×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Schule der Meisterdiebe: Die geheimnisvolle Insel«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Schule der Meisterdiebe: Die geheimnisvolle Insel« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Schule der Meisterdiebe: Die geheimnisvolle Insel

hier erhältlich:

hier erhältlich:

Für die Freundschaft, für die Familie und für den besten Coup aller Zeiten

In Gabriels drittem Schuljahr in Crookhaven ist es für ihn und seine Freunde noch wichtiger als je zuvor, an das Gute, die Freundschaft und an sich selbst zu glauben. Denn neben neuen Prüfungen und Unterrichtsfächern wartet das bisher größte Abenteuer auf die jungen Diebe: Sie wollen die Namenlosen zur Strecke bringen. Jeder von ihnen hat eigene Gründe, um gegen die gefährliche Untergrundorganisation vorzugehen. Dochkönnen die Schüler es allein mit dem organisierten Verbrechen aufnehmen? Um Unterstützung zu bekommen, suchen sie einen der besten Crookhaven-Absolventen. Nur, wie findet man eine Legende unter den Meisterdieben, die in Tarnen und Täuschen unübertroffen ist?


  • Erscheinungstag: 27.12.2024
  • Aus der Serie: Meisterdiebe
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 304
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505152269

Leseprobe

Für Jenny Arcanjo, die meinen Bruder und mich als alleinerziehende berufstätige Mutter großgezogen hat.
Wenn mich jemand fragt, wer meine Heldin ist, nenne ich immer dich.

image

Gabriel Avery hatte einen Berg Schulden.

250.000 Pfund musste er den Namenlosen bis zum Ende des Sommers zurückzahlen, andernfalls hatten sie gedroht, Valentin Knight etwas anzutun und obendrein Gabriels Grandma alles über Crookhaven zu erzählen. Das durften Gabriel und seine Bande unter keinen Umständen zulassen, weshalb sie die ganzen Ferien damit verbracht hatten, einen Raub zu planen. Einen hochkomplizierten, wahnwitzigen Einbruch, für den sie alle sechs gebraucht wurden – auch Villette Harkness.

Einen Raubüberfall, der vor vierunddreißig Sekunden begonnen hatte.

Gabriel schob seinen Ohrhörer zurecht. »Alle bereit?«, flüsterte er und spähte um das Gartenhaus herum, das am östlichen Rand eines imposanten Anwesens mit Blick auf die wilde Küste Cornwalls lag. Heftige Regenschauer fegten über das Gelände, und am Himmel drohten dicke schwarze Wolken ein Gewitter an. Aber für ihr Vorhaben war das stürmische Wetter perfekt. Je lauter die Elemente tobten, desto leichter würde es werden.

»Bereit«, hörte Gabriel Penelopes gedämpfte Stimme in seinem Ohr.

»Bereit«, sagte auch Amira.

»Die perfekte Nacht, was?«, freute sich Ede.

»Es ist stockdunkel, es schüttet in Strömen, und diese Blitze könnten Schleichi jeden Moment vom Himmel fegen, Ed«, schaltete sich Ade ein. »Was bitte ist daran ›perfekt‹?«

»Die Beute, hinter der wir her sind, gehörte einst einem Piraten, Ad«, entgegnete Ede. »Das Dach der Villa könnte Lava spucken, und die Nacht wäre trotzdem perfekt.«

Einen Moment herrschte Schweigen, dann sagte Ade: »Okay, du hast recht, Ed. Wenn es um Piraten geht, ist es immer ein guter Tag.«

Die Bande hatte Hunderte möglicher Zielobjekte ins Auge gefasst: Gold, Gemälde, Skulpturen – einige in Museen, andere in Privatsammlungen –, aber letztlich waren sie sich einig gewesen, dass die Ringe der Marlín Negro die beste Wahl waren. Der berüchtigte Kapitän der Marlín Negro, auch »Azote del Mar« oder »Geißel des Meeres« genannt, hatte zwei Ringe getragen, an jedem Mittelfinger einen. Den einen Ring zierte ein M, den anderen ein N. Wenn der Kapitän ein neues Schiff kaperte, brandmarkte er jeden Gefangenen mit diesen Buchstaben – einen unter jedem Auge –, damit unzweifelhaft klar war, wem er gehörte.

Und was wäre ein besseres Geschenk für eine grausame und bösartige Organisation, wie die Namenlosen es waren, als ein wahres Symbol der Grausamkeit und Bösartigkeit? Sie verdienten keinen der kostbaren Schätze, die Gabriel und seine Bande nach ihrem Schulabschluss für ihre rechtmäßigen Besitzer zurückerobern wollten; sie verdienten allenfalls ein Beutestück mit einer dunklen Vorgeschichte, wie die Ringe der Marlín Negro sie hatten.

»Genug geplaudert«, zischte eine Stimme neben Gabriel. Villette, seine Partnerin bei diesem Raub, lehnte lässig an der Holzhütte. »Bringen wir es hinter uns, und kümmern wir uns um das, was wirklich wichtig ist – Vals Befreiung.«

Sie hatten nichts mehr von Val gehört, seit die Namenlosen ihn zu Beginn des Sommers entführt hatten. Die Zwillinge hatten das Internet nach jedem Hinweis durchforstet, der die Bande zu ihm führen könnte – vergeblich.

Bis vor zwei Tagen. Aber das musste jetzt warten …

Das Haus der Familie, der die Ringe der Marlín Negro gehörten, hing über dem Rand der Klippe wie ein Wasserspeier an einem finsteren alten Gemäuer. Es war dunkel, uralt und kantig und schien direkt aus dem Felsen zu wachsen. Aber es war nicht das Haus selbst, das sie interessierte. Die Eigentümer stammten von einer Familie berüchtigter Strandräuber ab, die unzählige reich beladene Schiffe an diese tödliche Küste gelockt hatten. Tief in den Felsen unter dem Haus hatten sie ein nahezu unzugängliches Gewölbe in die Felsen gebohrt, das kein Fenster und nur eine einzige Tür hatte. Zu dieser Tür gelangte man mit einem externen Aufzug, der von der Vorderseite des Hauses an der steilen Felswand entlang nach unten glitt. Um den Aufzug nutzen zu können, brauchte man allerdings den passenden Türcode und den Fingerabdruck eines der Eigentümer. Gabriel und seine Bande hatten weder das eine noch das andere.

Aber genau wie die Merciers – die korrupte Familie, die Gabriel und seine Bande im Jahr zuvor zur Strecke gebracht hatten – hatte auch diese Familie viel Geld für einzelne Sicherheitsmaßnahmen wie den Aufzug an der Klippe ausgegeben, an anderer Stelle jedoch gespart. Offenbar waren sie der Meinung, dass es ohne den Schlüsselcode und den Fingerabdruck niemand nach unten schaffen würde, und sahen daher keinen Grund, die Tür selbst und das Sicherheitssystem im Inneren des Gewölbes auf den neuesten Stand der Technik zu bringen. Sie schienen davon auszugehen, dass es keinen anderen Weg zu dieser Tür gab. Und für die meisten Menschen mochte das zutreffen.

Aber Penelope Crook und Amira Dhawan waren nicht die meisten Menschen.

»Wie ist der Abstieg?«, fragte Gabriel.

»Gabriel Avery«, knurrte Penelope. »Wenn du gerade grinst, sorge ich persönlich dafür, dass du …«

»Ich kann bestätigen, dass er grinst«, mischte sich Villette ein. Sie grinste ebenfalls.

»Der Abstieg ist … super«, meldete sich Amira zu Wort, leicht atemlos, aber ihrerseits hörbar lächelnd. Im Hintergrund heulte der Wind. »Wir sind ungefähr zehn Meter über der Plattform, Gabriel.«

»Irgendwie«, grummelte Penelope, »habe ich das Gefühl, dass Amira und ich bei dieser Aktion den Kürzeren gezogen haben.« Sie schnaufte, als würde sie sich nach dem nächsten Felsvorsprung strecken. »Wir beide klettern bei strömendem Regen eine zerklüftete Felswand runter, während der Rest von euch rumsteht und … äh, was genau macht?«

»Jeder von uns hat eine wichtige Aufgabe«, erwiderte Gabriel diplomatisch.

»Und außerdem wolltest du unbedingt der Star dieses Einbruchs sein, Crook«, fügte Ede nicht ganz so diplomatisch hinzu.

»Ihr wisst doch, was die Leute sagen«, bemerkte Ade. »Pass auf, was du dir wünschst, sonst … baumelst du am Ende fünfzehn Meter über dem wilden schwarzen Meer.«

»Diesen Satz hat noch nie irgendjemand gesagt, Ade!«, fauchte Penelope.

»Bis heute«, konterte Ade höchst zufrieden mit sich. »Ed, den sollten wir uns markenrechtlich schützen lassen, was? Oder heißt es ›patentieren‹?«

»Amira«, sagte Gabriel, damit sich das Team wieder konzentrierte. »Hast du die Plattform erreicht?«

»Ja.« Amiras Stimme klang nun wieder entspannt. Ein angestrengtes Stöhnen war zu hören, dann sagte sie: »Penelope ist jetzt auch da.«

»Okay. Sobald ihr drinnen seid, läuft die Zeit. Ihr habt sechs Minuten.« Das Lasergitter im Inneren sollte für die beiden kein Problem sein, aber die Ringe lagen auf einer hochempfindlichen Sensorplatte. Die Mädchen mussten sie also beide gleichzeitig gegen Penelopes Fälschungen austauschen – aus dem Grund waren sie zu zweit. »Bereit?«

Ein leises Klicken war zu hören, als das Schloss nachgab. Dann sagte Penelope: »Wir sind drin. Sorgt dafür, dass Frankensteins Roboter auf uns wartet, sobald wir rauskommen, klar?«

»Ade, Ede«, rief Gabriel und stellte seine Uhr auf fünf Minuten fünfzig. »Ist Schleichi startklar?«

»Erstens«, erwiderte Ade gekränkt, »nur weil Schleichi ein paar Mal umgebaut werden musste, ist sie noch lange nicht Frankenstein …«

»Frankensteins Monster«, warf Penelope ein, nun wieder keuchend, da sie sich in diesem Moment durch das Lasergitter schlängelte. »Frankenstein war der Wissenschaftler, Frankensteins Monster seine Schöpfung. Habt ihr zwei eigentlich jemals ein Buch gelesen?«

Ade überging Penelopes Stichelei. »Und zweitens schwebt sie in diesem Moment drei Meter über der Plattform. Ihr hört sie nur nicht, logisch.«

»Wir haben der Schleichigsten aller Zeiten noch ein paar Upgrades verpasst«, erläuterte Ede. »Sie ist jetzt so leise wie Ad, wenn Mum nach Hause kommt und feststellt, dass der ganze Jollof aufgegessen ist.«

»Und das ist echt leise«, bestätigte Ade, der hörbar erschauderte. »Alter, unsere Mum kann einem echt Angst machen.«

»Läuft eure Kommunikation immer so ab?«, fragte Villette. »Als totales Chaos, meine ich?«

Gabriel zuckte mit den Schultern. »Als organisiertes Chaos, würde ich sagen.«

»Gabe steuert ein leckes Schiff«, warf Ade ein. »Aber am Ende schaffen wir es immer.«

Gabriel schaute auf die Uhr. »Zwei Minuten. Wie sieht’s aus?«

»Wir sind draußen«, sagte Amira. »Mit den Ringen.«

»Ey, Legaten sind ja doch ganz brauchbar.« Ede gluckste. »Gute Arbeit, Mädels.«

»Penelope, Amira«, sagte Gabriel. »Passt auf, gleich kommen die Seile.« Schleichi war mit zwei Seilen bestückt worden, die lang genug waren, dass sie von der Klippe nach unten reichten. Leider hatte sie nicht die Kraft, beide Mädchen nach oben zu ziehen, nicht einmal eines von ihnen. Und das hieß …

»Villette.« Gabriel wandte sich an seine neue Bandenkollegin. »Wir sind dran.«

Villette verdrehte die Augen und stieß sich träge vom Gebäude ab. »Na endlich. Ich bin vom ganzen Nichtstun schon steif geworden.« Sie lächelte überlegen. »Bist du sicher, dass du das schaffst, Avery?«

Gabriel ließ seine Schultern kreisen und machte einen Ausfallschritt. »Finden wir’s raus.«

Sie atmeten tief durch und sahen einen Moment lang zu, wie Regenschleier auf den aufgeweichten Boden prasselten.

Dann eilten sie Richtung Klippe.

Beide trugen Schwarz, sodass sie kaum mehr als Schatten waren, die sich über das dunkle Gelände bewegten, und ihre Schritte waren bis auf ein gelegentliches Quietschen nicht zu hören. Das einzig Helle an ihnen waren die verirrten blonden Strähnen, die unter Villettes schwarzer Mütze hervorlugten.

Der Regen wurde noch stärker, als sie den Swimmingpool umrundeten und sich durch eine Baumreihe schlängelten, und die Sicht wurde schlechter. Gabriel entging trotzdem nicht, dass er den Klippenrand zwei Schritte vor Villette erreichte. Darauf würde er sie später dezent hinweisen …

Er warf einen Blick auf die Uhr. Noch eine Minute und zehn Sekunden, bis der Alarm losging.

Schleichi erhob sich und schwebte mit den anderen Enden der Seile näher zu ihnen heran. Gabriel streckte die Hände aus. »Mach die Seile los, Ede.«

»Aye, aye, Captain!«, rief Ede. Schleichi gab die Seile frei, die sicher in Gabriels und Villettes wartenden Händen landeten. Schnell schlangen sie die Seilenden um zwei dicke Baumstämme und zurrten sie fest. »Los geht’s!«, rief Gabriel.

Schnaufen drang durch die Ohrhörer, als Penelope und Amira ihren Aufstieg begannen. Gabriel und Villette hockten neben ihren Bäumen und warteten darauf, dass die Mädchen über dem Klippenrand auftauchten.

Amira erschien als Erste, ihre Bewegungen waren wie üblich präzise und geschmeidig. Sie warf Villette einen finsteren Blick zu, als sie zu ihr hinüberlief – sie hatte ihr noch immer nicht verziehen –, dann zog sie ihr Taschenmesser hervor, schnitt das Seil vom Baum und warf die zerfledderten Überreste ins Meer.

»Was ist eigentlich aus der Parole ›Jeder nimmt seinen Müll mit nach Hause‹ geworden?«, fragte Ade.

»Wir machen kein Picknick im Park, Ade«, schnauzte Villette ihn an. »Das hier ist ein Raub

»Ich mein ja nur«, brummte Ade. »Wenn man erst mal Ausnahmen macht, kommt eins zum anderen.«

Penelopes Hand griff über den Klippenrand. »Ich hab die Nase voll von eurem … ahhhhh!« Die Hand verschwand, und das Seil, das Gabriel so sicher am Baum befestigt hatte, rutschte durch das glitschige Gras Richtung Abhang.

Gabriel warf sich nach vorn und griff nach dem Seil. Streckte sich. Hielt es fest.

Seine Finger krümmten sich um das Seil und umklammerten es mit aller Kraft, während er sich wankend aufrichtete. Doch das Seil glitt weiter, verbrannte seine Handflächen, und er schrie auf. Er konnte es nicht halten. Der Regen, das rutschige Seil, das Gewicht am anderen Ende, die verzweifelten Rufe seiner Bandenkollegin, die hilflos in der Luft baumelte …

Gabriel biss die Zähne zusammen und umklammerte das Seil noch fester, doch es rutschte weiter und schnitt ihm die Hände blutig, bis …

Es plötzlich nicht mehr rutschte. Er bemerkte ein Messer in dem Seil zu seinen Füßen. Es war so fest in den Boden gerammt worden, dass es Penelopes Gewicht hielt. Jemand stolperte vor ihn, griff nach dem Seil und stöhnte vor Anstrengung.

»Halt … durch!«, stieß Villette hervor.

Über ihnen tobte der Donner so laut, dass Gabriel vor Schreck beinahe das Seil losließ. Zum Glück waren sie jetzt zu zweit …

Nein, zu dritt. Amira sprang vor Villette und packte das Seil mit zusammengebissenen Zähnen. Sie zogen. Sie zogen, während der Regen auf sie einprasselte und die Blitze über ihnen zuckten. Sie zogen, während ihre Hände bluteten und ihre Lungen vor Anstrengung brannten.

Gabriels Armbanduhr vibrierte. Die sechs Minuten waren um.

»Ade, Ede«, keuchte er verzweifelt. »Gleich kommen … die Hunde … Ihr müsst sie … ablenken.«

Über ihnen in der Luft schwenkte Schleichi ab und sauste davon. »Schon dabei. Holt ihr Crook hoch!«, rief Ade.

Stöhnend zogen die drei das Seil Stück für Stück nach oben. Greifen. Ziehen. Greifen. Ziehen. Gabriels Schultern verkrampften sich schmerzhaft, seine Beine zitterten vor Anstrengung. Aber er würde nicht eher aufhören, bis Penelope Crook in Sicherheit war und ihn dafür verfluchte, dass er das Seil nicht richtig festgemacht hatte. Und wenn es ihm die ganze Haut von den Handflächen scheuerte. Er würde nicht aufhören.

Endlich erschien Penelopes Gesicht am Klippenrand, und ihre Hände streckten sich verzweifelt über die Kante. Oben sackte sie ins Gras, das Gewicht am Seil schwand ruckartig, und Gabriel, Amira und Villette stolperten nach hinten. Amira konnte sich auf den Beinen halten, Gabriel und Villette hingegen fielen zu Boden, ihre Körper waren zu erschöpft. Amira eilte zu Penelope, zog sie auf die Beine und zerrte sie zwischen die Bäume, während Gabriel das Messer aus dem Seil zog, das in den Boden gerammt worden war, zur Klippe rannte und Seil und Messer in das aufgewühlte schwarze Meer warf.

»Alles okay?«, fragte Gabriel Penelope atemlos. »Das Seil … ich weiß genau, dass ich es festgebunden habe … ich verstehe das nicht.«

Sie nickte mit weit aufgerissenen Augen und ohne zu blinzeln. »Ich bin am Leben.« Ihre Hände und Arme hatten tiefe Schürfwunden, weil sie beim Absturz gegen die scharfe Felswand gestoßen war. Außerdem zitterte sie am ganzen Körper. Als sie Gabriels Blick bemerkte, sagte sie: »Mir ist nur kalt, das ist alles. Lasst … es uns einfach zu Ende bringen.«

Dicht gedrängt huschten die vier über das Gelände zum Zaun, den Villette und Gabriel zuvor aufgeschnitten hatten. Jenseits der Klippe flog Schleichi in die entgegengesetzte Richtung, ihr Scheinwerfer erleuchtete vier knurrende Dobermänner und, ein Stück hinter ihnen, zwei Wachen mit erhobenen Waffen.

»Wir sind raus«, rief Gabriel, als Penelope, Villette und Amira sich durch den Zaun gezwängt hatten. »Bringt Schleichi in Sicherheit, sonst müsst ihr sie zum zweiten Mal in diesem Sommer wieder zusammenflicken.«

»Schweig still«, entgegnete Ade. Schleichis Scheinwerfer erlosch, und sie schoss in den Himmel und verschwand in den wütenden schwarzen Wolken. Die Hunde heulten, die Männer schrien, und über ihnen grollte der Donner. Doch Gabriel und seine Bande waren bereits lautlos in die stürmische Nacht entschwunden. Zerkratzt und blutig, aber am Leben und im Besitz eines Schatzes, mit dem sie ihre Schulden bei der gefährlichsten Bande der Welt begleichen konnten.

image

Zwei Tage später standen Gabriel und Penelope mit dick bandagierten Händen im Bahnhof von Exeter St. David und warteten auf die Anführer der Namenlosen.

Es herrschte morgendlicher Pendlertrubel, und Gleis zwei war voller Menschen, die stumm in Richtung des einfahrenden Zuges blickten. Gabriel hatte bewusst einen belebten öffentlichen Ort für dieses Treffen gewählt, damit die Namenlosen ihnen nichts antun konnten. Denn sobald sie hörten, was er und seine Bandenkollegin ihnen zu sagen hatten, wusste Gabriel, dass sie in Versuchung geraten würden.

»Ich weiß nicht, ob die Rushhour die klügste Wahl war«, murmelte Penelope und musterte die müden Gesichter der Pendler. »Ich glaube, eine Elefantenhorde könnte über die Gleise trampeln, und die Leute würden trotzdem einfach in den Zug steigen. Sieh sie dir an. Sie sind müde. Sie werden nichts tun, wenn die Namenlosen uns angreifen.«

»Ach was. Menschen helfen immer, wenn sie sehen, dass jemand in Not ist. Auch wenn sie müde sind.« Gabriel gähnte. »Sei einfach dankbar, dass du keinen täglichen Pendlerstress hast, Penelope.«

Penelope zog ihr zerfleddertes lila Haarband aus der Tasche und band sich einen Pferdeschwanz. Als sie Gabriels fragenden Blick auffing, zuckte sie mit den Schultern. »Wann immer ich mich an einem belebten Ort aufhalte, trage ich es. Nur für den Fall, dass Mum irgendwo in der Nähe ist und es bemerkt.« Einen Moment lang schien sie in Gedanken versunken. Dann blinzelte sie. »Ich weiß, das ist lächerlich, also unterlass es bitte, mich darauf hinzuweisen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass sie von den Namenlosen entführt wurde und mich unmöglich in einer Menschenmenge erspähen kann. Aber …«

»Man kann nie wissen«, schloss Gabriel und lächelte sie an. »Sieht gut aus!«

Sie erwiderte sein Lächeln. Dann runzelte sie die Stirn. »Ein Lächeln und ein Kompliment machen nicht wieder gut, dass du mich von einer Klippe hast fallen lassen, Gabriel Avery!«

»Ich weiß genau, dass ich das Seil fest genug gebunden habe«, sagte Gabriel zum gefühlt tausendsten Mal. »Ich … verstehe einfach nicht, was da passiert ist.«

»Tja, ganz einfach«, schreckte eine Frauenstimme sie auf. Vor ihnen stand Adria Vivas, flankiert von Luciano Lopes und Leon Marquez. Gabriel hatte sie nicht die Treppe zum Gleis heraufsteigen, geschweige denn durch die Menge kommen sehen. Aber da waren sie. Ihre Gesichter waren ein wenig verändert, um die Gesichtserkennungssoftware zu überlisten, aber ihre Haltung war unverkennbar.

Bei ihrem Anblick – ihrer Gegenwart – sträubten sich Gabriel die Nackenhaare. Seine Eltern – die Anführer der Namenlosen – und sein ehemaliger Crookhavener Komplize. »Was ist ganz einfach?«

»Was neulich Nacht mit dem Seil passiert ist, natürlich«, erwiderte Adria mit der ihr eigenen verspielten Grausamkeit in den Augen. »Wir haben es durchgeschnitten. Na ja, nicht wir, um genau zu sein. Wir drei haben nicht die Zeit, einer Bande unfähiger Teenager dabei zuzusehen, wie sie sich durch einen belanglosen Raub wurstelt.« Sie machte eine abfällige Geste. »Einer unserer Handlanger. Er ist kaum älter als ihr, und trotzdem hat keiner von euch bemerkt, dass er euch beobachtet hat.« Sie legte den Kopf schief und grinste. »Oder dass er das Seil durchgeschnitten hat.«

Penelope trat einen Schritt vor. »Sie waren das? Aber warum? Wir sind da eingestiegen, um Ihnen Ihr Geld zurückzuzahlen. Warum in aller Welt haben Sie das getan?«

»Um euch eine Botschaft zu übermitteln«, entgegnete Luciano ruhig. Im Gegensatz zu seiner Frau lächelte er nicht, machte keine spöttischen Witze und sagte kein Wort mehr als nötig. Gelassen hielt er ihren Blicken stand, während seine Hände entspannt neben seinem Körper herabhingen. »Und ihr seht so aus, als hättet ihr sie klar und deutlich verstanden.«

Gabriel ließ eine Hand in die Tasche gleiten – seine Handfläche schmerzte noch immer von den Reibungsverbrennungen – und holte eine kleine rote Schachtel heraus. Er hielt sie in die Höhe. »Dann schicken wir euch auch eine Botschaft.« Mit einer Selbstsicherheit, die er nicht empfand, schritt er vorwärts und überreichte seiner Mutter die Schachtel.

»Für mich?« Sie japste theatralisch und schlug die Hände zusammen. »Was bist du doch für ein guter Sohn! Das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Aber da du nun mal so freundlich warst …« Sie entriss ihm die Schachtel und öffnete sie. Dann verengten sich ihre Augen. »Was für ein Sohn schenkt seiner Mutter ein halbes Geschenk?«

»Ein Sohn, der seine Mutter nicht besonders gut leiden kann, nehme ich an«, entgegnete Gabriel kühl.

»Da ist nur ein Ring.« Sein Vater sah seiner Frau über die Schulter. »Es gibt zwei Ringe der Marlín Negro. Wo ist der andere?«

»Unsere Vereinbarung lautet«, sagte Gabriel, »dass ich euch die 250.000 Pfund zurückzahle, die ihr meinetwegen verloren habt. Jeder Ring ist genau diesen Betrag wert.«

»Und warum habt ihr dann beide gestohlen?«, zischte Adria. Ihre Verspieltheit war wie weggeblasen. »Wir wissen, dass ihr sie beide gestohlen habt, also warum …«

»Um Ihnen unsere Botschaft zu schicken«, sagte Penelope und trat neben Gabriel.

Gabriel nickte. »Der zweite Ring befindet sich an einem sicheren Ort. Und wisst ihr, was eine genaue Untersuchung des Rings den Behörden liefern würde?«

»Fingerabdrücke«, sagte Penelope. »Von einem gewissen Luciano Lopes und einer gewissen Adria Vivas. Beide sind den Behörden wahrscheinlich unbekannt. Aber wenn sie ein bisschen nachforschen, und das werden sie, werden sie ziemlich schnell herausfinden, dass diese beiden Unbekannten zufällig zum Zeitpunkt mehrerer großer Raubüberfälle in verschiedenen Ländern anwesend waren. Und wenn sie das erst mal herausgefunden haben, dann heißt es Ciao, Anonymität und Willkommen auf der Liste von Interpols meistgesuchten Verbrechern!«

»Wir haben die Fingerabdrücke von den Tassen genommen, die ihr in Benson’s Café benutzt habt«, fügte Gabriel hinzu und sah sie fest an. »Vielen Dank dafür.«

Luciano lachte kalt. »Ein Anruf, und ich könnte der alten Frau alles erzählen, was du in den letzten zwei Jahren getrieben hast.«

»Natürlich, wenn du willst, dass ich einen Anruf mache und den Ring der Polizei übergebe«, entgegnete Gabriel scharf.

»Vergiss nicht«, schaltete sich Adria ein, »wir haben immer noch Val.«

»Ach, wirklich?«, sagte Gabriel und richtete den Blick auf seine Mutter.

Sie wich zurück. »Wie meinst du das?«

»Ich meine: Seid ihr sicher, dass ihr Valentin Knight noch habt?«

Erst jetzt, als er sah, dass die Bahnhofsuhr 8:35 Uhr anzeigte, lächelte er.

»Wo ist der Rest deiner Bande, Gabriel?«, fragte Luciano, dem jetzt erst aufzufallen schien, dass sie nur zu zweit waren. »Wo ist Nikki?«

Es war Penelope, die antwortete. »Sie meinen, jetzt gerade? Och, die müsste schon lange weg sein. Zusammen mit Valentin Knight.«

Gabriels Eltern wechselten einen Blick, und etwas Wildes, Unbezähmbares brannte in ihren Augen. Dann kramte Gabriels Vater ein Handy hervor und hob es ans Ohr. »T., sag mir, dass du den Jungen hast … Was soll das heißen, er ist weg? Dann hol ihn zurück, sonst statte ich deinen Eltern persönlich einen Besuch ab!« Er legte auf und holte tief Luft. »Du hast soeben eine Grenze überschritten, Sohn.«

»Nein, ihr habt eine Grenze überschritten, als ihr Val entführt und Grandma bedroht habt«, entgegnete Gabriel, und es kostete ihn die größte Mühe, dass seine Stimme nicht vor Wut zitterte. »Wir haben bezahlt, was wir euch schuldig waren, und wir haben uns zurückgeholt, was uns gehört. Die Rechnung ist beglichen.«

»Das Problem ist nur, dass nicht ihr entscheidet, wann die Rechnung beglichen ist, nicht wahr, Luce?«, sagte Adria, deren grüne Augen von Gabriel zu Penelope huschten.

»Nein«, bestätigte Luciano. »Das entscheiden wir

Penelope verschränkte die Arme. »Val ist auf dem Weg nach Crookhaven. Dort wird er in Sicherheit sein.«

»Wir sind schon einmal reingekommen«, sagte Adria. »Wir schaffen es auch ein zweites Mal.«

»Nicht vergessen«, entgegnete Gabriel. »Wir haben eure Fingerabdrücke.«

»Vorerst wird euch das schützen«, sagte sein Vater, während er einen langsamen Schritt auf ihn zu machte. Gabriel war in den letzten zwei Jahren ein ganzes Stück gewachsen, aber Luciano Lopes war immer noch einen Kopf größer als er. Mit seinen bernsteinfarbenen Augen, die Gabriels eigenen so ähnelten, blickte er kalt und grausam auf ihn herab. »Aber was glaubst du, wie lange du uns entkommen kannst, Sohn?« Sein Vater starrte ihn noch eine Weile an, dann drehte er sich um und verschwand in der Menge.

Adria schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Luce und ich sind durch und durch fair. Du hast dich gegen uns aufgelehnt, und wie alle guten Eltern haben wir versucht, dich zu maßregeln. Wir sind sogar persönlich hergekommen, um von Angesicht zu Angesicht mit dir zu reden. Aber sieh dich an – du hast dich schon wieder danebenbenommen. Und das Problem dabei ist, Gabriel: Wir glauben beide nicht an zweite Chancen. Da wir nun wissen, dass klare Worte nichts bringen …« Die Augen seiner Mutter verengten sich. »… werden wir vielleicht ausprobieren, ob eine Strafe hilft.« Damit drehte auch sie sich um und verschwand in der gesichtslosen Menschenmasse.

Leon zauderte noch. Der ehemalige Spitzenschüler von Crookhaven hatte das Geschehen bisher wortlos verfolgt. Erst jetzt sah er Penelope an. »Pen, ist alles in Ordnung? Wie geht es deinen Händen?«

»Jetzt kümmert dich das?«, fuhr sie ihn an.

»Ich habe mich immer um dich gekümmert«, erwiderte Leon. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie jemanden schicken würden, um das Seil durchzuschneiden. Das musst du mir glauben, Pen.«

»Und wenn du es gewusst hättest – hättest du es verhindert?«, fragte Penelope mit Schmerz in den Augen.

Hat Leon das Seil mit einem Messerwurf am Boden befestigt und Penelope das Leben gerettet?, fragte sich Gabriel plötzlich. Er hatte Penelope nichts davon erzählt, und weder Amira noch Villette hatten es bemerkt, weshalb er nicht vorhatte, es zu erwähnen. Jedenfalls nicht, bis er wusste, wer es gewesen war.

Leon sah ihr in die Augen, dann wandte er sich ab und ließ die Schultern sinken.

»Das habe ich mir gedacht.« Penelope schüttelte den Kopf. »Leb wohl, Leon.«

Leon sah ihr schweigend nach, wie sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte.

Im Laufe der letzten Monate hatte Gabriel sich unzählige Male überlegt, was er seinen ehemaligen Komplizen, den Tutor, der ihn durch sein erstes Jahr in Crookhaven begleitet hatte, fragen würde, wenn sie sich je wiedersähen. Aber das Erste, was jetzt aus seinem Mund kam, war: »Was macht der Hunger, Leon?«

Leon lächelte traurig beim Gedanken an ihr Gespräch vor zwei Jahren. »Ich bin immer noch hungrig. Und du?«

»Ich auch.« Und es stimmte. Dieser Hunger, dieser Drang, sich um Grandmas willen zu verbessern, war so stark wie eh und je. Jetzt, da sie und seine Bande bedroht wurden, war er eher noch stärker geworden.

»An unserem Tisch wird es immer einen Platz für dich geben, Gabriel«, sagte Leon.

»Ich weiß, Leon. Aber das Essen an eurem Tisch ist vergiftet.«

Leon zuckte mit den Schultern. »Mag sein. Aber nach einer Weile schmeckst du das Gift nicht mehr. Eines Tages wachst du auf und bist immun dagegen. Und alles, was du siehst, ist ein Festmahl.«

»Ich esse lieber altes Brot mit meiner Familie als ein Festmahl mit dem Teufel.«

Leon nickte. »Genau darin unterscheiden wir uns.«

»Stimmt.« Stumm sahen sie einander in die Augen. »Ich hatte gehofft, dass es nicht wahr ist. Dass du dich ihnen nicht wirklich angeschlossen hast. Ich dachte, wir wären uns ähnlich, du und ich. Aber …«

»Wir sind es nicht«, sagte Leon seufzend. »Oder vielleicht, möglicherweise, sind wir es doch. Das erfahren wir wohl erst am Ende.«

»Wann hat das alles ein Ende?«

Leon lachte. »Tja, das ist die Frage. Selbst wenn ich sie dir beantworten könnte – was ich nicht kann –, würde ich es nicht tun. Denn herauszufinden, wie das alles endet, ist doch das Spannende daran.«

Sie schwiegen erneut, als sich zwei Reisende zwischen ihnen hindurchdrängten. Dann sagte Leon: »Pass auf Pen auf, Gabriel. Und auf dich.« Er blickte in die Richtung, in die Gabriels Eltern verschwunden waren. »Denn nächstes Mal könnte ich derjenige sein, den sie zu euch schicken. Und wenn es dazu kommt, spielt es keine Rolle, wie viel mir an dir und Penelope Crook liegt – ich werde tun, was sie von mir verlangen.« Leons Gesicht war jetzt hart. Verändert. »Hast du mich verstanden?«

»Nein, Leon«, entgegnete Gabriel. »Ich werde niemals verstehen, warum jemand Menschen wehtut, die ihm etwas bedeuten.« Damit drehte er sich um und folgte Penelope durch die Menge.

image

Gabriel war den Sommer über kaum zu Hause gewesen, was seinen letzten Tag bei Grandma und Harry vor der Rückkehr nach Crookhaven zu etwas ganz Besonderem machte. Auch wenn Grandma nicht ahnte, wie besonders der Tag werden würde.

An Grandmas siebzigsten Geburtstag Anfang Februar war Gabriel in Crookhaven gewesen, und sie hatte ihn und Harry gebeten, keine wie auch immer geartete Nachfeier im Sommer zu planen. Das Problem dabei war jedoch, dass einer der beiden der Schüler einer streng geheimen Schule für junge Menschen mit kriminellen Neigungen war, wo Täuschen nicht nur gefördert wurde, sondern sogar zum Lehrplan gehörte; und der andere ein unverbesserlicher Pläneschmied, der nur eines mehr liebte als seine Bacon-Sandwiches – nämlich Grandma.

Als Grandma damals im Februar also gesagt hatte: »Passt auf, ihr zwei. Ich will nicht, dass ihr an meinem Geburtstag irgendein Brimborium macht, ja? Ich will einen freien Tag, an dem ich die Füße hochlegen kann, und sonst nichts. Also kommt ja nicht auf dumme Gedanken«, hatten sie nur gehört: »Ich will nicht, dass ihr an meinem Geburtstag irgendein Brimborium macht.« Und das war für sie in Ordnung. Sie konnte den Tag so begehen, wie sie es wollte – mit Tee und hochgelegten Füßen –, aber weder Gabriel noch Harry konnten zulassen, dass der wichtigste Mensch in ihrem Leben zu Beginn eines neuen Lebensabschnitts nicht anständig gefeiert wurde. Grandmas neues Lebensjahrzehnt sollte mit einem Paukenschlag beginnen!

An diesem besonderen letzten Tag der Sommerferien hatte Gabriel sie und Harry dazu gebracht, das Haus schon früh zu verlassen. Harry öffnete die Fahrertür seines Wagens und ließ sich mit dem Grunzen, das Männer ab einem gewissen Alter bei der geringsten körperlichen Anstrengung von sich zu geben pflegen, in den Sitz fallen. Grandma verzog das Gesicht.

»Vorsicht, du fetter Oger! Puh, dieser Mann ist so sanft wie ein Wirbelsturm. Und kann mir mal jemand erklären, warum wir an einem Samstag in aller Herrgottsfrühe aus dem Haus müssen?«

Gabriel beugte sich zwischen den Vordersitzen durch. »Hab ich doch schon gesagt, Grandma. Heute ist mein letzter Tag, und da will ich ins Paradies.«

Gabriel und Grandma hatten einen geheimen Ort in der Heide, dem sie den Spitznamen »Paradies« verpasst hatten, weil es dort ruhig und idyllisch war und weil dort zwei Bäche zusammentrafen, die einen tiefen, kristallklaren Teich bildeten – die perfekte Abkühlung an einem heißen Sommertag. Es war ihr kleines Geheimnis, ihr persönliches Stück vom Himmelreich. Und da der Wetterbericht für diesen Tag Rekordtemperaturen vorhersagte, war ein Ausflug ins Paradies der perfekte Vorwand.

»So«, schnaufte Harry, »alle Hände und Füße an Bord? Dann wollen wir mal.«

Während der ganzen Fahrt warf Harry Gabriel immer wieder verschwörerische Blicke im Rückspiegel zu. Gelegentlich zwinkerte er auch und unterdrückte ein Kichern. Harry Hartley, das hatte Gabriel schon früh bei der Planung dieser Überraschung festgestellt, war wahrscheinlich der miserabelste Lügner, dem er je begegnet war. Aber das machte ihm den Besitzer von Benson’s Café nur noch sympathischer.

Zum Glück war Grandma schon nach zehn Minuten eingenickt, sonst wäre ihr sicher nicht entgangen, dass Harry die Abzweigung in die Heide links liegen ließ. Vermutlich hätte sie auch bemerkt, dass er an der nächsten Ausfahrt vorbeifuhr, und ihr inneres Zwiegespräch wäre von »Der Trottel hat die Abzweigung verpasst« zu »Hier ist doch was im Busch« übergegangen. Aber sie schlief selig, mit leicht geöffnetem Mund, sodass man die Goldfüllung in ihrem Backenzahn sehen konnte, bis Harry den Wagen parkte. Und selbst da wachte sie erst auf, als Gabriel sie sacht an der Schulter rüttelte und sagte: »Grandma, wir sind da.«

Grandma öffnete langsam die Augen und blinzelte verwirrt. »Mein lieber Junge … wir sind da?« Es folgte eine Pause, während sie sich umsah. Die Augen zusammenkniff. »Moment mal. Was ist los? Was machen wir denn hier

Gabriel half Grandma lächelnd aus dem Auto. »Seit ich klein war, gab es immer nur einen Punkt auf deiner Wunschliste. Du wolltest nicht um die Welt reisen, die Polarlichter sehen oder die Pyramiden besichtigen – du wolltest nur das hier. Und deshalb sind wir heute hier.«

Grandmas Augen waren groß und starrten an Gabriel vorbei auf das riesige orangefarbene Ding, das mit jeder Sekunde größer zu werden schien. »Den Sonnenaufgang … in einem Heißluftballon sehen!« Als sie erst Gabriel und dann Harry anblickte, standen ihr Tränen der Überraschung und Freude in den Augen. »Wir machen wirklich …?« Sie konnte den Satz nicht beenden.

»Und ob.« Harry gluckste, erfreut über die gelungene Überraschung. »Na los. Steig lieber in den Korb, bevor er ohne uns davonfliegt.«

Sie kletterten in den Korb, und Grandma, die es immer noch nicht glauben konnte und wieder und wieder blinzelte, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte, wiederholte in einem fort: »Werden wir wirklich …? Wir können doch nicht wirklich …«

Erst als sie gemächlich in den Himmel stiegen, verwandelte sich ihre Fassungslosigkeit in pure Freude. Und während sie den Sonnenaufgang beobachtete, beobachtete Gabriel sie. Die Rot- und Rosatöne, die über ihr lächelndes Gesicht tanzten, die kleinen Juchzer, die sie ausstieß, wenn sie etwas am Horizont entdeckte, was sie wiedererkannte, und wie sie nach Gabriels Hand griff, als müsse sie sich an irgendjemandem festhalten, um sich zu vergewissern, dass das Ganze wirklich passierte.

Gabriel hatte Grandma noch nie so glücklich gesehen, und für einen Moment vergaß er alles andere – die Namenlosen, Val, das bevorstehende Schuljahr in Crookhaven – und ließ ihre Freude auf sich überschwappen.

Dann kam der zweite Teil des Plans.

Als Grandma nach Harry rief, um ihm etwas zu zeigen, und der nicht antwortete, drehte sie sich um … und sah ihn auf einem Knie, eine kleine blaue Schachtel in den Händen und ein breites Lächeln im Gesicht. »Bevor du mich jetzt einen Trottel und Oger nennst und mich abblitzen lässt, lass mich mal kurz zu Wort kommen, ja? Ich weiß, dass wir beide alt und runzlig sind – vor allem du, schließlich bist du siebenunddreißig Tage älter als ich, und glaub ja nicht, dass ich das je vergesse –, aber ich habe nachgedacht. Warum sollen nur die jungen Leute feiern, wenn sie sich lieben, hm? Weil Partner, die wir geliebt haben, gestorben sind und nun alle von uns erwarten, dass wir einsam und allein bleiben, bis wir den Löffel abgeben? Tja, ich fürchte, das kann ich nicht. Denn ich habe einen Menschen gefunden, den ich liebe und der mich liebt. Und das will ich feiern. Ich möchte allen, die in unser Café kommen, meine wunderschöne Frau vorstellen. Und meinen Enkel.« Er strahlte Gabriel an. »Denn seit dieser alte Kerl hier die beiden um sich hat, trägt er ein breites Lächeln im Gesicht. Und er will ja nicht anmaßend sein, aber er glaubt, das Lächeln, das die zwei jeden Tag tragen, könnte auch ein bisschen was mit ihm zu tun haben.« Er wandte sich wieder an Grandma. »Es ist nämlich so: Ich liebe dich, du alte Ziege.«

Grandma liefen die Tränen über das strahlende Gesicht. »Ich liebe dich auch, du fetter Oger.«

»Also, was sagst du?«, fragte Harry. »Wie wäre es, wenn wir heiraten?«

Grandma kicherte und schaute nach unten, nicht auf den Ring, der in der aufgehenden Sonne rotgolden glitzerte, sondern in die erwartungsvollen Augen von Harry Hartley. »Na, dann heiraten wir eben!«

Harry brüllte vor Freude, sprang auf die Beine und zog Grandma fest an sich. Dann drehten sie sich nach Osten, um sich am Tag ihrer Verlobung gemeinsam den Sonnenaufgang anzusehen.

Schließlich blickte Grandma mit leuchtenden Augen zu Gabriel hinüber. »Wusstest du davon, mein lieber Junge?«

Gabriel lächelte nur, zuckte mit den Schultern und sagte: »Alles Gute zum Geburtstag, Grandma!«

image

Am Morgen von Gabriels Rückkehr nach Crookhaven war es nicht Penelope Crook, die an ihrem üblichen Platz mit Blick auf den See auf ihn wartete. Sondern jemand anders.

»Hier oben, Kumpel!«, rief eine vertraute Stimme von Penelopes Baum. Valentin Knight saß auf einem dicken Ast, und sein lässiges Betrügerlächeln erhellte sein Gesicht. »Crook hat gesagt, dass du heut kommst. Und schon biste da, mit kaputten Händen und allem.« Er stieß sich von seinem Ast ab und landete auf dem Weg.

»Wie schön, dass du gut angekommen bist, Val«, erwiderte Gabriel und drückte freundschaftlich die Schultern des Jungen. Unter seiner Kleidung spürte er die spitzen Knochen. Gabriel runzelte die Stirn. »Was haben sie mit dir gemacht? Haben sie dich hungern lassen? Dann können die was …«

Val winkte ab. »Nix, wasse nich schon früher gemacht ham, also reg dich ab. Das Letzte, was ich brauche, is noch wer, der durch die Gegend stapft und Rache schwört. Ich bin bloß froh, dass ich die los bin.« Er zögerte, und Gabriel wusste, was jetzt kommen würde. »Wie geht’s deiner Grandma? Ihr is doch nix passiert, oder? Bitte sag, dasse nich …«

Gabriel legte Val einen Arm um die Schultern und drehte ihn in Richtung des Wegs, der zum See führte. »Es geht ihr gut. Es geht ihr sogar bestens. Harry und sie werden nächsten Sommer heiraten. Kannst du das glauben?«

»Hä?« Val machte große Augen. »Nich in echt, oder?«

»Und wie.« Gabriel grinste. »Selbstverständlich bist du zur Hochzeit eingeladen.«

Val blinzelte. »Ich? Aber … warum?«

»Weil du, seit du Weihnachten mit uns gefeiert hast, zur Familie gehörst. Und die Familie ist natürlich zur Hochzeit eingeladen.«

Val starrte Gabriel an und suchte nach einem Anzeichen, dass er Witze machte. Als er keines fand, breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Klar komm ich! Wer soll denn sonst dafür sorgen, dass die zwei das packen? Wie alt sind se, drein’neunzig, viern’neunzig? Der Weg zum Altar könntse umbringen, wenn keiner da is, der ihnen hilft. Überlass das alles mir, Kumpel. Ich werdse im Auge behalten.«

Gabriel lachte. »Sie werden deine Fürsorge bestimmt zu schätzen wissen, Val.«

Sie gingen durch den Wald den Hügel hinunter, den Geruch von feuchter Erde und süßen Blumen in der Nase. Als sie das Ufer erreichten, legte die Gondel, die sie zur Schule bringen sollte, gerade erst an der Insel an, sie mussten also noch eine Weile warten.

»Und, wie findest du Crookhaven?«, fragte Gabriel und deutete auf die Insel. »Hat Penelope dir schon eine Führung gegeben?«

»Sie hats versucht«, antwortete Val, »aber Nik hat drauf bestanden, es selbst zu machen. Und ihre Führung ging ungefähr so: ›Hier is dein Zimmer, hier sind die Klassenräume, hier is ’n komischer Baum, das war’s, und geh bloß nirgendwo anners hin‹. Also, ja, ich hatte so ’ne Art Führung, aber hilfreich war’s nich. Sie hat mir nich ma gesagt, warum alle ständig aufs Klo wollen, wenn ich grad draufhock. Einem Typen hätt ich fast eine geknallt, aber dann hat er’s mir erklärt. Trotzdem … was für ’ne Schule zwingt ihre Schüler, ’n Schloss zu knacken, um aufs Klo zu gehn?«

»Eine Schule für die größten Gauner der Welt«, antwortete Gabriel mit einem Lächeln. »Mit der Zeit gewöhnt man sich dran. Denk einfach daran, das innere Schloss abzuschließen, damit keiner reinplatzt.«

»Das hab ich auf die harte Tour gelernt«, brummte Val. »Trotzdem isses gut, hier zu sein.« Er hob einen Kieselstein auf und warf ihn in hohem Bogen über den See, wo er mit einem leisen Plopp ins Wasser fiel. »Im Vergleich zu manchen Orten, wo ich war, isses hier das Paradies.« Er warf Gabriel einen Blick zu. »Nik und die annern ham mich da vielleicht rausgeholt, aber ich weiß, dass du das alles geplant hast. Und dafür gesorgt hast, dass ich hier aufgenommen wurde. Also … danke, Kumpel.« Er schob das Kinn vor und blickte der nahenden Gondel entgegen. »Du und deine Familie, ihr habt mehr für mich gemacht, als ich verdiene … Nee, keine Widerrede, Kumpel. Is so. Und du … du sollst wissen, dass ichs dir zurückzahlen werde. Auf die eine oder andere Weise. Hand drauf.«

Gabriel klopfte ihm auf die Schulter. »Weißt du, wie du es Grandma zurückzahlen kannst? Indem du wieder Fleisch auf die Rippen bekommst. Wenn sie dich so sehen würde, mit den vorstehenden Knochen und den hohlen Wangen, würde sie dich mit Bacon füttern, bis du platzt.«

Val grinste. »Okay. Das is meine erste Mission. Mir was zu essen besorgen und wieder in Form kommen. Ich kann doch nich auf der Hochzeit von deiner Grandma aussehn wie ’ne Vogelscheuche, was? Nich, wenn ich se zum Traualtar führ.«

»Also, zum Altar werde ich sie führen …«

Aber da war Val schon in der Gondel. »Na, wie gehts uns heute, Mick? Ich würd ja sagen, gut siehste aus, aber selbst ’n Hochstapler weiß, wann ’ne Lüge zu dick aufgetragen is.«

Mickey Jones war völlig verschwitzt, und die letzten Strähnen auf seinem nahezu kahlen Haupt klebten an seiner Kopfhaut. »Das ist der geschäftigste Tag des Jahres für mich, Val. Und was ist deine Entschuldigung dafür, dass du wie ein Bleistift im T-Shirt aussiehst?«

Die beiden starrten sich an, dann grinsten sie und klatschten sich ab. Mickey wandte sich Gabriel zu. »Er ist ein guter Kerl, Gabriel. Noch dazu ein Merite. Pass gut auf ihn auf, hörst du?«

Gabriel schaute von Mickey zu Val, verblüfft, dass die beiden schon so vertraut miteinander waren. Val fing seinen Blick auf und lachte. »Wenn ich nich grad mit meiner Schwester den miesesten Rundgang aller Zeiten gemacht hab, war ich mit Mick in ’ner Gondel unnerwegs.« Er trat neben Gabriel und senkte die Stimme. »Du kannst dir nich vorstelln, was dem Typ alles zu Ohren kommt. Is ja auch kein Wunder, wenn man die ganze Zeit Leute hin- und herfährt, oder?« Er hob die Stimme wieder und fragte: »Mick, was haste mir da über den Wolf im Wald erzählt?«

Mickey vergewisserte sich, dass beide sicher an Bord waren, dann stieß er die Gondel ab und begann zu rudern. »Kein Wolf, ein Hund. Ein großes weißes Viech. Die Gärtner vom letzten Jahr haben ihn draußen im Wald gesehen. Stammt aus Whispers mechanischer Menagerie, nehm ich an.« Er winkte ab. »Aber der ist mir egal. Mich beunruhigt eher das Monster im See.«

Gabriel blickte auf das ruhige Wasser, und die wohlbekannte Angst stieg wieder in ihm auf. Er war den ganzen Sommer regelmäßig geschwommen, um diese unterschwellige Furcht in Schach zu halten, aber sie flüsterte ihm immer noch gelegentlich ins Ohr. »Was hast du denn … äh … im See gesehen?«

»Mick«, schimpfte Val. »Darüber ham wir doch gesprochen! Ich hab gesagt, du sollst das Ding nich erwähnen. Unser Kumpel Gabe ist kein Wasserfan, schon gar nich, wenn was Riesiges und Bösartiges drin lauert. Stimmt’s, Gabe?«

Gabriel schluckte und spähte über die Seite der Gondel. »Riesig … und bösartig. Muss es denn auch noch beides sein?« Er schauderte. Dann versuchte er, den rationalen Teil seines Gehirns zu erreichen. »Wir sind hier mitten im Moor, ein Hai kann es also nicht sein. Es gibt keine Zoos in der Gegend, also kann auch kein Krokodil entkommen sein. Wahrscheinlich ist es nur ein großer Fisch. Was sollte es sonst …«

In dem Augenblick sah Gabriel etwas in der Tiefe, rechts neben der Gondel. Zwei leuchtende Augen. Und sie kamen immer näher.

Gabriel stockte der Atem, und seine Glieder wurden steif. Er konnte nur zusehen, wie dieses … Ding auf sie zukam. »Los«, brachte er gerade noch hervor. »Rudern!«

Als er sich umdrehte, war Mickey wie erstarrt und hatte die Augen weit aufgerissen. Also sprang Gabriel selbst auf die andere Seite der Gondel und riss dem Bootsmann das Ruder aus der Hand. Er stieß es tief ins Wasser und begann verzweifelt zu paddeln. Seine bandagierten Hände brannten, aber das Adrenalin trieb ihn weiter.

Autor