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Sommerglück am Chiemsee

Als Buch hier erhältlich:

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Schillerndes Wasser, liebevolle Botschaften und die Macht der Worte

Josefine fährt an den Chiemsee, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen und nach langer Zeit der Funkstille Kontakt zu ihren Eltern zu wagen. Als sie eine günstige Unterkunft im Nachbarort sucht, wo sie zunächst Mut sammeln möchte, kommt sie bei dem ehemaligen Schreiner Peter unter, der alles Mögliche repariert. Alte Wecker, Radios, und sogar gebrochene Herzen. Sein unerzogener, stürmischer Riesenschnauzer beschert Josefine gleich zu Beginn einen Hexenschuss. Eigentlich praktisch, dass Peters Sohn Adrian, der mit im Haus wohnt, gelernter Physiotherapeut ist. Doch Josefine tut alles, um ihre Schmerzen zu verstecken, denn wenn es etwas auf dieser Welt gibt, das die selbstbewusste junge Frau hasst, dann sind es Berührungen – wenngleich sie sich verzweifelt nach Nähe sehnt. Die Macht der Worte ist es, die ihr Herz schließlich öffnet.


  • Erscheinungstag: 25.03.2025
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365008959

Leseprobe

Leonie Werdenfels

Sommerglück
am
Chiemsee

Roman

HarperCollins

Kapitel 1

Wo Worte sind, ist eine Welt.

Ich starrte auf den winzigen Zettel. Als der Bus an der nächsten Haltestelle zum Stehen kam, bückte ich mich danach und hob ihn auf. Das Papier war dreckig von all den Schuhen, die sicherlich bereits darauf herumgetrampelt waren, die Ecken geknickt und die Schrift abgewetzt.

Wo Worte sind, ist eine Welt … Doch um ehrlich zu sein, war ich mir noch nicht ganz sicher, ob das beruhigend oder bedrohlich klang. Worte, tja … Mein Kopf war voll davon. Voll von Gedanken, die pausenlos vor sich hin plapperten. Die nicht einmal nachts Ruhe fanden. Das Problem an diesem Satz, der so unschuldig daherkam: Es gab genügend Worte in mir, die ich hasste. Worte in meiner Erinnerung, die eine Welt zeichneten, in die ich niemals zurückkehren wollte. Und doch erschien sie mir oft beängstigend nah. Wie jetzt in diesem Moment.

Mein Magen schlug einen missglückten Salto. Angestrengt starrte ich aus dem Fenster. Wie viel lieber läge ich jetzt draußen auf diesen sattgrünen Wiesen, um mich von der langen Fahrt zu erholen. Wo die Kühe friedlich grasten und die Bergketten noch im Nebel lagen. Ich fühlte kalten Schweiß auf meiner Stirn und biss die Zähne zusammen. Den Zettel rieb ich zwischen den unruhigen Fingern. Komm schon, Josefine, du schaffst das. Dass ich hier in diesem überfüllten Bus stand, war der Beweis dafür. Oder zumindest ein kläglicher Versuch, meine Welt zu ordnen.

Das Klingeln meines Handys riss mich aus den Gedanken. Wie ferngesteuert schob ich den Zettel in die Hosentasche und kramte das Smartphone heraus. Vom Display aus lachte mich das Gesicht meiner besten Freundin an, umrahmt von kurzen lilafarbenen Haaren. Eines der wenigen guten Bilder, die von Finja existierten. Auf neunzig Prozent aller Fotos hatte sie entweder die Augen zu oder einen Arm im Gesicht.

Als ich auf das Hörersymbol tippte, um den Anruf anzunehmen, atmete ich tief ein. Aber nicht mehr aus.

»Hey«, sagte ich mit gequetschter Stimme.

»Du hörst dich schlimm an«, stellte sie anstatt einer Begrüßung fest. »Wie fühlst du dich?«

Ich zuckte die Achseln. »Ein wenig … zerknittert.«

»Wer zerknittert ist, kann sich überhaupt erst richtig entfalten.«

»Wenn du das sagst«, antwortete ich – und rang mir ein kleines Lächeln ab.

»Schieß los. Ihr habt euch getrennt? Warum hast du nicht früher was gesagt?« Doch es war kein Vorwurf. Ich konnte Sorge hören, die in ihren Worten mitschwang.

»Ach.« Ich winkte ab. Das war in diesem Augenblick mein kleinstes Problem. Unruhig beobachtete ich die anderen Passagiere, mit Mühe versteckte ich die aufkeimende Panik. Menschen. Viel zu viele Menschen. Die Hände presste ich dicht an meinen dröhnenden Kopf. Verdammt noch mal. Nur einmal wollte ich einfach in einem überfüllten Bus mitfahren. Aus dem Fenster starren, in Richtung Berge. Die idyllische oberbayerische Landschaft an mir vorüberziehen sehen. Dem leisen Pling lauschen, wenn jemand für die nächste Haltestelle drückte. Gedankenverloren der leeren Coladose nachsehen, die bei jeder Kurve durch den Gang rollte. Fühlen, wie sie ab und zu gegen meine Sneakers stieß. Den ein oder anderen Ellenbogen in die Seite gestoßen bekommen und dem Gedränge keine große Bedeutung beimessen. Den Alltag leben. So wie jeder andere Mensch auch.

»Warum diesmal?« Das Lächeln in ihrer Stimme klang so mitfühlend, dass ich schluckte, um nicht in aller Öffentlichkeit in Tränen auszubrechen.

»Wie immer.« Stöhnend griff ich nach meinem Koffer, als der Busfahrer an der nächsten Haltestelle abrupt abbremste. Ich hangelte mich an den Haltegriffen hinüber zum Fenster und presste mich gegen die kühle Scheibe. Die Sitzplätze waren längst alle belegt, immer mehr Leute drängten sich auf dem Gang.

Sie seufzte. Wind rauschte in der Leitung. Offenbar war Finja gerade irgendwo draußen unterwegs. »Immerhin hast du es mit ihm ganze vier Wochen ausgehalten. Doppelt so lang wie mit diesem blonden Chemiestudenten, von dem ich nicht einmal mehr den Namen weiß.«

»Rekord«, antwortete ich und presste das Handy fest an mein Ohr. So, als könnte ich mich einfach zu Finja hinüberbeamen, wenn ich mich nur genug anstrengte.

Konzentriert atmete ich ein paar Mal ein und wieder aus, zwang mich zur Ruhe. Doch die hielt nicht lange an. Mit dem Knie schob ich meinen Koffer zur Seite, als ein paar Leute in Dirndl und Lederhosen zustiegen – vermutlich auf dem Nachhauseweg von irgendeinem Dorffest in der Nähe. Ein Grüppchen trug sogar einen Kasten Bier mit sich herum. Der Bus füllte sich zusehends. Nervös sah ich hinauf zum Bildschirm. Noch vier Haltestellen.

»Du hättest mich anrufen dürfen«, meinte sie schließlich und klang dabei sehr viel ernster als zuvor. »Dann wäre ich sofort nach Hause gekommen.«

»Alles gut.« Ich lächelte steif, mein Blick flog hektisch durch den Bus. Mit unruhigen Fingern zupfte ich meinen Hoodie zurecht, den ich mir um die Hüfte gebunden hatte. »Deine Oma wird nur einmal achtzig. Und ihren legendären Rinderbraten willst du dir doch sicher auch nicht entgehen lassen.«

»Im Ernst. Wofür hat man eine beste Freundin, hm?«

»Ich komme klar«, warf ich ein, doch recht überzeugend klang ich nicht. Und Finja redete sich ohnehin gerade in Fahrt.

»Bei einer Trennung muss man sich aufs Sofa schmeißen und irgendeine miese Serie zusammen gucken. Meine … oh, Shit. Warte kurz …« Irgendetwas im Hintergrund polterte. Es raschelte am Hörer, als Finja das Handy offenbar wieder ans Ohr hielt.

»Alles okay?«

Sie seufzte. »Alles gut. Was ich sagen wollte: Meine Backkünste reichen für keinen Trostkuchen. Aber ich hätte uns eine Packung Aufback-Croissants geholt, und wir hätten gefuttert, bis uns schlecht geworden wäre.«

Jetzt musste ich doch lächeln. »Beim nächsten Mal.« Aber es würde kein nächstes Mal geben, da war ich sicher. Beziehungen waren einfach nichts für mich. Was sprach dagegen, auf ewig Single zu bleiben? »Mein Traummann existiert nicht.«

Finja gluckste. »Vermutlich haben sich deine Schwiegereltern entschieden, kinderlos zu bleiben.«

»Pffff!«, gab ich zurück, musste aber doch lachen.

»Sag mal ernsthaft, Jo«, setzte Finja vorsichtig an. »Hast du Schluss gemacht oder er?«

»Ich.« Meine Stimme klang belegt. Ich räusperte mich und starrte durch die vom Motor vibrierende Fensterscheibe hinaus, wo bereits der Chiemsee zwischen den Bäumen hindurchblitzte.

»Das heißt, du hast ihm nicht die Wahrheit gesagt?«

Um Gottes willen. »Lieber hält er mich für unnahbar und emotionslos als für durchgeknallt.«

»Ach, Jo«, versuchte Finja mich zu trösten. Und gerade wünschte ich, sie säße tatsächlich neben mir. Mit oder ohne Aufback-Croissants, ganz egal. Das Leben ließ sich mit der besten Freundin im Schlepptau so viel leichter meistern.

»Wird schon.«

»Wie hat er es aufgenommen?«, fragte Finja. »Rennt er dir hinterher?«

»Muss er gar nicht. So schnell bin ich nicht.«

Der Fahrer bremste, neue Fahrgäste drückten sich in den vollen Bus. Ich fühlte den Stoff einer Hoodie-Kapuze an meiner Wange, als sich ein hochgewachsener Teenager zwischen mir und den Trachtlern hindurchquetschte in Richtung einer Gruppe Jugendlicher am hintersten Ende des Busses. Ein kleines Mädchen, vielleicht erste oder zweite Klasse, folgte ihm. Die Kanten ihres Schulranzens drückten in meine Seite.

»Wo wirst du eigentlich …?«, begann Finja, doch das Ende der Frage bekam ich gar nicht mehr mit.

Eine herbe Wolke Männerparfum drang an meine Nase, als ein junger Kerl in Lederhose in der Kurve das Gleichgewicht verlor. Seine Hände fingen sich neben mir an der Scheibe ab und zwängten mich in eine unfreiwillige Umarmung. Für einen Moment sah ich nur noch sein Trachtenhemd.

Rote Karos. Stoff. Enge. Parfum.

Ich presste mich enger an das Fenster. Schnappte nach Luft. Luft! Da war nur noch der fremde Körper. Nah. Viel zu nah. Schwarze Schatten durchzuckten mein Blickfeld. Als er sich von der Scheibe abstieß, berührten sich unsere Arme. Etwas in meinem Magen zog sich schmerzhaft zusammen, meine Hände begannen zu zittern. Dann war der Spuk auch schon vorbei.

Frei.

Ich war frei.

»Huch.« Er grinste entschuldigend, als er sich beinahe mühelos aufrichtete. »Sorry.«

»Kein Ding.« Ich starrte wortlos auf die Träger seiner Lederhose. Vermutlich deshalb, weil sich mein Blick so unfassbar schwer anfühlte. Schau auf, Jo. Zeig einem Fremden nie, dass es dir schlecht geht.

Dunkle Bartstoppeln zogen sich über seinen Hals bis hinauf zu den Wangen. Obwohl er mich längst wieder freigegeben hatte, stand er noch immer sehr nah. Näher, als ich fremde Menschen für gewöhnlich ertrug. Seine braungrünen Augen blitzten, als sich unsere Blicke nun doch begegneten. Und ich fragte mich für einen kurzen Moment, ob er in meinem Blick sah, wie viel Mühe es mich kostete, das aufzusammeln, was gerade in mir zusammengestürzt war. Lächle. Geht ganz einfach, zieh nur die Mundwinkel hoch. Hau ruck …

Mein Gegenüber grinste zurück. »Zumindest war heute jemand nah genug an mir dran, um mein neues Mexx-Parfum zu erschnüffeln …«

»Fresh Bus, richtig?«, hörte ich mich kontern und lachen. Zumindest klang es nicht ganz so gezwungen wie befürchtet. Die Haltestange rutschte unter meinen schweißnassen Händen davon, ich klammerte mich umso verkrampfter daran fest.

»Exakt.« Der Kerl zwinkerte mir noch einmal zu, dann drehte er sich wieder zu seinen Freunden um.

Schamesröte wallte spürbar heiß über meine Wangen. Ich schloss die Augen und hoffte einfach nur, er hatte mir meine verdammte Panik nicht angesehen. Selbst wenn. Dem Typen begegnest du nie wieder.

»Jo?«, klang Finjas Stimme an mein Ohr, doch ich hatte das dumpfe Gefühl, die Panik war noch lang nicht vorbei.

»Was hast du gerade gesagt?« Ich wischte mir über die verschwitzte Stirn, zwang mich zu ruhigem Atmen. Wie ferngesteuert schüttelte ich mir die Haare ins Gesicht, als könnten sie mich einhüllen. Mir Schutz geben.

»Fängt es wieder an?«, fragte sie mitfühlend.

»Ja.« Seit Jahren schon versuchte Finja, mich zu einer Therapie zu überreden. Und immer wieder sagte ich mir, ich würde das schon allein schaffen – aus Angst, irgendwann Probleme bei einer eventuellen Verbeamtung zu bekommen. Aber vermutlich hatte Finja recht: Eine Therapie war auf lange Sicht unumgänglich.

»Du kannst das«, ermutigte mich Finja.

»Der Bus ist einfach verdammt voll.« Unsicher warf ich einen Blick hinter mich. Der Innenraum hinter mir schien sich wie ein Puzzle zu teilen, ich nahm nur noch kleine Ausschnitte wahr. Weiße Puffärmel, durchbrochene Dirndlblusen. Hosenträger einer Lederhose. Dazwischen eine Wand aus Parfum, Schweiß und Stimmengewirr. Ich zwang mich, aus dem Fenster zu sehen, wo der Chiemsee sich wieder tiefblau und sonnenglitzernd in mein Blickfeld schob. Eine Aussicht, die mir gerade nicht gleichgültiger hätte sein können.

»Wie weit hast du noch?«

»Drei Haltestellen.« Schatten huschten durch mein Gesichtsfeld, meine Beine zitterten. Ich spürte meine Wangen warm und heiß unter meinen kalten Fingern.

»Du packst das«, ermutigte mich Finja aus dem Hörer. »Tief durchatmen.«

»Scheiß drauf«, murmelte ich. Und da drückte ich auch schon auf den Halteknopf.

Nur eine Kurve später – Finja hatte ich kurzzeitig in die Hosentasche verfrachtet – kam der Bus zum Stehen. Ich kämpfte mich zur Tür und sprang mitsamt meinem Koffer ins Freie. Frische Luft blies mir ins Gesicht. Ich sog sie ein wie kurz vor dem Ersticken. Die Hände an die Oberschenkel gepresst, rang ich nach Luft. Es dauerte eine Weile, bis ich mich beruhigt hatte.

Rechts und links erstreckten sich Felder, so weit das Auge reichte. Und in der Entfernung von gut fünf Minuten Fußmarsch geradeaus wartete der Chiemsee, eingerahmt von einer wunderschönen Bergkulisse. Mit seinen gut besuchten Strandcafés und den vollgepackten Dampfern. Mit seinen Urlaubern, die sich dicht an dicht über die Stege drängten und inmitten derer ich es genauso wenig aushalten würde wie in diesem Bus.

Seufzend zog ich Finja aus der Hosentasche. »Bist du noch da?«

»Immer.«

Ich konnte hören, dass sie lächelte.

»Mal wieder ein voller Erfolg.« Missmutig kickte ich einen Kieselstein über den Feldweg und machte mich auf den Weg. Mein Trolley schleifte über den holprigen Boden.

»Lass dich nicht entmutigen«, tröstete sie mich. »Immerhin hast du den Mumm, an den Chiemsee zu fahren und dich mit deinen Eltern auszusprechen.«

Ich schluckte. Noch konnte ich einen Rückzieher machen. Ein paar Nächte hier schlafen und unverrichteter Dinge wieder abreisen.

»Wo …« Wieder polterte etwas im Hintergrund. Der Klang von Metall auf Stein. »Mist.«

»Alles okay bei dir?«

»Schon.« Sie schnaufte. »Ich hab nur gerade ein Problem mit dem Briefkasten meiner Oma … Kommst du klar, wenn ich kurz …?«

»Kein Thema.«

Am anderen Ende der Leitung klapperte es, gelegentlich hörte ich Finja entnervt stöhnen. Eine ganze Weile stapfte ich schweigend über den Feldweg. Meinen Koffer schleifte ich hinter mir her. Träge ruckelte er über die Unebenheiten hinweg, über Steine und Grasbüschel. Diese Abkürzung führte direkt zum See. Womöglich kam ich sogar zeitgleich mit dem Bus dort an, der im Gegensatz zu mir einen Umweg über die Haltestellen von drei benachbarten Dörfern nehmen musste. Mein Rucksack schien mit jedem Meter schwerer zu werden, sein Gewicht drückte auf meine Schultern und ziepte an meinen Haaren, die sich darunter verfangen hatten. Umständlich zog ich ein paar lange Strähnen unter den Riemen heraus. Der Weg war verdammt mühsam, wenn man kaum Motivation verspürte, am Ziel anzukommen.

»Bin wieder da«, schallte Finjas Stimme matt aus dem Hörer.

»Was hast du …?«, setzte ich an, doch Finja kam mir zuvor.

»Wo wirst du überhaupt schlafen?«

»Im Nachbardorf«, antwortete ich und starrte geradeaus. Genau in diesem Moment gab das dichte Grün der Bäume am anderen Ende des Feldweges den Bus frei. Direkt am Ufer des Sees hielt er an und spuckte einen guten Schwung Menschen aus. Unter ihnen auch drei junge Kerle in Tracht. Einer davon trug einen Kasten Bier. »Ich habe ein Zimmer bekommen. Bei einem älteren Herrn. Peter Bachhuber.«

Finja wirkte erleichtert. »Sehr gut. Da hast du deine Ruhe. Weit weg von Trubel und potenziellen Dates.«

»Zum Glück, ja.« Ich nickte geistesabwesend, den Blick auf die drei jungen Männer gerichtet. Gut gelaunt ließen sie sich im Schatten einer Birke nieder. Kurz glaubte ich, den Kerl mit dem rot karierten Trachtenhemd unter ihnen zu erkennen, und prompt schoss mir die Hitze zurück ins Gesicht.

»Kostet es viel?«

»Hm?«, machte ich.

Finja lachte. »Das Zimmer! Wo sind deine Gedanken, Josefine?«

»Entschuldige.« Energisch zog ich den Koffer über ein paar Wurzeln. »Er wollte als Bezahlung nur ein wenig Hilfe – im Haushalt und mit irgendeinem Projekt, das er im Ort gestartet hat.«

»Er hört sich sehr nett an.«

»Ist er.« Ich nickte. »Keine Ahnung, was er da genau plant, aber …« Ich pustete mir die verschwitzten Haare aus der Stirn. »Er sagte was von Briefkästen. Vor seiner Rente war er Schreiner, offenbar baut er welche und hängt sie überall auf. Mit netten Botschaften drin, wenn ich es richtig verstanden habe. Mittlerweile hat er nicht nur in seinem Dorf, sondern auch in den umliegenden Ortschaften die Genehmigung dafür. Alle sind begeistert von der Idee.«

Inzwischen befanden sich die jungen Männer in Rufweite. Sie schienen zu mir herüberzugucken, einer davon gestikulierte in meine Richtung. Sofort senkte ich den Blick.

»Apropos Briefkasten«, meinte ich und grinste. »Hab ich vorhin richtig gehört? Du hast gerade einen zerlegt?« Ich fasste die Ärmel meines Hoodies, der noch immer von meiner Hüfte baumelte, und zog den Knoten enger. Als ich heute Morgen unsere WG in Berlin verlassen hatte, war es kühl gewesen. Jetzt brannte die bayerische Sonne unbarmherzig vom Himmel.

»Ich fürchte, du hast richtig gehört.« Sie gluckste.

»Ach, Finja!« In Anwesenheit meiner besten Freundin gingen ständig Dinge kaputt. Das Abspülen forderte in so beängstigender Regelmäßigkeit Opfer, dass ich mich in unserer Wohngemeinschaft meist freiwillig dafür meldete. Weingläser musste Finja nur ansehen, um sie zu zerbrechen. Und während der drei Jahre, die wir nun eine Wohnung teilten, hatte ich sie wegen diverser Brüche, Prellungen und Schnittwunden rekordbrechende zwölf Mal ins Krankenhaus fahren müssen. Es schien fast so, als würde sie alles, was sie in ihrer Ausbildung zur Kinderkrankenschwester lernte, als Patientin selbst ausprobieren wollen.

»Was?«, gab sie trotzig zurück. »Ich schwöre, ich hab nur … Weiß auch nicht. Ist gestern schon passiert. Eigentlich wollte ich nur Omas Post holen, aber plötzlich hatte ich die Klappe in der Hand. Keine Ahnung, was ich immer falsch mache.«

»Oje.« Ich lächelte.

Wieder wanderte mein Blick nervös zu dem Grüppchen am See. Inzwischen trennten uns nur noch zehn, fünfzehn Meter. Unschlüssig blieb ich stehen und kramte ziellos in der Außentasche meines Koffers. Zischgeräusche ertönten, kurz darauf klackten die ersten Kronkorken auf den Boden. Der nächste Windstoß trug auch schon einen Hauch von Biergeruch zu mir herüber. Ich betete inständig, den Kerl aus dem Bus nicht wiedersehen zu müssen.

Finja seufzte. »Echt peinlich. Ich hab die Klappe mit Wäscheklammern gestützt. Aber das fällt ständig auseinander. Jetzt hab ich’s mit Tesa probiert.«

»Und das hält?«, fragte ich und beobachtete die Männer aus dem Augenwinkel, die noch immer in meine Richtung guckten und sich lautstark amüsierten.

»Pffff, keine Ahnung.« Vermutlich zuckte sie gerade mit den Schultern. »Mal abwarten. Fünf Rollen Tesafilm sollten genug sein, oder?«

Ich musste lachen. »Klingt professionell.«

Finja gab ein Geräusch von sich, halb genervt und halb belustigt. »Oma ist zum Glück pragmatisch.«

Das stimmte nur teilweise. Bei der Erwähnung von Finjas Oma musste ich schmunzeln. Noch lebhaft erinnerte ich mich an ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter unserer WG. Zunächst gemurmelt – So was. Sprechen soll ich. Nach dem Ton … – und dann lauter: Mit diesem Blechkasten unterhalte ich mich nicht!

Unschlüssig drehte ich mich einmal um die eigene Achse. Alles in mir weigerte sich, an den drei jungen Männern vorbeizugehen. Mit Sicherheit würde ich mir irgendwelche blöden Sprüche anhören müssen, das sah ich ihnen schon an. Suchend blickte ich mich um. Sollten nicht hier irgendwo ein paar Briefkästen hängen? Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und scannte die Umgebung – in der Hoffnung, einen Grund zu finden, noch eine Weile in sicherer Entfernung stehen bleiben zu können.

Bingo. Ein paar Meter weiter, am dicksten Ast einer stabilen Eiche, hatte jemand ein verwittertes Holzschild mit der Aufschrift »Nimm dir, was dir guttut« festgeknotet. Und im Schutz der Zweige baumelten ein paar bunt bemalte Briefkästen. Jeder davon beschriftet. »WEIL ICH DICH VERMISSE« stand auf einem davon, »WEISHEITEN FÜR ZWISCHENDURCH« auf einem anderen. Und der letzte in der Reihe trug die Aufschrift: »BEVOR DU FRAGST: NEIN«.

»Ich glaube, ich habe die Briefkästen gefunden«, murmelte ich ins Telefon.

»Ja? Erzähl.«

Der Deckel quietschte, als ich den letzten der drei neugierig aufklappte und einen Briefumschlag herausholte. Pastellgelb war er – und quadratisch. Dort, wo normalerweise die Adresse Platz fand, las ich nur zwei Wörter:

Für dich.

Vorsichtig zupfte ich an der Lasche. Sie war verklebt.

»Servus!«, hörte ich eine Männerstimme in der Distanz rufen.

Ich zuckte zusammen. Schnell stopfte ich den Brief in meinen Rucksack. Erst dann riskierte ich einen längeren Blick.

Verdammt. Da, am Stamm einer Birke, lehnte tatsächlich der Kerl aus dem Bus. Mit seiner Lederhose und – wie ich nun wusste – seinem ach so sexy Parfum von Mexx. Beinahe glaubte ich, es riechen zu können, doch vermutlich bildete ich mir das nur ein. Eigentlich sah er gar nicht mal übel aus. Die braunen Haare schienen sich trotz des modischen Schnitts nicht ganz zähmen zu lassen. Vorne, über der Stirn, standen einzelne Strähnen widerspenstig ab. Ein Drei- oder vielleicht auch Viertagebart zog sich über Kiefer, Kinn und Hals, um schließlich am Kragen des rot karierten Hemdes zu enden, unter dem sich definierte Oberarme abzeichneten. Er nickte in meine Richtung. Meinte er mich? Unauffällig spähte ich über meine Schulter – ich war allein.

Verdammt. Augen zu und durch, hieß es wohl. Seufzend setzte ich mich in Bewegung.

»Magst du uns Gesellschaft leisten?« Ein fast unsichtbares schiefes Grinsen lag auf seinem Gesicht, als ich näher kam. Seine Augen blitzten. »Schließlich standen wir uns bis vor ein paar Minuten noch sehr nahe.«

Haha. Da hielt sich einer für besonders witzig.

»Wer ist das?«, flüsterte Finja dicht an meinem Ohr.

»Keine Ahnung«, murmelte ich.

Lust, diese peinliche Begegnung weiter zu vertiefen, hatte ich nicht wirklich. Deshalb tat ich so, als hätte ich ihn nicht gehört – und starrte ein paar Segelbooten nach, die über den See zogen. Funktionierte prächtig. Ich war noch nicht ganz an ihnen vorbei, da stellte sich mir auch schon sein Kumpel, ein schlaksiger Kerl mit kurz geschorenen Haaren, mitten in den Weg. Mein Herz setzte für einen Moment aus, mein Kopf errechnete die Wahrscheinlichkeit, mitten am Tag an einer einsamen Ecke des Chiemsees von drei jungen Männern überwältigt zu werden.

»Du bist ein paar Haltestellen zu früh ausgestiegen, schöne Fremde.« Ich erhaschte einen Blick auf die Tattoos an den Unterarmen, als er die Ärmel seines Trachtenhemdes hochkrempelte und eine Hand an die Stirn legte, um seine Augen vor dem Sonnenlicht zu schützen.

Abweisend starrte ich ihn an. 85 Prozent, schrie Mamas Stimme in meinem Kopf. Finja würde lachen und meine Hand nehmen. Ein halbes Prozentchen vielleicht, würde sie sagen.

Der Mexx-Typ stieß sich von seinem Birkenstamm ab und bückte sich nach der Bierkiste zu seinen Füßen. Lässig streckte er mir zwei Flaschen Bier entgegen. »Helles oder Pils?«

Unsicher schob ich mir die Haare aus der Stirn und fühlte Schweiß an meinen Händen. Ich musste nur dafür sorgen, dass niemand davon etwas mitbekam. »Danke, weder noch.«

»Warum nicht?«

»Weil …« Ich biss mir auf die Lippe, als er näher kam. Wie von selbst machten meine Füße zwei Schritte rückwärts. Die Umarmung von vorhin musste ich wirklich nicht wiederholen.

»Auf eine Warum-Frage nie mit Weil antworten«, zischte Finja durch den Hörer. »Das geht den einen feuchten …«

Den Rest bekam ich nicht mehr mit.

Sein Grinsen wurde ein wenig breiter, sein unverschämt direkter Blick blieb auf meinen glühenden Wangen hängen. »Wir sind vom medizinischen Dienst. Bei der Hitze musst du genügend trinken.«

Sein Kumpel musterte mich prüfend. »Sie sieht aus, als würde sie gleich umkippen.«

»Ich sehe immer so aus«, knurrte ich.

»Blass ist sie«, rief der dritte Mann. Ein recht junger blonder Kerl, der mit dem Rücken an einen Baum gelehnt am Ufer saß und die Füße ins Wasser baumeln ließ. Er sah mich nicht einmal richtig an, sein Blick flackerte stattdessen immer wieder zu dem Kahlkopf hinüber, als würde er auf eine Erlaubnis von ihm warten, sich einzumischen. Auf seinem Schoß hielt er irgendetwas verborgen, das ich nicht näher erkennen konnte. Ein paar Schlingen hauchdünner wirrer Fäden hingen über seine Oberschenkel hinab. Mit flinken Fingern knüpfte er Knoten. »Gehst du auch manchmal raus? So richtig? Und mit Rausgehen meine ich nicht Fenster aufmachen?«

»Vermutlich ist Rapunzel die meiste Zeit in ihrem Turm eingesperrt«, neckte mich nun auch Mister Mexx. Trotzdem lag etwas Warmes in seinem Blick, als er ihn grinsend über meine Haare gleiten ließ, die mir bis zur Hüfte fielen. So, als wären Mister Mexx und ich alte Freunde.

»Ist sie«, gab ich so selbstsicher zurück, wie ich konnte.

Mister Mexx ließ mich nicht aus den Augen. »Offenbar hat heute jemand ihr Turmfenster ein Stückchen zu weit aufgemacht.«

»Exakt.« Ich nickte. »Und Rapunzel hat – weil sie sich mit Haaren auskennt – die Gelegenheit beim Schopf gepackt.«

»Der Prinz hat dich geholt?«

Eine Augenbraue hochgezogen, winkte ich ab. »Da ist selbst auf die Deutsche Bahn mehr Verlass.«

Angestrengt starrte ich Mister Mexx an. Irgendetwas klingelte in meinem Hinterkopf, doch ich kam nicht drauf. Falls wir uns – abgesehen von vorhin – wirklich schon einmal begegnet waren, teilten wir keine besonders rosigen Erinnerungen miteinander, das verriet mir mein Bauchgefühl.

»Du willst doch nicht ernsthaft zu einem Bier in so netter Gesellschaft Nein sagen.« Von rechts schob sich der Kahlkopf in mein Blickfeld und deutete auf die Flaschen in der Hand seines Freundes. »Komm schon, Kleine.«

»Nein«, wiederholte ich. Beinahe automatisch schüttelte ich mir ein paar Strähnen in die Stirn. Es gab kaum etwas Beruhigenderes als lange dunkle Haare, die sich wie eine Mauer zwischen mich und die Welt schoben, wenn sie mir zu nahe kam.

»Sie übt nur, Nein zu sagen.« Der Kerl mit abrasierten Haaren und Tattoos nahm einen Schluck Bier. »Schließlich hat sie gerade einen Brief aus einem dieser ollen Hilf-mir-ich-krieg-mein-Leben-nicht-auf-die-Reihe-Kästen genommen.«

Ich rollte mit den Augen.

»Vier Buchstaben.« Der Blonde grinste auf eine Art und Weise, die mich rasend werden ließ. »N-E-I-N«, buchstabierte er, ohne den Blick von dem Fadengewirr auf seinem Schoß zu nehmen, und lachte. Erst als er merkte, dass weder Mister Mexx noch der Kahlkopf in sein Lachen einstimmten, verstummte er.

Der Kahlkopf verschränkte die Arme vor der Brust. »Das schafft sogar die Tochter von den Stadlers – und die ist drei.«

»Ist gut jetzt«, zischte Mister Mexx und stieß ihm den Ellenbogen in die Seite.

»Geh einfach«, hörte ich Finja an meinem Ohr. Und gerade wollte ich nach meinem Koffer greifen, da inspizierte der Kahlkopf mein Gepäck.

»Ganz schön viel zu schleppen für so ein zartes Weibchen«, meinte er. »Unter dem Gewicht klappst du bestimmt bald zusammen.«

»Pass auf, dass du unter dem Gewicht deiner Vorurteile nicht zusammenklappst«, gab ich zurück, wenn auch ein wenig wacklig.

»Auuu«, kam es von dem Blonden. Noch immer würdigte er mich keines Blickes. Seine Füße planschten im Wasser, mit jeder Bewegung stoben kleine Tropfen glitzernd in die Höhe.

»Sie teilt wohl gern aus, die Kleine.« Der Kahlköpfige lachte. »Und sieht sehr niedlich dabei aus.«

»Grumpy Rapunzel.« Mister Mexx zwinkerte mir zu, als wäre das ein Insider zwischen uns beiden.

Ich stöhnte genervt.

»Wie heißt du wirklich?«, fragte Mister Mexx.

»Und du?«, fragte ich zurück. Allerdings konnte ich nicht verhindern, dass meine Stimme ein wenig zitterte. Ich kannte diese Art von Männern. Scheinbar stark kurzsichtig, die meisten von ihnen, da sie eine Frau hauptsächlich mit den Händen begutachteten anstatt mit den Augen.

Eine Antwort bekam ich nicht, stattdessen trat er einen lässigen Schritt nach vorne. Es kostete mich meine komplette Selbstbeherrschung, an Ort und Stelle stehen zu bleiben. Die Härchen an meinem Nacken stellten sich auf. Kurz spannten sich meine Muskeln an. Ein weiterer Schritt in meine Richtung, und ich würde tun, was ich immer tat. Weglaufen wie ein verängstigtes Kaninchen. Darin war ich gut. Geradezu unschlagbar.

Er räusperte sich. Irgendetwas in seinem Blick wurde weicher. Gut, weicher vielleicht nicht. Aber zumindest eine Spur irritierter. Er sah mich an, als suchte er in meinen Augen nach der Erlaubnis, weitersprechen zu dürfen. »Hey …«, setzte er an. »Bist du …?«

»Nein«, sprudelte es aus meinem Mund, bevor ich nachdenken konnte. Angestrengt hob ich mein Kinn, um selbstsicher zu wirken. »Die Antwort ist Nein. Egal, wie die Frage lautet.«

»Lass sie, Mann.« Der Kahlköpfige streckte dem Mexx-Typen sein Bier entgegen und stieß mit ihm an. »Grumpy Rapunzel will zurück in ihren Turm.«

»Vergiss die Kleine«, rief auch der Blonde und stopfte die Fäden in die Hosentasche seiner Lederhose. Geschickt zog er sich an einem dicken Ast hoch und sprang zu dem Kasten Bier hinüber. An seinen nassen Füßen blieb Erde hängen. »Setz dich hin und trink was.«

»Mhm«, brummte Mister Mexx nur.

Ich atmete tief durch, dann schnappte ich mir meinen Koffer und stapfte weiter – Finja fest zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Mich beschlich das ungute Gefühl, Mister Mexx hatte zumindest für einen kurzen Augenblick meine Unsicherheit gespürt.

Kapitel 2

Erschreckend viele Menschen hielten mich für unnahbar und distanziert. Gut, eigentlich fast alle. Mit Ausnahme von Finja, die viel zu gut wusste, was in meinem Kopf vor sich ging.

Unschlüssig lief ich vor der kleinen Scheune auf und ab, die sich dicht an dicht an das benachbarte Bauernhaus drängte. Direkt unter der Lüftlmalerei – ein Trachtler mit einer zutraulichen Kuh vor einer Bergkette – schmiegte sie sich an die Seitenwand. Im Gegensatz zum Haus, dessen rote Geranien sich zwischen sorgfältig lackierten Fensterläden zur Sonne streckten, wirkte die Scheune alt. Das Wetter der vergangenen Jahre hatte deutliche Spuren hinterlassen. Gelegentliche Hammergeräusche drangen heraus und übertönten das Gluckern der Wellen, die keine zehn Meter weiter ans Ufer rollten. Das weit geöffnete Tor gab den Blick frei auf einen Herrn um die siebzig, der mit hoher Konzentration an einem kleinen Schränkchen arbeitete. Offenbar reparierte er eine Schublade.

Reiß dich zusammen, Josefine. Zumindest ein einziges Mal. Wenn ich hier eine Weile wohnte, musste ich dafür sorgen, dass er mich zumindest nett fand.

»Hallo?«, rief ich, doch er schien so vertieft, dass er mich gar nicht bemerkte.

Ich stellte meinen Koffer vor der Scheune ab und ließ den Rucksack von meinen Schultern gleiten. Eher schlecht als recht fixierte ich ihn auf dem Haltegriff des Koffers und sah mich um. Auf dem See zog gerade der Raddampfer Ludwig Fessler vorbei. Wasser spritzte auf, als sich seine Wellen an den Steinen brachen, die im seichten Wasser lagen. Die Wogen hatten sie über die Jahre glatt geschliffen. Nachdenklich starrte ich sie an. Manchmal fragte ich mich, wie viele Begegnungen, Herausforderungen und Erwartungen täglich auf mich einströmten. Wie viel es davon brauchte, meine Ecken und Kanten irgendwann glatt zu schleifen. Ob meine Zeit hier am Chiemsee dazu beitragen würde. Und ob ich das überhaupt wollte. Egal. Mit einem resignierten Seufzen drehte ich mich um.

Die Arbeitsgeräusche in der Scheune hatten aufgehört.

»Hallo?« Vorsichtig spähte ich um die Ecke. »Herr Bachhuber?«

Ächzen ertönte, als sich der Senior aufrichtete. Er presste die Hände in die Hüfte, das Gesicht schmerzverzerrt.

»Brauchen Sie … Hilfe?«, fragte ich zaghaft.

Nicht, dass ich hätte helfen können. Aber im Notfall würde ich einen Arzt rufen.

»Aaaah.« Ein Lächeln überdeckte den Ausdruck von Schmerz für einen kurzen Moment. Langsam, sehr langsam, drehte er sich in meine Richtung. »Nein, nein. Komm rein.«

Unsicher griff ich nach meinem Koffer und folgte ihm in die Werkstatt. Holzbalken verliehen der ehemaligen Scheune etwas Heimeliges. Regale zierten die Wände, allerlei Werkzeugkisten stapelten sich darin.

»Peter.« Er hielt mir die Hand hin. Stumm starrte ich auf die faltige Haut – und auf die Leberflecken, die sich bis zum Handgelenk zogen. »Du musst Josefine sein.«

Ich nickte nur, während ich die Ellenbogen durchdrückte, um ihn beim Händeschütteln auf größtmöglichem Abstand zu halten. Augen zu und durch, so hieß meine Devise bei Körperkontakt.

»Schön, dass du da bist.«

Mein Blick glitt durch den Raum. Endlose Reihen von kleinen Schubladen – ein paar davon geöffnet – offenbarten eine beachtliche Schraubensammlung, und daneben an der Wand lehnten etliche Holzbretter unterschiedlicher Größen. »Ich dachte, du wärst in Rente.«

»Um einzurosten?« Er lachte. »Meine Schreinerei habe ich verkauft. Aber hier in dieser kleinen Scheune repariere ich kaputte Dinge.«

»Möbel?«

»Nicht nur.« Mit einem Nicken wies er hinüber auf eine Ablage, wo die Einzelteile von etwas lagen, das wie eine Uhr aussah. »Es gibt auf dieser Welt nichts, was man nicht reparieren kann.«

»Na ja«, sagte ich wenig überzeugt. Da wüsste ich so einige Gegenbeispiele.

Die grauen Augen funkelten, die Stirn legte sich in knittrige Falten, als er die Augenbrauen hob. »Man muss nur das richtige Werkzeug haben.«

Das Werkzeug, das die falsch verdrahteten Leitungen in meinem Hirn reparieren kann, würde ich gern sehen.

Peter lächelte, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Wo ein Wille ist, ist auch ein Werkzeug.«

»Was reparierst du am liebsten?«

Sein Lächeln bekam einen schelmischen Ausdruck. »Von Liebeskummer gezeichnete Herzen.«

Ich lachte laut.

Peter zwinkerte mir nur zu, dann wies er auf die Tür am anderen Ende der Scheune. Offenbar hatte dort jemand einen Durchgang zum Haus gebaut. »Du möchtest bestimmt erst einmal auf dein Zimmer, oder? Auspacken?«

Wieder nickte ich bloß. Mit einem Nicken machte man selten etwas falsch.

»Hier entlang.«

Ich zuckte zusammen, als er an meine Schulter griff, um mich quer durch den Raum zu schieben. Mit Mühe brachte ich meinen Koffer zwischen uns. Mein Mund war trocken geworden. Ich schluckte leer.

»Vorsicht, lass mich vielleicht lieber vorgehen. Ich habe seit ein paar Tagen einen Hund.«

»Kein Problem«, antwortete ich und drückte die Tür schwungvoll auf, bevor Peter noch einmal näher kommen konnte. »Ich liebe Hu…«

Weiter kam ich nicht. Zeit, den Hund zu inspizieren, der da auf mich zuschoss, hatte ich auch nicht. Alles, was ich sah, war nur ein riesiger schwarzer Schatten. Zwei übergroße Pfoten stießen in meine Schultern, dann krachte ich auch schon rückwärts gegen den Türstock. Mit vollem Gewicht drückte ich mich dagegen, um einen festeren Stand zu bekommen, doch ich rutschte seitlich weg. Mein Versuch, mich an dem Koffer festzuhalten, schlug ebenfalls fehl. Ein Bretterstapel fiel donnernd um, mein Koffer kippte nur eine Sekunde später schräg nach vorne. Ich spürte sein Gewicht auf meinen Fußspitzen, und mir entfuhr ein Keuchen. An dem viel zu glatten Türstock fand ich nicht schnell genug Halt. Schmerz bohrte sich in meinen Nacken und meinen Rücken, in meiner Wirbelsäule spürte ich irgendetwas knacken, dann verlor ich komplett das Gleichgewicht. Panisch ruderte ich mit den Armen, doch meine Füße waren verkeilt unter dem Koffer. Erst als mein Kopf ein zweites Mal gegen den Türstock knallte, gab ich auf. Wie ein nasser Sack fiel ich um. Hart spürte ich den Boden der Scheune unter meinem Hinterkopf.

»Sitz!«, hörte ich Peter schreien.

Doch Sitz war das definitiv nicht, denn keine Sekunde später drückte sich eine Pfote schmerzhaft in meinen Magen. Ich schnappte nach Luft. Riss meine Hände hoch, um sie schützend über mein Gesicht zu legen.

»Sitz!«, versuchte es Peter noch einmal, wenn auch relativ erfolglos, schließlich hörte ich noch immer Pfotentrappeln auf dem gefliesten Boden des Treppenhauses, aus dem der Hund gekommen war.

Kurz wurde es dunkel vor meinen Augen, ein langer Hundebart senkte sich über mein Gesicht. Eine feuchte Nase schnupperte an meiner Stirn.

»Es tut mir so leid, Josefine.« Peter hatte sich mittlerweile zwischen Koffer, Beinen und umgefallenen Brettern durchgekämpft und zog den Hund außer Reichweite. Ein leises Klicken verriet mir, dass er ihn anleinte. Nur Sekunden später tauchte sein Gesicht über mir auf. »Ich helfe dir hoch.«

»Finger weg, ist allein schwer genug«, rutschte es mir heraus, bevor ich es verhindern konnte. An seinem Blick konnte ich sehen, dass er mich längst in dieselbe Schublade gesteckt hatte wie alle anderen Menschen auch. Grumpy Rapunzel.

»Okay.« Nur ein kleines Wort. Aber zumindest hörte ich nicht den Hauch einer Kränkung darin, obwohl ich danach suchte.

Ich gab meinem Koffer einen Tritt. Polternd schlitterte er einen Meter nach hinten, und zeitgleich schoss mir ein stechender Schmerz durch den Rücken. Mit Mühe rappelte ich mich auf. Das Stechen trieb mir Tränen in die Augen. Ich biss mir auf die Lippe, so fest ich konnte, um nicht zu schreien. Eine Hand auf den Rücken gepresst, so schob ich mich aufrecht.

»Du hast dich verletzt.« Besorgt musterte Peter mich.

»Ach.« Ich winkte ab, konnte allerdings nicht verhindern, dass meine Unterlippe zitterte.

»Soll ich dich nicht stützen?«

»Nein!«, rief ich. Und es klang um einiges schärfer als beabsichtigt.

»Ich benachrichtige meinen Sohn, der ist Physiotherapeut.« Peter griff in die oberste Tasche seiner Arbeitshose. »Der kann sich deinen Rücken mal ansehen.«

»Was?« Entsetzt sah ich ihn an. »Nein. Nein, nein. Es ist schon alles wieder gut. Hab mich nur ein wenig erschrocken.«

Peter lächelte belustigt und zog das Handy heraus. »Es macht wirklich keine Umstände, keine Sorge.«

»Nein!« Meine Stimme klang panisch.

»Er hat Zauberhände«, versuchte es Peter noch einmal. »Versprochen.«

»Grandios«, presste ich zwischen geschlossenen Zähnen heraus, um mir nicht anmerken zu lassen, dass die Schmerzen in meinem Rücken mich beinahe übermannten. »Aber ist echt nicht nötig.«

»Josefine …«

»Nein«, sagte ich und versuchte, meiner Stimme einen starken, entschlossenen Klang zu geben. »Ich brauche keinen Physiotherapeuten.«

»Lass wenigstens den Koffer unten stehen.« Peter betrachtete mich nachdenklich. »Der sieht schwer aus. Mein Sohn trägt ihn nach oben, wenn er nach Hause kommt.«

»Danke.« Ich zwang mich zu einem Lächeln.

Mit einem verlegenen Räuspern deutete Peter auf den Riesenschnauzer, der nun am Geländer der Holztreppe angebunden war. Wie ein Schatten zeichnete er sich vor dem dunklen Raum ab. Die Leine zum Zerreißen gespannt, stand er kerzengerade neben einer halbherzig zugemauerten Feuerstelle und regte sich keinen Zentimeter. »Er heißt Klitschko. Mein Sohn Adrian hat ihn so genannt.«

»Klitschko?«, wiederholte ich fragend.

»Wer nicht stark genug ist, den haut er um.«

»Und?« Ein sarkastisches Grinsen konnte ich mir nicht verkneifen. »Besteht eine Chance, dass du das Werkzeug findest, das diesen Hund reparieren kann?«

»Muss ich wohl.« Nachdenklich betrachtete Peter das Tier, das mit Sicherheit so viel wog wie ich. »Er wurde im Tierheim abgegeben. Wegen Überforderung. Im Gegensatz zu vielen anderen Rassen haben sie keinen Will to please, deshalb sind sie nicht einfach zu erziehen, diese Riesenschnauzer. Und … außer mir würde ihn vermutlich niemand haben wollen.«

»Nein?«, fragte ich, auch wenn mich diese Tatsache überhaupt nicht überraschte.

»Die Menschen haben verlernt, Dinge zu reparieren.« Peters Stimme klang traurig.

»Mhm«, machte ich nur. Mein Blick flackerte wieder hinüber zu Klitschko, der mich mit seinen wachen Augen zu röntgen schien.

Zugeben würde ich es Peter gegenüber nie, doch der Riesenschnauzer schüchterte mich ein. Jeder Muskel war gespannt wie eine Feder. Bereit zum Sprung. Seinen Kopf hielt er hoch erhoben, die Ohren nach vorn geklappt. Die aufrechte Haltung ließ ihn noch größer wirken, als er ohnehin schon war.

»Hochintelligente Tiere«, sagte Peter, ohne seinen Blick von dem Hund abzuwenden. »Wachsam und furchtlos. Gleichzeitig auch sehr sensibel.«

Sensibles konnte ich nicht wirklich an diesem Hund entdecken, so lange ich ihn auch anstarrte. Eigentlich liebte ich Hunde. Eigentlich … Die flauschigen, kuscheligen Wesen mit ihren feuchten Nasen, die treuherzig zu mir aufblickten. Die meine Hände schleckten und ihren Kopf an meine Beine drückten, bis ich ihnen durch das weiche Fell strich. Aber dieses rüpelhafte Energiebündel?

»Ich schätze, man kann ihn nicht streicheln, oder?«, mutmaßte ich und musste selbst grinsen. Denn der Gedanke kam mir ähnlich abstrus vor, wie einen von den Hells Angels zu fragen, ob ich ihn streicheln durfte.

»Riesenschnauzer mögen keinen Körperkontakt zu Fremden«, erklärte Peter – und ich stutzte. »Auch etlichen anderen Hunden geht das so. Bei Riesen ist das besonders ausgeprägt. Als Grobmotoriker pöbeln und rempeln sie mal gern, aber sehen keinen Sinn darin, mit jemandem zu kuscheln, den sie nicht kennen.«

»Ach«, antwortete ich wenig geistreich. So unähnlich waren Klitschko und ich uns wohl doch nicht. Unsicher warf ich ihm einen Blick zu. Meine Neugierde ihm gegenüber war geweckt, wobei sich Neugierde bei mir deutlich von Sympathie unterschied.

»Ihr werdet schon noch Freunde«, sagte Peter – und wirkte dabei, als glaubte er seinen eigenen Worten nicht. Wirklich ermutigend.

»Und wenn nicht?«

Peter deutete den Gang entlang nach hinten in Richtung einer kleinen Kommode, über der ein Spiegel hing. Rechts und links konnte ich Zimmertüren erahnen.

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