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Sommer im kleinen Brautladen am Strand

hier erhältlich:

Lilys Freundinnen aus dem »Brides by the Sea« bieten ihr einen Traumjob an: Sie soll zukünftig Hochzeitslocations im richtigen Glanz erstrahlen zu lassen. Doch es gibt ein Problem: Der selbstgefällige Kip Penryn will das Anwesen seiner Familie in einen Ort zum Heiraten verwandeln und würde damit zu einem ernsthaften Konkurrenten werden. Die Freundinnen sehen nur eine Lösung, ihn wieder loszuwerden: Lily muss Kips Schwachstelle herausfinden - am besten, indem sie bei ihm eine Hochzeit ausrichtet. Aber andererseits haben die Männer der Familie Penryn den Ruf, so umwerfend wie unzuverlässig zu sein. Braucht Lily also nichts weiter zu tun, als sich entspannt zurückzulehnen und dabei zuzusehen, wie Kip ganz von alleine scheitert?

»Erfrischend, humorvoll und romantisch.« Phillipa Ashley, Bestsellerautorin von of Summer at the Cornish Café

»Ein perfekter Urlaubsroman, der ans Herz geht.« Nummer-1-Bestsellerautroin Tracy Bloom

»Lustig und großherzig - Lily und ihre Freunde haben mich verzaubert!« Sunday-Times-Bestsellerautorin Michele Gorman

»Ein rundum gelungenes Lesevergnügen - nicht nur für Rosamunde-Pilcher-Fans.« Fränkische Nachrichten


  • Erscheinungstag: 03.06.2019
  • Aus der Serie: Wedding Shop
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750140
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Anna und Jamie, Indi und Richard, Max und Caroline, M. und Phil. xx

Hinweis der Autorin

Jede der Geschichten um Poppy, Sera, Lily, Jess und ihre Freundinnen vom »Brides by the Sea« kann einzeln für sich gelesen werden. Um sie hintereinanderweg zu lesen, ist dies die richtige Reihenfolge:

Der kleine Brautladen am Strand

Winter im kleinen Brautladen am Strand

Sommer im kleinen Brautladen am Strand

Ich hoffe, ihr habt so viel Spaß beim Lesen der Bücher, wie ich dabei hatte, sie zu schreiben.

Eure Jane

Einen Garten anzulegen, heißt, an ein Morgen zu glauben.

Audrey Hepburn

1. Kapitel

Dienstag, 14. Februar

Im »Brides by the Sea«: Rasende Reporter und

ältere Semester

»Verliebt in die Liebe am 14. Februar …«

Es ist nach sechs, als ich auf der Schwelle vom »Brides by the Sea« innehalte. Während das warme Licht von drinnen in die Dunkelheit hinausscheint, fällt mir das Valentinstagsmotto auf dem Glas der Eingangstür ins Auge. Genau das ist natürlich auch beabsichtigt. Es sind nur ein paar Buchstaben aus weißer Farbe und drei herzförmige Punkte, dennoch versetzt mir der Anblick einen Stich.

Ich weiß, es ist dumm. Ich bin im Reinen mit Brautläden, ich komme ja oft her. Und Brautkleider machen mir trotz allem noch immer eine Gänsehaut. Es ist der Valentinstag, den ich hasse. Ich habe gelernt, an jedem anderen Tag des Jahres ein glücklicher Single zu sein, aber der 14. Februar ist so verdammt paarig. Für Leute wie mich, die alles mal hatten und es vermurkst haben, ist es die Hölle.

Was schiefgegangen ist? Wenn der Wind nicht so stark heulen würde, würde ich mehr darüber erzählen. Aber heute kann so eine Böe von der Bucht die seidigsten Haare in zwei Sekunden in einen Heuhaufen verwandeln. Und ich habe mir schließlich nicht eine volle Stunde lang die Haare geglättet, um am Ende doch noch einen Kopf voller Frizz zu haben.

Normalerweise würde ich mich an diesem Tag zu Hause verkriechen, aber heute gehe ich auf eine – entschuldigt das Stöhnen – Valentinstags-Hochzeitsfeier. Die schlimmste aller Welten. Gerade will ich mich dafür zurechtweisen, dass ich kurz mal darüber nachgedacht habe zu kneifen, da fliegt die Ladentür dermaßen heftig auf, dass ich fast von meinen neuen Kurt-Geiger-Plateauschuhen kippe.

»Lily, du kommst gerade richtig. Was gibt’s Neues in Bath? Wie war deine Fahrt? Komm rein, Poppy und ich sitzen im Weißen Zimmer, alle anderen sind schnell nach Hause gegangen, um sich zurechtzumachen …«

Es ist Jess, die hier mit hundert Meilen die Stunde redet und so viele Luftküsschen verteilt, dass ich sogar Zeit habe, mein vom Wind gebeuteltes Haar wieder glatt zu streichen, wobei ich die Jimmy-Choo-Heels aus schneeweißem Wildleder im Schaufenster sehe und beinahe in Ohnmacht falle. Genug Zeit aber auch, um innerlich wieder in die Spur zu kommen. Als ich mein Gleichgewicht wiederhabe und wir den Flur entlanggehen, summt Jess leise vor sich hin.

»So eine Menge Herzen«, sage ich und strecke den Arm aus, um eines der Bänder in der Auslage zu berühren und in Schwingung zu versetzen. Was ich sage, ist noch untertrieben. Selbst wenn ich mich an meinen heimlichen Unglücksort begebe, muss ich doch zugeben, dass die Unmengen an Herzen aus bedrucktem Papier, die dort schweben, sich neben den feinen weißen Spitzenkleidern einfach perfekt ausnehmen.

Jess grinst und erklärt: »Aus alt mach neu. Das ist Upcycling, weißt du? Die Herzchen sind aus ausgemusterten Liebesromanen ausgeschnitten. Voll im Trend und noch dazu unterschwellig ironisch.« Sie fixiert mich mit einem grimmigen Blick. »Damit halten wir für unsereins, die wir nicht in einer Beziehung leben, die Flagge hoch.«

Womit sie meine traurige Wenigkeit und sich selbst meint. Wir beiden tragischen Gestalten. Wo ich schon mal dabei bin – und weil wir im Grunde gar nicht so schlecht dran sind –, kann ich euch hier drinnen und in Sicherheit auf den aktuellen Stand bringen. »Brides by the Sea« ist nämlich das größte und wunderbarste Hochzeitsgeschäft in Cornwall. Jess, die Eigentümerin, hat das Geschäft im Schwung des auf ihre Scheidung folgenden Adrenalinschubs aufgebaut, daher auch die herzförmige Ironie. Innerhalb von zehn Jahren hat sich das Geschäft von einem kleinen Laden mit einem Raum, in dem ich mich überhaupt erst in Blumen verliebt habe, in eine viergeschossige fabelhafte Brautwelt verwandelt, die hoch über der Bucht von St. Aidan thront. Hier habe ich mal als Floristin gearbeitet, damals, als mein Verlobungsring voller Versprechen funkelte und mein Leben sich mit massiv goldener Sicherheit vor mir ausbreitete. Dann folgte unsere Hochzeit, mein Umzug zu Thom nach Bath, zwei Jahre Sparen für ein Haus, weil wir raus aufs Land wollten, damit ich meine Blumen, die ich so gern arrangierte, selbst würden ziehen können. So, wie ich es früher als Kind mit meinem Dad gemacht habe. Ich muss wohl nicht ausführen, dass wir mit diesen hochtrabenden Plänen nicht weit gekommen sind.

Als Jess ein Körbchen in meine Richtung schwenkt, zieht mir der Duft von Kakao in die Nase. »Pralinen?«, fragt sie auffordernd.

»Na ja, eine könnte ich vielleicht.« Natürlich wissen wir beide, dass ich nur Spaß mache. Das Positive am Valentinstag im »Brides by the Sea« ist nämlich unsere Pralinenorgie. Also mache ich die Augen zu, blende meine lebenslange Diät aus und greife auf gut Glück zu. Eine Sekunde später explodiert der Geschmack einer bittersüßen Mischung aus weißer Schokolade, Kaffee und Alkohol in meinem Mund.

»Mhm, köstlich. Ist das Tia Maria?« Ich muss mich sehr zusammenreißen, um nicht unangemessen wohlig zu stöhnen. »Ganz ehrlich, seit dem Moment, als ich auf die M5 abgefahren bin, fantasiere ich schon von Poppys Trüffeln«, erzähle ich. Wenn man auf das Steuer sabbert, ist das nicht gerade ein erhebender Anblick, aber wenigstens hält es die Rowdys in ihren weißen Lieferwagen in Schach. Normalerweise haben die einen Mordsspaß, wenn sie mich in meinem selbst designten Fiat 500 Gucci überholen, der so pink aus der Produktionslinie kam, dass mein armer Boss sich volle zwei Jahre dafür entschuldigt hat.

»Probier mal einen mit Baileys, die hauen dich um.« Jess nickt mir wohlwollend zu, als sie mich von oben bis unten mustert, drückt mir das Körbchen in die Hand und summt wieder vor sich hin. »Toller Anzug übrigens. Grau ist so vielseitig.«

Von all meinen Freundinnen ist Jess diejenige, die auf den ersten Blick erkennt, wie groß oder klein das Vermögen war, das man für einen kurzen Blazer und eine maßgeschneiderte Hose hingelegt hat. Es sind meine ersten Sachen, die ich nur reinigen lassen darf; ich habe sie mir selbst geschenkt, um die Gehaltserhöhung vor ein paar Monaten zu feiern. Auch wenn ich in Sachen Kleidung ein hoffnungsloser Fall bin, habe ich mich doch sehr bemüht, meinen Kaufrausch bis zum Äußersten auszukosten. Um meinen Partylook für heute abzurunden, habe ich außerdem eine Seidenbluse und erschreckend hochhackige Schuhe angezogen.

»Noch alles gut bei der Arbeit?«, fragt Jess mit forschendem Blick.

»Alles super«, antworte ich – vielleicht ein bisschen zu schnell. Tatsächlich ist die Hotelkette, bei der ich für die Blumen verantwortlich bin, gerade übernommen worden, und mein Job hat sich in Wohlgefallen aufgelöst. Aber ich habe mir selbst das Versprechen gegeben, dass ich mit dem ganzen Horror schon fertigwerde, wenn ich erst wieder in Bath bin. Zum Glück sorgt die stille Perfektion der weißen Bodendielen und der grau gestreiften Chaiselongue dafür, dass es mir sofort wieder gut geht, kaum dass Jess und ich im Weißen Zimmer ankommen. Im Vorbeigehen schweben meine Finger über die Stangen mit den Hochzeitskleidern hinweg und verweilen bei feinsten Details aus Strass an einem Spitzenleibchen. Es ist geradezu ein Ritual. Jedes Mal, wenn ich hierherkomme, muss ich herumgehen und diese ganze Schönheit in mich aufnehmen, sie beinahe berühren und ausgiebig erforschen, was seit meinem letzten Besuch neu hinzugekommen ist.

»Bist du bereit? Und rein ins Vergnügen!« Jess grinst mich an.

Ihr gewohnter Kampfschrei stammt aus der Zeit, kurz nachdem mein Dad gestorben war und ich jeden Freitagabend hier hereingeschaut habe, wenn ich zu meiner Mum nach Rose Hill gefahren bin, das nur ein paar Meilen entfernt liegt.

Monatelang haben mich allein Jess’ klare Ansagen und ihre Köstlichkeiten aus Schokolade diese schlimmen Wochenenden überstehen lassen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich im Weißen Zimmer heute zum ersten Mal die wenig wohlklingenden Töne des lokalen Radiosenders im Hintergrund höre.

»Lily, du bist gerade rechtzeitig für die vorhochzeitlichen Partydrinks. Lust auf einen Prosecco?« Poppy, die Tortenbäckerin des Brautladens, kommt lächelnd aus der Küche, drückt mir ein Glas in die Hand und ein Küsschen auf die Wange. »Mach dir keine Gedanken wegen der Fahrerei. Von hier aus geht alles nur noch per Taxi.«

Sie ist diejenige, die die köstlichen Trüffel hergestellt hat. Apropos, ich führe mir gerade den nächsten zu Gemüte, als Jess vorbeihuscht.

»Vielen Dank, Poppy«, sage ich lachend. »Ich hatte fast damit gerechnet, dass du uns Cupcakes bringst und nicht wirklich was Prickelndes zu trinken.«

Poppy hat ganz oben unter dem Dach eine winzige Küche, und sie flitzt häufig mit Tellern voller Leckereien durch den Laden, auf der Suche nach Freiwilligen, die ihre neuesten Kreationen probieren. Im vergangenen Jahr hat sie allerdings viel mehr Zeit damit verbracht, in der hiesigen Hochzeitslocation zu arbeiten, auf dem Gutshof Daisy Hill in Rose Hill – vor allem seit sie mit dem dortigen Boss zusammen ist.

»Wie geht’s Rafe?«, frage ich. Er ist besagter Gutsbesitzer und abgesehen davon, ein echt netter Typ, genauso einer, wie ihn Poppy verdient hat.

Sie grinst. »Hungrig wie immer und sehr beschäftigt.«

Angesichts der vielen romantischen Verwicklungen im »Brides by the Sea« in letzter Zeit könnte man vermuten, jemand hätte hier Amorstaub verstreut. Die Erste war Sam, die die Kleider anpasst und Änderungen macht, deren Hochzeitsfest wir heute feiern wollen. Der Typ, den sie heiratet, heißt auch Sam, darum kennt man die beiden auch als Sam-Quadrat. Kurz vor Weihnachten kamen Poppy und Rafe endlich zusammen, und Sera, die Kleiderdesignerin, die ihr Atelier über dem Laden und einen eigenen Ausstellungsraum im Geschäft hat, traf bei der Weihnachtshochzeit ihrer Schwester auf die Liebe ihres Lebens und durfte ebenfalls bereits ihren Glücklich-bis-ans-Ende-ihrer-Tage-Moment genießen.

Ich sinke in meine Lieblings-Sitzgelegenheit, einen Louis-Quatorze-Sessel, der eigentlich für Brautmütter gedacht ist. Jess drapiert mir das Körbchen mit den Pralinen auf meinen Knien. Möglicherweise bereut sie es später, wenn ich am Ende alles vertilgt habe. Als sie sich vorbeugt, um am Radio herumzufummeln, fällt bei mir der Groschen.

»Brides by the Sea« … Mein Gott, du singst ja deinen eigenen Jingle mit, Jess!« Wie konnte ich das vergessen? »Es ist die Valentinstags-PR vom Pirate Radio!«

Unter uns gesagt hat ein Typ vom Anzeigenverkauf Jess mit seiner Kakaostimme überredet. Sie mag mit der Schaufensterdekoration einen auf Ironie machen, aber wenn es um Businesschancen und heisere Stimmen geht, lässt sie sich nichts entgehen. Als der Typ sie darauf gestoßen hat, dass jede Valentinsromanze in Cornwall schließlich zu einer Braut führen könnte, die sich in ihrem »Brides by the Sea« einkleidet, hat Jess zugestimmt, die ganze Woche über Werbeeinspieler laufen zu lassen. Auch hatte sie die geniale Idee, Rabattgutscheine für Hochzeitsbouquets und Kleider für jede Braut in Aussicht zu stellen, die heute live auf Pirate Radio einen Heiratsantrag bekommt.

»Wir warten gerade noch auf eine kleine Überraschung, bevor wir zur Party aufbrechen.« Jess schaut Poppy und mich bedeutungsvoll an und dreht das Radio lauter.

»Gab es denn schon viele Heiratsanträge in der Sendung?«, erkundige ich mich. Ich persönlich kann mir ja kaum etwas Schlimmeres vorstellen. Als Thom sich damals niederkniete, war es Winter, und wir befanden uns an einem leeren Strand in St. Aidan. Eine Mörderwelle erwischte ihn, sodass er um ein Haar den Ring fallen gelassen hätte. Damals haben wir viel darüber gelacht, aber rückblickend war das ganze kalte Wasser, in das er getaucht wurde, schon eine ziemlich treffende Metapher für den Weg, den unsere Ehe anschließend genommen hat.

»Wir hatten schon Heiratsanträge aus dem ganzen Land. Es sind Reporter unterwegs, und auf Twitter geht es auch ab.« Jess’ Lächeln ist regelrecht ekstatisch. »Jemand hat die große Frage auf einer Jacht in Falmouth gestellt, ein anderer auf einem Tandem auf dem Camel Trail, und jemand ist in einem Fischkutter vor Land’s End auf die Knie gegangen.«

Kein Wunder, dass sie glücklich ist, mit so vielen potenziellen Kleiderverkäufen. »Und ich bin mir ziemlich sicher, dass der nächste Ort, von dem ein rasender Reporter berichtet, eine gewisse Feuerwache sein wird …« Sie hält ihr Strahlen im Zaum und nickt auf ihre markante Art.

»Echt jetzt?« Eine andere Freundin von uns aus Rose Hill ist nämlich mit einem Feuerwehrmann zusammen. »Immie?« Wenn sich das überrascht anhört, dann nur, weil es bis letzten Sommer keine Frage war, dass die raue, immer Tacheles redende Immie die Letzte wäre, die jemals heiraten würde.

Poppy nickt und gibt dabei ein Quieken von sich. »Es ist topsecret, aber Chas will um ihre Hand anhalten. Immie holt ihn gleich zu Sams Party ab, und er wartet schon mit dem Ring auf sie. Es müsste jeden Moment so weit sein.«

Was habe ich vorhin über Amorstaub gesagt? Immie arbeitet bei Poppy und kümmert sich um die Feriencottages auf dem Gutshof. Ich kenne sie schon ewig, denn wir sind alle in Rose Hill aufgewachsen. Und Chas ist Immies fescher Feuerwehrmann, den sie letzten Sommer kennengelernt hat, als seine Hochzeit auf dem Gutshof in jeder Hinsicht schieflief. Jetzt ist aber alles wieder im Lot. Er wagt einen neuen Anlauf. Diesmal mit Immie.

»Okay, seid ihr bereit für unseren nächsten Valentins-Hochzeitsantrag über Pirate Radio?« Als die Stimme des Moderators ertönt, beugen wir uns alle nach vorn zum Radio. »Wir gehen rüber zu Barbara und David im Biom des Eden Projects.«

Poppy stöhnt auf. »Wo bleiben denn bloß Chas und Immie?«

Jess beschwichtigt sie. »Keine Bange, sie kommen bestimmt als Nächstes dran.«

»Barbara und David sind unsere Super-Sixties, ein Silver-Surfer-Paar, das sich online kennengelernt hat …« Der Moderator klingt, als wäre er ganz vernarrt in diese Geschichte. »Hallo Barbara …«

Jess lässt sich auf die Chaiselongue fallen, die Stirn gekraust. »Ich will ja gar nichts gegen Ältere sagen, aber ich bezweifle ein bisschen, dass wir von diesem Paar einen Kleiderauftrag kriegen.«

Jess sollte eigentlich am besten von uns wissen, wie ältere Semester so ticken, wenn man bedenkt, dass sie näher an fünfzig als an zwanzig Jahren ist. Ich für mein Teil beäuge die Trüffel auf meinen Knien und wäge ab, welchen ich mir als Nächstes vornehme. Schließlich greife ich mir einen, der in Kokosraspeln gewälzt wurde. Ich habe ihn schon halb im Mund, als aus dem Radio ein Lachen ertönt, das mich erstarren lässt.

Im ersten Moment durchfährt mich eisige Kälte, aber nur einen Sekundenbruchteil später kriege ich einen Schweißausbruch. Ein derartiges Lachen ist mir in meinem bisherigen Leben nur an einer einzigen Barbara begegnet – nämlich meiner Mum. Dabei kann sie es logischerweise nicht sein, denn meine Mum hat definitiv keinen Freund. Und wo wir schon von ihr sprechen – als ich aufwuchs, hat mich einzig und allein eines gerettet, nämlich mein vernünftiger, bodenständiger Vater. Und ich vermisse ihn ganz furchtbar, auch wenn laut meiner Mum nicht immer alles rosig mit ihm war. Anscheinend war ich ganz kurz davor, ihrer Vorstellung von einer jungen und attraktiven Bilderbuch-Mami zu entsprechen, als ich Thom heiratete. Dass ich diese Sache verbockt habe, war in ihren Augen ein gravierendes Vergehen.

Dann tönt Barbara aus dem Radio: »Wir hatten unser erstes Date im Eden Centre …«

Und ich lasse beinahe den Trüffelkorb fallen, weil sie mit diesen schneidenden Vokalen wirklich die Zwillingsschwester meiner Mum sein könnte. Nicht einmal den Namen des Ortes kriegt diese Barbara richtig hin, was auch so ein schauerlicher Zufall ist, denn meine Mum hat genau dasselbe Problem. Andauernd verdreht sie alles.

»Oh Mann, denkt ihr das Gleiche wie ich?« Unsere Blicke treffen sich. Auf einmal fällt mir ein, dass ich vor dem Haus meiner Mum einmal einen David angetroffen habe, der eine Glühlampe auf der Treppe ausgewechselt hat. »Das kann doch nicht meine Mum …?« Kann sie?

Poppy hat vor Verwirrung ein ganz verkniffenes Gesicht. »Ich wusste gar nicht, dass deine Mum einen Freund hat.«

»Ich auch nicht.« Ich schüttele den Kopf und habe das Gefühl, in meinem Magen läge ein Wackerstein. »Aber verflucht, wenn sie auf Pirate Radio ist und einen Antrag bekommt, dann muss sie wohl einen haben.«

Barbara – oder eher meine Mum – klingt sogar noch fröhlicher als sonst.

»Ich weiß gar nicht, warum David mich in diese wunderschöne mediterrane Kuppel gebracht hat … am Valentinstag …« Ihre Stimme ist laut, aber trotzdem hauchig. Selbst übers Radio merke ich ihr deutlich an, dass sie kurz vorm Platzen ist. Man kann ihr kaum einen Vorwurf machen, weil sie aufgeregt ist, aber es ist total offensichtlich, dass sie weiß, was vor sich geht.

Poppy hält sich schnell die Hand vor den aufgeklappten Mund. »Oh Mann, sie ist es wirklich, Lily.« Während sie weiter zuhört, wird ihre Miene weicher. »Ich komme mir vor wie bei Hochzeit auf den ersten Blick. Ich kann nicht glauben, dass sie gerade einen Heiratsantrag bekommt.«

»Uaaah!« Ich presse mir die Hände auf die Ohren, weil das hier komplett verquer ist. Ich will nicht hören, wie jemand Mum bittet, ihn zu heiraten. Meine Mum will überhaupt nicht heiraten, sie ist ja nicht mal über den Tod meines Vaters hinweg. Irgendwann fangen meine Gedanken an, als Worte aus meinem Mund zu purzeln, und ich stammle: »Warum zum Teufel sind sie überhaupt beim Eden Project? Niemand auf diesem Planeten ist weniger grün als meine Mum. Sie hasst es zu gärtnern, und Recycling ist ein Fremdwort für sie. Nach ihrer Auffassung ist Ökologie ein Virus, vor dem man Reißaus nehmen muss. Bitte sagt mir, dass das nicht wahr ist.«

Poppy zupft mich am Ärmel. »Es ist vorbei, Lily, du kannst deine Ohren wieder loslassen.«

Ich kneife die Augen zu und zwinge mich zu atmen. »Wie hat er sich angehört?«, krächze ich.

Poppy antwortet vorsichtig: »Nervös.«

Ich öffne die Augen einen Spalt. »Sie hat Ja gesagt, oder?« Als ob die Möglichkeit bestünde, dass sie etwas anderes gesagt hat.

Poppy nickt, dabei ist die Frage angesichts des ohrenbetäubenden Klatschens im Hintergrund ziemlich überflüssig. Es kommen noch ein paar Jauchzer aus dem Radio, dann hört man erneut meine Mum, laut und deutlich.

»Vielen, vielen Dank an Pirate Radio«, sagt sie, »und an alle hier im Eden Valley. David und ich sind überglücklich! Wir werden eine Sommerhochzeit feiern, und ich verspreche, dass wir alles für die Hochzeit im »Brides by the Sea« kaufen werden …«

Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, dass es mich verletzt, wie textsicher sie zu sein scheint.

»Eine Sommerhochzeit? Da müssen sie aber ganz schön auf die Tube drücken, wenn sie das hinkriegen wollen.« Typisch für Jess, sofort an das Praktische zu denken.

»Ich fass es nicht. Ich fasse es einfach nicht.« So, wie es rauskommt, klingt es viel fieser, als ich es meine, aber wenn einen die eigene Mutter mit so was überfällt, ist es schwer, sich nicht ausgeschlossen zu fühlen.

Poppy schaut nur groß und seufzt. »Ach, gib dir selbst ein bisschen Zeit, Lily«, sagt sie. »Wenn du dich erst mal an den Gedanken gewöhnt hast, ist es sicher halb so schlimm.«

Ich weiß, dass Poppy mir nur helfen möchte, aber sich an so was zu gewöhnen – das ist schon eine Hausnummer.

»Ich freue mich für sie.« Diese Worte ringe ich mir ab, auch wenn ich mir in Wahrheit nicht sicher bin, ob es so ist. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich denken soll.

Jess zupft sich den Schal zurecht. »Auf jeden Fall ist das ein Weckruf. Wir müssen auch ältere Bräute als Kundinnen in Betracht ziehen. Wie kann es sein, dass wir daran noch nie gedacht haben?« Dann springt sie auf, schnappt sich die Proseccoflasche, füllt mein Glas, bis es überläuft, und reicht es mir. »Trink, das hilft gegen den Schreck. Ich gehe mal den Gin holen.«

Während ich einen Riesenschluck hinunterstürze, kostet der Moderator den Moment bis zum Letzten aus.

»So, Barbara und David, wie geht es nun bei euch weiter?«

Und Mum ist wieder voll dabei. Die Bezeichnung »überschwänglich« beschreibt es nicht annähernd. »All die schönen Blumen hier unter der Kuppel erinnern mich daran, dass man mir ein kostenloses Bouquet angeboten hat, aber meine Tochter wird die Blumen für mich selbst ziehen. Falls jemand anderes auch einen schönen Brautstrauß braucht, bitte meldet euch. Sie hat genug für alle …«

Was? Das darf ja wohl nicht wahr sein. Wenn sie so weitermacht, müssen sie sie gleich ausblenden. Zum Glück tun sie genau das. Noch nie war ich so erleichtert über den Beginn einer Werbepause. Man braucht sich nicht zu fragen, welche Tochter ihre Hochzeitsblumen ziehen soll, denn sie hat nur eine.

Dann, als hätten die letzten drei Minuten nie stattgefunden, ist der unerträglich aufgekratzte Moderator zurück, der offensichtlich keine Ahnung hat, dass sein bescheuerter Sender gerade meine ganze Welt auf den Kopf gestellt hat.

»Wir machen weiter mit T-Rex und ›Hot Love‹. Denn unser nächster Heiratsantrag hier auf Pirate Radio kommt von … der Feuerwehrwache in St. Aidan.«

»Jawohl! Hey, los, Immie!«, jauchzt Poppy und boxt in die Luft. Aber als sie meinem Blick begegnet, schaut sie gleich wieder so sorgenvoll drein wie zuvor. »Wenigstens hat Chas uns vorgewarnt. Ein unverhoffter Antrag reicht wohl pro Tag.«

Womit sie recht hat. Ob ich jemals wieder in der Lage sein werde, einen Kokostrüffel zu essen? Aber was sagt man über jeden Regen … Die Aufregung um die Verlobung lässt vielleicht die Tatsache vergessen, dass mein eigenes Leben sich gerade im freien Fall befindet. Jetzt, wo ich Zeuge war, wie meine Mum den Heiratsantrag eines Mannes angenommen hat, von dessen Existenz ich nicht mal wusste, dürfte die Party von Sams Valentinshochzeit jedenfalls ein Klacks für mich sein.

2. Kapitel

Dienstag, 14. Februar

Im Goose and Duck: Teichleben und passende Kissen

»Ich kann nicht glauben, dass die Zeit so schnell vergeht. Es ist schon elf Uhr.« Jess, Poppy und ich erobern uns einen leeren Tisch und stellen das Tablett mit farbenfrohen Getränken ab. »Und diese Party macht mir sogar richtig Spaß, nur meine Füße bringen mich um.« Angesichts der Tatsache, dass die Schuhe zirka zehn Zentimeter zu ambitioniert ausfallen, ist es eine Wonne, mich in einen Sessel sinken zu lassen und sie abzuwerfen.

Poppy lacht. »Hey Lily, du passt perfekt zu den Kissen.«

Ich werfe einen Blick auf die karierten Polster. »Wenn ich daran gedacht hätte, dass sie das Goose and Duck bei der Renovierung grau tapezieren, hätte ich bestimmt was anderes angezogen.« Obwohl – im Gegensatz zu meiner Mum, die am liebsten in strahlenden Chrysanthemen-Mustern feiert, ziehe ich es vor, mit dem Hintergrund zu verschmelzen.

Jess schlürft ihr blitzblaues Getränk mit Hingabe. »Meine Güte, macht das Spaß. Essen, reden, Kuchen anschneiden, der erste Tanz. Und jetzt romantische Drinks. Einen Cocktail, der ›Scarlett O’Hara‹ heißt, muss man einfach lieben.« Womöglich hat sie etwas den Überblick verloren, denn gerade kippt sie einen »Sex on the Driveway« runter. Sie arbeitet sich mit rasender Schnelligkeit durch die Getränkeliste.

Hinter uns vibriert der Raum, er ist voll mit Freunden und Familie der beiden Sams. Die meisten von ihnen kennen wir, weil sie aus dem Dorf sind.

»Sieh dir das an.« Nachsichtig nickt Jess durch eine Lücke in der Menge in Richtung Nebenzimmer, wo Immie auf ihren hochhackigen Doc Martens von ihrem neuen Verlobten Chas herumgewirbelt wird. Morgan, Immies Sohn, schaut ihnen voller Stolz zu. »Ihnen gelingt es gut, Braut und Bräutigam nicht die Schau zu stehlen.« Damit hat sie recht. Immies T-Shirt mit der Aufschrift »Ich heirate einen Feuerwehrmann« ist einfach klasse. Dezent, und doch sagt es alles. Wenn Chas’ Verlobungsgeschenke wie dieses aussucht, hat sie wirklich ein Juwel für sich gefunden. Aber das wussten wir ja sowieso schon.

Poppy zupft den Schirm aus ihrem Glas. »Und der Verlobungsring ist ’ne Wucht. Er passt perfekt zu Immie.«

Ja, fettes lila Plastik. Nur ein vorläufiges Modell für ein bodenständiges Mädchen. Diesmal geht Chas auf Nummer sicher. Im Dorf erzählt man sich, dass seine Ex-Verlobte, die ihn unmittelbar vor der Hochzeit sitzen ließ, so wählerisch war, dass sie den Ring, den er ihr gekauft hat, viermal umgetauscht hat.

»Es ist eine Schande, dass ihr Hochzeitsantrag fast vollständig ausgebeept wurde«, sage ich. Als Chas die Feuerwehrstange heruntergerutscht kam, die Schachtel mit dem Ring in der Hand, war Immie so überwältigt, dass sie nichts anderes herausbrachte als einen Schwall von Kraftausdrücken. »Ich habe nach dem Schock mit meiner Mum nicht viel mitbekommen, dabei hätte ich es so gerne gehört.«

»Hast du schon mit deiner Mutter gesprochen, Lily?« Auch nach fünf Cocktails ist Jess noch voll bei der Sache.

Ich bemühe mich, glücklich zu klingen, schaffe es aber nicht. »Nur ein paar Sekunden. Sie waren zum Feiern im Harbourside Hotel.«

Jess schaltet sofort. »Na, das klingt nach fünftem Rad am Wagen, also bleibst du heute Nacht besser bei mir.«

Es ist keine Einladung, sondern ein Befehl, aber wenn man weiß, was für ein Partygirl Jess ist, ist es sowieso unwahrscheinlich, dass wir vor dem Morgengrauen nach Hause gehen.

Poppy hält ihr Glas voller Früchte hoch. »Wenn ich diesen ›Kiss on the Lips‹ ausgetrunken habe, gehe ich mal lieber und spreche mit Rafe.« Sie winkt ihm, als er ihren Blick erhascht. Er ist der größte Kerl in der Gruppe hochgewachsener Farmer, die sich an der Bar tummeln, und jeder Zentimeter an ihm bedient das Klischee vom umwerfenden Typen. Allerdings war es Poppy, die ihn erst zu dem gemacht hat, was er jetzt ist. Bevor er sie traf, war er griesgrämig und unscheinbar. Was wieder einmal zeigt, was Liebe bewirken kann.

»Diese Schokoladen-Kirsch-Cha-Chas machen mich ganz warm und schummerig«, bemerke ich, während ich in den soundsovielten Hochzeits-Cupcake dieses Abends beiße – Poppys Spezialität mit einem Topping aus pinkfarbener Buttercreme und Zuckerherzen. Ich versuche, nicht an meine Mum zu denken, während ich das Deko-Stäbchen mit dem »Ja, ich will«-Kärtchen herausziehe. Es macht übrigens nichts, wenn mir meine Anzughose bald nicht mehr passt, denn ich werde bald ja eh keinen Job mehr haben.

Ich seufze, wische die Kuchenkrümel von meinem Busen und erinnere mich dann daran zu lächeln. »Es ist mal was anderes, eine Hochzeitsparty in einem Pub zu feiern statt in einer größeren Location.« Die beiden Sams haben gerade ein Haus gekauft, darum hat Sam ihr Kleid selbst genäht, die Zeremonie fand nur im Familienkreis statt, und auf der Gästeliste für den Abend standen nur Freunde, die ihnen viel bedeuten. Da das »Brides by the Sea« aber nicht ohne sie auskommen kann, ist Jess ihr in jeder Hinsicht entgegengekommen.

Auf meine leicht dahingesagte Bemerkung reißt Poppy erschrocken die Augen auf. »Sag nicht, dass einfache Hochzeiten ein neuer Trend sind. Ich mache mir schon vor Angst in die Hose, wenn ich daran denke, das Geschäft auf dem Gutshof zu erweitern.«

Hoppla. Da bin ich aber in ein Fettnäpfchen getreten. Letzten Sommer haben die Hochzeiten auf Daisy Hill meist in Festzelten und Tipis auf der Wiese stattgefunden, aber Rafe und Poppy sind eifrig dabei, die Gebäude aufzuhübschen, sodass sie das ganze Jahr über Hochzeiten anbieten können.

Jess kommt mir zu Hilfe und beruhigt sie. »Mach dir keine Sorgen, jeder liebt Bauernhochzeiten.«

Ich nicke Poppy zu. »Die meisten Paare wollen einen richtig großen Tag, an den sie sich ihr Leben lang erinnern können.« Dabei ist fast das Einzige, woran ich mich bei der Hochzeit mit Thom erinnere, unser Streit.

Poppy zuckt zusammen. »Ich hoffe nur, dass wir genügend Buchungen reinbekommen, damit es sich bezahlt macht.«

Jetzt wird Jess etwas Grundsätzliches vom Stapel lassen, was man daran sieht, dass sie ihren Drink abstellt. »Um dich weiterzuentwickeln, musst du mutig sein, Poppy«, sagt sie ernst und lehnt sich zurück. Sie legt die Hände auf die geschnitzten Armlehnen ihres Sessels. »Mut bedeutet, sich zu Tode zu fürchten, aber sich trotzdem in den Sattel zu setzen.«

»Wie bitte?« Das ist ganz schön tiefgründig für diese Uhrzeit. Poppy und ich werfen uns einen Blick zu. Wir leben vielleicht auf dem Land, aber keine von uns reitet.

Eine tiefe Stimme hinter mir sagt: »Das hat John Wayne gesagt. Er hat dabei über metaphorische Pferde gesprochen.« Es ist Rafe.

Poppy und ich nicken überschwänglich. »Den Pferde-Part haben wir verstanden.« Auch ohne dass ich über meine Schulter schaue, weiß ich, dass Rafe seinen schelmischen Blick draufhat. Nicht, dass ich die beiden miteinander vergleichen wollen würde, aber Thom hat niemals auf diese Art gezwinkert.

Rafe fährt fort: »Sich zu fürchten ist okay, besonders wenn es bedeutet, dass man sich selbst antreibt. Findest du nicht auch, Poppy?«

Poppy verzieht nachdenklich das Gesicht.

»Genau meine Meinung«, sagt Jess und nickt.

»Und wir sind alle da, um euch zu helfen, das Ganze zu einem Erfolg zu machen«, beeile ich mich zu sagen. Zu spät fällt mir ein, dass ich in Wahrheit nicht da sein werde.

Poppy grinst verlegen. »Okay, mein schwacher Moment ist schon vorbei. Wir schaffen das schon.«

»Das hört sich gut an.« Rafe reicht herüber, um so zu tun, als würde er ihr auf den Arm boxen. »Ach ja, Lily, Fred an der Bar lässt dich grüßen. Er ist der Ryan-Gosling-Doppelgänger, der die ganze Zeit dermaßen heftig winkt, dass ihm gleich der Arm abfällt. Übrigens ist er der Ansicht, es könnte Liebe auf den ersten Blick sein.«

Wir drehen uns alle um und sehen einen Typen mit breiten Schultern, der so strahlt, wie die Bucht von St. Aidan breit ist. Dabei winkt er wie ein Schiffbrüchiger, der keine Leuchtsignalpistole hat.

»Cool.« Poppy klingt hocherfreut. »Fred ist süß, er hilft bei der Umgestaltung von Rafes Scheune. Von seiner langjährigen Freundin hat er sich letztes Jahr getrennt, er dürfte über den Liebeskummer also hinweg sein und bereit, etwas Neues anzufangen. Er ist lustig, herzlich, außerordentlich gut bei Kasse, liebt Outdoor-Aktivitäten und hübsche Restaurants.« Sie zwinkert mir keck zu. »Falls das irgendjemanden interessiert. Also nicht, dass du dich im Speziellen angesprochen fühlen solltest, Lily.«

Ich staune, wie viel Infos sie über ihn zur Hand hat. »Danke, aber ich bin ganz zufrieden, Poppy.« Ich grinse verhalten in Richtung Bar, ohne wirklich Augenkontakt aufzunehmen. »Aber grüß ihn ruhig zurück von mir.«

»Mach ich«, sagt Rafe. »Ich möchte euch nicht unterbrechen, doch Poppy hat mir versprochen, mir heute Abend das Tanzen beizubringen.« Er hält ihr die Hand hin.

Poppy seufzt tief, kämpft sich aber dann hinter dem Tisch hervor. »Rafe und tanzen? Das ist nun echt ein gruseliger Gedanke.« Kurz darauf legt er den Arm um ihre Taille.

Sie wollen eben losziehen, als der Trauzeuge auf einen Stuhl springt und mit dem Löffel gegen sein Bierglas schlägt. Poppy und Rafe halten inne, und auch Jess und ich richten uns erwartungsvoll auf, um ihm zuzuhören.

»Also, Ladys, es ist an der Zeit, den Brautstrauß zu werfen.«

Jess und ich lassen uns wieder in den Sitz zurückfallen, und sie zeigt auf mein Glas. »Da sind wir jetzt außen vor. Was meinst du? Noch einen Cocktail?«

Der Trauzeuge redet weiter. »Sam besteht darauf, dass jede Dame mit hinaus in den Garten kommt, ganz egal, welcher Status, Single, verheiratet, geschieden, ihr müsst alle mitkommen.«

Unter erstauntem Gemurmel streben die Frauen Richtung Tür.

»Na, das ist mir aber neu.« Ich schlüpfe in meine Jacke und quetsche stöhnend meine entsetzten Zehen wieder in die Schuhe. Beim Blick auf all die Stilettos kommt mir der Gedanke, dass der Wirt vielleicht nur gern eine schnelle Lösung hätte, um seinen Rasen zu lüften.

Jess schaut mich an, während sie sich ihren Mantel anzieht. »Erinnerst du dich noch an den ersten Brautstrauß, den du mir für den Laden gemacht hast?« Jess hält nicht viel von Nostalgie, aber darauf kommt sie oft zurück.

Als könnte ich das vergessen. Ich war so aufgeregt, dass ich zu sehr gezittert habe, um die Stiele schneiden zu können. Dabei wollte ich, dass der Strauß perfekt wird. Ich muss grinsen, so wie immer, wenn sie mit dieser Geschichte ankommt. »Ein Sträußchen in Weiß und Gelb. Mit Fresien und Margeriten und herabhängenden Bändchen. Vier Stunden habe ich dafür gebraucht.« Ich bin fast ohnmächtig geworden vor Aufregung, als ich es fertig hatte.

Sie schüttelt den Kopf und lacht. »Dein Blick damals, als ich dir sagte, dass wir nun noch fünf weitere, genau gleiche bräuchten.«

Ich schneide eine Grimasse. »Anfängerfehler. Mein Glück, dass du so nachsichtig mit Neulingen warst.«

Sie schüttelt lächelnd den Kopf. »Das stimmt gar nicht. Ich habe schon am ersten Tag dein Potenzial erkannt.«

Es ist lieb, dass sie das sagt, und es erinnert mich daran, was für eine wertschätzende Chefin sie war.

Während sie Sams Granny Kernighan hinaushilft, macht sie einen auf Fernsehkommentatorin: »Diejenige, die diesen Strauß fängt, wird schon bald Glück in der Liebe haben. Dieser Glaube stammt aus der Zeit, als es angeblich Glück brachte, eine Braut zu berühren, und Fetzen vom Stoff des Hochzeitskleids als Glücksbringer angesehen wurden. Den Strauß zu werfen sollte die Menge davon abhalten, der Braut das Kleid vom Leib zu reißen, wenn sie das Fest verließ.«

Ich zittere in der kalten Luft, die von draußen hereinströmt. »Das ist barbarisch. Ich bin auch nicht sicher, ob mir die Zuschauer recht sind.« Wie ich sehe, kommen viele von den Typen mit raus, um zuzusehen. Wenn sie auf einen Mädelskampf aus sind, gibt es hier zumindest zwei, die nicht mitmachen werden.

Ich halte Mrs. K. die Tür auf, und unsere Blicke treffen sich. »Was machen Sie mit Mr. Kernighan, wenn Sie den Strauß fangen und einen anderen Mann finden?«

Ich lasse mir was einfallen«, antwortet sie lachend und zieht sich den Kragen gegen die Kälte hoch. »Es ist ein hübscher Strauß mit weißen Rosen und blauen Anemonen, insofern hätte ich nichts dagegen, ihn zu fangen.« Sie tätschelt meinen Arm. »Bei dem Lächeln, das der fesche junge Mann an der Bar Ihnen eben im Vorbeigehen zugeworfen hat, dürften Sie sowieso mit dabei sein, auch ohne die Blumen.«

Wir treten nach draußen auf das Pflaster aus Backsteinen, das im Fischgrätmuster verlegt ist. Die Strahler sind an, und ich sehe Jess mit einem Augenrollen über den Kopf von Mrs. K. hinweg an, aber sie ist zu sehr damit beschäftigt, Mrs. K. zuzustimmen, als dass sie es merken würde. Auch darüber rolle ich mit den Augen.

Jetzt, wo wir draußen sind, stelle ich fest, dass auch hier alles renoviert worden ist. Als Teenager haben wir an Sommerabenden hier abgehangen, bei Limonade und Cream-Soda, aber der holprige Boden ist einer hübschen mit Holzbohlen umrandeten Wiese gewichen.

Ich sollte keine Zeit verlieren. »Okay, lass uns über Vermeidungstaktiken besprechen. Gehen wir zu den Bäumen da drüben?« Sie sind neu gepflanzt und stehen ganz hinten im Schatten.

»Gute Idee.« Jess reicht Mrs. K. an eine der Frauen weiter, die bereits an vorderster Front herumhüpfen. Die scheinen es ja sehr nötig zu haben! Ein paar von ihnen haben sogar ihre High Heels beiseitegeworfen. Was wird denn nun aus dem Rasenlüften?

Ich kriege eine Gänsehaut, als ich sehe, wie sie sich mit den Zehen in der Erde festkrallen. »Ein einziger Albtraum. Das ist ja fast wie ein Horror-Schulsport-Revival.« Sport war mein meistgehasstes Fach. Neben Mathe. Und Bio. Und was Wettbewerbe betrifft, so bin ich auf der ganzen Welt diejenige mit dem größten Desinteresse.

»Jules, wie schön, dich zu treffen. Und gerade rechtzeitig für den großen Moment«, begrüßt Jess ihren folgsamsten, blauäugigsten, weichlockigsten Fotografen. Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber die Wolke seines teuren Aftershaves kommt mir hier im Dunkeln noch stärker vor. Schwungvoll wirft er seinen bunten Schal zurück und hätte ihn um ein Haar Jess quer durchs Gesicht gezogen. Sie muss ihn heute eigentlich schon mal gesehen haben, nichtsdestotrotz reckt sie sich zu ihm hoch, um ihm ein Küsschen auf die Wange zu drücken. Es ist nicht etwa ein Luftküsschen, sondern eine echte Lippen-auf-Wange-Sache. Wahrscheinlich hat sie ihn ordentlich bearbeitet, damit er den Sams für wenig Geld die schönsten Momente für ein Hochzeitsalbum festhält, insofern ist es das Mindeste, was sie an Einsatz bringen kann.

»Frohes Fangen«, sagt Jules munter. »Und Vorsicht wegen des Wassers.« Jules winkt mir zu und macht sich dann davon, dorthin, wo Sam sich in Position bringt. Sie steht im Eingangsbereich des Pubs, hat uns den Rücken zugewandt und hält den Strauß in der Hand.

»Wasser?« Jess lacht und gibt ein lustiges kleines Schnurren von sich. »Der Junge ist echt ein Scherzkeks.«

Ich reibe mir die Arme. Es ist eisig hier draußen. Wie kommt man auf die Idee, sich im Februar hier hinzustellen, wenn man die ganze Prozedur doch genauso gut drinnen auf der Tanzfläche durchziehen könnte?

»Also, Achtung, es geht los!«, ruft Sam.

Endlich. Da wir ganz rechts und so weit weg stehen, dass wir uns in ziemlicher Dunkelheit befinden, gehe ich davon aus, dass wir komplett außer Reichweite sind. Soweit ich mich vom Netzballspiel in der Schule erinnern kann, ist Sam noch schlechter im Werfen als ich.

»Eins, zwei, drei … Abwurf!« Das ist Jules. Egal, um was es auf einer Hochzeit geht, er kann nicht widerstehen, Regie zu führen.

Sam schwingt die Arme herum und stößt ein grunzendes Geräusch aus, als sie die Blumen loslässt. Der Strauß fliegt hoch, geradewegs in den Sternenhimmel. Im Bruchteil einer Sekunde ist er schon in hohem Bogen über Mrs. K.s Kopf hinweggeschwebt. Es ist ein seltsamer Anblick, wenn man völlig unbeteiligt und desinteressiert nur zuschaut. Aus der Menge steigt ein enttäuschtes Stöhnen auf, ausgestreckte Arme sinken mutlos herab, und die Köpfe in der ersten Reihe werden gedreht, um nach hinten zu schauen. Der Strauß fliegt weiter empor und beschreibt einen Bogen durch die Luft. Wäre Sam eine Hammerwerferin, er wäre nicht schneller unterwegs. In rasendem Tempo driftet er nach links von uns weg, in sichere Gefilde, schwenkt aber dann wie eine ferngesteuerte Rakete plötzlich um. Im nächsten Moment trifft mich ein Schlag mitten in den Solarplexus, und als ich nach unten schaue, steckt der blöde Brautstrauß in meiner Magengegend.

»Uaaaahhh!« Blankes Entsetzen packt mich. Ich wehre die Blumen ab und schlage mit den Händen nach ihnen wie nach einem zudringlichen Hund. Sie hüpfen durch die Luft, als wollte ich Beachvolleyball damit spielen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es, wenn ich den Strauß nicht richtig packe, auch nicht zählt. Ich weiche nach hinten aus, versuche es mit einem kläglichen zweihändigen Relaunch und wirbele den Strauß herum, sodass er auf Jess’ Brust landet.

»Herrgott noch mal, Lily!«, faucht Jess mich an.

Aber es ist zu spät, sie hält ihn schon in beiden Händen, ich habe also nichts damit zu tun. Er gehört ihr. Puh. Einen Moment lang hatte ich befürchtet, womöglich noch mal durch diese verdammte Ehehölle gehen zu müssen. Das war wirklich knapp.

»Lily, es besteht kein Zweifel daran, dass du ihn gefangen hast.« Jess presst es zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Oder, was noch wichtiger ist, der Strauß hat dich ausgewählt. Und das auf sehr außergewöhnliche Weise.«

»Jaja, schon gut.« Ich gebe nichts darum, weil sie diejenige ist, die ihn jetzt hält.

Sie bläht die Nasenflügel. »Es ist nur ein Spaß, Lily, es ist nicht real, das weißt du, nicht wahr?« Sie fährt mit einem Finger kritisch über den Rand einer Rosenblüte, was mich daran erinnert, dass sie das Sträußchen heute Morgen selbst zusammengestellt hat. Ehrlich gesagt, ist es hier aber sowieso zu düster, um viel zu erkennen. »Ich werde den Strauß Mrs. K. geben, sie wird sich freuen.«

»Super. Gute Idee.« Ich trete noch einen Schritt weiter in die Schatten, einfach um etwas Distanz aufzubauen. Es ist eher metaphorisch gemeint als physisch. So, als trete man über eine Linie im Sand. Zumal die Menge sich uns jetzt nähert, um nachzuschauen, wer denn nun den Strauß ergattert hat.

Es ist nur ein Schritt, aber es fühlt sich an, als wäre ich vom Rande der Welt hinuntergetreten. Da ist kein Gras mehr, und mein Fuß fällt über eine dieser vermaledeiten Holzplanken. Plateausohlen sind längst nicht so stabil, wie es der Name vermuten lässt. Ich kippe, und zwar nach hinten, in einer Abfolge von kleinen Stolperern. Gerade mache ich mich darauf gefasst, vor den Augen aller flach auf dem Rücken zu landen – schlimm genug, aber ich werde damit klarkommen müssen –, da kriege ich einen unverhofften Stoß in die Rückseite meiner Waden und schlage nach hinten über. Das Schwanken von vorher war nichts im Gegensatz dazu. Als ich unkontrolliert falle, gibt es nicht den erwarteten Aufprall auf die Erde, sondern vielmehr einen riesigen Platscher.

»Uaaaaah!« Jedes bisschen Luft entweicht meinen Lungen, als ich in eiskaltem Wasser lande. Selbst mein Kreischen erstirbt unmittelbar. Ich kann nicht sagen, ob meine Haut sich heiß wie Feuer oder kalt wie Eis anfühlt. Ich bin eingekeilt. Total festgeklemmt. Mit dem Po, dem Körper und dem Kopf befinde ich mich in eiskaltem Wasser, während meine Knie hoch über einer Art Mauer hängen.

Ich höre Jess spitz aufschreien: »Himmel! Lily! Jules meinte richtiges Wasser. Wie konnten wir den Teich übersehen?«

»Hat mich jemand gerufen?«, ertönt es. Kurz darauf blickt Jules Teleobjektiv von oben auf mich herab.

Ich zeige auf die Kamera und presse mit zusammengebissenen Zähnen hervor: »Wage es nicht!« Gesichter nähern sich, man sieht mich mit offenem Mund an, und ich stöhne auf. »Steht doch nicht bloß da, holt mich hier raus.«

Wie aus dem Nichts erscheinen plötzlich breite Schultern, die den Blick auf den Himmel verstellen, und starke Finger umschließen meine Handgelenke.

»Na, du verstehst es aber, die Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen. Was für ein eindrucksvoller Stunt. Trotzdem sollten wir dich besser zurück ins Trockene befördern.«

Klar, jetzt muss ich mir auch noch blöde Sprüche anhören. Wo ist Chas, der hilfsbereite Feuerwehrmann, wenn man ihn mal braucht? Mir fällt auf, dass auch Immie durch Abwesenheit glänzt, also lassen wir das lieber. Plötzlich überfällt mich Panik, dass ich für diesen Typ zu schwer sein könnte, zumal in meinem nassen Zustand. Aber die Sorge ist unbegründet. Einen kleinen Ruck später stehe ich wieder auf den Beinen, und Wasser fließt auf meine Schuhe. Bei dem Gedanken, wie mein LK-Bennet-Anzug, den man nur chemisch reinigen darf, das Wasser wohl vertragen wird, stöhne ich innerlich auf. Was für ein Glück, dass meine Kurt Geigers es geschafft haben, nicht auch noch in diesem Teich zu landen.

Obwohl ich krampfhaft japse und der Garten hier nur mäßig Licht von den Außenstrahlern abbekommt, sehe ich beim Aufschauen deutlich rauchgraue Augen vor mir. Dafür, dass sie einem Fremden gehören, fühlen sie sich erstaunlich vertraut an. Aus der Art, wie seine Lippen zucken, schließe ich, dass er kurz davor ist loszuprusten. Was er über Aufmerksamkeit sagte, stimmt. Durch einen triefenden Vorhang aus strähnigen Haaren erkenne ich eine Reihe von Hochzeitsgästen um mich herumstehen, und sie klatschen.

Ich wische mir die Algen aus den Augen, während meine andere Hand die seine noch immer umklammert.

»Ebenso gut könnten wir auch die Vorstellungsrunde hinter uns bringen.« Er schüttelt noch mal meine Hand und lächelt mich an: »Ich bin Kip Penryn. Freut mich, dass ich dich aus dem Karpfenteich ziehen durfte.«

Penryn. Noch immer geblendet vom Zauber der Situation, wird dennoch das Archiv in meinem Hirn aktiv. Mein Magen verknotet sich und schrumpft dann zu einem Stein zusammen. Es gab mal eine Zeit, da bedeutete der Name Penryn raues Denim, heiße Haut und mehr Brüder, als man an einer Hand abzählen konnte. Eine mutterlose Horde, die jeden Sommer über den zweiten – oder dritten – Wohnsitz des Onkels hereinbrach. Sie haben in dem großen Haus ein riesiges Getöse veranstaltet und sind dann ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren. Eine Bande, die in ihrer Gesamtheit einfach unsäglich viel Blödsinn gemacht hat. Bei mir sind sie abgeheftet unter »B« wie »besser nicht dran erinnern«. Wenigstens erklärt das meinen rasenden Herzschlag. Den weiblichen Puls in die Höhe zu treiben ist in die Penryn-DNA förmlich einprogrammiert.

Ich kehre wieder in die Wirklichkeit zurück. »Ein Karpfenteich?«, frage ich. »Im Goose and Duck? Sind Karpfen nicht furchtbar groß? Ich hätte gefressen werden können.« Der verdammte Alan Titchmarsh ist mir ein paar Antworten schuldig.

»Da sind bestimmt nur Goldfische drin.« Er beugt sich zu mir rüber und untersucht das Blatt, das er mir aus dem Haar gezogen hat. »Und Wasserlilien, wie’s aussieht.« Jetzt, wo sein Superlächeln weg ist, zeigt er wieder die Art von definierten Wangenknochen, denen man bekanntlich besser aus dem Weg geht.

»Also, was machst du hier … ähm, Kip?« Ich zermartere mir das Hirn, um mich an all die Namen zu erinnern und herauszukriegen, ob ich ihn schon mal getroffen habe. Das ist auch so eine Sache mit den Penryns. Zurückweichen bringt gar nichts, man muss sich ihnen stellen.

»Außer eine holde Maid vor dem Ertrinken zu retten?« Er lacht noch einmal süffisant. »Ich komme von der exklusivsten Hochzeits-Location der ganzen Gegend, Rose Hill Manor.« Viel mehr von diesem Lachen könnte ich nicht aushalten.

»Aha.« Zwei von zehn Punkten für eine Antwort, die absolut null Erklärung liefert. Auf Rose Hill Manor hat die Schwester von Sera, der Kleiderdesignerin, letztes Jahr Weihnachten geheiratet, aber dort gibt es höchstens zwei Hochzeiten im Jahr, und zwar nur für Freunde und Familie. Das heißt, es ist ein bisschen komisch, sich ausgerechnet darauf zu beziehen, aber was soll’s! Irgendetwas an ihm reizt mich, ihn weiter zu drängen. »Woher kennst du denn dann die Sams, auf deren Hochzeit wir uns gerade befinden?«

»Tue ich gar nicht.« Sein Achselzucken zeigt nicht das geringste Schuldbewusstsein. »Ich bin nur kurz zum Essen in den Pub gekommen. Musste mich dann mit den Resten vom Schweinebraten zufriedengeben. Schon deshalb lohnt es sich, ein bisschen was für eine Räumlichkeit hinzulegen, in der man als ›geschlossene Gesellschaft‹ feiern kann.« Er malt allen Ernstes Gänsefüßchen in die Luft. Und dann kommt wieder dieses bescheuerte Lachen. »›Geschlossene Gesellschaft‹ heißt, man vermeidet es, dass zufällig vorbeikommende Fremde wie ich sich die Pasteten einverleiben und die Feier crashen.«

Was für eine ekelhafte Einstellung. Ich bin so wütend darüber, dass er sich über den Braten lustig macht, dass mir förmlich Rauch aus den Taschen meines Hosenanzugs kommt. Ich mache den Mund auf und zu, so wie ein Goldfisch – oder vielleicht ein Karpfen –, weil ich dermaßen koche, dass ich kein Wort rausbringe. Dabei schlottere ich vor Kälte. Aber dann springt ein Ritter in schimmernder Rüstung in die Bresche und füllt die Lücke mit seinem Lächeln.

Das ist natürlich ein Scherz. Es ist Rafes Freund, der mir vorhin zugewinkt hat. Er trägt einen Dreiteiler aus Tweed und dazu Brogues, kein Kettenhemd. Er drängt Kip aus dem Weg, streift sich sein Jackett ab und hält es mir hin.

»Du zitterst ja. Hier, zieh das an.« Sein cornischer Zungenschlag klingt weich nach Kips hochgestochenen Vokalen. »Wir sollten zusehen, dass du nach drinnen kommst.«

Das Jackett umhüllt mich schwer, aber es hält augenblicklich den Wind ab. Mein Ritter ist derweil ganz der Junge von nebenan, und von Nahem ist sein Lächeln sogar noch freundlicher, als es vorher quer durch den Raum wirkte. Das ist um einiges weniger irritierend als die Penryn-Version im hohen Wattbereich.

»Hier, nimm das auch.«

Sollte ich dazugekommen sein, meinen Mund zu schließen, so war es nicht der Mühe wert. Im nächsten Moment gibt er mir seine Weste – und was zum Teufel …? Er zieht sich das Hemd über den Kopf und gibt mir auch das noch. Ich versuche, die Augen nicht allzu weit aufzureißen. Nicht, dass ich eine Expertin wäre, aber so viel steht fest: Dieser Oberkörper ist außerordentlich muskulös!

»Wenn du einen Stripper willst, hättest du es nur sagen müssen …« Das ist Kip, und er lacht mir ins Ohr, bevor er sich über den Rasen trollt. »Bis später, Water-Lily!«, ruft er noch.

Wie bitte? Ich stampfe gegen das Zittern an, das mich jetzt überkommt. Das mit dem Namen muss ein Zufall sein, er kann mich nicht kennen.

»Er hat recht, wir sollten reingehen.« Jess legt mir eine Hand auf den Arm. »Fantastische Bauchmucke, übrigens.« Da liegt sie nicht falsch, bis auf das Offensichtliche.

»Bauchmuckis, nicht Mucke.« Wie oft ich ihr das auch sagen mag – es prallt an ihr ab. »Mucke ist das, was aus den Lautsprechern kommt und wozu du tanzt, Jess, Muckis sind …« Ich stocke, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf das zu ziehen, was sich direkt vor unserer Nase befindet. Und obwohl der Geruch nach nassem Teich allgegenwärtig ist, erinnert mich der Duft, der mir aus dem Jackett um meine Schultern in die Nase steigt, sehr an Jules. Nur ist er viel dezenter.

Jess führt mich zurück zum Pub. »Wir trocknen dich ab und nehmen ein Taxi in den Ort.«

Aber Rafes blankbrüstiger Freund ist uns auf den Fersen und protestiert. »Du kannst doch jetzt nicht gehen. Es gibt hier reichlich Kleidung für uns beide.«

Beim Griff in mein triefendes Haar fühle ich eine Masse aus strähnigen Locken. Ein echtes Worst-Case-Szenario. »Ich weiß nicht.« Noch dazu sehe ich bei der Rückkehr in den erleuchteten Schankraum, dass der Ausschnitt, den man von meinem Seidentop sehen kann, vollkommen transparent ist.

Noch eine Welle von Jules’ Duft umhüllt mich, als Rafes barbrüstiger Freund nahe genug herankommt, um mich am Ellbogen anzustupsen. »Wir haben alle vorher gesehen, wie fabelhaft du aussiehst. Daran denke ich, wenn ich die nasse Variante sehe.«

Entschuldigt mich bitte, während ich in Ohnmacht falle. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal so eine Art von Kompliment bekommen habe. Aber um ehrlich zu sein, normalerweise schaffe ich es, jede Aufmerksamkeit von mir wegzulenken, bevor es dahin kommen könnte, dass jemand mir was Nettes sagt. Selbst Jules wahrt Abstand, und er ist einer, der die Leute nun wirklich gern umarmt. Hat mich jemand mit Feenstaub bestäubt? Ist das der Brautstraußeffekt? Sollte ich rufen: »Himmel, nein, ich heirate nicht!«? Und dann dämmert es mir. Ich habe meine übliche Unnahbarkeit aufgegeben. Wer würde das nicht, wenn er gerade tropfnass aus dem Gartenteich gezogen wurde? Aber es besteht kein Grund zur Panik. Schließlich bin ich nicht diejenige, die den Strauß gefangen hat, oder? Wenn sich hier jemand vorsehen muss, dann Jess.

»Also, was meinst du? Bleiben und weiterfeiern oder zurück in die Stadt und früh ins Bett mit einem Kakao?« Jess hebt erwartungsvoll die Brauen.

Wir wissen beide, dass sie blufft, was das frühe Schlafengehen betrifft. In Wirklichkeit würde ich nur schnell duschen und dann ab mit ihr ins Jaggers bis zum Morgengrauen. Das Jaggers – für alle, die sich hier noch nicht auskennen – ist eine Teenie-Cocktail-Bar in St. Aidan mit roten Plexiglastischen und einer Neigung zu Happy Hours mit »Sex on the Beach«. Wenn ich also diese Wahl habe, gibt es nur eine Antwort, auch wenn das bedeutet, meine wirren Locken in der Öffentlichkeit zu zeigen.

Für den Rest der Hochzeitsfeierlichkeiten der Sams trage ich die Pilatesleggings der Wirtin, dazu ein übergroßes weißes Männerhemd, das nach Algen und Fotograf riecht, und eine Krawatte als Gürtel. Und ich unterhalte mich mit einem Bauern, der nur eine Weste über der nackten Brust hat und mich daran erinnert, dass er Fred heißt.

3. Kapitel

Mittwoch, 15. Februar

Im »Brides by the Sea«: Angefangen mit Blumen

»Gut, dann können wir jetzt ja richtig loslegen.« Jess stellt ihre Kaffeetasse ab und zieht einen Stuhl an ihren Schreibtisch in der Ecke des Weißen Zimmers.

Dafür, dass wir erst spät in der Nacht nach St. Aidan zurückgekehrt sind, sind wir extrem früh auf den Beinen. Ich schwöre, ich war noch halb im Koma, als wir in der Bäckerei und der Reinigung waren. Die Angestellte bei Iron Maidens hat versprochen, alles Menschenmögliche zu tun, um meinen Hosenanzug zu retten, aber ihrem Blick auf den durchweichten Stoff in der Tesco-Tüte nach zu urteilen, sollte ich meine Hoffnungen lieber runterschrauben.

»Okay.« Mein Magen streikt, als ich auf das neben dem Terminkalender aufgetürmte Gebäck blicke. »Ich glaub, ich hebe mir die Rosinenschnecke für später auf, danke.« Ich kann mir nicht erklären, wie Jess es schafft, derartig enthusiastisch herumzuwirbeln, während ich selbst kaum richtig wach bin. Obwohl, jetzt fällt mir wieder ein, dass ihre Ausdauer ja legendär ist. Nicht nur auf Partys, sondern auch am Arbeitsplatz ist sie immer die Letzte, die geht.

Sie fährt sich mit den Fingern durchs Haar. »Als ich von Arbeitsfrühstück sprach, meinte ich nicht Kaffee und Kuchen, Lily. Ich möchte mit dir über deinen Job sprechen. Nämlich den, der durch die Firmenübernahme flöten geht.«

Mir fällt die Kinnlade runter. Habe ich im Schlaf geredet? Woher weiß sie, dass ich den Job verliere, wo ich doch niemandem ein Sterbenswörtchen davon verraten habe? »Du weißt es?«

Jess spitzt die Lippen und ballt die Fäuste, also hat sie etwas vor. »In der Geschäftswelt verbreiten sich Neuigkeiten rasant. Ich vermute, deine Wohnung ist dann auch weg?«

Autsch. Keine Umschweife. Direkt an die Kehle.

Mein Hals ist so ausgedörrt, dass ich krächze: »In zwei Wochen muss ich raus sein. Aber das Auto darf ich behalten.« Ein winziger Trost in dem ganzen Schlamassel meines zusammenbrechenden Lebens. Das ist das Blöde an einem Job mit Wohnung. Als ich nach der Trennung von Thom ein Zimmer im Angestelltenquartier angeboten bekam, habe ich nicht so weit gedacht, mögliche Firmenübernahmen und deren Konsequenzen in Betracht zu ziehen. Ich seufze ausgiebig, weil ich irgendwie erleichtert bin, dass Jess Bescheid weiß, auch wenn ich vorhatte, die Sache geheim zu halten.

Jess verengt die Augen. »Mochtest du die Arbeit?«

Diese Frage erwischt mich kalt. Voll verantwortlich für ein Team zu sein, in zehn Luxushotels für frische Blumen in jedem Zimmer zu sorgen, das war ein Nischenjob. Am Anfang waren es nur Blumen auf den Tischen in einem einzigen Restaurant, dann erweiterte sich die Sache hin zum Haupthaus und den Gästezimmern und wuchs schließlich exponentiell an, als sie mehr Immobilien dazukauften. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ich wieder einen Job wie diesen finde. Ganz bestimmt jedenfalls nicht innerhalb von zwei Wochen. Am Ende war der Job aber so umfangreich, dass meine Assistentinnen die interessantesten Dinge zu tun bekamen, während ich mir bis in die Puppen den Kopf über Bestellungen und Budgets zerbrechen durfte.

»Die Arbeit war schon super, nur ist es Ewigkeiten her, dass ich eine Blume angefasst habe.« Wenn ich jetzt darüber nachdenke, vermisse ich genau das. Ohne es zu merken, habe ich genau den Teil meines Jobs aufgegeben, den ich am meisten geliebt habe. Ich hatte deshalb angefangen, bei Jess zu arbeiten, weil ich verrückt nach Blumen war und in Jess’ kleinem Schaufenster die tollsten Brautsträuße ausgestellt waren. Man glaubt es kaum, dass Jess im »Brides by the Sea« anfangs nur Blumen verkauft hat, und das in einem einzigen Zimmer, bevor sich das Ganze zu einem vierstöckigen Schmuckstück entwickelt hat. In jedem anderen Blumenladen in Cornwall kriegte man das übliche Nullachtfünfzehn-Zeug, und der Laden, bei dem ich gleich nach dem College gearbeitet habe, war so altmodisch, dass die Inhaberin mich nur hat bedienen lassen, während sie die Sträuße gestaltete. Für Jess die Blumen herzurichten war mein Traumjob. Und weil sie mich ordentlich angetrieben hat und der Laden sich so schnell entwickelte, habe ich dabei eine ganze Menge über das Hochzeitsgeschäft gelernt.

Jess holt tief Luft. »Wie fändest du es, ins »Brides by the Sea« zurückzukommen?«

Ich bin so platt, dass ich erst mal eine Sekunde lang nicht antworten kann. »Was? Aber du hast doch selbst genügend Floristinnen.« Es gibt da nämlich ein klasse Team, das im Untergeschoss des Geschäfts arbeitet.

Sie nickt zustimmend. »Ich denke bei dir diesmal an so viel mehr als nur Blumen, Lily. Es wäre ein riesiger Karriereschritt. Ich möchte, dass du für uns den Stylingbereich ausbaust.«

»Stylingbereich?«, kommt es wie ein Echo von mir zurück.

Jess hat vor Aufregung glänzende Augen. »Während Hochzeitsplaner sich mit dem Orgakram abgeben, kümmern sich Stylisten um die schönen Dinge. Sie sind die Innenarchitekten der Hochzeitswelt.« Sie zählt an den Fingern ab: »Farben, Deko, Blumen, Einladungen, Einrichtung, Setting. Ein Stylist verpasst jedem einzelnen Brautpaar seinen individuellen Hochzeitslook.«

Ich nicke. »Ich verstehe schon, was du meinst. Stylisten, wie sie von Celebritys und Fußballerfrauen engagiert werden und wie man sie im Hello-Magazin sieht.« Aber von denen gibt es bestimmt nicht so viele in Cornwall, dass sie eine Vollzeitstelle rechtfertigten.

Ein Lächeln überzieht Jess’ Gesicht. »Ja, früher war das so. Aber heute begnügen sich die wenigsten mit ein paar Blümchen im örtlichen Hotel, so wie es bei euch, Thom und dir, war. Stylisten sind heutzutage ein entscheidender Faktor für viele Hochzeiten, und »Brides by the Sea« muss mit der Zeit gehen.« Ihr Blick macht klar, dass Thom und ich uns das Jawort gegeben haben, lange bevor der Begriff »Tipi« seinen Einzug ins Urban Dictionary hielt. »Momentan wünschen sich alle Paare eine absolut einzigartige Hochzeit, an die sich ihre Freunde und die Familie ewig erinnern werden. Und die Umsetzung dieses Wunsches eröffnet ganz neue Tätigkeitsfelder.« In den letzten zwei Wörtern dürfte der Schlüssel zu Jess’ Enthusiasmus liegen.

»Aber an welcher Stelle komme ich ins Bild?«

Sie kriegt wieder schmale Augen. »Nur eine Handvoll Bräute sind kreativ genug, um zu wissen, was sie genau wollen, das ganze Drumherum auszugestalten und jede Einzelheit aufzuspüren, die ihren großen Tag auf spektakuläre Art besonders macht. Die meisten haben keinen Schimmer davon, wie sie ihre Träume konkret umsetzen können, und selbst wenn, haben sie keine Zeit, alles selbst zu organisieren. Genau an diesem Punkt kommst du ins Spiel, weil sie sich an dich wenden werden, damit du alles zusammenstellst. Du kannst entweder nur ein bisschen oder aber komplett einbezogen werden, und das Budget kann winzig oder riesig sein. Vor allem bist du aber hier, um die Bräute bei der richtigen Auswahl ihrer Träume zu unterstützen. Und dann lässt du sie Wirklichkeit werden.«

»Lasse ich?« Mit jeder Frage werden meine Augen größer.

Sie reibt sich die Hände und gurrt beinahe: »Wir fangen klein an, indem wir hübsche Sachen anbieten, die eine Braut gern kaufen oder ausleihen möchte, um damit ihre Hochzeit auszuschmücken oder zu individualisieren. Nach und nach bauen wir dann eine ganz neue Abteilung auf, in der sich Paare inspirieren und beraten lassen können.« So wie sie es sagt, könnte es sogar klappen.

»Okay.« Ich knabbere am Gel-Überzug meines Nagels.

Ihr Strahlen wächst. »Es ist eine Win-win-Geschichte. Wir helfen den Leuten, die aufpolierten Events zu bekommen, die sie haben möchten, ohne unbedingt mehr auszugeben. Du gestaltest die Blumen und vieles mehr. Und wir bieten eine Aufbau- und Aufräumoption an. Wart’s ab, wir werden einen vollwertigen Hochzeitsstylingservice auf die Beine stellen, bevor du nur Deko und Brautstrauß sagen kannst.«

Meine Stimme wird panisch. »Das mit den Blumen kriege ich hin, aber was ist mit allem anderen?«

Endlich bemerkt sie meine Angst. »Kein Grund, sich zu fürchten, Lily. Vertrau mir. Wenn ich nicht wüsste, dass du das mit links schaffst, würde ich es nicht vorschlagen.« Ihre Begeisterung ist jetzt einem beschwichtigenden Tonfall gewichen. »Du hattest schon immer ein Händchen für Hochzeiten, und du kannst gut mit Bräuten. Außerdem bist du es gewohnt, mit deinen Blumen Trends zu setzen. Und du hast ein Händchen dafür, bei allem die Ruhe zu bewahren und die Dinge entspannt umzusetzen. Es ist die perfekte Gelegenheit für dich, du kannst gleichzeitig deine floralen Kompetenzen weiterentwickeln und die Grenzen deiner Kreativität ausweiten.«

Anscheinend hat sie gründlich über alles nachgedacht. Nicht, dass ich es hätte erwähnen wollen, aber abgesehen davon, dass mein Job sich gerade verabschiedet, bin ich mit meinen derzeitigen Grenzen eigentlich ganz glücklich. »Aber warum ich, und warum gerade jetzt?«

Jess lacht laut auf. »Geschäftlicher Erfolg basiert darauf, Gelegenheiten beim Schopf zu packen. Du bist hier und verfügbar, also wäre ich schön blöd, wenn ich nicht versuchen würde, dir eine Horizonterweiterung schmackhaft zu machen.«

Für mich hört sich das alles so beängstigend an, dass ich besser schleunigst ein paar Ausreden anbringe. Und mich dann verdrücke.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich nach St. Aidan zurückkommen sollte«, krächze ich. Ich bin mit so großen Hoffnungen von hier weggegangen und habe aus den letzten fünf Jahren nicht viel vorzuweisen. Jetzt wieder an den Ort zurückzukehren, wo ich mit zwanzig gearbeitet habe, ist, als würde ich öffentlich mein Scheitern eingestehen.«

Jess lächelt nachsichtig. »Und deswegen will ich dir das Ganze ein wenig versüßen. Poppy benutzt die Wohnung oben kaum noch, jetzt, wo sie mit Rafe zusammen ist. Ich könnte sie also noch mit in die Waagschale werfen.«

»Ach so.« Das kommt so plötzlich, dass mein Mund nicht hinterherkommt. Ein Job und eine Wohnung. Noch vor fünf Minuten hatte ich keines von beidem. Und auch wenn mein Magen bei der Idee rebelliert, Hochzeiten zu stylen, verführt mich der Gedanke an den Seeblick aus den kleinen runden Dachfenstern oben, zumindest darüber nachzudenken. Aber so was von.

»Und wenn du dann doch das Gefühl hast, dass der Schritt zurück nach St. Aidan ein Rückschritt ist, kannst du ihn immer noch als vorläufig betrachten, oder? Komm wieder auf die Füße, probier das mit dem Styling, und mach irgendwo was anderes, wenn du merkst, dass es nicht deins ist. Damit könnte ich leben.«

Jess ist genial darin, Dinge für Menschen funktionieren zu lassen. Darum ist sie so eine brillante Kauffrau.

Jetzt, wo sie damit angefangen hat, gibt es kein Halten mehr. »Wir kennen die Pläne deiner Mum nicht, aber sofern sie nicht durchbrennen will, schätze ich, dass sie sich jetzt um eine Hochzeit zu kümmern hat. Auf diese Weise wirst du ihr helfen können.«

Was sagte ich gerade bezüglich Überzeugungskraft?

»Du könntest sogar diese besagten Blumen für ihren Brautstrauß pflanzen.«

»Okay.« Ich halte schnell meine Hand hoch, bevor es vollkommen mit ihr durchgeht. »Danke, und ja. Zu allem, bis auf die letzte Sache. Blumen anzubauen war nie mehr als ein Traum für mich.« Und der gehörte zu einem früheren Leben. Zu einem Mädchen, das Glück einfach als selbstverständlich hingenommen hat. Diese Person bin ich nicht mehr.

Jess holt tief Luft. »Schon gut, wir werden sehen.«

Manchmal hat sie die Angewohnheit, ein Nein als Antwort einfach nicht zu akzeptieren. Das kann einen verrückt machen. Mental krempele ich mir die Ärmel hoch und mache mich bereit, es auszudiskutieren, da geht die Ladentür auf, und Poppy kommt hereingerauscht. Sie trägt die Barbourjacke, die sie von Rafe zu Weihnachten bekommen hat, und aus den falsch zugemachten Druckknöpfen schließe ich, dass sie ziemlich in Eile aus dem Haus gegangen ist.

Jess schiebt ihr den Teller hin. »Du kommst gerade recht zu unserem Brainstorming-Frühstück. Zimtschnecke?«

Sieht so aus, als wäre ich aus dem Schneider.

Poppy schubst den Teller weg und schüttelt knapp den Kopf. Ohne unhöflich sein zu wollen, muss ich sagen, dass Poppy wahnsinnig gern isst. Ein Frühstück abzulehnen passt ebenso wenig zu ihr wie ihre momentane Gesichtsfarbe. Sie ist nämlich weiß wie die Wand.

Sie knöpft die Jacke auf und lässt sich auf einen Stuhl fallen. »Ihr ahnt nicht, was passiert ist«, stößt sie hervor.

Jess und ich wechseln einen ratlosen Blick. Bei so einer Ansage ist es schwer zu entscheiden, in welche Richtung man raten soll.

Jess löst sich als Erste aus der Starre. »Hast du einen kleinen Tipp für uns?«

Poppys Antwort sprudelt als Tirade aus ihr hervor: »Es ist die absolut katastrophalste Neuigkeit aller Zeiten. In unseren schlimmsten Albträumen hätten wir uns das nicht vorstellen können. So viel zum verdammten Pferdesatteln. Wir könnten genauso gut das ganze verdammte Pony rausschmeißen und es sein lassen. Es ist aus mit den Hochzeiten auf Daisy Hill. Wir können dichtmachen.«

»Was?« Jess kann ihr ebenso wenig folgen wie ich.

Als ich zu Poppy rübergehe und mich neben ihr hinhocke, zittert sie so heftig, dass der Louis-Quatorze-Sessel quietscht. »Okay, jetzt mal ganz ruhig. Was auch immer es ist, wir werden dir helfen. Erzähl uns alles, aber diesmal ganz langsam und von Anfang an.«

Poppy holt bebend Luft. »Rafe ist heute Morgen früh raus …«

Für diejenigen, die es noch nicht wissen – dieser Gutshofbesitzer scheint nie zu schlafen. Mit dem Melken und all den anderen Farmsachen bedeutet ein Aufstehen bei Morgengrauen für Rafe so viel wie auszuschlafen.

Ich nicke ermutigend. »Okay, weiter.«

»Darum hat er es zuerst gesehen. Auf dem Feld am Weg nach Rose Hill steht eine riesige Reklamewand. Sie muss praktisch über Nacht dort aufgestellt worden sein.« Poppys Stimme ist ein hohes Quieken. »Das Herrenhaus eröffnet eine … Hochzeitslocation.«

»Sicher nicht!« Jess schüttelt ungläubig den Kopf.

»Oh doch, absolut.« Poppy spricht jetzt mit zusammengebissenen Zähnen. »Sie bieten Räumlichkeiten für verdammte geschlossene Gesellschaften, herrliche verdammte Landhochzeiten. So steht es auf dem Schild.«

Geschlossene Gesellschaften? »Oh nein.« Eine Perle aus kaltem Schweiß läuft mir den Rücken hinab. Denn tatsächlich weiß ich das ja schon und kann nicht glauben, dass ich es nicht ernst genommen habe. »Oh, mein Gott!« Ich hasse es, das zu sagen, aber manchmal muss es sein. »Der Kerl, der mich aus dem Teich gezogen hat, hat davon gesprochen, aber ich dachte, er würde sich nur aufspielen.«

Poppy zieht die Nase kraus. »Aber wie konnte Fred davon wissen?«

»Nicht Fred. Einer der Penryn-Brüder war da, um vom Buffet zu schnorren. Der hat den Helden gespielt. Ach Mensch, ich hätte dich warnen sollen.«

Poppy runzelt die Stirn. »Ein Penryn? Aber nicht Quinn?«

Ich habe ein ungutes Gefühl im Bauch. Ich kann mich kaum überwinden, den Namen laut auszusprechen. »Nein, es war dieser … ähm … Kip.«

Poppy ist für einen Moment abgelenkt. »Quinn war ein Trauzeuge auf der Hochzeit von Seras Schwester«, erklärt sie mir. »Der hatte es in sich. Hat einen Lieferwagen geschrottet und die gesamte Ausstattung Kristallgläser in einen Scherbenhaufen verwandelt.«

Das klingt stimmig.

»Ein tolles Auto hat er immerhin. Und charmant ist er bis dorthinaus.« Zumindest verkneift Jess es sich, seine Mucke zu kommentieren.

»Etwas durchgeknallt, oder? Das kommt hin.« Ein Bild blitzt vor meinem geistigen Auge auf. Ich, triefend nass, am Strand des Herrenhauses. Was hat es mit den Penryns und Wasser auf sich? Okay, ich gestehe. Ich bin auf einer Insel mit diesem speziellen Penryn-Bruder gestrandet, als Teenager, und entschied mich, lieber davonzuschwimmen, als dortzubleiben und mit ihm zu schlafen. Vielleicht nicht die beste Entscheidung, wenn man meinen schwachen Armzug beim Brustschwimmen kennt, aber für mich die einzige Option. »Beim Rose Hill gibt es einen See.« Es kommt ganz automatisch heraus, bevor ich es verhindern kann, aber zum Glück beiße ich mir schnell auf die Zunge, um nicht den Rest auch noch auszuplaudern.

»Da ist nicht nur ein See.« Poppy heult es förmlich. »Sie haben ein spektakuläres Haus mit einem Haufen Schlafzimmer, alle mit Himmelbetten ausstaffiert, und noch dazu einen Ballsaal. Der Gutshof von Daisy Hill kann da in keinster Weise mithalten.« Jess tippt mit ihrem Loafer ans Stuhlbein. »Aber ihr habt Feriencottages, die haben sie beim Herrenhaus nicht. Und bald habt ihr das Haupthaus auf dem Gut fertig, und die große Scheune ist im Herbst ebenfalls so weit.«

Poppy legt ihre Arme um den Oberkörper. »Aber alle unsere Finanzpläne fußen darauf, dass wir die einzige Location in dieser Gegend sind. Wenn wir Buchungen an das Herrenhaus verlieren, rentiert es sich nicht mehr. Und bei denen gibt es alles, was wir anbieten, auch, nur viel besser.«

Jess verengt die Augen. »Unterschätzt euch nicht. Ihr habt mittlerweile so viele Freunde in der Branche. Und wir stehen alle hinter euch.« Obwohl sie sitzt, stemmt sie die Hände in die Hüften und fügt mit einem drohenden Knurren in der Stimme hinzu: »Wenn dieser Penryn einen Hochzeitskrieg will, werden wir ihn auf ganzer Linie bekämpfen.«

»Wenn er irgendwie mit Quinn vergleichbar ist …« Poppys Stimme schwankt.

Jess kommt ihr zu Hilfe. »Quinn könnte nicht mal ein Feuer im Kohlenkeller organisieren. Wenn er seinem Bruder ähnelt, dann wird dieser Kip sich dermaßen den Hals brechen …«

»Und ob«, stimme ich zu und schwinge die Faust. Allerdings gilt meine Reaktion nicht nur dieser Sache jetzt. Ein guter Teil meiner Power ist vergangenem Groll geschuldet. »Um die Penryns zu stürzen, muss man sie frontal treffen. Das ist die einzige Methode.« Dann halte ich schnell den Mund, weil ich nicht wie eine Expertin rüberkommen will.

Jess’ Miene entspannt sich. »Strategie ist meine Stärke. Und außerdem haben wir unsere neue Geheimwaffe.« Sie macht eine effektheischende Pause und verkündet dann: »›Brides by the Sea‹ hat eine brandneue Managerin für eine brandneue Abteilung: das Hochzeitsstyling.«

Einen Augenblick lang blinzeln Poppy und ich uns fragend an. Dann macht mein Herz einen Satz, weil ich es kapiere. Sie spricht von mir.

Jess setzt zu einer Erklärung an, weil sie Poppys Verwirrung bemerkt. »Lily hat zugestimmt, uns bei der Weiterentwicklung des Geschäfts zu unterstützen, indem sie die Bereiche Gestaltung und Ausstattung übernimmt.« Und wie zufällig verschweigt sie, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wie ich diese Aufgabe in Angriff nehmen soll.

»Das ist ja super.« Poppy zieht mich in eine Riesenumarmung, obwohl sie doch so verstört ist. »Aber was für eine Überraschung!«

»Für uns alle.« Und damit scherze ich kein bisschen. »Ich erzähl dir später alles, Poppy.«

Jess reibt sich die Hände. »Was für ein grandioser Zufall. Auf diese Weise sind wir in der Lage, dich hinter die feindlichen Linien zu schleusen, Lily. Du wirst unsere Undercoveragentin.«

»Sorry, aber da komme ich gerade nicht mit.« Ich habe das Gefühl, mit einem Blinzeln – zack – in einen James-Bond-Film katapultiert worden zu sein.

Jess rollt genervt mit den Augen. »Als unsere Hochzeitsstylistin hast du den perfekten Vorwand, um nach Rose Hill zu gehen. Wenn wir eine Stylingbuchung für eine Hochzeit dort an Land ziehen können, umso besser.«

Ich möchte nur schreien, aber vor lauter Angst kriege ich stattdessen eine Kiefersperre.

Poppy schaut etwas unsicher drein. »Ich weiß, wir sind in einer verzweifelten Lage, aber herumzuspionieren ist schon ein bisschen hinterhältig, oder? Lily, du brauchst nichts zu tun, womit du dich nicht wohlfühlst.«

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