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Soul Screamers 4: Schütze meine Seele

hier erhältlich:

Sie ist eine Banshee, eine Todesfee. Ihr Schrei kann den Tod besiegen. Kaylee liebt Nash, obwohl sie ihm nicht mehr vertraut. Und ausgerechnet jetzt taucht Nashs Exfreundin auf, die ihn um jeden Preis zurückhaben will. Ein Albtraum beginnt - im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Sabine ist eine Mara. Sie liest die Ängste der Menschen und verwandelt sie in Albträume, von deren Energien sie zehrt. Plötzlich sterben Lehrer im Schlaf, Chaos bricht aus. Ist das Sabines Werk? Kaylee hat keine Zweifel und will eingreifen. Doch Nash kann nicht glauben, dass seine Ex eine Mörderin ist.


  • Erscheinungstag: 15.07.2015
  • Aus der Serie: Soul Screamers
  • Bandnummer: 6
  • Seitenanzahl: 396
  • ISBN/Artikelnummer: 9783733781620
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

books2read ist ein Imprint der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg,
info@books2read.de

 

 

Copyright © 2011 by Rachel Vincent
Originaltitel: „My Soul to Steal“
Erschienen bei: Harlequin Teen, Toronto
Published in Arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.ár.l

Deutsche Erstausgabe Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch
Übersetzung: Michaela Grünberg

Copyright © Layout- und Covergestaltung 2015 by books2read in der
HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Umschlagmotiv: Harlequin Books S.A.
Umschlaggestaltung: Deborah Kuschel

Veröffentlicht im ePub Format im 07/2015

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733781620

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
books2read Publikationen dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

www.books2read.de

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1. KAPITEL

Zu Beginn des zweiten Semesters der Elften hatte ich es bereits mit äußerst brutalen und abtrünnigen Reapern zu tun bekommen, mit einem diabolischen Unterhaltungsmogul und einer Horde Hellions, die scharf auf meine Seele waren. Niemals hätte ich gedacht, dass mir das grauenvollste Monster von allen erst noch begegnen würde: die Exfreundin meines Freundes. Sie sollte sich als mein schlimmster Albtraum entpuppen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

„Ich beiße nicht.“ Nash schaute über die aufgespießte Erbse auf seiner Gabel hinweg zu mir hoch, und mir wurde bewusst, dass ich ihn anstarrte. Ich war auf der untersten Stufe der Treppe stehen geblieben, überrascht, ihn in der Schule anzutreffen, aber noch mehr darüber, ihn bei der Januarkälte draußen und dazu noch allein beim Mittagessen zu sehen. Draußen auf dem Hof, wohin ich mich verdrückt hatte, da ich dem Getuschel in der Cafeteria entgehen wollte.

Offensichtlich war er aus demselben Grund hier.

Ich blickte über die Schulter durchs Fenster der Cafeteriatür, in der Hoffnung, Emma irgendwo zu entdecken, allerdings schien sie noch nicht da zu sein.

Nash runzelte die Stirn, sowie er mein Zögern bemerkte. Doch ich machte mir keine Gedanken um ihn, sondern um mich. Ich fürchtete, sobald ich ihm zu nahe kam – seinen Armen, in denen ich früher Schutz und Trost gefunden hatte, den haselnussbraunen Augen, die direkt in mein Herz zu sehen schienen –, würde ich schwach werden. Ihm alles verzeihen, selbst wenn ich es nie vergessen könnte. Und das wäre überhaupt keine gute Idee.

Ich meine, es würde sich bestimmt gut anfühlen, aber genau das wäre fatal. Die vergangenen zwei Wochen waren die schwersten meines Lebens gewesen. Und das, obwohl ich in den letzten Monaten viele schreckliche Dinge erlebt und überlebt hatte, von deren Existenz die meisten anderen 16-Jährigen nicht einmal etwas ahnten. Doch läppische vierzehn Tage ohne Nash – nämlich die kompletten Winterferien – reichten aus, mich bis an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Wer auch immer sich diesen bescheuerten Spruch ausgedacht hat von wegen „Einmal geliebt und diese Liebe verloren zu haben ist besser, als niemals zu lieben“, muss geistesgestört sein. Hätte ich mich gar nicht erst in Nash verliebt, würde mir jetzt nicht so schmerzlich fehlen, was ich so nie kennengelernt hätte.

„Kaylee?“ Nash legte seine Gabel mitsamt der Erbse zurück aufs Tablett. „Schon gut. Ich verstehe. Du willst nicht mit mir reden.“

Schnell schüttelte ich den Kopf, stellte mein Tablett auf die gegenüberliegende Seite des Tisches und setzte mich zu ihm. „Nein, es ist nur … ich hatte dich hier nicht erwartet.“ In der Zwischenzeit hatte ich ihn nicht ein einziges Mal besucht, denn es wäre uns beiden gegenüber unfair gewesen. Wenn man nicht richtig zusammen sein kann, sollte man es besser ganz lassen. Alles andere machte es nur noch schlimmer. Allerdings wusste ich auch ohne ihn gesehen zu haben, dass der Entzug ihn ganz schön mitgenommen hatte, weil mein Vater – ausgerechnet er – sich regelmäßig erkundigt hatte, wie es Nash ging.

Und obwohl er seine Antworten auf meine Nachfragen so knapp wie möglich hielt, konnte ich mir aus dem wenigen, was er erzählte, leicht zusammenreimen, wie grausam ein Entzug von Dämonenatem – den Unwissenden bekannt als Frost oder auch Demon’s-H – sein musste.

„Geht es dir … gut?“, erkundigte ich mich, während ich mit meiner Gabel in die viel zu flüssige Spaghettisoße auf dem Tellerrand kleine Kreise malte.

„Besser.“ Er zuckte mit den Schultern. „An ‚gut‘ arbeite ich noch.“

„Aber um zur Schule zu kommen, reicht es schon wieder?“

Ein weiteres Achselzucken. „Mom hat mir eine Weile etwas verabreicht, um die Symptome zu lindern. Irgendein komisches Unterwelt-Kraut, frag mich nicht. Doch das Zeug hat mich fast nonstop schlafen lassen. Traumlos“, fügte er hinzu, als er meinen erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkte. Die Hellions, deren Atem er inhaliert hatte, waren hin und wieder durch seine Träume mit ihm in Kontakt getreten. Meistens jedoch hatten sie mich dazu benutzt, indem sie von meinem Körper Besitz ergriffen, während ich geschlafen hatte. Ohne Frage hätte ich Nash dabei geholfen, seine Sucht zu besiegen, schließlich war er wegen mir überhaupt erst mit Demon’s-H in Berührung gekommen. Nachdem ich allerdings erfahren hatte, dass er diese regelmäßige Fremdsteuerung meines Körpers einfach zugelassen und mir nicht mal gesagt hatte, was da mit mir geschah, war das Maß endgültig voll gewesen. Solange ich mir nicht absolut sicher sein konnte, dass so etwas niemals wieder passierte, konnte ich unserer Beziehung keine zweite Chance geben.

Zumindest wenn es nach meinem Verstand ging. Was der für das Beste hielt und was mein Herz wollte, waren jedoch zwei völlig verschiedene Dinge.

„Ich hab immer noch nicht besonders viel Appetit, aber was ich esse, bleibt jetzt immerhin drin.“ Nash betrachtete sein volles Tablett. Mir fiel auf, dass er abgenommen hatte. Seine Züge waren … kantiger geworden. Die Haut unter seinen Augen sah dunkel und verquollen aus, und er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, kunstvoll seine Haare zu zerstrubbeln wie sonst. Während der alte Nash nur so vor Lebenslust und Ausstrahlung gestrotzt hatte, wirkte die neue Version von ihm geradezu glanzlos und lethargisch. Ich erkannte ihn kaum wieder und befürchtete, mit seinem Gefühlsleben ebenso wenig vertraut zu sein. Jedenfalls nicht so, wie ich es mit dem von meinem Nash gewesen war.

„Vielleicht hättest du noch ein paar Tage zu Hause bleiben sollen“, stellte ich leise fest, langsam eine Portion Spaghetti mit der Gabel aufrollend.

„Ich wollte dich sehen.“

Mein gebrochenes Herz schien noch einmal in tausend Stücke zu zerspringen. Ich schaute auf, und in Nashs Blick spiegelten sich Bedauern und Sehnsucht, das plötzlich mit grünen Schleiern durchsetzte Braun seiner Augen flirrte, als würde ein winziger Tornado die Farben umeinander herumwirbeln lassen. Menschen konnten dieses Phänomen nicht wahrnehmen. Aber Nash und ich – da wir beide Bean Sidhes waren, oder auch Banshees – konnten es, und mit ein wenig Übung hatte ich auch gelernt, bei ihm die jeweiligen darin verborgenen Gefühlsregungen zu erkennen und zu unterscheiden. Sozusagen seine Emotionen durch das Fenster zu seiner Seele zu lesen. Sofern er mich daran teilhaben ließ.

„Nash …“

„Ohne Hintergedanken, okay?“, fiel er mir ins Wort, ehe ich dazu kam, mit der zurückweisenden Ansprache loszulegen, die ich vorsorglich einstudiert und von der ich gleichzeitig gehofft hatte, sie niemals wirklich zu brauchen. „Ich wollte einfach dein Gesicht sehen. Deine Stimme hören.“

Übersetzung: Du hast mich nicht ein einziges Mal besucht. Oder wenigstens angerufen.

Ich schloss die Augen und kämpfte mit dieser beklemmenden Unsicherheit, die ich plötzlich in seiner Gegenwart empfand. „Ich hätte gern …“ Lieber als alles andere. „Aber ich kann einfach nicht …“

„Nur gucken, aber nicht anfassen?“, beendete er den Satz für mich, und unsere traurigen Blicke trafen sich. „Glaub mir, ich weiß genau, was du meinst.“ Er seufzte und rührte in seiner lieblos in eine Dessertschale geklatschten Pfirsichcreme. „Und was jetzt? Sind wir Freunde?“

Klar. Wenn die neue Definition von Freundschaft lautete, dass man den anderen lieben, doch nicht mit ihm zusammen sein konnte. Ihm zwar nicht über den Weg traute, doch ohne zu zögern für ihn sterben würde.

„Ich glaube, es gibt keine Bezeichnung für das, was wir sind, Nash.“ Wobei mir zumindest eine einfiel, die es ziemlich genau traf: schrottreif.

Nash und ich waren wie zwei Autos nach einem Frontalzusammenstoß. So hoffnungslos ineinander verkeilt, dass ich nicht einmal mehr sagen konnte, welche Teile zu ihm gehörten und welche zu mir. Vermutlich war es unmöglich, uns jemals wieder voneinander zu trennen – nicht nach allem, was wir zusammen durchgemacht hatten –, aber ich hatte ernsthaft Angst, es würde trotzdem zwischen uns nie mehr so werden wie früher.

„Weißt du, ich … ich brauche ein bisschen Zeit.“

Verständnisvoll nickte er, und in seinen Augen leuchtete der erste Hoffnungsschimmer seit einer gefühlten Ewigkeit auf. „Natürlich. Und die haben wir doch auch.“

Tatsächlich hatten wir die, und zwar jede Menge davon. Jenseits der Pubertät verlangsamte sich der Alterungsprozess eines Banshee drastisch, was einerseits bedeutete, ich müsste wohl noch mit vierzig überall meinen Ausweis vorzeigen. Andererseits hieß das allerdings auch, dass Nash und ich im Idealfall schätzungsweise vierhundert gemeinsamen Jahren entgegenblickten. Vorausgesetzt, wir schafften es, unsere Probleme zu lösen – und es kam uns dann keine unvorhergesehene Katastrophe dazwischen. Obwohl gerade das mehr als wahrscheinlich war, wenn es so weiterlief wie bisher. Seit Beginn des Schuljahres bis heute war aus meinem Leben eine einzige, endlose Verkettung von Katastrophen geworden, das nur durch das rettende Netz zusammengehalten wurde, das Nashs Nähe für mich bedeutete. Wenigstens bis vor Kurzem. Jetzt klammerte ich mich an den Trümmerhaufen meiner Existenz, versuchte allein, die Bruchstücke festzuhalten, und fragte mich, ob es uns beiden helfen oder endgültig den Rest geben würde, wenn ich mich dazu durchrang, Nash wieder an mich heranzulassen.

„Wie geht es Em eigentlich?“, erkundigte Nash sich mit gesenkter Stimme, während er über meine Schulter hinwegblickte, als hätte er etwas oder jemanden entdeckt.

Ich drehte mich um und sah Emma Marshall, meine beste Freundin, den nahezu verlassenen Schulhof betreten und auf uns zukommen. Jeder Mensch mit auch nur einer Gehirnzelle – und ohne triftigen Grund, sich regelrecht zu verstecken – aß drinnen, wo es warm und trocken war. Em trug ein Tablett mit einem Stück Pizza und einer Cola light vor sich her, in der Absicht, mit Nash und mir hier draußen zu essen. Nicht, weil sie der Gruppe an Schülern ausweichen wollte, die ihr Urteil ohnehin schon gefällt hatte, sondern weil es ihr egal war, was man über sie dachte.

„Em ist stark. Sie lässt sich nicht so leicht unterkriegen.“ Und das sagte ich nicht bloß so dahin. Insgeheim betrachtete ich Emma als meine Heldin, und das in vielerlei Hinsicht, doch ganz besonders wegen ihrer Unabhängigkeit von der Meinung anderer.

Doug Fuller, mit dem Em beinahe einen Monat lang zusammen gewesen war, hatte vor zwei Wochen eine Überdosis Frost abbekommen und es nicht überlebt. Obwohl die Beziehung der beiden eher körperlicher Natur gewesen war, ließ sein Tod sie verständlicherweise nicht kalt. Und dass sie den Ort der eigentlichen Herkunft der Droge, nämlich die Unterwelt, nicht kannte, machte es nicht gerade leichter für sie.

Während sie immer näher kam, flüsterte Nash, noch leiser als vorher: „Warst du auf seiner Beerdigung?“

„Ja.“ Doug war als Linebacker der Eastlake-Footballmannschaft bekannt wie ein bunter Hund, und zu seiner Beisetzung hatte sich praktisch die komplette Schule eingefunden. Abgesehen von Nash, der aufgrund seines Entzugs an diesem Tag gezwungen war, im Bett zu bleiben, und Scott, dem Dritten im Bunde, der seiner Abhängigkeit knapp mit dem Leben entkommen war, jedoch nicht, ohne einen hohen Preis dafür zu bezahlen. Er hatte eine irreparable Schädigung des Gehirns erlitten, die ihm eine ständige und durch nichts zu unterbrechende mentale Kopplung an den Hellion bescherte, dessen Atem Doug umgebracht und meine Beziehung zu Nash an die Wand gefahren hatte.

„Hey.“ Emma blieb stehen und ließ ihren Blick von mir zu Nash und wieder zurück zu mir wandern, bevor sie sich neben mich setzte. „Na, wie ist der aktuelle Stand? Versöhnung nach der Entwöhnung? Weil, mal ganz ehrlich, euch bei diesem Drahtseilakt zuzugucken, davon wird mir langsam schwindelig.“

Sie grinste uns an, und ich hätte dem Universum um den Hals fallen können dafür, dass ich eine Freundin wie Emma hatte.

„Wie gut kannst du balancieren?“, fragte ich und biss in eine der Pommes von seinem Teller.

„Besser, als du denkst“, antwortete Nash unsicher lächelnd.

Genervt rollte Em mit den Augen. „Also geht’s munter weiter?“

Nash schien genauso gespannt auf meine Antwort wie sie. Langsam atmete ich aus. „Scheint so.“

Er reagierte mit einem Seufzen, und Emma runzelte die Stirn, als fände sie, ich würde es jetzt doch ein bisschen übertreiben. Aber sie wusste nichts über die Hintergründe unserer Trennung. Ich konnte ihr ja schlecht erzählen, dass Nash einem Hellion erlaubt hatte, sich meinen Körper auszuborgen, um mit ihm Doktor zu spielen – auch wenn ihm beim ersten Mal nicht bewusst war, was da passierte –, und er es nicht mal für nötig hielt, mir mitzuteilen, dass ein Wesen aus der Unterwelt in mich hineinschlüpfte wie in ein menschliches Kostüm. Allerdings war diese total verrückte Geschichte nicht der einzige Grund, warum ich Emma nichts davon sagen konnte. Sondern, vor allem deshalb nicht, weil der Hellion, der ihren Freund auf dem Gewissen hatte, auch in ihrem Körper gewohnt hatte. Natürlich ohne ihr Wissen – und zu ihrer eigenen Sicherheit wäre es wohl besser, wenn das auch so blieb. Ihre Freundschaft mit mir hatte sie schon mehr als genug in Gefahr gebracht.

„Auch gut. Zieh das Drama nur in die Länge. Gib der Meute noch ein Thema zum Tratschen.“

Ein anderes Thema als Doug und Scott.

Wären seit Dougs Tod nicht zwei Wochen ins Land gegangen, in denen sich die Gemüter etwas beruhigen konnten, hätte die Schule wahrscheinlich von lauter Teenagern am Rande des Nervenzusammenbruchs gewimmelt. Nein, danke. Die verstohlenen Blicke und das Getuschel, wenn man den Flur entlangging, genügten mir völlig.

„Und? Hast du die Neue schon gesehen?“, fragte Emma in einem zwar durchschaubaren, doch nett gemeinten Versuch, das Gespräch auf ein weniger bedrückendes Thema zu lenken. Sie brach ein Stück Kruste von ihrer Pizzaecke ab und steckte es sich in den Mund.

„Welche Neue?“ Als ob mich das interessierte. Andererseits gab mir der neue Gesprächsstoff die Gelegenheit, mich von meinen trüben Gedanken abzulenken – oder es würde wenigstens den Anschein haben, dass sie nicht ausschließlich um Nash und mich kreisen würden beziehungsweise um die Erkenntnis, dass momentan gar kein „Nash und ich“ mehr existierte.

„Hab vergessen, wie sie heißt.“ Emma rupfte ein zweites Stück Pizzakruste ab und tunkte es in einen Plastikbecher mit French Dressing. „Aber sie ist in der Abschlussklasse. Kannst du dir das vorstellen? Kurz vorm Abschluss mal eben noch die Schule zu wechseln?“

„Ja, das klingt ätzend“, antwortete ich, den Blick auf mein Tablett gerichtet. Ich tat so, als bemerkte ich nicht, wie Nash mich schweigend aus dem Augenwinkel heraus beobachtete. Würde es von jetzt an immer so sein? Wir hocken uns distanziert gegenüber und starren den anderen heimlich an, wenn der gerade woanders hinschaut? Entweder überhaupt nicht miteinander redend oder bestenfalls über irgendeinen unverfänglichen Kram, der garantiert kein Streitpotenzial hat? Vielleicht hätte ich lieber in der Cafeteria bleiben sollen. Das hier wird nicht funktionieren …

„Sie ist in meinem Englischkurs. Wirkte ziemlich verloren, das arme Ding. Deshalb hab ich ihr angeboten, dass sie sich zu uns setzen kann, wenn sie will“, nuschelte Emma, während sie noch kaute. Ich sah überrascht zu ihr hoch.

Zuallererst mal – Emma und andere Mädchen, das passte nicht zusammen. Abgesehen von mir hatte sie keine Freundinnen, denn die meisten unserer Geschlechtsgenossinnen konnten sie aus demselben Grund nicht leiden, aus dem die Jungs ihr scharenweise nachliefen. Seit der siebten Klasse waren es stets nur wir zwei gewesen. Und zwar genau seit dem ersten Schultag nach den Sommerferien, an dem sich die restlichen Schülerinnen beim Anblick von Emmas sinnlichen Lippen und den plötzlich nur noch knapp in ein C-Körbchen passenden Brüsten neidvoll von ihr abgewendet hatten.

Zweitens …

„Was sucht denn eine aus der Abschlussklasse in deinem Englischkurs?“, wollte Nash wissen, bevor ich es fragen konnte.

Emma zuckte die Achseln, schluckte den Bissen herunter und dippte das nächste Stück Pizza in das Dressing. „Sie muss wohl irgendwie hinterherhängen, und deshalb lässt man sie zwei Kurse gleichzeitig machen. So braucht sie nur das aufzuholen, was sie verpasst hat. Ist auf jeden Fall besser, als eine Ehrenrunde zu drehen, bloß weil einem der Stoff aus einem Kurs fehlt, oder?“

„Kann sein.“ Nash spießte eine neue Erbse neben die erste auf seiner Gabel, obwohl er vermutlich nicht vorhatte, sie auch tatsächlich zu essen. „Aber parallel Macbeth und Wer die Nachtigall stört lesen zu müssen, stelle ich mir auch nicht wirklich entspannend vor.“

„Tja, was soll man dazu sagen. Solange mich dieses Schicksal nicht ereilt …“ Em biss herzhaft ab, dann drehte sie sich plötzlich um. Hinter uns knirschten Schritte auf dem gefrorenen Rasen. „Wenn man vom Teufel spricht. Da ist sie ja“, meinte sie und winkte die Neue zu uns heran.

Neugierig reckte ich den Hals in die Richtung, aus der die Schritte kamen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne, da ich Nashs Blick bemerkte. Ihm fielen förmlich die Augen aus dem Kopf. Nur galt dieser Blick nicht mir, sondern der neuen Schülerin. „Sabine?“, sagte er erstaunt, kaum lauter als ein Flüstern.

Em schlug sich mit der Hand aufs Knie. „Genau! Ich wusste doch, es war was mit S.“ Sie winkte abermals. „Hey, Sabine, hier sind wir!“ Dann wandte sie sich wieder Nash zu. „Warte mal, du kennst sie?“

Anstatt zu antworten, sprang er auf und stolperte dabei fast über die Bank. Nachdem ich verdutzt zugesehen hatte, wie es ihm nur knapp gelang, den Tisch zu umrunden, ohne sein Tablett herunterzustoßen, drehte ich mich schließlich zu dem Auslöser seiner Kopflosigkeit um. Und begriff sofort, warum dieses Mädchen absolut keinen Grund hatte, sich von Emma bedroht zu fühlen.

Sabine verkörperte einen völlig anderen Typ makelloser Schönheit.

Vornehm blasse Haut bildete einen interessanten Kontrast zu glänzendem dunklen Haar, wohingegen Ems durch goldenes, warmes Schimmern punktete. Im Gegensatz zu Emmas weiblichen Rundungen war sie schmal und zart gebaut. Em bewegte sich langsam und geschmeidig, sie stolzierte dagegen regelrecht. Und jetzt gerade blieb sie abrupt stehen, ihr Tablett in den Händen, als hätte sie total vergessen, dass es überhaupt da war, und starrte nicht etwa mich oder ihre neue Freundin Emma an, sondern meinen Freund.

Meinen Irgendwie-noch-Freund. Oder was auch immer.

„Sabine?“ Dieses Mal flüsterte Nash wirklich, und dieser vertraute sanfte Unterton in seiner Stimme ließ die Alarmglocken bei mir schrillen.

„Nash Hudson. Ich glaub’s ja nicht, du bist es!“ Die Neue warf ihr langes dunkles Haar nach hinten, wodurch ihr rechtes Ohr entblößt wurde, an dem zwei nicht zueinanderpassende, glitzernde Ohrringe baumelten.

Nash ging an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, während Sabine ihr Tablett auf dem nächstbesten Tisch abstellte und meinem … was auch immer … entgegenlief. Er breitete die Arme aus, und sie warf sich so schwungvoll hinein, dass er die Wucht des Aufpralls mit einer halben Drehung abfangen musste, um nicht umzufallen. Mit ihr zusammen.

In meiner Brust loderte und brannte es, als hätte ich mir ein ganzes Glas Salsa auf Ex reingeschüttet.

„Was machst du denn hier?“, fragte Nash und setzte Sabine wieder auf dem Boden ab, während sie im selben Augenblick noch einmal hervorstieß: „Ich glaub’s einfach nicht.“

Ich auch nicht. Vielmehr war ich mir ziemlich sicher, dass dieses überraschte Getue nur Show war. Jedenfalls sah sie eher begeistert als erstaunt aus. „Ich hab heute Morgen deinen Namen gehört, aber ich hätte nie im Leben gedacht, dass wirklich du es bist.“

„Da kannst du mal sehen. Und du? Gehst du etwa jetzt hier auf die Eastlake High?“

„Ja, tue ich. Neue Pflegefamilie. Ich bin letzte Woche bei denen eingetrudelt.“ Sie lächelte, und ihre dunklen Augen leuchteten. „Wow, ist ja echt Wahnsinn.“

„Kann man wohl sagen.“ Em stand auf und zog mich am Ellbogen zu sich hoch. „Die Frage ist nur, mit welcher Art von Wahnsinn wir es hier zu tun haben“, tuschelte sie mir ins Ohr.

Schließlich drehte Nash sich wieder zu uns um, den Arm noch immer locker, und offenbar unbewusst, um Sabines Hüfte geschlungen. „Sabine hat in Forth Worth dieselbe Schule besucht wie ich, bevor ich hierher gezogen bin.“

„Du meinst, bevor du abgehauen bist und mich sitzen gelassen hast!“ Sie befreite sich aus seiner Umarmung und verpasste ihm mit der Faust einen leichten Stoß in die Schulter.

„Du bist zuerst von der Bildfläche verschwunden, wenn ich dich daran erinnern darf.“ Nash grinste.

„Aber nicht, weil ich es so wollte!“ Ihr finsterer Gesichtsausdruck war mindestens so beängstigend, wie ihr Lächeln umwerfend war.

Wovon zur Hölle redeten sie da?

Ich hatte schon den Mund geöffnet, um … irgendetwas zu sagen, da begann links von mir die Luft zu flirren und wie aus dem Nichts tauchte eine Gestalt auf. Todd. Ich war angesichts der Ankunft von Nashs alter Freundin – bitte, bitte, lass sie nur eine Freundin sein – noch so perplex, dass mich das plötzliche Erscheinen seines toten Reaper-Bruders nicht einmal wie sonst erschrocken zusammenzucken ließ.

„Hey, Kaylee, du …“, platzte er hektisch heraus, fuhr sich mit der Hand durch die blassblonden Locken, verstummte allerdings beim Anblick der Neuen, die sich nach wie vor angeregt mit Nash unterhielt, während wir anderen dumm danebenstanden wie bestellt und nicht abgeholt. „Oh! Zu spät.“

„Zu spät für was?“, fragte Emma. Die zwei Quasselstrippen hingegen zeigten auch jetzt noch keine Reaktion, was bedeutete, dass nur ich und Em Todd im Augenblick sehen konnten. Selektive Manifestation gehörte zu den diversen coolen Reaper-Fähigkeiten, über die Todd verfügte, und seit Emma darüber Bescheid wusste, zeigte er sich für gewöhnlich uns beiden und nicht bloß mir allein. Was mir mehr als gelegen kam. Eine Person weniger, die dachte, ich hätte einen an der Waffel und würde Selbstgespräche führen, während ich in Wirklichkeit mit Todd sprach.

„Um euch zu warnen“, sagte er verschwörerisch. „Vor Sabine.“

„Ist ihr ‚Achtung, bissig‘-Schild abgefallen?“, scherzte Em.

Missmutig verschränkte ich die Arme vor der Brust. „In ihre Klamotten kann’s jedenfalls nicht gerutscht sein, sonst würde es sich darunter deutlich abzeichnen.“ Sabines schwarzes ärmelloses Top saß so knalleng, dass man quasi ihre Bauchmuskeln zählen konnte.

Em sah mich tadelnd mit einer hochgezogenen Augenbraue an. „Nein, was sind wir heute gehässig.“

„Na, guck sie dir doch an“, entgegnete ich, gleichzeitig erleichtert und richtig, richtig sauer darüber, dass weder Nash noch Sabine uns auch nur die geringste Beachtung schenkten. Zwischen ihrer supertief geschnittenen, olivgrünen Cargohose und dem Saum ihres Shirts – ein Outfit, das ganz klar die Kleiderordnung der Schule verletzte – blitzte ein Streifen nackter Haut hervor, und mit ihrem großzügig aufgelegten dunklen Lidschatten hatte sie bestimmt schon mehr als ein kleines Kind zu Tode erschreckt. Aber – was besonders niederschmetternd daran war – dieser verwegene Look schmeichelte ihr. Und Nash sah das offensichtlich genauso. Er konnte kaum die Augen von ihr lassen.

„Du hast doch nicht wirklich ein Problem mit ihr“, stellte Emma fest, „sondern mit ihr und ihm.“

Ich ignorierte ihre Bemerkung und wandte mich an Todd. „Sie hatte in Fort Worth was mit Nash am Laufen, richtig?“

Todd nickte. „Exactamente. Wobei ich ‚was am Laufen haben‘ eine mega Untertreibung nennen würde.“

Fantastisch.

„Hey, willst du die Zuschauer auf den billigen Plätzen nicht langsam mal vorstellen?“, rief Emma Nash zu, wobei sie sich mit keiner Geste Todds Gegenwart anmerken ließ. Sie lernte schnell.

Nash schaute irritiert auf. „Oh, Entschuldigung.“ Er führte Sabine zu uns, indem er sie sanft vor sich herschob. „Emma kennst du ja schon, oder?“, fragte er, und das neue Mädchen – seine alte Flamme – nickte. „Und das ist meine …“ Verunsicherung flackerte in seinen aufgewühlten Augen auf, und er nahm schnell die Hand von Sabines Hüfte. „Das ist Kaylee Cavanaugh.“

Zum ersten Mal schaute sie mich direkt an, und ihr stechender Blick ließ mir den Atem stocken. Mein eigenes Spiegelbild starrte mich aus zwei blauschwarzen Seen an, deren Oberfläche sich zu bewegen schien wie Tinte in einem Glas. Die zu winzigen Punkten zusammengezogenen Pupillen schienen eiskalt durch mich hindurchzublicken, und in diesem Moment schnürte mir die schreckliche Gewissheit, dass Nash – jetzt, wo sie da war – nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, die Kehle zu.

„Kaylee …“ Sabine ließ sich meinen Namen regelrecht auf der Zunge zergehen, als wollte sie mich erst probieren, ehe sie entschied, mich entweder im Ganzen zu verschlingen oder in hohem Bogen wieder auszuspucken. Welches Schicksal sie mir schließlich zugedacht hatte, verriet sie jedoch nicht, sondern sprach ungerührt weiter. „Kaylee Cavanaugh. Du musst die neue Ex sein.“

Nur mit Mühe widerstand ich dem instinktiven Drang, einen Schritt zurückzuweichen, und warf Nash stattdessen einen fragenden Blick zu, den er mit einem Achselzucken beantwortete. Er hatte ihr nichts über uns erzählt. Bis gerade eben wusste er ja nicht mal von ihrer Anwesenheit.

„Ich …“ Und das war auch alles, was ich herausbrachte. Irgendwie wollte es mir nicht gelingen, den Gedanken zu Ende zu denken.

Sabine lachte daraufhin, und unter dem dicken, eigentlich warmen Stoff meiner Jacke überzog eine frostig prickelnde Gänsehaut meine Unterarme. „Mach dir keinen Kopf deswegen. Passiert den Besten von uns.“ Dann drehte sie sich resolut um – was mir wohl zu verstehen geben sollte, dass meine Audienz bei ihr beendet war – und schnappte sich mit einer Hand ihr Tablett, mit der anderen Nashs Arm. „Komm, lass uns was essen. Ich bin am Verhungern.“

Nash sah mich an, und im grünbraunen Strudel seiner Augen kam kurz so etwas wie Unschlüssigkeit zum Vorschein, doch dann ging er bereitwillig mit, und die beiden setzten sich an unseren Tisch. Ich schaute zu Todd hinüber, der das Geschehen voller Argwohn beobachtete.

„Wie lange ist es her, dass sie sich getrennt haben?“, wollte ich wissen, ohne mir die Mühe zu machen, leise zu sprechen. Für Nash und Sabine existierten wir sowieso nicht mehr.

„Na ja …“ Todd zögerte, was mich skeptisch die Stirn runzeln ließ. Genau wie Emma brillierte er für gewöhnlich durch eine gnadenlose, mitunter an Taktlosigkeit grenzende Offenheit.

„Was?“, beharrte ich.

Er seufzte tief. „Also, technisch gesehen hat es nie eine Trennung gegeben.“

2. KAPITEL

„Also, wie ernst war die Sache?“ Ich schob einem Mann in den Vierzigern mit beginnender Glatzenbildung sein Wechselgeld und den Kassenbon rüber. Er steckte beides in seine Tasche und verschwand dann, einen Jumbo-Eimer fettiges Popcorn unterm Arm, in Richtung Nordflügel des Kinos.

„Bist du dir sicher, dass du das wirklich wissen willst?“ Todd saß, wie immer in Jeans und weißem T-Shirt, auf dem Tresen der Snackbar, für jeden anderen außer Em und mir weder zu sehen noch zu hören. Es hätte aber sowieso keinen Unterschied gemacht, denn montagabends war das Cinemark ziemlich tot. Na ja, genau wie Todd, wenn man’s so betrachtete.

Emma beugte sich neben ihm über die Theke nach vorn. „Ich auf jeden Fall. Schieß los.“ Genau genommen hatte sie gerade Pause, aber Todd und ich schienen interessanter zu sein als das, was im Aufenthaltsraum passierte.

„Ich bin eigentlich nicht gekommen, um auch noch Salz in die Wunde zu streuen“, zierte er sich und klaute heimlich ein Stück Popcorn aus Emmas Tüte.

„Nein, du hängst nur hier rum, weil dir langweilig ist und du meine Probleme offenbar unterhaltsam findest.“

Todds Arbeitszeit im Krankenhaus war kürzlich in die Von-Mitternacht-bis-Mittag-Schicht verlegt worden, und da Reaper nicht schliefen, konnte er neuerdings jeden Nachmittag nach Lust und Laune seinen noch unter den Lebenden weilenden Freunden auf den Wecker fallen. Also mir, Em und Nash.

Er zuckte mit den Schultern. „Zum einen deswegen, und um mich für lau durchzufressen.“

„Apropos“, sagte Emma und hielt demonstrativ die Popcorntüte hinter ihren Rücken und damit aus seiner Reichweite. „Wieso isst du was? Kannst du das überhaupt verwerten?“

Überrascht zog Todd eine seiner blassen Augenbrauen hoch. „Ich bin vielleicht tot, aber ansonsten voll funktionsfähig. Ich funktioniere sogar besser als früher. Pass auf, ich beweise es dir.“ Blitzschnell griff er um sie herum und krallte sich eine ganze Handvoll Popcorn, worauf sie ihm lachend auf die Finger klopfte. „Und das ist längst nicht alles, was der gute alte Todd so tun kann …“

„Könnten wir die Vorführung deiner Vitalfunktionen auf später verschieben? Banshee-Maid in Not, schon vergessen?“, erinnerte ich ihn an meine verzwickte Lage. In Wahrheit aber fühlte es sich gut an, endlich mal wieder zu lachen, nach all dem, was wir in den letzten Monaten durchgemacht hatten. „Im Ernst jetzt, erzähl mir, was du über Sabine weißt.“

Emma grinste schief. „Ja, zum Beispiel, ob sie auch einen Nachnamen hat. Oder ist sie etwa einer von diesen Suuuperstars, die so was nicht brauchen? Wie Beyoncé oder der Papst?“

Ausgelassen warf ich eine von den Geleebohnen nach ihr, die ich als Notvorrat in der Schublade unter dem Tresen aufbewahrte. „Du weißt schon, dass das nicht sein Name ist, du Dödel?“

Em schnippte die Bohne zurück und verfehlte mich nur knapp.

„Wie auch immer“, meldete sich Todd schließlich zu Wort, „du lässt ja eh nicht locker. Also, hier kommen erst mal die Eckdaten. Ihr voller Name ist Sabine Campbell, und sie müsste inzwischen siebzehn Jahre alt sein. Besondere Vorlieben: lange Spaziergänge durch finstere Gassen, auffällige Piercings und, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich lässt, Schokomilch – geschüttelt, nicht gerührt.“

Er machte eine dramatische Pause, und der belustigte Ausdruck in seinen Augen verschwand. „Und sie und Nash waren wie dieser berühmte Pech-und-Schwefel-Kleister.“

Die Geleebohne mit Traubengeschmack, die auf meiner Zunge lag, verwandelte sich in ein saures Bonbon, und ich musste mich dazu zwingen, sie trotzdem zu kauen und runterzuwürgen. Augenblick, er hatte gesagt waren. Sie waren wie Pech und Schwefel. Vergangenheitsform. Im Hier und Jetzt gehörte Nash zu mir. Richtig? Wir ließen uns momentan bloß mehr Freiraum, sodass er Zeit hatte, die letzten Nachwehen seiner Sucht in den Griff zu bekommen, und ich, mich mit den jüngsten Ereignissen gefühlsmäßig zu arrangieren. Das machte ihn aber noch lange nicht zu Freiwild!

„Warte, du meinst, so mit rosa Herzchen, Pralinen und Blumensträußen? Das volle Programm?“, fragte Em, allein bei der Vorstellung angewidert die Nase rümpfend.

Todd blieb das Lachen im Hals stecken, als er meinen finsteren Gesichtsausdruck sah. „Mehr in Richtung Besessenheit, Co-Abhängigkeit und … Sex“, erklärte er kleinlaut.

Ich quittierte die Verlegenheit, mit der er das letzte Wort ausgesprochen hatte, mit einem Augenrollen und kramte in dem Karton nach einer weiteren Geleebohne von meiner Lieblingssorte. „Dass er keine Jungfrau mehr ist, weiß ich.“

„War er aber, bevor er Sabine kennengelernt hat.“

„Uiuiui“, bemerkte Emma vielsagend, und ich kippte daraufhin frustriert den Inhalt des Kartons in den Mülleimer.

„Ja, und?“ Ich öffnete die Tür zur Abstellkammer und griff mir einen Besen. „Gut, sie war also seine Erste. Das hat überhaupt nichts zu sagen.“ Rigoros fegte ich auf dem Boden verstreute Popcornkrümel und ein paar zermatschte Karamelllinsen zusammen. „Sie hat nicht mit ihm gemeinsam etliche Leben gerettet. Oder ihre Seele riskiert, um ihn aus den Fängen der Unterwelt zu befreien. Was auch immer zwischen ihnen gewesen ist, kann wohl kaum damit konkurrieren, stimmt’s?“

„Stimmt.“ Emma beobachtete mich und meine hektischen Bewegungen mit einer Mischung aus Skepsis und Mitgefühl.

„Und davon mal abgesehen, es ist ja auch gar nicht gesagt, dass sie noch was von ihm will. Wahrscheinlich war es wirklich nur Wiedersehensfreude und weiter nichts.“

Ich unterbrach meinen Putzanfall und schaute Emma nach Bestätigung heischend an.

Doch sie zog nur eine wenig ermutigende Grimasse. „Würde ich nicht drauf wetten, so, wie sie sich rangeschmissen hat. Sorry, Kay.“

„Und wenn schon. Ist doch völlig egal, denn er fährt nicht auf sie ab.“ Grimmig fegte ich weiter und knallte mit dem Besenstiel gegen die Scheibe der Popcornmaschine.

Todd sprang vom Tresen und streckte die Hand aus. „Ganz ruhig, Brauner. Komm, gib mir deine Waffe, sonst wird noch jemand verletzt.“

Zu spät. Sabine hatte es geschafft, mich an allem zweifeln zu lassen, was ich bislang so sicher zu wissen glaubte. Knapp fünfzehn Minuten in ihrer Nähe, und meine Welt war total aus den Fugen geraten.

Resigniert überließ ich Todd den Besen, und er stellte ihn zurück in die Kammer. „Kaylee, er hat sie seit über zwei Jahren nicht gesehen. Hab Geduld, lass ihn sich an die neue Situation gewöhnen, und du wirst sehen, spätestens in ein paar Wochen ist wieder alles normal.“

Normal. Ich wusste gar nicht mehr, was das bedeutete. „Meinst du?“

Todd lächelte aufmunternd. „Die Chance liegt so bei fiftyfifty, schätze ich.“

„Toll. Da ist statistisch gesehen sogar die Wahrscheinlichkeit, dass ich im Lauf meines Lebens zumindest einmal vom Blitz getroffen werde, höher.“

Emma lachte leise. „Bei deinem Glück? Garantiert.“

Ich zog einen in Folie eingeschweißten Stapel Pappbecher aus dem Regal und fing an, die Spender aufzufüllen. „Ist ja auch egal. Wie sind sie eigentlich ein Paar geworden?“

„Damals war ich leider, im Gegensatz zu heute, durch die Grenzen der Naturgesetze sehr eingeschränkt, darum kenne ich nicht jedes private Detail“, sagte Todd, der jetzt mit dem Rücken am Tresen lehnte und lässig die Ellbogen auf die Kante stützte.

„Erzähl mir einfach die Details, die du kennst“, verlangte ich ungeduldig.

„Schon gut, wenn du drauf bestehst“, beschwichtigte er mich. „Nash war erst fünfzehn, als sie ihm über den Weg gelaufen ist, und seine Bean-Sidhe-Kräfte noch in der Entwicklungsphase. Die Suggestivkraft erreicht erst mit der Pubertät ihre volle Intensität.“

„Ach, echt?“, sagte Emma erstaunt, die sich gerade ein Stück Popcorn in den Mund hatte schieben wollen und auf halber Strecke innehielt. „Wusste ich gar nicht.“

Da war sie nicht die Einzige. Aber ich hatte es satt, mich andauernd als mehr oder weniger ahnungslos zu outen, was die Besonderheiten meiner eigenen Rasse betraf, also hielt ich lieber die Klappe.

„Ja. Muss so eine Art Kindersicherung sein. Sonst würden sämtliche kleine Banshee-Buben mit dem Eintritt ins Trotzalter zu Mini-Despoten mutieren. Kannst du dir Nash vorstellen, wie er Mom hemmungslos rumkommandiert, kaum dass er sprechen gelernt hat?“

Dazu brauchte ich nicht allzu viel Fantasie. Jetzt, nachdem ich unfreiwillig erfahren hatte, wie sich außer Kontrolle geratene Suggestivkraft auf der Empfängerseite anfühlte und was sie anrichten konnte. Nash hatte mich mit seiner Banshee-Stimme nicht nur einmal in meinem Handeln beeinflussen wollen.

„Na, jedenfalls, Nash war kurz davor, erwachsen zu werden. Nur hatte er ausgerechnet zu der Zeit nicht unseren Dad an seiner Seite, der ihm gewisse Dinge beibringen sollte, so wie mir. Der Arme hatte also null Durchblick und war total überfordert mit der Situation. Tja, und Sabine wurde als Kind ausgesetzt und hatte eine ganze Reihe verschiedener Pflegefamilien durch. Als die beiden sich trafen, lebte sie gerade bei einer, wo es ziemlich hart zuging, und sie war voll neben der Spur. Okay, sie ist von Natur aus ein wenig jähzornig, aber so schlimm, dass sie derart austickt, nun auch wieder nicht. Irgendwie hat es jedenfalls zwischen ihnen gefunkt, keine Ahnung. Ich glaube, Nash dachte, er könne ihr helfen.“

Ja, das klang stark nach Nash und seinem Beschützerinstinkt. Wir waren auf dieselbe Weise zusammengekommen.

Gedankenverloren starrte ich auf den Fußboden und versuchte, in meinem weichen Herz kein Mitleid für Sabine aufkommen zu lassen. Irgendetwas sagte mir, sie würde darüber ebenso wenig begeistert sein wie über die Tatsache, dass ich ganz offensichtlich noch eine – wenn auch momentan unklare – Rolle in Nashs Leben spielte.

„Konnte Harmony sie gut leiden?“, fragte ich. Das mulmige Gefühl, das sich bei dieser Frage sofort in mir ausbreitete, ließ sich nicht unterdrücken, sosehr ich mich auch anstrengte. Natürlich hätte ich ein Problem damit gehabt, wenn Nashs Mutter eine seiner Exfreundinnen lieber mochte als mich, doch das war es nicht allein. Harmony und ich teilten dieselben Fähigkeiten, und unsere Bindung ging mittlerweile weit über ein freundschaftliches Verhältnis hinaus. Ich wollte sie für mich haben, genauso wie ich Nash für mich haben wollte.

„Du weißt, wie Mom ist. Sie findet jeden nett. Aber dieses Gespann, ihr Sohn und Sabine, davon war sie alles andere als begeistert. Na ja, wahrscheinlich haben sie dieselben Horrorvorstellungen gequält, wie sie dein Dad bei Nash und dir hat.“

„Und wie ging’s dann weiter?“, hakte Emma nach, während ich noch damit beschäftigt war, die Information zu verdauen, dass es mit Sabine und Nash ernst genug gewesen sein musste, um Harmony in Sorge zu versetzen.

Als Todd nicht antwortete, sah ich auf, und er erwiderte trocken: „Ich bin gestorben.“

Emma blinzelte verwirrt. „Du … bist gestorben“, wiederholte sie. Klar, sie wusste, dass er tot war, aber dadurch hörte sich seine Aussage keineswegs … normaler an.

„Jepp, ich bin abgetreten, und Mom und Nash konnten ja nicht ahnen, dass ich in neuer und verbesserter Form zurückkomme.“ Er warf sich in Pose und präsentierte stolz seine von dem bisschen Sterben vollkommen unversehrt gebliebene Reaper-Gestalt. „Sie zogen also hierher, um neu anzufangen, so wie wir’s nach Dads Tod auch gemacht hatten. Wir haben früher schon mal in der Gegend gewohnt, als Nash und ich noch klein waren, deshalb kam es Mom vielleicht ein wenig vor wie nach Hause kommen. Für Nash allerdings machte dieser Umzug alles noch schwerer. Er musste Sabine zurücklassen.“

„Und sie haben trotzdem nie richtig Schluss gemacht?“ Ich machte mit den Jumbobechern weiter, in der Hoffnung, man sähe mir nicht an, wie neugierig ich auf den Rest der Geschichte war.

„Kontaktsperre. Sie befand sich zu der Zeit sozusagen in … Gewahrsam. Keine E-Mails, keine Anrufe, ausgenommen Familienangehörige. Die es in ihrem Fall aber nicht gibt.“

Emmas Augen weiteten sich. „Sie haben sie einkassiert?“

„Ich sagte doch, dass sie neben der Spur war.“

„Ja, aber von schwedischen Gardinen hast du nichts erwähnt.“

Ich stopfte die Becher mit bedeutend mehr Nachdruck in den Spender als nötig. Nashs Exfreundin, sein ehemaliger „Schwefel“, war eine Kriminelle? Nein, das klang überhaupt nicht irgendwie gruselig oder so.

Doch offensichtlich hatte sich sein Geschmack, was Mädchen betraf, in den letzten Jahren geändert. Frappierend.

„Was hat sie verbrochen?“, stellte Emma die Frage, auf deren Antwort ich brannte, sie aber nicht selbst über die Lippen brachte.

Todd machte eine wegwerfende Handbewegung. „Darüber hat Nash nie mit mir geredet. Ich weiß bloß, dass sie mit einer Bewährungsstrafe davonkam und in eine Besserungsanstalt musste. War also scheinbar nicht schlimm genug, um sie richtig einzulochen.“

„Das ist wohl Ermessenssache.“ Ich wickelte die übrig gebliebenen Becher wieder in den Rest der Folie und verstaute sie unter dem Tresen. „Vielleicht sollte ich ihn nachher mal anrufen.“

„Und was willst du sagen?“, gab Emma zu bedenken. „‚Keine Ahnung, ob ich dich zurückhaben will, aber deine Exknasti-Exschickse kriegt dich jedenfalls nicht, damit du Bescheid weißt.‘ Prima Idee. Das wird ordentlich Schwung in diese kleine Dreiecksgeschichte bringen.“

„Das ist keine Dreiecksgeschichte. Es ist …“ Ein Fiasko. „… gar nichts. Alle möglichen Leute, die mal was miteinander hatten, machen später einen auf dicke Freunde, stimmt’s?“ Emma und Todd tauschten einen befangenen Blick aus. „Stimmt’s?“, wiederholte ich, als keiner von beiden antwortete.

„Da bin ich überfragt, Kay.“ Emma zerknüllte ihre Popcorntüte und warf sie zielsicher in den Mülleimer gegenüber vom Tresen. „Aber es hat auch was Positives. Mrs Garner zufolge ist das Dreieck immerhin die stabilste aller geometrischen Formen.“

„Hör doch mal auf mit deinem Dreieck. Es gibt hier keins, klar?“ Verärgert wandte ich ihr und Todd den Rücken zu und zählte akribisch die in kleine Schalen abgefüllten Nachokäse-Portionen unter der Wärmelampe. Ich konnte es mir nicht erlauben, meine Entscheidung hinsichtlich unserer Beziehungspause durch Sabines unerwünschtes Auftauchen ins Wanken geraten zu lassen. Oder wegen ihrer kriminellen Vergangenheit. Oder, weil sie sich einbildete, Anspruch auf meinen Freund erheben zu können.

Als ich mich wieder umdrehte, sah Em mich immer noch an. „Vielleicht solltest du Nash nicht wegen seiner Ex die Hölle heißmachen, ehe er nicht wieder ganz auf den Beinen ist.“

„Hm.“ Nur, dass sie ihn bis dahin womöglich in anderer Hinsicht flachgelegt oder ihm den Boden unter den Füßen weggezogen haben könnte. Egal was, ein Nash ohne Bodenhaftung wäre in jedem Fall schlecht.

„Marshall, deine Pause ist vorbei!“, rief der neue Teamleiter quer durch die Eingangshalle, seine speckigen Hände rechts und links neben dem beachtlichen Bauch in die Hüften gestemmt. „Husch, husch, ab an den Kartenschalter mit dir!“ Sein Name war Becker, aber wenn Emma sich nach der Arbeit über ihn lustig machte, tauschte sie das B gegen ein M aus. Einmal hatte sie ihn aus Versehen schon kurz vor Feierabend mit „Mr Mecker“ angesprochen, und seitdem machte er seinem Spitznamen erst recht alle Ehre.

Emma rollte mit den Augen, schob Todd den Rest ihrer Limo rüber und lief durchs Foyer zu ihrem Schalter. „Wir sehen uns nachher.“ Wir beide fuhren für gewöhnlich zusammen nach Hause, wenn wir in derselben Schicht Dienst hatten. Aber neuerdings hatten wir immer öfter einen dritten Fahrgast an Bord.

Als hätte er meine Gedanken gelesen – was, soweit ich wusste, nicht zu den Reaper-Fähigkeiten zählte –, linste Todd zu der Traube von Highschool-Frischlingen hinüber, die sich durch den Haupteingang drängelten und ins Foyer ausschwärmten wie die Heuschrecken. „Wo steckt Alec?“

Er, Nash und Harmony waren – abgesehen von meinem Dad – die Einzigen, die über Alecs Vergangenheit Bescheid wussten, in der er ein Vierteljahrhundert als Sklave eines Hellions in der Unterwelt gefangen gehalten wurde. Bis wir ihn als Gegenleistung für seine Hilfe bei der Rettung von Dad und Nash aus den Klauen ebendieses Hellions befreit hatten.

Ich sah auf die Uhr. „Er macht gerade Pause, aber er müsste eigentlich jede Minute wieder zurück sein.“ Ich hatte ihm meine Autoschlüssel gegeben, damit er seine Tüte Doritos in Ruhe essen und ein bisschen für sich sein konnte. Mit meiner und Dads Gesellschaft kam Alec inzwischen klar, in der Nähe von anderen Leuten jedoch fühlte er sich unwohl.

Im Großen und Ganzen hatte er die Umstellung, wieder in der Menschenwelt zu leben, allerdings recht gut verkraftet. Das Surfen im Internet, vorzugsweise mit dem Laptop, DVDs und diverses andere technische Zeugs faszinierten ihn. Kein Wunder, schließlich war all das noch nicht erfunden worden, als Avari ihn in den Achtzigern zu seinem Proxy gemacht hatte – einer grotesken Mischung aus persönlichem Assistenten und Appetithäppchen. In den ersten Tagen nach unserer geglückten Flucht war mein iPod wie vom Erdboden verschluckt gewesen, was ich mir zunächst gar nicht erklären konnte.

Jedenfalls stellten Menschenmassen für Alec nach wie vor eine Herausforderung dar. Doch nicht wegen ihrer Größe – er hatte in der Unterwelt regelmäßig mit ganzen Horden Furcht einflößender Monster zu tun gehabt –, sondern es war der damit verbundene Kulturschock, der ihm zu schaffen machte. Er gewöhnte sich in seiner eigenen Geschwindigkeit an das einundzwanzigste Jahrhundert, mithilfe des Fernsehens, des Lesens von Zeitungen – scheinbar gab es noch immer Leute, die sich auf diesem Weg über aktuelle Ereignisse informierten – und natürlich all der Kinofilme, die er sich im Cinemark umsonst ansehen durfte. Aber wenn er mit realen Menschen interagieren musste, die nichts von seinem kulturellen Handicap wussten, wurde er nervös. Einfache Fragen wie „Mittel oder groß?“ und „Möchten Sie Ihr Popcorn mit Butter?“ waren bis jetzt das Höchstmaß an Kontaktaufnahme mit den Kinobesuchern, zu dem wir ihn auf der Arbeit hatten ermuntern können.

„Soll ich ihn suchen?“, bot Todd an, als die lärmende Meute über Emma am Kartenschalter herfiel. Doch bevor ich antworten konnte, bog Alec hastig um die Ecke, während er sich im Laufen einen herausgerutschten Hemdzipfel in die Hose steckte.

„Entschuldigung. Bin eingenickt“, sagte er, dann verschwand er in einem schmalen Flur, der zum Pausenraum und dem rückwärtigen Durchgang zur Snackbar führte. Als er Sekunden später neben mir am Tresen erschien und sich mit der dunkelhäutigen Hand durch das kurz geschorene dichte Kraushaar fuhr, sah er immer noch aus, als wäre er im Halbschlaf.

„Genau im richtigen Moment. Gleich geht’s rund.“ Ich wies mit einem Kopfnicken zu dem Massenauflauf hinüber, und Alecs dunkle Augen wurden groß vor Entsetzen. „Keine Panik, die lieben Kleinen nehmen meistens Slurpees, ein paar Süßigkeiten und Popcorn, nichts Ausgefallenes.“

Alec starrte mich einfach nur an, während ich vorsichtig eine Tüte Maiskörner in die Popcornmaschine füllte. Dabei konnte man sich richtig übel verbrennen, wenn man nicht aufpasste. „Hey, du hast den exklusiven Insider-Einblick in Sabines dunkle Vergangenheit verpasst.“ Em und ich hatten ihm auf der Herfahrt von ihr und unserer ersten Begegnung erzählt, was ihn allerdings, wie sein abwesender Blick verriet, nicht besonders vom Hocker gehauen hatte. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Gemessen an sechsundzwanzig Jahren in der Unterwelt, versklavt von einem Hellion, erschien ihm eine Highschool-Tragödie wie diese vermutlich total belanglos oder allenfalls merkwürdig.

„Es hat sich herausgestellt, dass sie ein Exknasti ist. Oder so was Ähnliches. Todd weiß nicht genau, was sie auf dem Kerbholz hat, aber …“ Ich drehte mich zu dem Reaper um und bemerkte zu meiner Überraschung, dass er sich klammheimlich abgesetzt hatte. Wahrscheinlich war die Verlockung, ein paar der vorpubertären Schüler auf die Schippe zu nehmen, zu groß, und er hatte beschlossen, sich, natürlich unsichtbar, einen Spaß mit ihnen zu erlauben.

„Wie auch immer. Sie will Nash zurück und …“ Ehe ich weitersprechen konnte, wurde die Snackbar auch schon überrollt, und der plötzliche Ansturm riss mich für einen Moment aus meinem Selbstmitleid.

Ich zeigte zu der zweiten Kasse. „Du übernimmst die da und ich diese hier.“

Alec nickte, aber als der Erste in der Schlange anfing, maschinengewehrartig seine Bestellung runterzurattern, starrte er hilflos die Kasse an, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen.

Na super. Der perfekte Moment, um einen kleinen Kulturschock-Rückfall zu bekommen. Noch vor zwanzig Minuten hatte er ganz ruhig und gelassen seine Kunden bedient. Aber eben wohlgesittete einzelne Personen und nicht eine wild durcheinanderbrüllende Horde wie diese hier. „Komm, lass mich das machen.“ Ich drängte mich resolut zwischen Alec und die Kasse. „Ich nehme die Bestellungen auf, und du machst sie fertig.“ Mit diesen Worten drückte ich ihm eine leere Popcorntüte in die Hand und sah ihn auffordernd an.

Er erwiderte meinen Blick, und in seinen Augen blitzte ein Anflug von Zorn auf, sodass ich schon damit rechnete, er würde mir gleich irgendeine Beleidigung an den Kopf werfen. Doch stattdessen nickte er nur knapp und machte sich dann wortlos an die Popcornmaschine.

Ich begann also damit, Bestellungen anzunehmen und Pappbecher mit Cola zu füllen, aber als ich mich umdrehte, um die vorbereiteten Popcornportionen von Alec entgegenzunehmen, musste ich feststellen, dass er wie zur Salzsäule erstarrt vor der Maschine stand. Er starrte die noch immer leere Papiertüte in seiner Hand an, als wäre er unschlüssig, ob er etwas hineintun oder sie sich wie einen Hut auf den Kopf setzen sollte.

„Alec …“ Sachte zog ich die Tüte aus seinen Fingern und schaufelte sie zur Hälfte voll. „Das ist jetzt wirklich kein guter Zeitpunkt für einen Nervenzusammenbruch“, flüsterte ich, während ich das Popcorn mit Butter besprenkelte, die Portion auffüllte und zum Schluss eine weitere Ladung Butter darüber träufelte. „Alles okay mit dir?“

Er runzelte die Stirn und nahm dann eine neue Popcorntüte vom Stapel vor sich.

Ich schob dem ersten Kunden sein Tablett über den Tresen, sah auf und entdeckte Emma, die auf uns zugelaufen kam. „Die Rettung naht!“, rief sie. „Mecker schickt mich, um euch rauszuhauen.“ Damit hievte sie sich mit einem gekonnten Satz auf den Tresen, schwang die Beine auf die andere Seite und landete in einer gekonnten Pose auf dem Boden, wie eine Superheldin. Einige der Sechstklässler kicherten über diese Showeinlage, aber das war ihr natürlich egal. Ich wollte mich gerade bei ihr bedanken, dass sie uns zu Hilfe kam, als mein Blick auf die vier säuberlich aufgereihten Popcorntüten zu meiner Rechten fiel.

Was zum …?

Ich überließ Emma die Kasse, ging zu Alec hinüber und schnappte mir eine Tüte in der mittleren Größe. Dann trat ich dicht zu ihm heran, damit die Kunden nichts davon mitbekamen, was ich zu ihm sagte. „Die haben nicht alle ‚Extra groß‘ bestellt, Alec. Du musst schon auf die Belege gucken.“ Wie zum Beweis hielt ich ihm einen für eine mittelgroße Portion Popcorn und eine große Cola vor die Nase und fing an, genau das vorzubereiten. „Gab’s so was in den Achtzigern etwa nicht?“

Alec zog zum wiederholten Mal die Stirn kraus. „Diese Arbeit ist unwürdig und sinnlos.“ Er ging in die Hocke, um die Pappbecher-Reserven unter dem Tresen zu inspizieren.

„Ähm, ja.“ Ich füllte eine weitere Tüte, indem ich sie mit einer geübten Bewegung durch den Popcornberg zog, den die Maschine unermüdlich produzierte. „Deswegen wird sie wohl von Schülern gemacht.“ Und fünfundvierzig Jahre alten kulturellen Krüppeln.

Alec war neunzehn gewesen, als es ihn in die Unterwelt verschlagen hatte – über die genauen Umstände wollte er nach wie vor nicht sprechen –, aber in all der Zeit, die er dort verbracht hatte, war er äußerlich nicht um einen Tag gealtert.

„Was ist denn mit ihm?“, fragte Emma, als ich ihr die fertige Popcorntüte reichte.

„Er ist bloß müde.“ Em hatte keine Ahnung, wer Alec wirklich war, denn ich wollte ihr den Schock ersparen, den sie ohne Frage erleiden würde, wenn sie herausfand, dass ausgerechnet ihr neuer Arbeitskollege sich in dem verzweifelten Versuch, aus der Unterwelt zu entkommen, hinterrücks ihres Körpers bemächtigt hatte. Sie glaubte, er wäre ein Freund meiner Familie, der auf unserem Sofa campierte, bis er genug Geld zusammengespart hatte, um sich eine eigene Bleibe und die Teilnahme an einigen Online-College-Kursen leisten zu können.

Ich drehte mich wieder zu ihm um. Er stand mit aufgestützten Händen vor der rückwärtigen Theke und starrte geistesabwesend auf den Boden zwischen seinen Füßen.

„Alec? Geht’s dir gut?“ Mitfühlend legte ich ihm die Hand auf die Schulter. Er zuckte erschrocken zusammen und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an, als wäre ich plötzlich wie aus dem Nichts aufgetaucht. Dann schüttelte er den Kopf wie jemand, der im Stehen einschlafen könnte, aber krampfhaft versuchte, irgendwie wach zu bleiben. Als er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, blinzelte er und blickte sich etwas orientierungslos in der Eingangshalle um.

„Ja, ich bin okay. Tut mir leid, ich hab gestern Nacht nicht viel geschlafen. Was hast du eben gesagt?“

„Dass du die Belege lesen musst. Du kannst nicht jedem einfach eine ‚Extra groß‘ geben, ob er die nun bestellt hat oder nicht.“

Alec warf mir einen verständnislosen Blick zu und nahm einen der Belege, die nebeneinander auf der Theke lagen. „Ich weiß. Ich mache das hier schon seit einer Woche, Kay. So schwer von Begriff bin ich nun auch wieder nicht.“

Dass er mich freundschaftlich mit „Kay“ ansprach, brachte mich zum Lächeln, denn das tat er nur selten, und zwar dann, wenn er das Gefühl hatte, endlich wieder seinen Platz in der Menschenwelt gefunden zu haben. Und ganz ehrlich, selbst mit den vorübergehenden Aussetzern, die ihn ab und zu plagten, schien Alec an manchen Tagen weitaus besser in diese Welt zu passen, als ich es tat.

3. KAPITEL

Der lange Flur ist kalt und steril, und das sollte mich eigentlich schon stutzig machen. Sonst herrscht in der Schule immer eine stickige Wärme, weil die Gänge hoffnungslos überfüllt sind, aber heute fühlt sich kalt und steril seltsam richtig an.

Ich gehe den Flur hinunter, Emma ist neben mir. Dann sehe ich die beiden und bleibe wie angewurzelt stehen. Emma nicht. Sie registriert nichts Ungewöhnliches daran. Ich dagegen kann kaum atmen, meine Kehle ist wie zugeschnürt. Ich schaffe es gerade so, genug Luft in meine Lungen zu saugen, um nicht ohnmächtig zu werden, was das Schwindelgefühl in meinem Kopf jedoch auch nicht erträglicher macht. Als ob überhaupt irgendetwas erträglich sein könnte, solange sie so da herumstehen. Direkt vor meinem Spind, sodass ich das Schauspiel auf keinen Fall verpassen kann.

Ihr Gesicht ist nicht zu erkennen, denn es klebt förmlich an seinem, aber ich weiß trotzdem, wen ich vor mir habe. Die glänzenden dunklen Haare, die bekloppte Männerhose, in der sie genauso widerlich heiß aussieht, wie sie es vermutlich in seinem T-Shirt tat, wenn das alles war, was sie trug. Und ich wusste, sie sprang vor ihm halb nackt, nur mit seinem Shirt bekleidet, durch die Gegend. Verdammt, sie hatte ihn besprungen. Und wären sie nicht mitten in der Schule, würde sie es wahrscheinlich auch jetzt machen. Viel fehlt jedenfalls nicht dazu.

Ich gehe auf sie zu und komme erst knapp eine Armlänge von ihnen entfernt zum Stehen, wodurch sie mich nicht länger ignorieren können. Schon löst sie sich in Zeitlupentempo aus seiner Umarmung. Dabei fährt sie sich mit der Zunge über die Lippen, als könne sie nicht genug von seinem Geschmack bekommen, wobei mir instinktiv klar wird, dass dies tatsächlich der Grund ist. Mein Kiefer tut weh. Ich habe unbewusst angefangen, mit den Zähnen zu knirschen. Dann bemerke ich, dass wir nicht allein sind. Eine Menschentraube hat sich um uns gebildet. Natürlich. Wo was los ist, da sammeln sich auch neugierige Gaffer, und die Show, die wir hier bieten, will man sich auf keinen Fall entgehen lassen.

Ich sage seinen Namen. Obwohl ich es nicht will. Ich will weder ihm Beachtung schenken noch dem, was er da gerade tut, aber ich kann nicht anders. Es ist nicht real. Solange er es nicht ausspricht, ist es nicht real, und ein Teil von mir glaubt felsenfest daran. Er wird es nicht sagen, sondern die richtigen Worte finden. Beteuern, dass es ein Fehler war, der ihm furchtbar leidtut, und in seinen Augen werde ich lesen können, dass er es ehrlich meint. Und diesen Ausrutscher wird er noch eine ganze Weile lang bereuen, doch irgendwann ist Gras über die Sache gewachsen und zwischen uns wieder alles in Ordnung.

Doch stattdessen zuckt er mit den Schultern und blickt sich grinsend unter den Schaulustigen um. Die Gesichter beginnen zu flimmern und miteinander zu verschmelzen, bis ich sie nicht mehr auseinanderhalten kann, aber das spielt keine Rolle, denn die Meute hat ohnehin nur ein Gesicht. Das ist schließlich immer so. Auch du, Brutus? Eine Herde, getrieben von kollektiver Sensationsgier, und ich bin Cäsar, kurz bevor er niedergestochen wird.

Oder vielleicht hat mich der tödliche Messerstich schon getroffen und ich bin nur zu blöd zu merken, wie ich in einer sich langsam ausbreitenden Lache aus meinem eigenen Blut stehe. Woran es jedoch keinen Zweifel gibt, ist, dass ich sterbe. Innerlich. Er ist dabei, mich umzubringen.

„Entschuldige, Kay“, sagt er wenigstens, und ich hasse ihn für seine Unverschämtheit, meinen Kosenamen zu benutzen. Es hört sich angenehm und freundschaftlich an, aber die Zunge, mit der er den vertrauten Laut formt, hat eben noch in ihrem Mund gesteckt, und ich würde sie ihm am liebsten mit einer Machete herausschneiden. „Entschuldige“, wiederholt er noch einmal, während meine Wangen heiß werden, als würden sie in Flammen stehen, und meine Welt hinter einem Schleier aus Tränen verschwindet. „Sie weiß eben, was mir gefällt. Und sie ziert sich nicht, es mir zu geben …“

Lautes Gelächter bricht aus, und wenn die Menge auch nur ein Gesicht haben mag, Stimmen hat sie viele. Schrille und höhnische Stimmen. Und sie alle lachen mich aus. Sogar Emma.

„Ich hab’s dir gesagt“, spottet sie kopfschüttelnd, wobei sie bemüht ist, ein Kichern zu unterdrücken. Und ich rechne ihr hoch an, dass sie es immerhin versucht, selbst wenn es ihr am Ende doch nicht gelingt. Es ist nicht ihre Schuld. Sie spielt nur ihre Rolle, und die Zeilen müssen nun mal gesprochen werden, egal ob jedes Wort wie Salz in einer offenen Wunde brennt.

„Hab ich nicht gesagt, die Warterei ist Schwachsinn? Bei diesem Spiel verlierst du, wenn du dich nicht an die Regeln hältst. Du musst abliefern …“

4. KAPITEL

Ich schreckte hoch, mein Herz hämmerte so heftig, dass ich es praktisch von innen gegen meine Rippen schlagen spürte, und mir brach der kalte Schweiß aus. Nachdem ich einmal tief eingeatmet hatte, um mich zu beruhigen, schlug ich die Bettdecke zurück, schlüpfte in meine Betty-Boop-Schlappen und tapste leise den Flur entlang bis ins Wohnzimmer, wo Alec mit über den Kopf gezogener Decke auf dem Sofa schlief. Seine nackten Füße ruhten auf der Armlehne am anderen Ende, die Oberseiten braun, die Sohlen weiß. Als ich an ihm vorbeischlich, zuckte einer seiner großen Zehen, und ich wäre fast vor Schreck tot umgefallen.

Ich war schon auf dem Rückweg aus der Küche, wo ich mir ein Glas Wasser geholt hatte, und huschte wieder wie ein Mäuschen durchs Wohnzimmer, als Alec ganz plötzlich die Decke von seinem Gesicht riss und mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

„Okay, das wird langsam gruselig“, bemerkte ich, während er sich aufsetzte.

„Was?“

„Du. Eingemummelt und reglos wie im Tiefschlaf und in Wahrheit hellwach.“ Ich ließ mich in Dads Fernsehsessel sinken und machte es mir im Schneidersitz bequem. „Das ist, als ob man in der Leichenhalle zwischen den Bahren steht, und mit einem Mal stützt sich neben dir einer von den Toten auf die Ellbogen und guckt dich an.“

„Tut mir leid.“ Er fuhr sich abwesend mit der Hand über die glatte, dunkelhäutige Brust. Sechsundzwanzig Jahre in der Unterwelt mochten in seinem Inneren ihre Narben hinterlassen haben, aber die äußere Hülle hatte keinen einzigen Kratzer abbekommen. „Diese Stille, ich kann dabei einfach nicht einschlafen.“

„Wie jetzt, hat Avari dir abends etwa immer noch ein Gutenachtlied gesungen?“

„Sehr lustig.“ Alec beugte sich vor, die Unterarme auf den Knien, die Schultern eingesunken. „Wenn du dich erst mal an diese Geräuschkulisse aus Schreien und Wehklagen gewöhnt hast, und von heute auf morgen ist sie nicht mehr da, dann fehlt irgendwie etwas. So komisch das auch klingt. Was nicht heißen soll, dass ich in der Unterwelt nicht auch des Öfteren die Nacht durchgemacht hätte.“

„Warum denn das?“ Die Gänsehaut, die sich auf meinen Armen bildete, hatte nichts mit meinem Albtraum zu tun, sondern mit dem bloßen Gedanken daran, was für grauenvolle Dinge Alec in der Realität erlebt haben musste.

Er zuckte mit den Achseln und richtete sich wieder auf, um mir in die Augen zu sehen. „Hellions schlafen nicht, also habe ich meistens zwischendurch kleine Nickerchen gemacht, wann ich eben konnte. Meistens, wenn Avari sich gerade mit jemand anderem beschäftigt hat.“

Ich wollte ihm schon erklären, dass nicht sein unheimlicher Schlafrhythmus mich schockte, sondern ich mir unfreiwillig die Schreie vorstellte, von denen er gesprochen hatte, und daher mein entsetzter Blick rührte. Doch dann entschied ich, weder das eine noch das andere Thema weiter zu vertiefen, und hielt die Klappe.

„Und warum bist du noch wach?“, fragte er, als ich an meinem Wasser nippte.

„Hab schlecht geträumt.“ Ich stellte das Glas exakt auf dem ringförmigen Fleck ab, den ein anderes vor vielen Jahren auf unserem Couchtisch hinterlassen hatte.

„Wovon?“

Mein Seufzen klang gequält, sogar für mich selbst. „Dass Nash mich wegen seiner Exfreundin in den Wind geschossen hat. In der Schule, vor versammelter Mannschaft, nachdem er ihr quasi die Haut vom Gesicht gelutscht hat.“

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