also direkt in den Kopf steigen. Andererseits würde ich diesen Abend niemals nüchtern überstehen.

Entschieden nahm ich einen tiefen Schluck. »Nenn mir eine«, brachte ich mit unterdrücktem Husten hervor.

Zoe zog ihre volle Unterlippe zwischen die Zähne und mich um eine Ecke. »Als ich fünfzehn war, hatte ich die Idee, im Haus meiner Nachbarn eine Party zu schmeißen, während sie im Urlaub waren. In dieser Nacht hat mich der heißeste Kerl der gesamten Schule das erste Mal geküsst.«

»Hat das Ganze nicht damit geendet, dass du von der Veranda gefallen bist, dir ein Bein gebrochen und drei Monate Hausarrest bekommen hast?«

Schwach lächelnd betrachtete ich unsere Schatten, die neben uns über die Gebäude huschten. Wir befanden uns mittlerweile auf dem Campus des Trinity Colleges, der großen kleinen Schwester von Trinity Hall, wo Zoe und ich studierten und lebten. Ich fühlte mich dort um einiges wohler: Die Häuser waren gedrungener, die Innenhöfe umschlungen von hellem Stein und im Sommer durchzogen von wild wuchernden Rosenbüschen. Dicht an unserem Wohnhaus entlang floss die Cam, in der man abends die Sonne versinken sah. Ich liebte das Gemütliche, das sich auf Anhieb nach einem Zuhause angefühlt hatte. Trinity College, das nur wenige Gehminuten entfernt lag, war größer, beeindruckender, reicher. Unsympathischer, hatte ich während meines ersten Besuchs an der University of Cambridge gedacht. Allerdings hatte es die bessere Bibliothek.

Die Wren Library machte gerade zu. Ein paar Gestalten verließen das Gebäude und eilten den säulenbesetzten Durchgang entlang. Im Laternenschein wirkten sie wie Ameisen, als sie sich über den Campus verteilten, um zurück zu ihren Wohnhäusern zu gehen. An den meisten Tagen war ich eine von ihnen. Eine der Studierenden, die erst durch den tiefen Gong aufschreckte und hastig zusammenpackte. Die sich die buchbepackte Ledertasche umhängte, sodass sich die Schultern beugten und man das Gefühl hatte, jederzeit auf dem Asphalt zusammenzubrechen. Die sich das Haar unter den Mantelkragen stopfte, weil sie in der Morgensonne vergessen hatte, dass sie einen Schal benötigen würde, sobald sie die Bibliothek verließ. In diesem Moment wäre ich lieber wieder eine von ihnen gewesen, als neben Zoe herzulaufen.

»Damals war ich noch ein Kind, jetzt sind wir erwachsen.« Fordernd klackerte sie mit den Fingernägeln gegen die Flasche.

Widerwillig gehorchte ich und nahm noch einen Schluck. Der Wein war zu süß, aber so trank Zoe ihn am liebsten. Lieblich. Ein Wort, das auch zu ihr passte. Mit den großen, kornblumenblauen Augen, den Spinnenbeinwimpern und dem hellblonden Haar war sie der Inbegriff von Feminität. All ihre Konturen waren weichgezeichnet, als hätte man einen Filter über sie gelegt. Ihre Bewegungen waren ein wenig tänzelnd, ihr Lachen nie zu laut, ihre Kleidung gut sitzend und fließend. Irgendetwas an ihr glitzerte immer. Heute waren es die überdimensionalen Creolen, an denen sie beim Anziehen ihres Kleides mehrmals hängen geblieben war.

»Wir sind zwanzig, Zoe. Und letzte Woche hab ich gesehen, wie du versucht hast, Butter mitsamt der Plastikverpackung in der Mikrowelle zu erhitzen«, erinnerte ich sie, während ich ihr die Flasche zurückgab.

Sie verdrehte die Augen. »Und ist etwas passiert?«

Ich schnaubte. »Nein, weil ich rechtzeitig den Stecker gezogen habe.«

»Siehst du.« Sie zwinkerte mir zu. »Und genau deswegen hab ich dich gebeten, heute Abend mitzukommen. Damit du den Stecker ziehen kannst, wenn es nötig wird. Aber erst dann, und nicht, bevor auch nur irgendetwas passiert ist.«

Vielsagend blinzelte sie zu mir hoch. Ihr goldener Lidschatten schimmerte, als wir unter einer der rostbesetzten Laternen hindurchliefen. Ihr Angebot, mir ebenfalls etwas davon aufzutragen, hatte ich abgelehnt. Die einzige Schminke, die ich besaß und benutzte, war eine Sammlung von Lippenstiften. Wenn ich mich selbst belohnen wollte, ging ich ins Kaufhaus in der Innenstadt und gönnte mir eines der überteuerten Produkte. Ich wusste, dass es unklug war, so viel Geld für etwas auszugeben, das ich auch günstiger haben könnte und noch dazu im Alltag kaum nutzte. Aber ich liebte alles daran: die verschiedenen Nuancen, die verspielten Farbbezeichnungen, die aufwendig designten Hüllen und vor allem das Gefühl, das es mir gab, mit der geliehenen Röte auf den Lippen herumzulaufen. Ich fühlte mich schön. Schön, sinnlich und stark. Lippenstifte waren der einzige Luxus, den ich mir zugestand. Heute trug ich Mona Lisas Lächeln. Ein mattes, dunkles Rot, das mich an die backsteinernen Häuser meiner Heimatstadt erinnerte. Eine Farbe für Museumsbesuche, Herbsttage im Wald oder gemütliche Filmabende. Nicht unbedingt passend für eine gleichermaßen elitäre und illegale Party in einem Universitätsgebäude.

Ich war mir sicher, dass die Leitung nichts davon wusste. Die Hausordnung der University of Cambridge ließ wenig Interpretationsspielraum, wenn es darum ging, was in den Häusern und generell auf dem Gelände der Colleges vor sich gehen durfte – und was nicht. Im Gegensatz zu Zoe hatte ich jede einzelne Klausel gelesen und versucht, sie darauf hinzuweisen, dass das, was wir vorhatten, gegen ein Dutzend Regeln verstieß. Natürlich vergebens.

Es war keine Woche her, dass Zoe in mein Zimmer reingeplatzt war, als ich mich gerade bettfertig gemacht hatte. Ihr Haar war zerzaust gewesen, ihre Augen glasig von Alkohol und Vorfreude. »Alles total geheim und exklusiv«, hatte sie gesagt. Ihre Stimme war vor Nervosität höher gewesen als ohnehin schon, was aber eher weniger an der Feier als vielmehr an demjenigen gelegen hatte, von dem die Einladung gekommen war.

Ich räusperte mich. »Wo hast du diesen Kerl noch mal kennengelernt?« In dem klitzekleinen Wort Kerl schwang all das mit, was ich vor Zoe eigentlich verbergen wollte.

Sie hörte es natürlich trotzdem. Ihr Tonfall klang schlagartig gereizt. »Auf der Party, zu der du mich letztes Mal nicht begleiten wolltest. Und zum hundertsten Mal: Ashton ist kein gemeingefährlicher Psychopath!«

Ich griff nach der Flasche und nahm einen großen Schluck, um die Buchstabenketten fortzuspülen, die ich lieber nicht aussprechen sollte. Zoe war nicht die angenehmste Streitpartnerin. Auch ohne Argumente schaffte sie es immer, das letzte Wort zu haben. Und meistens war das eines, das mir noch tagelang zusetzte. »Habe ich doch gar nicht gesagt.«

»Aber gedacht.«

Ich verdrehte die Augen, schwieg jedoch. Die Typen, die man auf unseren Studierendenpartys kennenlernen konnte, hatten meines Kenntnisstands nach allesamt das Potenzial, Psychopathen zu sein. Oder zumindest arrogante, selbstverliebte Mistkerle.

Unsere Silhouetten wurden verwaschen in den bodentiefen Fenstern reflektiert, als wir die Bibliothek hinter uns ließen und in Richtung des Großen Hofs abbogen. Den Rest des Weges schwiegen wir. Wenn Zoe aufgebracht war, ließ man sie am besten in Ruhe. Sie war kein nachtragender Mensch, und ihre Vorfreude auf den Abend war mit Sicherheit zu groß, um sich lang darüber zu ärgern, dass ich sie nicht teilte. Wir waren erst seit einem Jahr befreundet, aber da wir sowohl Flurnachbarinnen waren als auch gemeinsam Englisch studierten, kannten wir einander ziemlich gut.

Das Haus, auf das wir nach wenigen Minuten zuliefen, war mir fremd. Im Grunde sahen die meisten Universitätsgebäude gleich aus: gotische Bauten, die wie Schlösser in den Himmel ragten. Lange Steinkorridore, auf denen Schritte ewig nachhallten. Wendeltreppen, die sich emporstreckten, und verwinkelte Flure, die einem das Gefühl gaben, jederzeit auf etwas Verborgenes stoßen zu können.

Die efeuumrankte Fassade, auf die wir zusteuerten, sah aus wie all die anderen in Cambridge. Mit Ausnahme davon, dass einige Fenster erleuchtet waren, obwohl das College längst schlief. Bevor wir die Holztür erreichten, drehte Zoe sich zu mir um. Mit strengem Blick musterte sie mich, zupfte an meinem dunklen Haar herum und pflückte ein paar Fussel von meinem Mantel. Ich wusste, dass es Zoe immer in den Fingern juckte, mich in ihre Kleider zu stecken, wenn wir ausgingen. Nicht, weil sie sich für mich schämte, sondern weil sie vermutete, ich würde es tun. Dabei tat ich das nicht. Ich machte kein Geheimnis daraus, dass ich wenig Geld hatte. Zoes Eltern waren reich, meine tot. So war es eben.

»Gib dir ein bisschen Mühe, okay?«, bat sie mich jetzt, während sie die leere Flasche hinter eine der Säulen stellte. »Sei einfach offen und verurteile sie nicht sofort. Das sind nette Leute. Echt.«

Ich traute meiner Stimme nicht, deswegen nickte ich nur brav. Zoe kannte diesen Kerl erst seit ein paar Wochen, und um ehrlich zu sein, fand sie ständig Leute nett, um die ich am liebsten einen weiten Bogen geschlagen hätte. Zoe ging an alle vorurteilsfrei und offen heran und entdeckte innerhalb von Minuten in jedem etwas Gutes. Ich hingegen war begabt darin, in jedem auf Anhieb etwas Schlechtes zu finden. Keine Eigenschaft, auf die ich sonderlich stolz war. Ich wäre gern mehr wie meine beste Freundin, gleichzeitig wünschte ich mir manchmal, sie wäre mehr wie ich. Dann hätten wir nicht ständig derart starke Diskrepanzen, was die Gestaltung unserer Freitagabende anging.

Zoe schüttelte ihr Haar aus und öffnete den obersten Knopf ihres Mantels, ehe sie mit gestrafften Schultern auf die Tür zuging und klopfte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis diese halb geöffnet wurde. Dumpfe Musik schlüpfte durch den Spalt zu uns hinaus, während sich ein breitschultriger Typ mit Kapuze in den Rahmen stützte. Sein Blick wanderte an uns hinab. Als er die Laufmasche meiner Strumpfhose entdeckte, runzelte er die Stirn. »Codewort?«

Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht zu prusten.

Zoe stieß mich warnend in die Seite und lächelte ihm zu. »Sturnus vulgaris«, sagte sie mit gesenkter Stimme.

Er nickte langsam und öffnete die Tür weiter. »Kommt rein. Flur runter, rechts abbiegen, immer der Musik nach.«

Ehe ich mich versah, wurde ich von Zoe am Arm gepackt und hineingeschleift. »Stu… was?«, fragte ich halblaut.

»Sturnus vulgaris.« Ungeduldig zog sie mich den hohen Korridor entlang. Der Boden war mit einem Schachmuster ausgelegt, an den Wänden hingen Ölporträts in Goldrahmen. Was auch immer für ein Gebäude das hier war, es spiegelte den konservativen Charakter, den man Trinity College nachsagte, in jedem Fall wider. »Das ist der biologische Name des Stars. Du weißt schon, der Vogel.«

Diesmal gab ich dem Prusten nach. »Echt jetzt?«

Zoe bedachte mich mit einem wütenden Blick. »Mabel, du hast es versprochen!«

»Schon gut.« Ich öffnete meinen Mantel, während wir nach rechts abbogen. »Immerhin mussten wir keine Brotkrumen ausstreuen, um Einlass zu erhalten.«

»Stare sind deutlich eindrucksvoller, als du denkst«, sagte eine tiefe Stimme vor uns.

Zoe und ich blieben gleichzeitig stehen und starrten den jungen Mann an, der ein paar Meter entfernt an einer Säule lehnte. Sein Kopf befand sich auf einer Höhe mit dem einer Skulptur, die darauf stand. Beide hatten leichte Locken, beide ein winziges Lächeln im symmetrischen Gesicht. Er ließ seinen Blick über meine Freundin streifen, ehe er sich auf mich fokussierte. Während Zoe ein strahlendes Lächeln aufsetzte, breitete sich auf meinen Armen eine Gänsehaut aus. Das musste dann wohl Ashton sein.

»Inwiefern das?«, fragte ich.

Mit langsamen Bewegungen stieß er sich von der Säule ab und kam auf uns zu. »Sie sind sehr klug und aufmerksam. Außerdem haben sie die am besten ausgebildete Syrinx aller Singvögel und können deswegen so gut wie alles imitieren.«

»Sie treten ziemlich oft in Schwärmen auf, oder?«, kramte ich mühsam das einzige Wissen über die Vogelart heraus, das ich hatte. »Ich hab mal gelesen, dass sie an vielen Orten sogar bekämpft werden, weil sie als Schädlinge gelten.«

»Menschen neigen dazu, Dinge zu bekämpfen, von denen sie sich bedroht fühlen. In diesem Fall ist das aber eher vergebens. Die Stare sind nach wie vor überall.« Er schmunzelte und musterte Zoe erneut. Mit den Fingerspitzen strich er ihr eine flachsblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wenn du mich fragst, sind sie die eigentlichen Könige des Himmels.« Sacht küsste er sie auf die Wange. »Hallo, Anima.«

Ich fragte gar nicht erst nach, ob das ein Kosewort war oder er ihren Namen schlichtweg vergessen hatte. Vermutlich war das auch so ein Sturnus-irgendwas-Ding.

Zoe errötete, brachte ein leises »Hi« hervor und lächelte glückselig. Meine Anwesenheit schien sie vergessen zu haben.

Ashton nicht. Interessiert wandte er sich mir zu. »Dann bist du wohl die sagenumwobene Freundin. Zoe hat viel von dir erzählt. Sie sagt, du bist der klügste Mensch, dem sie je begegnet ist.«

Mir war nicht ganz klar, ob eine Spur Spott in seiner Stimme mitschwang. Alles an ihm wirkte auf so unechte Art perfekt und glatt, dass ich das Gefühl hatte, eine Fassade anzustarren. Es war unmöglich zu sagen, was – oder wer – sich darunter verbarg. Vorsichtshalber sparte ich mir den Versuch, das Lächeln zu erwidern. »In dem Fall wäre ich nicht hier. Ich bin nicht wild darauf, von der Uni zu fliegen, weil ich auf einer illegalen Party erwischt wurde.«

Zoe sah mich entgeistert an, doch Ashton lachte. Warm und golden floss das Geräusch durch den dunklen Flur. »Keine Sorge. Wir werden nie erwischt.« Er zwinkerte, ehe er sich umdrehte und uns zu verstehen gab, ihm zu folgen.

Wir steuerten auf einen Raum am Ende des Flurs zu. Die Musik drang unter einer schlichten Doppeltür hindurch. Ashton wartete, bis wir hinter ihm zum Stehen kamen, ehe er sie aufstieß.

Hätte Zoe mich nicht über die Schwelle gezogen, hätte ich vermutlich erst einmal dort verharrt, um all die Eindrücke zu verarbeiten. Es war einfach zu … unerwartet. Ich ging zwar nicht oft auf Studierendenpartys, aber ich wusste dennoch, dass sie anders waren als das hier.

Ein großer Raum, fast schon ein Saal. Musik, langsam, mit wenig Bass und nur so laut, dass sich die Gesprächsfetzen gerade noch durchsetzen konnten. Dämmriges Licht, hervorgerufen durch Kerzen, die auf mehreren Holztischen standen. Samtsofas und dunkle Teppiche. Ölgemälde an den Wänden, mit Gesichtern, die missbilligend auf uns hinabsahen. Schlichte Farben, sowohl bei den Möbeln als auch bei der Kleidung der Anwesenden. Schwingende Kleider, Blusen mit verzierten Stehkrägen, taillierte Röcke. Schlichte Rollkragenpullover, das eine oder andere Jackett, das über eine Sessellehne geworfen worden war. Gerade geschnittene Hosen, Lederschuhe, Socken mit besticktem Saum.

Innerhalb von Sekunden erkannte ich die Fehler in dieser Szene. Etwa ein Dutzend davon in Form von Menschen, die nicht hineinpassten. Deren Hemden zu viele Falten oder deren Kleider zu farbenfroh waren. Zoe war einer davon, weil ihr Kleid silbrig glänzte. Ich, weil … wegen allem.

Unbehaglich grub ich die Finger in den ausgeleierten Saum meines grauen Wollpullovers. Die Sicherheitsnadel, die meinen Rock oben zusammenhielt, stach unangenehm in meine Taille, als ich Zoe hineinfolgte.

Ich konnte nicht sagen, wie viele Menschen hier waren. Einige saßen auf den Polstermöbeln, andere lehnten an den blassgrau gestrichenen Wänden. An einem der Tische am Ende des Raums spielten zwei junge Männer Schach, auf der anderen Seite küsste sich ein Paar am leicht geöffneten Fenster. In der Mitte des Saals klimperten zwei Frauen auf einem Flügel herum, der gleichermaßen von Gläsern und Kerzen bedeckt war.

Absolut schräg, dachte ich, als Zoe mir mit großen Augen zuraunte: »Ist das nicht absolut cool?«

Ehe ich eine Antwort hervorbringen konnte, hatte ich ihre Aufmerksamkeit auch schon wieder verloren. Ashton hatte nach ihrer Hand gegriffen und zog sie mit sich auf einen alten Servierwagen mit Getränken zu, der sich am Ende des Zimmers befand.

Mit ungutem Gefühl blickte ich ihrem Tüllkleid nach, das sich zwischen den Silhouetten der anderen verlor. Zoe hatte schon einen Haufen komischer Typen kennengelernt, aber dieser hier schien eine Nummer für sich zu sein.

Ein paar Minuten lang stand ich nur da und nestelte am Stoff meines Mantels herum, den ich mir über einen Arm gehängt hatte. Je länger ich mich umsah, desto stärker überkam mich das Gefühl, dass ich mich nicht auf einer Party befand, sondern auf einem Sektentreffen. Am liebsten hätte ich meinen Taschenspiegel rausgeholt und kurz hineingeblickt – das war das Einzige, was immer ein wenig half, wenn ich mich derart einsam und fehl am Platz fühlte.

Ich zuckte zusammen, als sich jemand vor mich schob. Ein Typ mit schulterlangem schwarzem Haar und verschlagen wirkendem Gesicht. Vielleicht lag das aber auch nur an seinem Grinsen, das sich vertiefte, während er mich eingehend musterte. »Hallo, Anna Karenina. Du siehst verloren aus.«

»Ich hab kein Interesse daran, gefunden zu werden.« Ich wich einen halben Meter nach hinten. »Und mit mir gibt es definitiv eher Krieg als Frieden.«

Hinter mir ertönte ein Pfiff, ehe kurz darauf ein zweiter Mann vor mir stand. Das rötliche Haar war kürzer, dafür war das Grinsen ähnlich breit, als er erst mich und dann seinen Freund ansah. »Belesen und bissig. Herausragende Mischung. Dein Mitbringsel, Victor?«

Mitbringsel? Ich war dermaßen perplex, dass ich es nicht schaffte, etwas zu erwidern. Der andere schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nicht. Jack?« Er klopfte dem Typen, der hinter ihm stand, auf die Schulter, sodass dieser sich zu uns umdrehte. »Gehört sie dir?«

Das wurde ja immer besser. Mein Mund öffnete sich, aber erneut war ich zu langsam. Jack trat mit zwei Schritten zu mir heran, sein Blick glitt über mein Gesicht. »Bedaure«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Aber wenn niemand Anspruch erhebt, übernehme ich das gern.« Er hob die Hand und ließ eine meiner Haarsträhnen zwischen seinen Fingern entlanggleiten.

Gut. Das reichte. Entschlossen schlug ich seine Hand weg und wich zurück. »Auch wenn es euch schwerfällt, das zu begreifen: Nicht alles auf dieser Welt gehört euch, klar? Demjenigen, der mich noch mal anfasst, ziehe ich liebend gern einen dieser protzigen Kerzenständer über den Kopf.«

Meine Worte beeindruckten sie eher wenig. Stattdessen wurde ihr kollektives Grinsen nur noch herausfordernder. Victor seufzte theatralisch und legte seinen Freunden je eine Hand auf die Schulter. »Gott, wir müssen herausfinden, wem sie gehört. Ich gebe meinen letzten Pokergewinn fürs Teilen.«

Hitze stieg in meine Wangen. Mir blieben nur zwei Möglichkeiten. Entweder ich griff wirklich nach dem nächstbesten Gegenstand, oder ich verschwand von hier. Zumindest vorrübergehend. Mein Blick huschte zu Zoe. Sie stand mit Ashton an eine Wand gelehnt und lachte über etwas, das er sagte. Sie wirkte nicht so, als hätte sie Interesse daran, gerettet zu werden. Und auch nicht so, als wäre sie begeistert, wenn ich nach wenigen Minuten den ersten Streit anzettelte.

Ohne ein weiteres Wort drehte ich mich um und schob mich zwischen den Umstehenden hindurch. Musik und Stimmen wehten mir nach, bis die Tür hinter mir ins Schloss fiel.

Je weiter ich mich von der seltsamen Party entfernte, desto ruhiger wurde mein Puls. Nach ein paar Minuten schaffte ich es, mich auf meine Umgebung zu konzentrieren. Wenn ich ausblendete, wieso ich hier war, konnte ich dem Ganzen vielleicht doch noch etwas abgewinnen. Man bekam immerhin nicht alle Tage die Chance, sich allein in einem dieser Gebäude aufzuhalten. Cambridges Hallen hatten schon bei Tag etwas Erhabenes an sich, in der Nacht wirkten sie umso verwunschener.

Ich stieg eine Wendeltreppe hinauf und schlenderte die Flure entlang, deren dunkle Wände mit kupferfarbenen Lampenfassungen versehen waren. Etliche Türen befanden sich links und rechts, allesamt offen stehend. Ein paar Arbeitszimmer und freie Seminarräume, die nur mit Stühlen bestückt waren. Als ich am Ende eines Flurs ankam, hielt ich inne.

Die letzte Tür war die einzige, die verschlossen war. Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter, aber nichts passierte. Ich biss mir auf die Unterlippe und sah über die Schulter nach hinten. Bis auf den entfernten Klang der Musik war alles still und verlassen. Ich hätte zurückgehen und nach Zoe sehen sollen, aber irgendetwas hinderte mich daran. Es lag nicht nur an der Aussicht, ein weiteres, wenig bereicherndes Gespräch führen zu müssen. Ich wollte unbedingt wissen, was sich hinter dieser Tür verbarg. Neugierde war schon immer meine verhängnisvollste Eigenschaft gewesen.

Mit einem unterdrückten Seufzen gab ich ihr nach und zog meine Haarklammer heraus, die meinen herauswachsenden Pony zur Seite hielt. Wenn ich ohnehin etwas Illegales tat, indem ich hier war, spielte das auch keine Rolle mehr. Außerdem musste man manche Fähigkeiten ab und zu auffrischen.

Nachdem meine Mutter gestorben war, war ich zu meiner Tante und ihrem Sohn gezogen. Sie lebten in einer Kleinstadt in der Nähe von Brighton, in der Jugendlichen schnell langweilig wurde. Vermutlich einer der Gründe, weshalb mein Cousin bereits zu Schulzeiten auf ein beträchtliches Vorstrafenregister zurückblicken konnte. Ich war fünfzehn, als er mir beibrachte, ein Türschloss mit einem Draht zu öffnen. Oder einer Haarklammer.

Ich brauchte dreißig Sekunden, bis das Schloss mit einem Klacken aufsprang. Mit einem triumphierenden Lächeln schob ich mich hinein. Es dauerte einen Moment, bis meine Augen den Raum im dämmrigen Licht aus dem Flur erfassen konnten.

Er war nicht allzu groß. Die einzigen Möbelstücke waren ein mächtiger Schreibtisch aus Eichenholz mit passendem Stuhl mitten im Raum und ein Samtsessel mit Beistelltisch, die vor dem Fenster standen. Die Nacht dahinter war kaum zu erkennen, so viel Efeu wucherte hinter der Scheibe.

Der Rest des Zimmers bestand aus Büchern, in der Luft lag der Duft von altem Papier und Druckerschwärze. Mein Puls verlangsamte und meine Schultern entspannten sich, sobald ich ein paarmal tief eingeatmet hatte. Die Farben der Einbände waren gedeckt, die meisten grau und schwarz. Vereinzelt erkannte ich goldene Ziffern auf den Buchrücken, verschnörkelte Initialen oder lateinische und altgriechische Begriffe. Das hier war anders als die öffentlichen Bibliotheken der Colleges. Die Werke strahlten etwas Erhabenes aus, jedes einzelne wirkte erlesen und wichtig. Selbst diese winzige Bücherei war elitär.

Ich legte meine Klammer auf dem Schreibtisch ab, ehe ich auf die deckenhohen Regale zulief. Behutsam strich ich mit den Fingerspitzen über die Rücken, zögerte lange, bis ich es wagte, ein Buch herauszuziehen. Es kam mir vor, als würde ich einem Körper ein Organ entnehmen. Diese Bände formten ein Kunstwerk, das ich unbedingt verstehen wollte. Vorsichtig streichelte ich über den anthrazitfarbenen Einband. Die goldenen Buchstaben, die dort eingestanzt waren, ergaben Worte auf Latein, und meine Schulkenntnisse reichten nicht aus, um sie zu verstehen. Tröstend strich ich eine zerknitterte Ecke glatt.

Ehe ich dazu kam, es aufzuschlagen, hörte ich das Räuspern hinter mir. Erschrocken fuhr ich herum und presste das Buch schützend vor meine Brust.

Er stand in der geöffneten Tür, das Gesicht im Schatten verborgen. Hastig scannte ich seine Statur, den großen, schlanken Körper, die verschränkten Arme, das etwas wirre Haar. Als er einen Schritt auf mich zu machte, sah ich sein Gesicht. Ein ausgesprochen attraktives Gesicht mit kantigem Kinn und einem ausdrucksstarken Paar dunkler Augen. Sie verengten sich etwas, während er mich musterte.

Seine Stimme blieb dennoch gelassen. »Der Bereich ist für Gäste eigentlich verboten.« Gemächlich trat er ein, die Tür lehnte sich knarrend hinter ihm an.

»Und du bist keiner?«, erwiderte ich ebenso ruhig, obwohl mein Herz heftig klopfte. Wer auch immer er war, er schien nicht sonderlich versessen darauf, mich unverzüglich hinauszuwerfen. Das konnte gute oder schlechte Gründe haben. Gut, wenn er sich schlichtweg nicht für mich interessierte. Schlecht, wenn er die Sache auf andere Weise klären wollte.

»Nicht so sehr wie du.« Ich spürte seinen Blick auf mir, obwohl seine Gesichtszüge wieder im Dunkeln verschwunden waren. Mittlerweile war er beinahe beim Fenster angelangt und überließ mir so den bestmöglichen Fluchtweg.

Meine Muskeln lockerten sich. »Ich hatte nicht vor, Unheil anzurichten. Ich hab mich nur verlaufen«, meinte ich mit einem hoffentlich verlegenen Lächeln.

»Verlaufen?« Er setzte sich in den Lesesessel. Der grüne Samt passte farblich gut zu dem Olivton seines Pullovers. »Normalerweise ist hier abgeschlossen.«

»Dann wurde das wohl diesmal vergessen.« Langsam strich ich über die zerfledderte Ecke des Buchs, nur, um seinen forschenden Blick nicht erwidern zu müssen.

»Du bist keine sonderlich gute Lügnerin.«

Vielleicht war da ein kleines Lächeln in seiner Stimme. Leider wusste ich, dass er recht hatte. Ich hatte nie ein Problem damit gehabt, die Wahrheit zu sagen. Im Gegenteil: Oftmals wäre es für mein Sozialleben besser, wenn es mir leichter fiele zu lügen. »Ich übe zu selten, nehme ich an.«

Er lehnte sich vor und bettete seine Unterarme auf den Knien. »Eine ehrliche Einbrecherin also. Hast du vor, etwas zu stehlen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich war nur neugierig.«

Er runzelte die Stirn, sodass sich eine tiefe Falte zwischen seinen Brauen bildete. Sie waren dunkel, ebenso wie sein Haar und die Augen, die in dicht bewimperten Höhlen lagen. Sein Gesicht hatte etwas Stilles, Klassisches an sich. Es erinnerte mich an die Profile, die auf alten Romanen abgebildet waren. »Worauf?«

»Auf das, was jemand, der alles hat, am allermeisten beschützen möchte.« Ich nickte zu den Bücherregalen. Ihre Energie drückte sich gegen meine Wirbelsäule, sodass ich aufrechter stand und meinen Blick mit unangebrachtem Stolz über sie wandern ließ. »Ich bin positiv überrascht. Bücher zu schützen, das ist … sympathisch.«

Er lachte – ein rauer, heiserer Ton. »Ich möchte dich nicht enttäuschen, aber ich glaube, es geht nicht so sehr um den immateriellen Wert. Das sind ausnahmslos Erstausgaben. Allein das Buch, das du da in den Händen hältst, ist mehr wert als jedes Gemälde im Eingangsbereich.«

Ich fuhr zusammen und starrte auf das Exemplar, an dem ich seit fünf Minuten herumspielte Hastig drehte ich mich um und stellte es zurück an seinen Platz, ehe es in meinen Händen zu Staub zerfallen konnte.

»Verdammt.« Ich klopfte mir die Finger am Pullover ab, als könnte ich so den letzten Beweis meiner potenziellen Schuld loswerden. »Davor muss man doch gewarnt werden.«

»Ich denke, das sollte das Schloss an der Tür übernehmen«, erwiderte er spöttisch.

Ich seufzte und zog den Schreibtischstuhl hervor, sodass ich mich setzen konnte. Vermutlich wäre es klüger, zurückzugehen, doch seltsamerweise erschien mir seine Gesellschaft angenehmer als die der anderen.

»Also«, setzte ich an, nachdem ich mich zurückgelehnt hatte, »was treibt dich hierher?«

»Ruhe und Whisky.« Er griff zum Beistelltisch, hob fragend die halb gefüllte Kristallflasche in meine Richtung. Ich schüttelte den Kopf und sah ihm dabei zu, wie er sich zwei Fingerbreit der goldgelben Flüssigkeit in ein bauchiges Glas einschenkte. »Auf welchem College bist du?«, fragte er und ließ sich im Sessel zurücksinken.

»Trinity Hall. Und du?«

Er deutete um sich. »Trinity College. Wir sind also Nachbarn. Trotzdem hab ich dich noch nie gesehen.«

Ich lachte. An dieser Universität gab es fast fünfundzwanzigtausend Studierende. Dadurch, dass ich meine Zeit außerhalb der Seminare meist mit Lernen verbrachte, kannte ich neben den Leuten in meinem Wohnhaus nur diejenigen genauer, die ich regelmäßig in den bücherbesetzten Hallen traf. »Vergiss am besten einfach, dass sich daran etwas geändert hat. Ich bin im Grunde nur ein parasitärer Eindringling auf diesem elitären Event.«

»Ich bin sicher, meine Freunde wären beeindruckt von deinem Wortschatz.«

Meine Mundwinkel sackten hinab. Freunde. Natürlich. Keine Ahnung, worauf ich insgeheim gehofft hatte. Dass er der Sohn des Hausmeisters war, der sich heimlich hergeschlichen hatte? Dabei war es offensichtlich: Er war kein Fehler in dieser Szene, er passte perfekt hinein. Dass er hier war, bedeutete, dass er zu ihnen gehörte. Ein weiterer Grund, warum wir einander bisher nie begegnet waren. Selbst wenn ich mich mehr unter Leute gemischt hätte, hätte ich mit Sicherheit nichts mit jemandem wie ihm zu tun gehabt. Es gab Dinge, die passten einfach nicht zusammen.

»Verstehe. Du bist einer von denen.«

Er hob die Augenbrauen und lehnte sich zu mir vor, sodass sein Gesicht in den Lichtstrahl fiel. Da war eine zarte Narbe, die sich über seine rechte Schläfe zog. Ein silbriger Faden auf seiner ansonsten makellosen Haut. »Wenn du das so sagst, klingt das nach einem Verbrechen.«

»Nein.« Ich lächelte halbherzig. »Zumindest keines, für das ich dir die Schuld geben würde. Man sucht sich nicht aus, in welche Welt man hineingeboren wird.«

»Und welche wäre das bei dir?«

»Keine, mit der du in Kontakt geraten willst.« Meine Fingerspitzen tasteten über die Laufmasche, die oberhalb meines Knies in einem Nagellackklecks endete. Als ich seinen fragenden Blick bemerkte, seufzte ich. »Okay. Sieh mich an.« Ich erhob mich und trat am Tisch vorbei, blieb ein paar Schritte vor ihm stehen. »Sieh dir meine Kleider an. Meine abgetretenen Schuhsohlen, der stumpfe Glanz des Lacks. Das Loch in meiner Strumpfhose, die ich trotzdem so lange tragen werde, bis sie auseinanderfällt. Der Rock, der Vintage ist – aber nicht, weil ich in angesagte Secondhand-Stores gehe, sondern weil er von meiner Großmutter stammt.« Ich hob den schwarzen Stoff an, den ich selbst gekürzt hatte. Dann griff ich nach meiner fransigen Ponysträhne. »Sieh dir den ungleichmäßigen Schnitt an, der verdächtig nach Küchenschere aussieht. Die dunklen Ringe unter meinen Augen und die Tintenkleckse an meinen Fingerspitzen.« Auffordernd nickte ich ihm zu. »Was sagt dir das alles?«

Er brauchte keine zwei Sekunden. »Du bist Stipendiatin.«

Lächelnd verbeugte ich mich und lehnte mich an den Tisch in meinem Rücken. »Das reinste Klischee, nicht?«

»Jeder Mensch erfüllt auf die eine oder andere Weise ein Klischee. Wir wiederholen uns in allem, was wir sind. Ganz gleich, wie besonders und einzigartig wir gerne wären. Wir sind immer nur das Abbild eines anderen.« Einen Moment lang wirkte sein Gesichtsausdruck so verloren, dass ich schwer schlucken musste. Ehe ich etwas erwidern konnte, schüttelte er sacht den Kopf. »Aber dieses Klischee ist immerhin eines, auf das du stolz sein kannst.« Und das war alles. Kein Spott, keine Überheblichkeit, keine gespielte Anerkennung. Seine Reaktion überraschte mich. Und sie gefiel mir. Mehr, als ich ihm zugestehen würde.

Ich neigte den Kopf und musterte ihn erneut. Alles an ihm war sauber und ordentlich. Seine Kleidung war schlicht, aber auch ohne erkennbare Markenzeichen war sichtbar, wie teuer sie gewesen war. Seine Haut sah – abgesehen von der feinen Narbe – gesund, nahezu makellos aus. Sein Haar glänzte, und ich war mir sicher, hätte ich mir seine Hände angesehen, wären sie weich und gepflegt gewesen. Dieser junge Mann wirkte in allem, was er war, wie ein Gemälde. Eine perfekte Momentaufnahme eines Menschen. Dennoch konnte ich nur daran denken, dass gerade vollkommene Bilder meistens Chaos unter ihrer Oberfläche verbargen. Und sicher war dies auch unter seiner der Fall. Ich bemerkte es an dem Ausdruck in seinen Augen, an der unterschwelligen Nachdenklichkeit, die ihn umgab, seit er dieses Zimmer betreten hatte. Alles daran bedrückte und faszinierte mich zugleich. Jemanden wie ihn hatte ich noch nie gesehen. Jemanden, der so präsent wirkte, während er offensichtlich nicht ganz anwesend war.

»Darf ich dein Klischee erraten?« Ich wusste nicht, warum ich das fragte. Ich wusste nur, dass ich unbedingt herausfinden wollte, ob das, was ich in ihm sah, der Wahrheit entsprach.

Er nippte irritiert an seinem Drink. »Du kannst es gern versuchen.«

Ich zwirbelte an einer Haarsträhne, während ich nach den richtigen Worten suchte. »Du bist der Sohn reicher Eltern. Die Art Eltern, die dein Leben geplant haben, bevor du überhaupt geboren wurdest. Während du seit jeher versuchst, ihren Anforderungen gerecht zu werden, hattest du nie die Chance, herauszufinden, was du eigentlich willst. Du weißt nicht, wer du sein willst, und das zerfrisst dich. Du studierst«, ich hielt inne und musterte ihn aufmerksam: das ausdruckslose Gesicht, die leicht verkrampften Schultern, das Glas, das er fest umklammert hielt, diese Melancholie in seinen Zügen, »Philosophie. Du hoffst, dadurch die richtigen Fragen zu finden, aber je mehr du davon entdeckst, desto weniger Antworten gibt es. Du hast Angst davor, dein Leben zu verschwenden, aber das ist immer noch einfacher, als dir einzugestehen, dass du überhaupt nicht weißt, wofür du es nutzen möchtest.« Ich hielt inne und sah ihn fragend an. »Wie nah bin ich dran?«

Er schwieg, doch seine Schultern entkrampften sich, je länger wir einander ansahen. Vielleicht versteckte sich da sogar ein winziges, anerkennendes Lächeln in seinen Mundwinkeln. »Was hat dich dazu bewogen, hierherzukommen, wenn du so wenig von unserer Welt hältst?«, fragte er schließlich, ohne darauf einzugehen. Vielleicht war das auch schon ein Hinweis darauf, wie nah dran ich gewesen war. Nämlich ziemlich.

»Das, was einen immer dazu bringt, die eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen.« Ich senkte die Stimme auf dramatische Horrorfilmtonart. »Liebe.«

»Dein Freund?«

»Oh, nein, ich spreche von einer sehr viel tiefer gehenden Verbindung.« Mein Lächeln fühlte sich ehrlicher an, als ich an Zoe dachte. An dieses offenherzige, aufbrausende, impulsive Mädchen, das – obwohl wir uns so oft uneinig waren – die engste Vertraute war, die ich je gehabt hatte. »Meine beste Freundin hat mich gebeten, sie zu begleiten.«

»Verstehe«, erwiderte er leise und fuhr mit dem kleinen Finger über den Rand des Glases. »Und wo ist sie jetzt?«

Gute Frage. Ich blickte auf meine Armbanduhr und stellte fest, dass fast eine Stunde vergangen war, seit ich die Party verlassen hatte.

»Bei dem Grund, wegen dem sie herkommen wollte, nehme ich an.« Ashtons Name lag mir auf der Zunge, doch ich schluckte ihn herunter. Unten waren zwar recht viele Leute, aber ich konnte nicht ausschließen, dass die beiden befreundet waren. »So ein Typ, der aussieht wie eine lebendige Michelangelo-Statue«, führte ich stattdessen vage aus.

Er runzelte die Stirn, als würde ihn etwas daran überraschen. Oder missfallen. »Ihr wurdet also eingeladen.«

»Wie hätten wir sonst an dem Türsteher vorbeikommen sollen? Komplizierte Tierbezeichnungen gehören nicht zu meinem Standardvokabular.«

»Ich dachte, du wärst ganz gut darin, an Orte zu kommen, die dir eigentlich nicht offen stehen, Pica.« Trotz der seichten Unruhe in seinen Augen erkannte ich diesmal eindeutig ein Lächeln auf seinem schön geschwungenen Mund.

»Pica?«, wiederholte ich irritiert.

Er antwortete nicht, nippte lediglich an seinem Whisky und betrachtete mich nachdenklich.

Widerwillig holte ich weiter aus. »Also … richtig. Allerdings wäre das keine Veranstaltung, die ich freiwillig aufsuchen würde. Ich habe es unten keine zwei Minuten ausgehalten.«

Das Lächeln fiel schlagartig von seinen Lippen. »Was ist passiert?«

»Deine Freunde.« Ich hob gelassen die Schultern, obwohl die Erinnerung an diese Typen mich sofort wieder wütend machte. »Ist so ein Prinzipiending, weißt du? Ich werde nicht gern als Mitbringsel bezeichnet oder mit einem Pokergewinn gleichgesetzt.« Es sollte sarkastisch klingen, aber ich spürte, wie meine Unterlippe bebte.

Wir schwiegen. Meine Wut pulsierte in Wellen zwischen uns, ich konnte sehen, wie sie ihm gegen das Gesicht schwappten. Es verzog sich ein wenig, als würde das Gefühl unter seine Haut kriechen. »Das tut mir sehr leid. Ich würde gern behaupten, dass sie es nicht so gemeint haben, aber …«

»… du bist auch kein guter Lügner?«

»Ich bin ein sehr guter Lügner. Ich tue es nur ungern«, korrigierte er schlicht. Nicht so, als wäre das etwas, auf das er stolz war. Eher als wäre es eine Tatsache, die er schlicht nicht leugnen wollte. Etwas daran brachte mich zum Lächeln.

Erneut blickte ich auf meine Armbanduhr. Es wurde Zeit zu verschwinden. Nicht nur, weil ich Zoe nicht länger allein lassen wollte, auch, weil es mir nicht behagte, wie wohl ich mich hier fühlte. Dieses Gespräch würde eine einmalige Sache bleiben, und je intensiver es wurde, desto länger würde ich brauchen, um es zu verdrängen. Ich hatte keine Zeit dafür, meine Gedanken mit so etwas zu verwirren. Ich brauchte jeden Funken Aufmerksamkeit für mein Studium.

»Ich sollte jetzt gehen.« Entschlossen nahm ich meine Haarklammer vom Tisch und wandte mich zum Ausgang – nur um doch noch einmal innezuhalten und mich zu ihm umzudrehen. »Wie heißt du eigentlich?«

»Cliff.« Kaum war das Wort heraus, kniff er den Mund so fest zusammen, dass sich seine Kiefermuskulatur anspannte. Er wich meinem Blick aus und runzelte die Stirn, als wäre er verärgert.

Ich nickte irritiert und ging weiter auf die Tür zu, obwohl mich alles an – und in – diesem Raum reizte zu bleiben. Es war absurd, aber ihn zu verlassen, in dem Wissen, dass ich ihn nie wiedersehen würde, fühlte sich auf tiefgehende, unangenehm schmerzhafte Weise falsch an. Es war, als hätte ich etwas vergessen. Etwas, an das meine Gedanken sich nicht erinnern konnten, meine Gefühle aber schon. Sie blockierten regelrecht, und ich musste mich dazu zwingen, weiterzugehen. »Dann wünsche ich dir jetzt noch einen schönen Abend, Cliff.«

»Warte«, hielt mich seine Stimme zurück. Als ich mich zu ihm umwandte, stand er neben dem Sessel, die Hände in den Hosentaschen vergraben, der Blick unergründlich auf mich gerichtet. »Du hast mir deinen Namen nicht gesagt.«

Ich klemmte mir die leicht verbogene Klammer wieder ins Haar. »Wozu auch? Du sollst dieses Gespräch doch eh vergessen. Ein Name ohne Gesicht bedeutet nichts, oder?«

Ernst schüttelte er den Kopf und machte einen Schritt auf mich zu. »Das sehe ich nicht im Geringsten so.« Das Flurlicht warf einen dünnen Lichtstrahl auf seine Züge, das dunkle Braun seiner Augen leuchtete auf.

Einen Moment lang betrachtete ich ihn, spürte, wie ich ein Bild davon machte. Von ihm. Eine Momentaufnahme einer Momentaufnahme eines Menschen, an die ich mich mit Sicherheit länger erinnern würde, als mir lieb war. Dann drehte ich mich um und öffnete die Tür ganz. »Vergiss nicht abzuschließen, wenn du gehst. Man kann nie wissen, was für Gesindel sich hier herumtreibt.«

Als ich den Flur schon ein paar Schritte hinabgelaufen war, glaubte ich, ihn leise lachen zu hören.

2

MABEL

Wenn es geregnet hatte, versilberte sich der Campus. Die asphaltgeebneten Wege waren verziert von etlichen Pfützen, in denen sich die Mittagssonne spiegelte. Winzige Lichtflecke auf dem dunklen Stein, deren Glitzern in den Augen blendete.

Es hatte das ganze letzte Seminar über geregnet, doch sobald wir das Gebäude verließen, hörte es auf. Ein paar letzte Tropfen nieselten auf unsere Köpfe, als Zoe und ich uns auf den Weg Richtung Trinity College machten. Ich bemühte mich, den Pfützen auszuweichen, während Zoe durch sie hindurchstapfte. Ihre Wildlederstiefel waren bereits durchnässt, doch sie schien es nicht zu bemerken. Die vergangenen Stunden hatte sie kaum ein Wort gesagt, sondern lediglich aus dem Fenster des Seminarraums gestarrt, sodass der Regen in ihren glasigen Augen reflektiert wurde.

Obwohl es mir manchmal schwerfiel, ihrem unaufhörlichen Gerede zuzuhören, vermisste ich es jetzt. Eine schweigsame Zoe war beunruhigend. »Geht’s dir gut?«, fragte ich zum wiederholten Male. Das letzte war vor gut zehn Minuten gewesen, als wir in der Schlange des Nero gestanden hatten, um für das Mittagessen mit Davie einzukaufen. Schon da hatte ich mehrere Anläufe gebraucht, um eine Antwort zu erhalten. Als sie nicht reagierte, stupste ich sie in die Seite.

Sie zuckte zusammen und sah erschrocken zu mir. »Was?«

Besorgt musterte ich sie. Ihre Augen wirkten glanzloser als sonst, das Blau verwaschen und ausgeblichen. Und selbst der Abdeckstift, den Zoe jeden Morgen auftrug, konnte nicht verbergen, dass sich die Müdigkeit kaffeesatzfarben daruntergelegt hatte. »Geht’s dir gut?«, wiederholte ich.

Zoe verdrehte die Augen und konzentrierte sich auf den Weg vor sich – nur um direkt durch die nächste Pfütze zu laufen. Das schmutzige Wasser fraß sich in den Saum ihrer Hose. »Es ginge mir besser, wenn du aufhören würdest, mich das im Minutentakt zu fragen«, erwiderte sie gereizt.

»Du bist im Seminar fast eingeschlafen, Zoe.«

Sie stöhnte und warf die Hände in die Luft. »Ja, stell dir vor, Shakespeares Sonette versetzen mich nicht unbedingt in Ekstase.« Missmutig kickte sie einen Stein über den Weg, sodass er auf die angrenzende Wiese rollte. Im Sommer lagen hier die Studierenden zwischen den Kursen auf ihren Jacken und reckten die bibliotheksbleichen Nasen Richtung Sonne. Jetzt war auch das Gras von silbrigen Wasserpfützen übersät.

»Wieso analysieren wir nicht mal was Zeitgenössisches? Es gibt doch auch heutzutage gute Gedichte. Wir könnten zum Beispiel mal über Rupi Kaur sprechen. Die Frau redet in verständlicher Sprache über Dinge, die mich wirklich bewegen. Ich habe es so satt, mir das immer gleiche Gerede von alten, toten Männern anzuhören.«

»Shakespeare ist einer der bedeutendsten Dramatiker der Weltliteratur.« Ich musterte sie skeptisch. Eigentlich liebte Zoe Shakespeare. Sie hatte mich in dem einen Jahr, das wir einander kannten, zu drei verschiedenen Theateradaptionen von Romeo und Julia überredet.

Ihrem Gesichtsausdruck zufolge konnte sie sich gerade jedoch nicht daran erinnern, dass sie jemals irgendetwas für gut befunden hatte. »Und Rupi Kaur ist eine Internet-Ikone der Neuzeit«, setzte sie störrisch nach.

Ich schüttelte den Kopf. »Du hättest nicht Englisch wählen dürfen, wenn du dieses Jahrhundert studieren möchtest. Außerdem sind nicht alle Gedichte Sonette und …«

»Stopp«, unterbrach Zoe mich und nahm mir meinen Becher aus der Hand. »Ich liebe dich, aber ohne Koffein ertrage ich deine nervtötende Klugheit keine Minute länger.«

Stirnrunzelnd sah ich ihr dabei zu, wie sie meinen Kaffee – und damit ihren dritten des Tages – austrank. »Sicher, dass es dir gut geht? Du bist die ganze Woche schon so fertig. Seit Freitagnacht, um genau zu sein.«

Wobei fertig eine euphemistische Beschreibung für Zoes Zustand war, in dem sie seit der seltsamen Party verharrte. Nachdem ich das Bücherzimmer verlassen hatte und zurück in den Saal gegangen war, hatte ich sie und Ashton schließlich auf einem Samtsofa in der Ecke entdeckt. Im ersten Moment hatte ich gedacht, sie würden sich küssen, beim zweiten Hinsehen jedoch erkannt, dass Zoe gar nicht mehr richtig anwesend war. Sie hatte an seiner Schulter gelehnt, die Augen geschlossen, das Gesicht friedlich und entspannt. Erst nach ein paar Minuten hatten wir sie dazu bringen können, aufzustehen. Ashtons Angebot, uns nach Hause zu begleiten, hatte ich abgelehnt. Den gesamten Weg über war Zoe so teilnahmslos und abwesend gewesen, dass sich in meinem Kopf bereits die schlimmstmöglichen Optionen eröffnet hatten, was sie genommen haben könnte. Am nächsten Morgen behauptete sie, sie hätte nicht einmal viel getrunken und wüsste selbst nicht, warum sie so fertig gewesen war. Trotzdem litt sie das restliche Wochenende unter Kopfschmerzen und Übelkeit und blieb größtenteils in ihrem Zimmer. Sie schaffte es dennoch, von einem gelungenen Abend zu sprechen. Ihr Optimismus war mir unheimlich.

Jetzt hob sie die Schultern und zupfte an der Schlaufe ihres Mantels herum. »Ich war gestern einfach lang wach.« Ihre Stimme wurde weicher, weniger angriffslustig. Ein Anzeichen dafür, dass sie im Grunde darüber sprechen wollte.

»Warst du noch aus?«

»Nein.« Sie hielt inne und biss sich auf die Unterlippe. »Ashton hatte gesagt, dass er vielleicht noch was machen will. Aber er hat sich dann nicht mehr gemeldet.«

Bitterkeit stieg in meinem Mund auf und legte sich pelzig über meine Zunge. »Also bist du die halbe Nacht wach geblieben und hast gewartet, dass er doch noch anruft.«

Ich bemühte mich darum, es nicht wie eine Anklage klingen zu lassen, aber Zoe spannte sich sofort wieder an. »Na und? Ich bin eine zwanzigjährige Studentin, Mabel. Nicht alle von uns wollen ihre Abende einsam mit einem Buch im Bett verbringen, um pünktlich um zehn das Licht auszumachen und von noch mehr Büchern zu träumen.«

Meine Wangen brannten, mein Herz auch. Ich umfasste den Lederriemen meiner Tasche fester und fokussierte mich auf den Weg. Das machte Zoe öfter: Wenn sie stritt, wurde sie unfair. Sie hatte ein gutes Gespür dafür, was ihr Gegenüber verletzte, und wenn sie impulsiv wurde, setzte sie das ein.

Zoe wusste, wie wichtig das Studium für mich war. Ich lernte gern und ich lernte viel, aber ich machte all das nicht nur, weil ich es wollte, sondern auch, weil ich musste. Mein Stipendium hing an den Noten und meine Zukunft wiederum am Stipendium. Ich wusste, wie dankbar ich dafür sein konnte, überhaupt hier studieren zu können, aber der Druck blieb. Schon jedes Mal, wenn ich krank wurde und mich ein paar Tage lang nicht aufs Lernen konzentrieren konnte, bekam ich Panik. Im Grunde hatte sie recht: Ich konnte mir keine schlaflosen Nächte leisten, es sei denn, ich verbrachte sie mit meinen Büchern.

Ein paar Minuten lang schwiegen wir. Die blaubauchigen Wolken zogen sich immer weiter auseinander und gaben den Himmel frei. Die umliegenden Gebäude badeten im Sonnenlicht, ihr Fassadenbraun wurde von Goldfäden durchzogen. Gold und Silber. An Tagen wie diesen konnte ich mir keinen schöneren Ort vorstellen als unsere Universität.

Schließlich stieß Zoe ein tiefes Seufzen aus. »Gott, das war ätzend. Ich benehme mich wie die Diva aus einem dieser amerikanischen Highschool-Filme. Entschuldige bitte.« Sie hakte sich bei mir unter und blinzelte zerknirscht zu mir auf. »Die Müdigkeit hat aus mir gesprochen. Und der Kaffeerausch. Und die seelischen Wunden, die Professor Waltons grausame Langeweile hinterlassen hat. Verzeihst du mir?«

Ich verdrehte die Augen, konnte mir ein winziges Lächeln aber nicht verkneifen. »Schon gut.«

Normalerweise fiel es mir schwerer, Dinge zu entschuldigen. Doch Zoe konnte ich nie lange böse sein. Meine Mutter hatte oft gesagt: Aufrichtig lieben bedeutet immer auch verzeihen. Seit ich Zoe kannte, verstand ich das.

Ehe ich noch etwas sagen konnte, ertönte neben uns ein lang gezogener Pfiff. Zoe stieß ein genervtes Schnauben aus und setzte erkennbar zu einer unfreundlichen Ansage an. Doch als sie sich zur Seite wandte, blieb sie stattdessen abrupt stehen.

Irritiert tat ich es ihr gleich und folgte ihrem Blick. Nur zwei Meter von uns entfernt, direkt auf den Stufen des kleinen Pavillons – dem Wahrzeichen von Trinity College –, saß eine Gruppe Menschen. Mein Blick fiel automatisch auf den jungen Mann auf der untersten Stufe. Der Saum seines Mantels hing bis auf den Boden hinab und seine Schuhe waren regenbenetzt, dennoch schaffte er es, etwas Anmutiges auszustrahlen. Seine Locken schimmerten im Licht, ähnlich wie die Gebäudefassaden. Noch mehr Gold.

Ashton lächelte träge zu Zoe auf. Der Ausdruck in seinen Augen wirkte dennoch wachsam. »Anima, wie schön.«

Mehr brauchte es nicht, und Zoes Müdigkeit zog sich aus ihren Zügen zurück. Vorteilhafte Röte legte sich auf ihre Wangen. »Hey«, erwiderte sie versonnen. Dass dieser Typ sie gestern noch versetzt hatte, schien sie vergessen zu haben.

Ich räusperte mich, Zoe zuckte zusammen. Sie ignorierte meinen vielsagenden Gesichtsausdruck und sah mich mit freundlicher Strenge an. »Ist das nicht ein schöner Zufall? Das sind die netten Leute, die du auf der Party hättest kennenlernen können, wenn du nicht stundenlang verschollen gewesen wärst.«

Ich verkniff mir ein Augenrollen und betrachtete stattdessen beiläufig die anderen. Auf der Stufe hinter Ashton saß eine Frau, die mir vage bekannt vorkam. Vielleicht, weil wir uns am Freitag begegnet waren, vielleicht aber auch nur, weil ich sie irgendwann auf dem Campus gesehen hatte. Sie hatte eins dieser Gesichter, die man immer wahrnehmen würde, ganz gleich, wie flüchtig man sie zu sehen bekam. Fein geschnittene Züge, prägnante Wangenknochen, große, blassblaue Augen. Ein Elfengesicht aus Pastelltönen. Lediglich ihr fuchsrotes Haar, das ihr vom Wind zerzaust ins Gesicht hing, war zu farbintensiv für ihre Erscheinung. Der Kontrast ließ sie umso anziehender wirken. Ihre Aufmerksamkeit streifte mich nur kurz, ehe sie sich wieder auf ihr Handy fokussierte.

Mein Blick flackerte zu dem jungen Mann, der neben ihr saß. Noch ehe ich es begriff, begann mein Herz schwer zu pochen. Drei, vier Sekunden lang starrte ich ihn an, bis ich realisierte, was ich sah. Wen ich sah. Cliff.

Schwarzer Rollkragenpullover, karierter Mantel, ein zerfleddertes Buch auf dem Schoß und ein angespannter Zug um den Mund. Er sah mich nicht an, aber die Falte zwischen seinen Brauen ließ mich erahnen, dass er mich dennoch bemerkt hatte. Bemerkt und erkannt. Eine Tatsache, die er scheinbar nicht publik machen wollte. Die Art, wie er mich ignorierte, sah jedenfalls nicht nach Wiedersehensfreude aus. Es sollte mir egal sein, trotzdem spürte ich, wie mein Magen sich unangenehm zusammenzog. Hastig sah ich wieder fort.

Ich presste die Lippen zusammen, als ich den Typen bemerkte, der neben Ashton saß. Sein schulterlanges Haar war zwar zu einem Dutt gebunden, aber ich erkannte ihn dennoch sofort.

Er mich auch – und anders als Cliff schien es ihm nicht wichtig, das zu verbergen. Ein verschlagenes Grinsen stahl sich auf seinen Mund, während er mich eingehend musterte. »Anna Karenina, sieh an.«

Mir schossen etwa zehn Erwiderungen durch den Kopf, die Zoe mir allesamt übel genommen hätte. Glücklicherweise kam Ashton mir zuvor. Er schnalzte mit der Zunge und sah mahnend zu seinem Freund. »Sei nicht unhöflich, Vic. Ihr Name ist Mabel.« Mit einem weichen Lächeln wandte er sich in meine Richtung. »Das bedeutet die Liebenswürdige, nicht? Hübscher Name.«

»Hab ihn mir nicht ausgesucht«, erwiderte ich sachlich. Zoes Seitenknuff brachte mich dazu, hinterherzuschieben: »Aber herzlichen Dank im Namen meiner Eltern.« Vermutlich konnte ich den Zynismus nicht so gut verbergen wie gedacht. Zoes Finger krallten sich tiefer in meine Seite. Mein Mantel dämpfte den Druck etwas ab, trotzdem biss ich mir auf die Unterlippe, um nicht mehr zu sagen.

Ashton lächelte noch immer. »Also, liebenswürdige Mabel. Für den Fall, dass du sie letzte Woche noch nicht kennengelernt hast: Das sind Victor, Norah und …«, er drehte sich um und nickte zu Cliff, der nach wie vor auf das aufgeschlagene Buch starrte, als würden die Buchstaben ihn vor unserer Anwesenheit bewahren, »… Blake.«

Es dauerte einige zähe Sekunden, ehe ich es realisierte. Wenn man etwas hörte, das so sehr den Erwartungen widersprach, tat das Bewusstsein oft für einen Moment so, als hätte es nichts davon wahrgenommen. Ich merkte erst, dass ich die Luft angehalten hatte, als die fünf falschen Buchstaben auf den Grund meines Gedankenmeers gesunken waren. Etwas zu laut atmete ich aus.

»Blake.« Der Name rutschte haltlos über meine Zunge. Eine halbe, hörbar irritierte Frage, die ich am liebsten sofort zurückgezogen hätte.

Langsam hob er den Kopf und sah mich an. Er erwiderte nichts, doch sein Blick drückte mehr aus, als ich wahrnehmen wollte. In seinen dunklen Augen lag pures Desinteresse, einzig das Hervorstechen seiner Wangenmuskulatur verriet, dass er angespannt war. Es wirkte, als wäre er wütend. Wütend, dass ich ihn dazu zwang, an diesem Gespräch teilzunehmen, wütend, dass ich – wenn auch nur vor ihm – zu erkennen gab, dass wir uns bereits kennengelernt hatten. Vielleicht war er aber auch einfach wütend auf sich selbst, weil er das zugelassen hatte. Vermutlich bereute er es in diesem Moment, dass er mich nicht sofort aus dem Bücherzimmer hinausgeworfen hatte. Gott sei Dank war er nicht so leichtsinnig gewesen, mir seinen richtigen Namen zu verraten. Wo käme die Elite dieser Welt hin, wenn sie Menschen wie mir auch nur einen Funken Interesse oder Anstand entgegenbringen würde? Warum überraschte mich das überhaupt? Er hatte mir doch gesagt, dass er ein guter Lügner war.

Ich spürte Hitze im Nacken, die sich von dort zielstrebig ausbreitete. Mit glühenden Fingerspitzen grub sie sich in meine Wangen, zerrte meine Mundwinkel hinauf und biss in meine Stimmbänder. »Auch ein hübscher Name. Das bedeutet

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