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Sie haben Ihren Rollator beim Zumba vertauscht

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Das Seniorenheim Haus Sonnenuntergang ist in Gefahr

Die konkurrierende Luxus-Residenz Senior Palace, droht das Heim aufzukaufen und ihm seine profitorientierten Strukturen aufzuzwingen. Aber nicht mit Pflägekraft Sybille Bullatschek! Kurzerhand schleust sie sich mit der betagten Seniora Frau Spielmann undercover bei den Reichen und Schönen ein und stellt deren Luxusleben mal so richtig auf den Kopf. Bei so viel Action kann es schon mal passieren, dass man seinen Rollator beim Zumba vertauscht. Nebenbei müssen die Pflegekräfte auch noch einen Kriminalfall lösen, der mit der ominösen Tasche eines Seniors in Verbindung steht. Und wer Sybille kennt, der weiß, dass auch im Liebesleben der engagierten Single-Pflägekraft wieder die ein oder andere Überraschung wartet.


  • Erscheinungstag: 19.03.2024
  • Aus der Serie: Haus Sonnenuntergang
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907243
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kapitel 1

Limousinen bevorzugt

»Kommen Sie ins Senior Palace, die neue Premium-Seniorenresidenz in Pfleidelsheim mit Wohlfühlgarantie und Niveau« steht auf der Titelseite des sechsseitigen Werbeprospekts, den ich neben den ganzen Supermarktangeboten aus dem Briefkasten fische. »40 luxuriös ausgestattete Suiten warten auf anspruchsvolle Gäste.«

Ich setze mich kurz auf die Treppe und blättere neugierig durch die edle Hochglanzbroschüre. »In unserem Poolbereich mit Kalt- und Warmbadebecken sowie einer Wellnessoase können Sie sich rundum verwöhnen lassen.«

Ich starre gedankenverloren auf das Foto mit der einladenden Badelandschaft. Mir fällt unser verwaistes Kneippbecken im Garten vom Haus Sonnenuntergang ein, das mal jemand von Moos und Unkraut befreien müsste. Da haben wir letzten Sommer mit den Senioren auch immer jede Menge Spaß gehabt. Gerade wenn es so heiß ist, tut ein bisschen kaltes Wasser richtig gut.

»Sie haben Ihr Leben lang hart gearbeitet und haben es sich mehr als verdient!«, lese ich weiter. Ja, verdient haben muss man wohl so einiges, wenn man sich so ein Schickimickiheim leisten kann.

»Ein 18-Loch-Golfplatz sorgt für Bewegung und Spielspaß.«

Ein Golfplatz? Um Gottes willen. Das ist ja ein Areal so groß wie sechzig Fußballfelder. Wenn man da den Ball holen muss, ist das eine halbe Tagesreise für Senioren. Und dann noch achtzehn Löcher! Wir hatten vor Jahren mal einen Minigolfplatz im Garten mit nur einem Loch. (Okay, es waren ursprünglich mal drei, aber zwei davon waren verstopft.) Selbst da haben die Senioren Stunden gebraucht, um den Ball ins Loch zu bugsieren. Wenn das überhaupt geklappt hat – meistens war er eh verschwunden, und die Enkel vom Herrn Strauß mussten ihn sonntagmittags im Gebüsch neben der Bahn suchen gehen. Gut, man hätte vielleicht mal einen zweiten Ball anschaffen sollen … Golf wird definitiv überschätzt.

Während ich noch überlege, was der Unterschied zwischen Zimmern und Suiten ist, höre ich, wie jemand vergeblich versucht, die Haustür unten zu öffnen. Ich eile die Treppe runter, um zu schauen, wer versucht, sich um diese Uhrzeit Zutritt zu verschaffen. Der Postbote war ja schon da, und der Axtmörder kommt tendenziell eher nachts, deshalb öffne ich gespannt die Tür. Irene, meine Nachbarin, steht, bepackt mit zwei großen Einkaufstüten, vor mir. Ich spring ihr schnell zur Seite und nehme ihr eine Tasche ab.

»Des isch nett, Sybille. Ach, du bischt immer so hilfsbereit!«

»Berufskrankheit«, sag ich augenzwinkernd, aber Irene scheint in Gedanken woanders zu sein. Als sie den Werbeprospekt vom Senior Palace in meiner Hand sieht, nickt sie in meine Richtung.

»Den hatten mir heute auch in der Poscht! Du liebe Zeit, was die alles anbieten! Sag mal, isch des net eure Konkurrenz?«

»Ja, quasi, aber ganz ehrlich, wer will da denn schon hin?«

»Och, gefallen würd mir des schon. Wellnessoase und Fünfgängemenü …«

»Schon, aber mit Mitte achtzig? Da isch man doch schon froh, wenn man am Rollator eine einigermaßen gute Figur abgibt.«

»Da hascht du auch wieder recht. Und mit sechstausend Euro im Monat auch viel zu teuer!« Ich schlucke. Sechstausend Euro?!

»Woher weißt du, was des koschtet? Des steht doch nirgends.«

»Meine Mutter würde auch gern dort einziehen und hat interessehalber mal nachgefragt, aber des kommt mit ihrer kleinen Rente natürlich net infrage. So was zahlt die Pflegeversicherung net.«

»Ach, diese Geizhälse!«

Wir lachen, und Irene nimmt mir die Tüte ab, die ich immer noch in der Hand halte. »Danke noch mal. So, ich muss mich sputen. Die Kita ist gleich aus, und ich muss dem Luca und dem Leon noch was kochen.«

»Oh, was gibt’s? Ein Fünfgängemenü?«

Irene lacht. »Nee, nur Spaghetti mit Tomatensoße.«

»Ich muss auch gleich zum Spätdienscht. Mach’s gut!«

Ich hechte hoch in den zweiten Stock. In Gedanken bin ich immer noch beim Senior Palace und seinem umfangreichen Entertainmentprogramm und bin schon total gespannt, was die anderen im Heim zu unserem neuen Mitbewerber sagen.

Als ich eine halbe Stunde später, bepackt mit meinem Rucksack, zum Auto komme, traue ich meinen Augen net. Irgendein Idiot hat mich mit seinem Audi zugeparkt! Was für eine Unverschämtheit! Da komm ich im Leben net raus. Blöderweise ist mein Fiesta das erste Auto in der Reihe, und ich hab vorne auch keinen Platz mehr zum Rangieren. Ich habe rücksichtshalber gestern extra weit vorne geparkt, damit die Lücke hinter mir groß genug ist, damit noch einer reinpasst. Und dann so was! Gnadenlos ausgenutzt! Der Audi berührt fast meine hintere Stoßstange. Ich renne wild fuchtelnd um mein Auto rum, wie Louis de Funès in einem seiner Filme. »Ja, nein, ohhhhhh!« Beim Namen Louis de Funès kommt mir die französische Ausparkvariante in den Sinn: Ich könnte einfach mal kurz vorne und hinten drandonnern, bis ich aus der Lücke komme. (Okay, vorne wäre blöd, denn da ist ja der Bordstein, aber hinten …) Das macht man in Frankreich so, haben sie neulich im Fernsehen gesagt. Deshalb sehen französische Autos auch immer so verbeult aus.

Einen wichtigen Hinweis hat der Reporter allerdings auch noch gegeben. Der Trick funktioniert nur, wenn der Hintermann bzw. Vordermann die Handbremse net angezogen hat, sonst scheppert’s. Und anders als in Paris, wo man durch den ganzen Straßenlärm sowieso halb taub ist, würden hier wahrscheinlich gleich drei Fenster aufgehen, und meine Nachbarn würden mich bei der Polizei anzeigen. Fällt also aus. Ich hab wenig Lust, einem aufgeblasenen Audi-Fahrer von meinem Pflägegehalt eine neue Stoßstange für ein paar Tausend Euro zu finanzieren. Aber einen Denkzettel hat der Idiot allemal verdient. Ich suche in meinem Auto nach den rosafarbenen Post-its, die ich für solche Fälle immer im Handschuhfach hab, und schreib mit einem schwarzen Edding fett drauf:

Hat der Parkassistent Ihrer Luxuskarosse gerade Urlaub? Vielleicht mal selbst mitdenken, bevor man andere zuparkt! Gruß S. B.

Okay, der Spruch war vielleicht bissle frech, aber immerhin kann ich mich mal wehren. Anders als neulich, als mich so ein dreister BMW-Fahrer auf der A81 fast in die Leitplanke gedrängt hätte, weil ich ihm zu langsam war. Da blieb mir nur noch die Lichthupe. Und selbst die hat er bei Tempo zweihundertzwanzig wahrscheinlich gar nicht mehr gesehen. Ich hole widerwillig mein Fahrrad aus dem Keller und radle zum Haus Sonnenuntergang.

»Erst schnappen sie uns den Titel ›Heim des Jahres‹ weg, und dann müllen sie uns auch noch mit ihren bescheuerten Werbeflyern zu.«

Evelyn zerknüllt einen der fünf Prospekte vom Senior Palace, die auf dem Tisch im Aufenthaltsraum liegen, und schmeißt ihn zielsicher am Papierkorb vorbei.

»Ja, also dass wir nicht ›Heim des Jahres‹ geworden sind, ist wirklich eine bodenlose Frechheit, das war soooo knapp.« Ute zeigt mit Daumen und Zeigefinger den Abstand von einem halben Zentimeter. Dann lacht sie schallend laut, und wir werfen uns alle einen vielsagenden Blick zu. Vor ein paar Wochen war das hochrangige Komitee, das den Preis vergibt, bei uns im Heim. Es sollte wohl ein Testbesuch sein, weil wir für den Titel in der engeren Auswahl waren. Herr Otterle, unser Chef, hat in wochenlanger Vorbereitung alles dafür getan, damit wir diesen albernen Preis einsacken: Blumenparadies, neuer Treppenlift, Duftspender, sogar eine Hüpfburg hatten wir – unfreiwilligerweise –, und dann hatte er leider am entscheidenden Tag einen kleinen Unfall, und wir haben es, seiner Ansicht nach, verbockt. Drei Tage hat er kaum ein Wort mit uns gesprochen. (Was ehrlich gesagt auch mal ganz schön war. Das ständige Rumgemeckere kann ja auch keiner mehr hören.)

»Das meinen die doch nicht ernst mit ihrem übertriebenen Geschwafel? Ein Ankleideraum mit Safe? Videoüberwachung und Zumbakurse?« Evelyn schüttelt den Kopf.

»Tja, da können wir mit Bingo und unserem Gedächtnistraining einpacken!«

»Na ja, wenn vierzig Senioren sechstausend Euro monatlich bezahlen, kann man auch mal einen Tanzlehrer aus Südamerika einfliegen lassen!«, werfe ich ein und schaue triumphierend in die Runde, weil ich weiß, dass sie der Preis genauso überraschen wird wie mich.

Ute und Evelyn schauen mich mit großen Augen an.

»SECHSTAUSEND EURO? Da kannst du ja eine achtköpfige Familie mit durchfüttern!«

»Tja, scheint aber genug Leute zu geben, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Ich hab gehört, die haben jetzt schon eine Warteliste!«, weiß Evelyn zu berichten.

»Ich glaub, ich muss mal wieder Lotto spielen, aber so lange müssen wir hier noch schuften. Ich lad euch dann alle auf meine Finca mit Pool ein. Und jetzt ran an unsere mittellosen Senioren!« Ute scheucht uns von unseren Stühlen hoch, und wir beginnen mit dem Spätdienst.

Frau Fischer treibt mich heute fast in den Wahnsinn. »Ich hab eine Doppelgängerin, Frau Bullatschek!«, ruft sie mir aufgeregt zu, als sie ihren Rollator auf dem Flur an mir vorbeischiebt. »Das darf aber niemand wissen, das ist geheim!«

»Soso!« Ich lächele sie freundlich an und will schon weitergehen. Ich bin gerade am Teeausschenken und hab eigentlich gar keine Zeit. Sie packt mich am Ärmel und zieht mich ganz nah zu sich ran. Die Tasse auf meinem Tablett fängt gefährlich an zu wackeln.

»Sie müssen mir helfen, die muss weg. Ich möchte nicht, dass jemand sich als Margret Fischer ausgibt. Das bin doch ich. Nur ich.«

Ich überlege kurz, ob es eine Seniora im Haus Sonnenuntergang gibt, die ihr vielleicht ähnlich sieht oder genauso gekleidet ist wie sie. Wenn man ehrlich ist, sehen die Senioren ja alle irgendwie ähnlich aus. Fast alle haben graue Haare, die Damen gern eine Kurzhaarfrisur mit aufgedrehten Locken oder einen Pagenschnitt. Gut, die eine ist kräftiger oder besser zu Fuß als die andere, aber es ist nicht wie bei Dreißigjährigen, die sich optisch meist doch stark unterscheiden.

»Wo haben Sie die denn gesehen?«, will ich wissen und zeige ernsthaftes Interesse. Nix ist schlimmer, als wenn man eine Frage oder Aussage gleich als Hirngespinst abtut. Innerlich rolle ich natürlich mit den Augen, aber das kann sie ja zum Glück nicht sehen. Frau Fischer leidet unter einer beginnenden Demenz, und man kann momentan schwer unterscheiden, ob das, was sie erzählt, wirklich stimmt oder einfach nur in ihrem Kopf passiert.

»Sie ist in meinem Zimmer! Kommen Sie, schnell!«

Ich stelle das Tablett auf den Wagen und folge ihr nach Las Vegas. Bei uns haben alle Zimmer Städtenamen, weil es schöner klingt und die Senioren sich das besser merken können. Wir haben ihr Las Vegas gegeben, weil es so gut zu ihrem Einrichtungsstil passt. Sie hat überall an den Regalen bunte Lichterketten befestigt, und ihr sechzehn Quadratmeter großes Zimmer ist vollgestopft mit Teddybärchen und kitschigen Plastikblumen. Auf der Kommode stehen Bilderrahmen mit attraktiven jungen Menschen, die sie mir stolz präsentiert hat, als sie neu eingezogen ist.

»Sind des Ihre Enkel? Mensch, die sind aber hübsch! Da haben Sie alles richtig gemacht.«

Dann hat sie mir freudestrahlend erklärt, dass das die Katrin, der Peter und die Angela sind. Peter ist Zahnarzt in Hamburg, Angela ist in Amerika verheiratet, und Katrin ist angeblich Astronautin, was mir schon ä bissle ungewöhnlich vorkam. Ungeschickterweise ist mir dann »der Peter« runtergefallen, und das Bild hat sich gelöst. Dabei hab ich gesehen, dass es nur ein Zeitungsausschnitt ist und kein echtes Foto. Peter ist also nicht ihr Enkel, sondern irgendein Serienschauspieler. Zum Glück hat sie nicht gemerkt, dass ich ihr kleines Geheimnis gelüftet hab. Ich hab das Bild schnell wieder reingesteckt und den Rahmen zu den anderen beiden gestellt. Als ich später in ihre Akte geschaut hab, stand da, dass sie nur eine Schwester hat. Sonst keine weiteren Verwandten. Irgendwie auch traurig.

Bilder spielen eine große Rolle im Heim. Fast jeder hat welche im Zimmer – entweder an der Wand oder auf dem Nachttisch. Und zu jedem gibt es eine mehr oder weniger aufregende Geschichte, die wir natürlich alle auswendig kennen. Viele Verwandte erkennt man dann auch gleich, wenn sie zu Besuch kommen. Natürlich behalten wir die Interna für uns, aber manchmal denkt man schon: »Ah, da kommt die Hannelore, die geizige Schwester von der Frau Bäuerle, die damals bei der Kommunion von ihrem Sohn so einen Aufstand gemacht hat, weil die Schnitzel so teuer waren und der Mann von Frau Bäuerle zwei gegessen hat.« Aber wie gesagt: pflägerische Schweigepflicht. Herr Seifert, unser aggressivster Senior im Heim, hat eine große Familie, aber kaum Kontakt, weil er immer so boshaft ist. Trotzdem schicken ihm seine Kinder seit Jahren regelmäßig Fotos von den Enkeln. Im Urlaub am Strand, bei der Einschulung oder vom Geburtstag. Und was macht Seifert? Rahmt sie und verkauft sie dann beim Weihnachtsbasar höchstbietend an die Senioren, die keine Enkel haben. Na ja, so haben irgendwie alle was davon.

Ich öffne vorsichtig die Tür von Las Vegas, um zu schauen, ob stimmt, was Frau Fischer behauptet, dass sich eine Fremde in ihrem Zimmer verbarrikadiert hat, die aussieht wie sie. Manchmal irren sich demente Bewohner: innen ja in der Tür und legen sich dann in ein fremdes Bett. Dann ist das Geschrei immer groß. Aber als ich reinkomme, kann ich niemanden sehen. Ich inspiziere fachmännisch das kleine Bad, schaue hinter die Türen und in den Schrank und krieche sogar unters Bett. Dann informiere ich Frau Fischer, die gespannt vor der Tür wartet.

»Die Luft isch rein. Keiner da, keine Doppelgängerin, net mal ä Mäusle.« Ich lächle ihr aufmunternd zu.

»Sind Sie ganz sicher?«

»Ja! Vielleicht haben Sie sich ja getäuscht.«

»Nein, sie war da! Hundert Prozent!«

»Na gut, sagen Sie ihr beim nächsten Mal einfach, dass sie warten soll, dann komm ich und schnapp sie mir. Aber ich muss jetzt leider weitermachen.«

Evelyn, die mir auf dem Flur entgegenkommt, schaut mich fragend an.

»Was war denn bei Frau Fischer wieder los?«

»Ach«, winke ich ab »sie hat angeblich eine Doppelgängerin …«

»Die Story hat sie mir heute auch schon erzählt. Da war die ominöse Fremde aber unten am Empfang. Das wird immer schlimmer bei ihr.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und atme tief ein. »Ja, besser wird’s nimmer.«

Dann kommt Evelyn mit einer einleuchtenden Theorie.

»Weißt du, was? Wahrscheinlich der Spiegel. Sie hat ja im Zimmer diesen großen Spiegel hinter der Tür. Und im Foyer unten ist auch der große Spiegel.«

»Na klar. Des macht Sinn. Sie sieht sich selbst im Spiegel! Deshalb war die Doppelgängerin auch grad net im Zimmer, als ich gesucht hab, weil Frau Fischer ja auch net drin war.« Ich fasse mir an den Kopf. Manchmal ist es so einfach.

»Na, dann wird sie ihrem zweiten Ich heute aber noch ein paarmal begegnen!«

»Vielleicht sollte sie net so viele Klatschzeitschriften wie Frau im Spiegel lesen.« Wir lachen beide.

Am späten Nachmittag trifft Herr Otterle, der morgens irgendwo einen wichtigen Termin hatte, ein. Da er noch sein schickes Jackett anhat mit einer seriösen Krawatte, tippe ich, dass es irgendwas Offizielles war. Bei der Stadt oder auf dem Landratsamt oder bei seinem Anwalt. Vielleicht hat er auch geheiratet, aber dafür ist seine Laune zu schlecht. (Obwohl, kommt auf die Braut an, haha.) Er hetzt den Gang lang, sein Gesicht ist puterrot.

»Haben Sie das hier ausgelegt, Frau Bullatschek?«, schnauzt er mich pampig an und wedelt mit dem Werbeflyern vom Senior Palace hektisch vor meinem Gesicht herum. »Überall liegen die rum, überall! Sammeln Sie die ein. SOFORT!« Ich bin so verdattert, dass ich gar keine schlagfertige Antwort parat habe.

»Äh, was? Ich? Hä?«

Ohne abzuwarten, was ich dazu zu sagen hab, verschwindet er in sein Büro und knallt laut die Tür zu.

Gegen 17 Uhr ruft Anke vom Empfang oben an. »Kann mal einer runterkommen und Frau Hofmann zu ihrer Schwester bringen?«

Als ich unten ankomme, sehe ich keine Frau Hofmann. Nur Frau Fischer sitzt auf der Couch am Eingang. O Gott, hoffentlich guckt sie net wieder in den Spiegel, geht es mir durch den Kopf.

»Wo ist sie denn?«, will ich wissen. Anke zeigt mit dem Kopf in Richtung von Frau Fischer.

»Aber …«

»Sie ist schon seit heute Mittag da, aber angeblich hat ihre Schwester sie aus dem Zimmer geschmissen. Sie macht sich ein bisschen Sorgen, weil die so abgebaut hat und sie nicht mehr erkennt.« Dann flüstert mir Anke zu: »Vielleicht kannst du ja mal zwischen den beiden vermitteln, ich kann hier schlecht weg, und außerdem kenn ich Frau Fischer kaum.«

»Jetzt mal langsam, zum Mitschreiben. Wo und vor allem wer isch Frau Hofmann?«

Anke rollt genervt die Augen, weil ich anscheinend schwer von Begriff bin. »Na DA, die Frau auf der Couch!«

»Nein, Anke. Des isch Frau Fischer. Ich werd ja wohl noch unsere Senioras kennen!«

»Nein, das ist Frau Hofmann, ihre Zwillingsschwester.«

Jetzt dämmert mir einiges. Die angebliche Doppelgängerin ist also Frau Fischers Schwester. Einerseits beruhigt es mich, dass Evelyns Theorie mit dem Spiegel net stimmt, andererseits ist es kein gutes Zeichen, dass sie ihre eigene Verwandtschaft net erkennt.

Ich schau mir Frau Hofmann ä bissle genauer an. Sie ist ihrer Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten. Unglaublich. Die Haare sind hinten ä bissle kürzer, aber sie trägt die gleiche auffällige Brille mit den Glitzerbügeln und hat eine ähnlich schlanke Figur. Sogar kleidungstechnisch wirkt es, als hätten sie sich heute abgesprochen. Eine bunte, für meinen Geschmack etwas zu wild gemusterte Bluse und dazu eine helle Bundfaltenhose. Man sagt ja, dass eineiige Zwillinge oft den gleichen Geschmack und sogar die gleichen Hobbys haben und sich manchmal sogar in denselben Mann verlieben. Unter mir im Haus wohnen ja Martin und Irene Kotterer mit ihren Zwillingsbuben, und ich hab oft meine liebe Not, sie auseinanderzuhalten. Also die Buben, net Martin und Irene. Sie ziehen ihnen auch ungünstigerweise immer das Gleiche an, und ich muss dann raten, wer jetzt Leon und wer Luca ist. Würde einer von beiden auch mal einen Rock tragen, wäre es einfacher. Evelyn nennt sie übrigens nur scherzhaft »die Klone«, aber im Grunde ist ein Zwilling ja nix anderes.

Ich hab mir auch schon ein paarmal überlegt, wie es wäre, wenn ich eine Zwillingsschwester hätte, die genauso aussieht wie ich. So wie bei Hanni und Nanni. Sylvia Bullatschek. Das wär schon toll, dann könnten wir uns beide gemeinsam über die nervigen Anrufe von meiner Mutter aufregen, also unserer Mutter dann. Oder ich könnte Mama veräppeln, wenn sie anruft, und behaupten, am Telefon sei gar nicht die Sybille, sondern die Sylvia.

Aber mir ist bei den eineiigen Zwillingspaaren, die ich kenne, aufgefallen, dass eine von beiden oft ä ganz kleines bissle hübscher, schlauer oder schlanker ist als die andere. Bei meinem Glück wär Sylvia diejenige, die Kontaktlinsen trägt, als Rechtsanwältin oder Stewardess arbeitet und, im Gegensatz zu mir, fünf Männer an einer Hand hätte. Bei dem Gedanken werde ich fast ä bissle eifersüchtig und muss mich selbst dran erinnern, dass Sylvia gar net existiert.

»Also, nimmst du sie jetzt mit oder nicht?«, fragt Anke ungeduldig, bevor sie den Hörer vom Telefon abhebt, das schon wieder klingelt.

Am Empfang hat man eigentlich nie Ruhe. Da beneide ich sie net. Da ist mehr los als am Hauptbahnhof. Ständig kommt jemand rein. Briefträger, Paketdienst, Sanitäter, Fahrer von der Tagespfläge, Enkel, Vertreter, Angehörige, Handwerker, Physiotherapeuten, und im Sekundentakt läutet das Telefon, sodass man nie eine Aufgabe zu Ende machen kann. Für mich wär des nix, ich würd die Hälfte vergessen und müsst mir ständig irgendwelche Notizen machen. Am Ende wär die ganze Wand voll mit Zetteln, wie bei der Kripo, wenn sie einen Verbrecher suchen. Aber acht Stunden auf einem Bürostuhl festzukleben, ist ja eh nix für mich. Ich brauch Bewegung.

Apropos Bewegung, just in dem Moment, als ich auf Frau Hofmann zugehen will, öffnet sich die Fahrstuhltür, und Frau Fischer kommt mit ihrem Rollator rausgeschossen. Als sie mich mit ihrer Doppelgängerin erblickt, schreit sie über den ganzen Flur:

»Halten Sie sie fest, Frau Bullatschek. Das ist die Frau!« Ich schaue fasziniert von Frau Fischer zu Frau Hofmann. Die Ähnlichkeit ist frappierend. Gut, dass net beide bei uns im Heim sind, da würden wir garantiert auch alle durcheinanderkommen.

»Geht das wieder los!« Frau Hofmann stöhnt laut hörbar und geht schnellen Schrittes auf ihre Schwester zu. »Margret, ich bin’s doch, die Maria. Erinnerst du dich nicht mehr?«

Frau Fischer mustert die Fremde skeptisch. »Wir sind doch die Fischer-Mädels«, versucht es jetzt Frau Hofmann noch mal. Frau Fischer schaut erst ungläubig, aber der Begriff »Fischer-Mädels« scheint irgendwas bei ihr ausgelöst zu haben. Ihr Blick wechselt von erbost zu erfreut.

»Ja!«, ruft sie jetzt euphorisch, und Frau Hofmann beginnt einen Reim aufzusagen, der von Frau Fischer automatisch ergänzt wird.

»Wir sind die Fischer-Mädels, so nehmet euch in Acht, wir singen und wir tanzen …«

»… bei Tag und auch bei Nacht!«

Frau Fischer strahlt jetzt über das ganze Gesicht, fällt ihrer Schwester in die Arme und ruft: »Maria, Maria, dass ich dich noch mal wiedersehe, ich dacht, du hättest mich vergessen!«

»Aber nein, ich bin doch nur mit dem Hermann nach Mundelsheim gezogen!«

»Ach ja, der schöne Hermann! Wie geht es ihm eigentlich?«

Frau Hofmann schaut kurz irritiert zu uns rüber, während sie in der festen Umklammerung ihrer Schwester feststeckt, lässt sich aber nichts anmerken und antwortet in ruhigem Ton.

»Er ist schon vor fünf Jahren verstorben.«

Ich wette, sie hat ihr längst von Hermanns Ableben erzählt, wahrscheinlich war Frau Fischer sogar auf der Beerdigung ihres Schwagers.

»Oh, das tut mir aber leid. Aber dann sind WIR ja jetzt endlich wieder zusammen!«

Sie haken sich unter und verschwinden laut gackernd Richtung Cafeteria. Anke schaut mich entgeistert an, und ich zucke nur mit den Schultern.

»So, die Fischer-Mädle sind vereint, Problem gelöst, ich bin wieder oben!«

Als ich die Treppe hochgehe, muss ich noch mal an meine fiktive Schwester Sylvia denken. Vielleicht wär sie ja gar keine Stewardess, sondern auch in der Pfläge. »Wir sind die Bullatschekas, so nehmet euch in Acht, wir waschen und wir pflägen, bei Tag und auch bei Nacht …«

Beim Umziehen nach dem Spätdienst lässt Ute laut den Song »Viva Las Vegas« von Elvis auf ihrem Handy laufen, und wir spielen beide Luftgitarre dazu, während Evelyn auf dem Boden sitzt und sich krümmt vor Lachen. Ich glaub, wir sehen mit unseren Sonnenbrillen und der Elvis-Frisur, die ich mir mit meinem Haargummi gezaubert hab, reichlich bescheuert aus. Anlass für die kleine Showeinlage ist, dass ich den beiden die Geschichte von den Fischer-Mädels erzählt habe und Ute prompt meinte: »Du, die waren vielleicht früher tatsächlich ein bekanntes Duo in Las Vegas, und wir wussten gar nix davon, als wir ihr Zimmer danach benannt haben.«

Ich sehe die beiden fast vor mir, wie sie sechzig Jahre jünger in engen Glitzerkleidchen über die Bühne fegen und einen Saal von fünfhundert Leuten zum Kochen bringen. Dann grölen wir alle drei laut »Vivaaaa Las Vegas …«.

Mitten in unsere Performance platzt plötzlich Beate, die wie immer völlig humorbefreit fragt, was, zur Hölle, wir da machen.

»Entschuldigung, dass ich eure kleine Feierabendparty störe, aber ich würd echt gern mal wissen, wer von euch so viel Zeug hat, dass er gleich zwei Spinde besetzen muss? Ihr wisst doch, dass bei einigen die Türen net richtig zugehen. Ich bräuchte jetzt auch mal einen, der funktioniert. Wer hat denn des Schlössle da drangemacht?« Beate schaut uns prüfend an und rüttelt demonstrativ an dem kleinen Vorhängeschloss vom Spind mit der Nummer acht.

Ute, die ihre Musik ausgemacht hat, tut so, als würde sie in ihrer Handtasche was suchen, und Evelyn starrt konzentriert auf ihr Handy. Wir wissen alle, was in Spind Nummer acht ist, denn wir haben es vor wenigen Wochen selbst da reingelegt. Die Tasche. Die Tasche, die unser Senior und Vagabund Herr Bellis bei sich hatte, als ihn die Polizei auf der Straße aufgegabelt hat. Er war mal wieder nach Ludwigsburg getrampt, und auf dem Heimweg hat ihn zufällig die Streife von unserem Stammpolizisten Peter Spielmann erkannt und ins Heim gebracht. Bellis hat die Tasche im Polizeiauto vergessen, und Peter hat sie mir später gegeben. Ob er sie mit Absicht im Auto liegen lassen hat oder nicht, da sind wir uns noch net ganz sicher.

Ich war nur heilfroh, dass Peter net reingeguckt hat, sonst hätte er Bellis gleich wieder ins Polizeiauto verfrachtet. Uns hat fast der Schlag getroffen, als wir sie später aufgemacht haben. Ich glaub ich hab noch nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen. Zweihundertfünfzigtausend Euro (!) haben wir am nächsten Tag gezählt. Wir haben die Tasche schnell in den Spind geschmissen und ein Schloss drangemacht, damit keiner drangeht. Bisher haben wir Herrn Bellis noch nicht zur Rede gestellt, aber er hat auch überhaupt nicht mehr nach der Tasche gefragt, was wir alle ein bisschen komisch finden. Schnell versuch ich Beate zu beruhigen. Jetzt bloß nix Falsches sagen, Sybille. Just in dem Moment kommt mir die rettende Idee. Otterle hat morgen Geburtstag. Das weiß ich nur zufällig, weil vor ein paar Tagen ein großer Geschenkkorb von einer Pharmafirma geliefert wurde, als ich gerade bei Anke am Empfang stand. Bei der Gelegenheit hat sie mir Otterles Geburtsdatum verraten. Er hat das Heim ja erst vor Kurzem übernommen, und es ist sein erster Geburtstag bei uns.

»Tja, Chef müsste man sein«, hat sie geseufzt und dann den riesigen in Cellophan gehüllten Korb mit dem bunten »Happy Birthday«-Aufkleber auf den Kopierer im Abstellraum gehievt. Wir haben noch überlegt, mit wem er wohl den teuren Rotwein trinkt, der zwischen einer überdimensionalen Ananas und einer Packung Nougatpralinen steckte.

Das ist meine perfekte Ausrede für Beate.

»Oh, da isch eine Überraschung drin für Herrn Otterle, der hat doch morgen Geburtstag. Wusstest du das etwa net?«, frage ich triumphierend und fahre fort: »Wir wollten net, dass er es vorher sieht.« Ich lächle künstlich.

»Doch, natürlich wusste ich das! Und was ist die Überraschung?«, fragt Beate misstrauisch.

Jetzt muss mir schnell was einfallen, damit sie mir die Story abnimmt. Ich bin äußerst schlecht im Lügen, denn man merkt mir immer sofort an, wenn ich schwindele. Deshalb belasse ich es einfach bei der Wahrheit, okay, bei der halben Wahrheit, und hoffe, dass Beate net weiter nachfragt.

»Eine neue Aktentasche!« Ich ernte entsetzte Blicke von Evelyn und Ute.

»Ach, und warum erfahre ich nix davon? Vielleicht hätt ich mich ja auch gern am Geschenk für den Chef beteiligt.«

»Ja, mir haben des erscht vor ein paar Tagen entschieden, und du hattest ja frei. Möchtest du vielleicht zwanzig Euro dazugeben?«

Beate zückt ihren Geldbeutel und drückt mir zwanzig Euro in die Hand.

»Aber auf der Karte will ich dann auch unterschreiben.«

»Ja, klar.«

Dann dampft sie ab zum Nachtdienst. Evelyn, Ute und ich stoßen gleichzeitig einen erleichterten Seufzer aus.

»Puh, das war ja knapp!«

»Aber wo kriegen wir denn in aller Welt bis morgen noch eine Aktentasche für Otterle her?«

Ich starre auf den Spind Nummer acht, und dann kommt mir die Idee.

»Ganz einfach. Wir nehmen einfach DIE Tasche und deponieren das Geld woanders!«

»Und wenn die doch Bellis gehört?«, wirft Evelyn besorgt ein.

»Im Leben nicht! Der Bellis hat doch nie Geld. Der ist der Einzige, der sich gern ein paar Euro für ein Schnäpschen bei den anderen Bewohnern leiht.«

Während Evelyn an der Tür Schmiere steht, packen Ute und ich die Geldbündel in zwei Stoffbeutel.

»Und wo tun wir das Geld jetzt hin? Beate will bestimmt den Spind morgen haben.«

»Ganz einfach. Ich nehm es mit heim und versteck es in meiner Wohnung«, entgegne ich wie selbstverständlich.

»Du, könnt ich mir vielleicht tausend Euro davon leihen? Die Miete ist fällig, und ich bin mal wieder superknapp bei Kasse!« Evelyn schaut mich mit ihrem Hundeblick an.

»Nein, Evelyn. Des Geld gehört uns schließlich net, und der rechtmäßige Besitzer wird es schon vermissen. Wir müssen uns wirklich bald darum kümmern.«

»Wie? Willst du damit zur Polizei gehen, Sybille?«

»Nee, erscht mal mit Bellis sprechen. Vielleicht klärt sich das Ganze ja. Aber bis dahin gilt absolute Schweigepflicht.« Beide nicken mir zu, und Ute begleitet mich noch zum Parkplatz.

»Wo steht denn dein Auto?«, will sie wissen, als wir unten angekommen sind. Erst da fällt mir wieder ein, dass ich ja mit dem Fahrrad da bin, weil mich dieser Idiot heute Morgen zugeparkt hat.

»Zweihundertfünfzigtausend Euro auf dem Gepäckträger? Nicht dein Ernst!« Ute schaut entsetzt auf mein weißes Hollandrad. »Ich würd dich ja fahren, aber ich bin heute zu Fuß da …«

»Ich schaff das schon irgendwie«, wiegele ich ab.

»Pass gut auf dich auf! Und vor allem auf die Kohle!«, ruft sie mir noch hinterher, als ich durchs Eingangstor davonfahre. Auf dem Heimweg fliegen mir die Stoffbeutel zweimal runter, und ich hoffe inständig, dass ich nix von dem Geld auf dem Gehweg verloren hab. Außerdem bete ich, dass mich jetzt net auch noch die Polizei wegen meines kaputten Rücklichts anhält oder mich eine dunkle Gestalt vom Fahrrad holt, hört man ja immer wieder, solche Geschichten.

Als ich zu Hause ankomme, ist mein Auto immer noch zugeparkt. Das ist ja wohl net wahr. Ich hab morgen Frühdienscht! Allerdings hat jemand mein Post-it von der Windschutzscheibe entfernt. Es liegt zusammengeknüllt im Rinnstein. Das ist ja richtig dreist! Der Audi-Fahrer hat also meine Nachricht gelesen, aber sich net die Mühe gemacht wegzufahren. Hätte er eine Antenne, ich wär kurz davor, sie abzubrechen. Schnell schreibe ich einen weiteren Zettel. Ich muss jetzt zu drastischeren Maßnahmen greifen, wenn ich morgen net schon wieder mit dem Rad fahren will.

Wenn Ihr Auto net bis morgen früh 5.30 weggefahren ist, werden Sie kostenpflichtig abgeschleppt. S. B.

(S. B. schreibe ich, damit er weiß, dass ich eine echte Person bin und kein Roboter. Im Internet macht man das ja heutzutage auch immer. Außerdem klingt es irgendwie geheimnisvoller, wenn man net seinen ganzen Namen hinschreibt.)

Oben angekommen, renne ich völlig kopflos mit den beiden Stoffbeuteln durch meine Wohnung. Zweihundertfünfzigtausend Euro zu verstecken, ist leichter gesagt als getan. Leider habe ich keinen Safe wie die Bewohner im Senior Palace. Wie machen die das denn immer in diesen Thrillern? Im Mülleimer? Nee, blöde Idee. Wenn ich zweihundertfünfzigtausend Euro aus Versehen mit dem Altpapier in die Tonne werfe … Gar net auszudenken. Unter die Spüle? Auch schlecht. Mein Wasserrohr in der Küche tropft ab und zu, und das würden die Scheine net gut vertragen. Letztlich entscheide ich mich für ein beliebtes Versteck meiner Senioren im Haus Sonnenuntergang: unter der Matratze.

Als ich wenig später im Bett auf meiner »Beute« liege, beschleicht mich ein mulmiges Gefühl. Hoffentlich kommt jetzt kein Einbrecher, klaut das Geld und schneidet mir die Kehle durch. Ob reiche Leute nachts auch immer mit dieser Angst im Bett liegen?

Ich gehe im Geiste durch, was man mit zweihundertfünfzigtausend Euro Schönes machen könnte, und zähle beim Einschlafen heute mal Geldscheine statt Schäfchen.

Kapitel 2

Geschenk mit Folgen

Zuerst die gute Nachricht: Der Audi ist weg. Jaaaa! Mein Post-it hat also Wirkung gezeigt. Die Schlechte: Dafür hatte ich heute einen Zettel unter dem Scheibenwischer, den ich erst gesehen hab, als ich mein Auto auf den Parkplatz vom Haus Sonnenuntergang gestellt habe.

Abschleppen, soso? Dafür, dass Sie so einen ollen Fiesta fahren, sind Sie aber ganz schön pingelig. Freundliche Grüße J. B. (Falls Sie rätseln, J. B. steht für James Bond)

»Oller Fiesta«? Das ist ja wohl eine bodenlose Frechheit. Der ist Baujahr 2012 und noch sehr gut in Schuss. Ich rege mich maßlos über die Dreistigkeit auf und beschließe, mich zu rächen, falls mir sein Angeberschlitten noch mal unter die Augen kommt. Wenn der James Bond ist, bin ich Miss Pflägepenny! Und dann hat er auch noch so eine Krakelschrift wie ein Viertklässler! Ich vermute allerdings, dass er die Grundschule bereits beendet hat, sonst hätte er sich net die Mühe gemacht, mir eine Nachricht zu hinterlassen. Neulich stand im Ludwigsburger Boten, dass zwei Zwölfjährige mit einem geklauten Auto eine Spritztour gemacht haben. Sachschaden vierzigtausend Euro! Ich glaub net, dass die noch Post-its an die kaputten Autos geklebt haben.

Das ist heute aber nicht der einzige Grund, sich aufzuregen. Auf dem Weg zum Heim hat mich fast der Schlag getroffen. Ganz Pfleidelsheim ist zugekleistert mit Senior-Palace-Werbung. Meterhohe Plakatwände stehen vorne an der Kreuzung beim Blumen Scheuerle, so groß wie die Aufsteller bei der Bürgermeisterwahl letztes Jahr. Nur dass statt Joachim Nägele von der CDU jetzt ein glücklich lächelndes Seniorenpärchen in schicken Klamotten zu sehen ist. Über ihren silbergrauen Köpfen prangt in schnörkeligen Buchstaben der Slogan: »Der schönste Abend ist der Lebensabend – kommen Sie jetzt ins Senior Palace!« Ich muss kurz schmunzeln. Was für ein Quatsch. Der schönste Abend ist ja wohl der Feierabend! Aber woher sollen die Werbefuzzis das wissen. Die benutzen bestimmt gar nicht mehr so banale Begriffe wie Feierabend. Bei denen heißt es wahrscheinlich »End of work« oder »Jobstopp« oder irgend so ein neumodischer Begriff. Langsam drehen doch alle ä bissle am Rad mit ihren englischen Wörtern. »Quality time« ist auch so ein Wort, was momentan überall die Runde macht. Ich hatte das noch nie vorher gehört. Evelyn hat mir dann erklärt, dass man das die Zeit nennt, die man für sich oder die Familie hat. Quality time. Also bei uns hieß des früher »Freizeit«.

Ich kann mit dem Wort »quality time« nix anfangen, weil ich dabei immer an »Quality Street« denken muss. Die hab ich als Kind gern gegessen. Das waren so Bonbons, die waren in bunt glänzendes Papier eingewickelt und in einer schönen Dose verpackt, und manchmal haben wir die von Tante Erika geschenkt gekriegt (die mit dem Fliederpullover und dem strengen Geruch, die einen immer abgeknutscht hat). Ich weiß gar net, ob’s die noch gibt. Also die Bonbons, net Tante Erika. Die Bonbons waren jedenfalls aus Karamell und haben einerseits sensationell lecker geschmeckt, andererseits waren die so zäh und hart, dass sie jeden Gebissträger das Fürchten gelehrt haben. Mama hat sich damit mal an einem Wochenende zwei Plomben rausgeholt. Uh, da war sie auf hundertachtzig!

»Wieso dürfen die so was überhaupt verkaufen? Des isch kriminell, Sybille! Des sind Verbrecher. Da schreib ich hin! Einen bitterbösen Brief schreib ich denen! So geht’s ja net«, hat sie sich aufgeregt.

»Mama, die sitzen in Amerika oder England, da hascht du keine Chance!«

»Wieso? Da kann ich doch uff Englisch hinschreiben! ›Your Guzele ruined my teeth‹ Ä bissle Schadensersatz können die ruhig rausrücken.«

»Die ham bestimmt gute Anwälte, die lachen dadrüber!«

Aber Mama hat sich net abhalten lassen. Sie hat es damals wirklich ernst gemeint und einen ausschweifenden Brief auf Deutsch-Englisch verfasst. Aber als sie auf der Post war und gehört hat, wie viel das Porto ins Ausland kostet, hat sie den Brief wieder mit heimgenommen. Meine Mutter ist halt eine waschechte Schwäbin!

»Zum Glück sind mir krankenversichert, Sybille! Die Kasse zahlt mir des jetzt, aber stell dir mal vor, wie viele Leut in Amerika keine Versicherung ham, und die können so ein paar Bonbons schon ruinieren. Ruck, zuck hockscht du da uff der Straße. Quality Street! Das ich net lach! Was glaubscht du, warum die da schon des Wort ›Street‹ mit eingebaut ham?«

Die Logik von Mama erklärt sich mir net immer, aber Amerika dient bei ihr sowieso als Horrorbeispiel. Während andere davon träumen, in Hollywood oder New York reich und berühmt zu werden, hat meine Mutter immer nur das Bild von Bettlern vor Augen, die an der Uhu-Flasche schnüffeln und mit einem alten Einkaufswagen mit ihrem Hab und Gut unter irgendeiner Brücke sitzen. Oder von Hausfrauen, die im Fernsehen unter Tränen berichten, dass sie im Auto schlafen müssen, weil sie den Kredit von ihrem Haus nicht mehr abbezahlen können.

Von Armut sind die Inhaber vom Senior Palace jedenfalls weit entfernt. Zumindest haben sie genug Geld für die teure Werbung, die überall klebt. Sogar an der Bushaltestelle direkt gegenüber vom Haus Sonnenuntergang hängt jetzt ein großes Plakat für ihren Nobelschuppen. Wie dreist!

Falls die denken, sie könnten damit unsere Bewohner abwerben, haben sie sich geschnitten. Über das Plakat hat bisher keiner ein Wort verloren. Gut, wahrscheinlich hat es morgens um 8.30 Uhr auch noch niemand außer mir gesehen. Hauptthema beim Frühstück ist jedenfalls heute der Geburtstag von Otterle. Irgendjemand scheint geplaudert zu haben, vermutlich hat Beate es den Senioren auf die Nase gebunden.

»Ich schätze, er wird so sechsunddreißig«, mutmaßt Frau Häfele, als ich ihr im Speisesaal Kaffee einschenke.

»Nee, älter, der sieht definitiv älter aus, der hat ja schon so viele Falten. Siebenundvierzig mindestens! Vielleicht auch siebenundfünfzig!«, ruft Frau Bäuerle.

Ich muss innerlich lachen, sage aber nix dazu. Ich bin schon froh, dass man sich über mein Alter net das Maul zerreißt. Ehrlicherweise würde es mich aber auch interessieren, wie alt Otterle wird. Anke hat mir nur den Tag, aber net das Jahr seiner Geburt verraten. »Datenschutz«, hat sie geflüstert.

Dadurch, dass er immer einen Anzug trägt und keine Jogginghose, ist es wirklich schwer zu schätzen. Er wirkt wahrscheinlich älter, als er tatsächlich ist. Ich finde ja, solche BWL-Typen kommen eh immer älter rüber. Die erinnern mich manchmal an einen Pfau. Plustern sich auf ohne Ende, aber wenn man sich die Federn mal wegdenkt, bleibt ein kleiner Vogel übrig, der eigentlich nix kann, außer dumm aus der Wäsche zu gucken. Der Vergleich mit dem Pfau gefällt mir! Otterle plustert sich auch immer auf und treibt uns mit seinen Marketingideen fast in den Wahnsinn.

Ich rechne kurz nach. Sein Vater, von dem er das Heim übernommen hat, ist jetzt Anfang achtzig. Also Mitte vierzig würde da altersmäßig schon passen.

»Meinen Sie, er freut sich über eine selbst gehäkelte Krawatte?«, fragt mich Frau Häfele unvermittelt. »Ich hab noch eine in meinem Zimmer, die mein Sohn nicht wollte. In Schwarz-Rot-Gold!«

»Gehäkelt? Äh, ja. Super Idee. Packen Sie die ruhig ein«, ermutige ich sie.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich eine schwarz-rot-goldene Wollwurst, die freudlos um Otterles Hals baumelt. Ich bezweifle, dass so was einem Absolventen der London Business School gefällt, aber … wer weiß!

Auch unser Geschenk bekommt noch eine hübsche Verpackung. Ute hat glücklicherweise dran gedacht, einen Karton und eine große Rolle Geschenkpapier mitzubringen, damit wir die Tasche von Bellis als Präsent für Otterle einpacken können. Ich hab daheim noch eine mundgemalte Postkarte von UNICEF gefunden, die ich mal ein paar Kindern an der Haustür abgekauft hab. Darauf ist eine Vase mit einem undeutlich gemalten bunten Blumenstrauß zu sehen, der auf einem massiven Holztisch steht. Eigentlich ist die Karte zu schade für Otterle, aber ich hatte nur noch eine andere mit dem Satz »Mein aufrichtiges Beileid«, und das könnte er eventuell in den falschen Hals kriegen. Beate hatte natürlich gleich was an der Karte auszusetzen, als ich sie ihr zum Unterschreiben hingelegt hab. Typisch.

»Aus welchem Postkartenkalender hast du die denn rausgerissen, Sybille?«, hat sie misstrauisch gefragt. Wenn sie die Karte schon so niveaulos findet, bin ich mal gespannt, was sie erst zu der abgenutzten Tasche sagt.

»So, noch ein Schleifchen um die Karte, und fertig ist das Geburtstagsgeschenk«, sagt Ute und hält den großen bunten Karton vor ihre Brust.

Auch wenn das Geschenk von außen zugegebenermaßen toll aussieht, ist mir net ganz wohl dabei, dass wir eine fremde Tasche verschenken. Eigentlich ist es Beates Schuld. Hätte sie net so eine Welle wegen dem blöden Spind gemacht, wären wir jetzt nicht in dieser Situation.

Um 14 Uhr, kurz vor der Übergabe, warten wir alle im Besprechungszimmer. Otterle hat mal wieder ein wichtiges Meeting anberaumt. Insgeheim hoffen wir natürlich, dass das nur ein Vorwand war und er zu seinem Geburtstag ä Gläsle Sekt oder ein paar Süßigkeiten ausgeben will. Das hat sein Vater früher auch immer gemacht. Aber weit gefehlt. Als wir im Besprechungszimmer ankommen, ist das so schmucklos und leer wie immer. Nur der Beamer thront vorne auf dem Tisch, und daneben stehen ein paar saubere Kaffeetassen, die jemand beim letzten Mal nicht abgeräumt hat. Ute platziert den Geschenkkarton in der Mitte des Tisches, und Beate stellt noch schnell einen Minigeburtstagskuchen dazu, den sie wahrscheinlich gestern extra noch gebacken hat. (Typisch Beate! Es war ja klar, dass sie noch was »Eigenes« schenken muss, um sich wichtig zu machen.) Oben drauf ist eine kleine, dünne rosafarbene Kerze drapiert, die sie jetzt vorsichtig anzündet. Vorher ruft sie noch aufgeregt: »Kommt er? Kommt er jetzt?« Vermutlich, damit die Kerze nicht runterbrennt, bevor das Geburtstagskind da ist. Als Otterle den Raum betritt, stimmen wir alle ein leicht gelangweiltes »Happy Birthday« an und klatschen kurz, nachdem er die Kerze erfolgreich ausgeblasen hat.

»Meinst du, er hat sich was gewünscht?«, flüstert Ute mir zu.

»Nee, aber ich. Dass er heute frei macht.« Ute muss ihr Lachen unterdrücken.

»Ach, das ist aber … Das wäre doch nicht nötig gewesen!« Otterle, der sichtlich überrascht ist, nimmt das Paket und schüttelt es leicht. Dann legt er sein Ohr an den Karton, um zu erraten, was drin sein könnte. Finde ich persönlich ä bissle albern, denn welches Geräusch soll ihm schon einen Hinweis auf den Inhalt geben? Okay, das Ticken einer Bombe vielleicht. Aber die würden wir ihm wohl kaum zum Geburtstag schenken, noch dazu, wenn wir alle zusammen im selben Raum sind. Außerdem hat niemand vor, Otterle in die Luft zu jagen, auch wenn man ihm manchmal schon gern den Hals umdrehen würde. Gespannt löst er die Tesa-Streifen und entfernt langsam das Geschenkpapier. Dann fasst er in den Karton und bringt die Aktentasche von Bellis zum Vorschein. Leicht irritiert schaut er auf die abgenutzte Tasche. Bevor jemand anderes einen blöden Spruch bringen kann, ruf ich schnell: »D isch upgecycelt!«

»Upgecycelt«, wiederholt Otterle ungläubig und starrt auf die Tasche.

»Ja, kennen Sie Upcycling net? Da werden neue Produkte aus alten Rohstoffen gemacht, des isch total modern«, plappere ich den Text nach, den ich neulich in einer Werbeanzeige im Internet gelesen hab. Da hatte eine Firma aus alten Lkw-Planen hübsche Taschen genäht. Ich will eigentlich noch einen Witz machen und sagen, »Des war früher mal eine Kuh« (was ja stimmt), entscheide mich aber dann für den Satz: »Des war früher ein Lederkoffer.«

»Und es ist gut für die Umwelt«, ruft Ute netterweise dazwischen, um mich zu unterstützen. Otterle schaut sich die Tasche prüfend an und lächelt dann schief.

»Oh, das ist ja mal eine vorbildliche Idee!«, sagt er jetzt unsicher, und ich weiß nicht, ob er es so meint oder einfach bloß nett sein will. Ich muss zugeben, die Tasche sieht ganz schön mitgenommen aus (sie ist ja auch mitgenommen, hahaha), und ich weiß net, ob ICH mich über so ein Geschenk gefreut hätte. Aber wir hatten ja keine andere Wahl. Eigentlich wollten wir ihm gar nix schenken. Schließlich haben wir von ihm auch noch nie was gekriegt. Beate raunt mir ein »Und für so was bezahl ich zwanzig Euro?« zu und schüttelt ungläubig den Kopf.

»Der Kuchen ist übrigens von mir«, ruft sie dann in Otterles Richtung. »Der ist aber nicht upgecycelt!« Alle lachen, aber ich weiß genau, dass Beate sich mit dem Satz im Grunde für unser Geschenk entschuldigen will. Eine gebrauchte Tasche würde sie garantiert nie verschenken. Da könnten ja Keime dran sein. Ich weiß noch, wie sie sich mal über den Secondhandbasar beim Herbstfest in der Kirche aufgeregt hat. »Lieber würde ich nackt gehen, bevor ich mir alte Kleider von Fremden anziehe«, hat sie zu mir gesagt. »Na, da bin ich ja froh, dass du genügend Geld für neue hascht, des wär ja für uns alle schlimm!«, hab ich gewitzelt. Fand sie gar nicht komisch.

»Die werde ich gleich morgen benutzen, vielen Dank an Sie alle!«, sagt Otterle in die Runde und stellt die Tasche unter den Tisch.

»Aber jetzt zum Thema unseres heutigen Meetings.« Er verkabelt seinen Laptop mit dem Beamer und schaut auf die weiße Wand hinter sich, ob schon was zu sehen ist. »Wie Sie ja unschwer mitbekommen haben, gibt es jetzt einen Mitbewerber bei uns im Ort. Das Senior Palace hat seine Pforten geöffnet.« Das Titelbild des Werbeflyers, den ich im Briefkasten hatte und der im Heim überall rumlag, wird an die Wand geworfen. Otterle zieht genervt die Augenbrauen hoch.

»Das bedeutet für uns, wir müssen uns jetzt noch mehr ins Zeug legen! Wenn die uns unseren Platz streitig machen wollen, müssen wir uns mit allen Mitteln wehren.«

»Ach, was! Die sprechen doch eine ganze andere Klientel an als wir, das ist doch keine Konkurrenz, das ist Upperclass-Pfläge«, wendet sich Ute an Otterle, und wir nicken zustimmend.

»Das vielleicht, Frau Mössner, aber trotzdem muss unsere Einrichtung rentabel sein, sonst kürzt uns die Stadt die Zuschüsse. Und dann geht das rucki, zucki, adios, goodbye, auf Wiedersehen!« Otterle macht eine Geste, als würde er sich mit einem Messer den Hals durchschneiden. Unruhe macht sich im Raum breit.

»Ich hatte gestern ein Meeting im Rathaus, und die Chefetage der Home-Sweet-Home Company, zu der Senior Palace gehört, war auch da. Die haben keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Interesse hätten, unser Haus Sonnenuntergang zu kaufen, wenn es hart auf hart kommt.«

»Waaas? Wir sollen verkauft werden an eine große anonyme Pflägegruppe wie ein Esel im Himalaya, der das Gepäck nicht mehr schleppen kann?«

»Na, na. Der Vergleich mit dem Esel hinkt wohl etwas, Frau Bullatschek – und ich sage ja auch nur, dass die Möglichkeit besteht. Das muss natürlich mit allen Mitteln verhindert werden.«

»Wir kämpfen, Herr Otterle, wir kämpfen!« Beate macht eine Becker-Faust.

»Eine groß angelegte Marketingkampagne muss her. Und zwar schnell. Wie bei unserer Konkurrenz. Und dazu brauche ich Ihre volle Unterstützung.« Otterle schaut beschwörend in die Runde. Beate ist die Einzige, die heftig mit dem Kopf nickt.

»Wir haben schon für den Titel ›Heim des Jahres‹ alles gegeben. Und was hat es uns genutzt? Nichts. Wer hat ihn eingesackt? Die Bonzen vom Senior Palace!«, sagt Sascha frustriert und wendet sich wieder seinem Handy zu.

»Das war was anderes. DIE haben beim Testbesuch schließlich nicht so einen chaotischen Auftritt hingelegt wie wir.« Otterle schaut vorwurfsvoll in die Runde.

Beate wirft uns einen giftigen Blick zu. Ihrer Meinung nach sind Ute, Sascha, Evelyn und ich schuld, dass an dem Tag alles aus dem Ruder lief. Zwei fliegende Wellensittiche, appetitanregende Duftspender (für die wir nix konnten), die Hüpfburg und Frau Spielmann, die sich im Treppenlift übergeben hat. Das war einfach zu viel fürs Komitee. Beim Besuch vom Senior Palace lagen die Herren bestimmt den halben Tag am Pool und haben Cocktails geschlürft.

»Herr Meininger von der Stadt gibt uns noch ein halbes Jahr, um bessere Zahlen zu schreiben und zu beweisen, dass wir unsere Förderung verdienen.« Es herrscht betretenes Schweigen im Besprechungszimmer. An den Gesichtern der anderen kann ich ablesen, was sie gerade denken. Jeder überlegt, was er im Falle einer Übernahme machen würde. Nach einer kurzen Pause fährt Otterle fort.

»Morgen kommt ein Fotograf und wird ein paar Fotos von ihnen schießen für einen neuen Werbeprospekt, es wäre schön, wenn Sie sich ein bisschen hübsch machen könnten vor dem Dienst.« Dann schaut Otterle in meine Richtung, deutet auf meinen Kopf und meint allen Ernstes: »Vielleicht die Haare nicht ganz so zottelig, Frau Bullatschek.« Alle starren auf meine Frisur, die heute zugegebenermaßen vielleicht ä bissle »derangiert« aussieht, wie man so schön sagt. Aber ich hab schließlich heute früh schon drei Senioras gebadet und wurde im Demenzbereich von einer neuen Bewohnerin mit der Kuchengabel angegriffen. Da sieht man halt nicht mehr so frisch aus wie nach drei Stunden Büroarbeit.

Trotzdem eine Unverschämtheit! Bisher haben mich noch alle Senioren erkannt. Anders als bei Otterle, bei dem mich alle zwei Minuten jemand fragt: »Wer ist denn der nette Herr da, und warum hat er es immer so eilig?«

»Sind die Fotos nur für den Prospekt oder auch noch für was anderes?«, will Sascha wissen. »Ich hab keine Lust, debil grinsend an irgendeinem Baugerüst zu hängen.«

»Sie hängen gar nirgends. Es betrifft nur das Pflegepersonal, Küche und Hauswirtschaft. Der Hausmeisterdienst ist ausgenommen«, erwidert Otterle jetzt schnippisch. Das Letzte, was er gebrauchen kann, ist, dass wir uns gegen seine Imagekampagne wehren und Sascha uns gegen ihn aufwiegelt. Aber zum Glück hat er ja Beate, die ihm natürlich in allen Punkten zustimmt.

»Ich finde das eine ganz hervorragende Idee, Herr Otterle. Wir werden uns alle Mühe geben, dass wir morgen vorbildlich aussehen. Sollen wir uns denn auch ein bisschen schminken?«

Man sieht Otterle an, dass er sich darüber noch gar keine Gedanken gemacht hat. »Dezent. Nur ganz dezent. Bitte sagen Sie das auch Frau Riedlinger noch mal. Wir sind eine Businesscompany im Health-and-Care-Sektor und drehen kein Video für Instagram.«

Wahrscheinlich betont er das noch mal extra, weil Steffi, unsere Auszubildende, eigentlich immer extrem aufgedonnert zum Dienst erscheint. Evelyn sagt dann immer: »Ach, guck, Steffi war heute wieder beim Kinderschminken!«, und dann lachen wir beide. Ist natürlich net ganz fair, denn sie sieht wirklich immer topgestylt aus, was man von uns nicht gerade behaupten kann. Ich trink halt morgens lieber in Ruhe noch eine zweite Tasse Kaffee, als meine kostbare Zeit in ein aufwendiges Make-up zu investieren. Aber wir sind auch keine achtzehn mehr und müssen nicht jeden Schritt, den wir machen, ins Internet stellen für unsere Follower. Unsere Follower sind jenseits der achtzig und liken uns auch so.

Nach seiner minutenlangen Ansprache, in der noch von Anzeigen in der Zeitung und angeblichen Kinowerbespots schwadroniert, packt Otterle seinen Laptop zusammen und verlässt den Besprechungsraum. Dann kommt er noch mal kurz zurück, um peinlich grinsend unser Geburtstagsgeschenk mitzunehmen und den Kuchen von Beate.

Ute ist die Erste, die ihre Sprache wiederfindet. »Die wollen uns kaufen? Was, in aller Welt, wollen die denn mit unserer Kaschemme?«

»Tja, Leute. Willkommen im Kapitalismus. Expansion, nennt sich das«, belehrt uns Sascha. Dann streckt er den Mittelfinger seiner linken Hand aus und murmelt ein kaum hörbares »Fuck them!«. Mit so was kann er gar nix anfangen, denn Geld spielt bei ihm eine untergeordnete Rolle. Der ist am Wochenende eher auf einer Friedensdemo zu finden als beim Businesslunch. Als Evelyn und Milena zum Spätdienst eintrudeln, verkünden wir ihnen die Neuigkeiten.

»Also als Erstes die gute Nachricht: Otterle hat sich sehr über unser Geschenk gefreut!« Ich zwinkere Evelyn vielsagend zu. Milena weiß ja nix von der Taschengeschichte, und es wäre wenig zuträglich gewesen, sie einzuweihen. Sie hätte wahrscheinlich gleich einen Nervenzusammenbruch gekriegt.

»… und jetzt die schlechte: Er hat gesagt, wir werden vielleicht verkauft ans Senior Palace!«, ergänzt Ute in dramatischem Ton.

»Was? Wieso?« Evelyn lässt sich vor Schreck auf den kleinen Hocker im Umkleideraum fallen. Milena schaut verängstigt zu mir.

»Verlieren wir dann unsere Arbeit? O Gott, o Gott! Was soll ich nur meiner Familie in Polen sagen, meine Matka hat doch so ein schwaches Herz!«

»Am beschten sagst du es deiner Mutter gar net. Du findescht in Deutschland immer einen Job in der Pfläge.« Doch meine gut gemeinten Worte verhallen. Milena steigen die Tränen in die Augen, und sie holt schnell ein Taschentuch aus ihrem Kasack. Ich überlege, ob ich es heute Abend MEINER Mutter sagen soll, wenn ich zum Essen hingehe. Die hat zwar kein schwaches Herz, kann aber nix für sich behalten, und dann weiß es innerhalb kürzester Zeit halb Pfleidelsheim. Und noch ist es ja nur ein Gerücht. Andererseits könnte es ein cleverer Schachzug sein. Dann regt sich der ganze Ort maßlos über diese geldgeilen Pflägehaie vom Senior Palace auf, und es gibt vielleicht so eine Art Shitstorm. Bloß halt in echt, net online. Vielleicht organisiert Sascha ja noch eine Demo, und wir können ein paar Flaschen schmeißen. Ich war noch nie auf einer Demo, aber ich stell mir das ganz spannend vor. Im Geiste sehe ich mich schon mit einem großen Transparent auf der Straße sitzen, auf dem »Stoppt den Snob« steht, und wie mich zwei Polizisten versuchen wegzutragen, aber dann aufgeben, weil ich ihnen zu schwer bin. Ä bissle Übergewicht kann auch seine Vorteile haben. In der Tagesschau sieht man immer nur, wie so zarte junge Frauen weggetragen werden oder zappelnde Männer mit vermummtem Gesicht, die aber auch net mehr als einen Zentner wiegen. So einen richtig dicken Klops haben die noch nie hochgewuchtet. Ich könnt also reelle Chancen haben, dass sie mich sitzen lassen. Selbst wenn ich net festgeklebt bin.

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