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Rosenträume

Als Buch hier erhältlich:

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Das Leben der Bibliothekarin Grace Shermans im beschaulichen Cedar Cove ist ruhig und unbeschwert, bis ihr Mann Dan von einem auf den anderen Tag verschwindet. Grace hat keine Ahnung, was ihn als hingebungsvollen Vater und wunderbaren Ehemann dazu gebracht hat, sie wortlos zu verlassen. Auch Grace‘ Tochter hält verzweifelt an der Hoffnung fest, dass er zurückkommen wird. Zu unvorstellbar ist der Gedanke, dass er ihre kleine Tochter, sein erstes Enkelkind nicht im Arm halten wird. Trotz des Schmerzes muss die Familie lernen, was es heißt, ohne Dan weiterzuleben und es sind ihre Freunde und die Gemeinschaft der Kleinstadt, die ihr in dieser schweren Zeit zur Seite stehen und ihnen zeigen, was es heißt, eine Familie zu sein.


  • Erscheinungstag: 25.08.2020
  • Aus der Serie: Cedar Cove
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959674416
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liebe Freunde,

wie jede Kleinstadt überall auf der Welt hat auch Cedar Cove Gutes, Schlechtes und Unerwartetes zu bieten. Damit möchte ich sagen, dass in diesem Buch ein paar Überraschungen auf euch warten. Ihr werdet endlich erfahren, was mit Dan geschehen ist, und die Beldons werden in ihrer Pension mit einem äußerst ungewöhnlichen Gast konfrontiert … Das heißt, dass dieser Band neben amerikanischem Kleinstadtmilieu auch ein wenig Krimiatmosphäre enthält.

Den größten Teil meines Lebens habe ich in Kleinstädten gewohnt, und meiner Erfahrung nach sind die Leute im Grunde überall gleich. Auch in Seattle habe ich eine Zeit lang gelebt, und während dieser Zeit wurde mir klar, dass Großstädte eigentlich eine Ansammlung vieler kleinerer Viertel sind, die genauso »funktionieren« wie Kleinstädte. Deshalb hoffe ich, ganz gleich, ob ihr irgendwo in der Großstadt wohnt oder in einem kleineren Ort, dass ihr euch in Cedar Cove sofort heimisch fühlt.

Und jetzt macht es euch bequem. Meine Freunde in Cedar Cove können es kaum erwarten, euch zu erzählen, was dort alles geschehen ist. Wenn ihr das Buch gelesen habt, lasst mich bitte wissen, was ihr davon haltet. Erreichen könnt ihr mich über P.O. Box 1458, Port Orchard, WA 98366 oder über meine Webseite unter www.debbiemacomber.com. Ich würde mich freuen, von euch zu hören.

Liebe Grüße

Debbie Macomber

Für Nina Lyman

und ihre unglaublichen Katzen.

Deine Freundschaft bedeutet mir sehr viel.

Die Hauptpersonen

Olivia Lockhart: Geschiedene Familienrichterin in Cedar Cove. Mutter von Justine und James. Wohnt in der Lighthouse Road Nummer 16.

Justine (Lockhart) Gunderson: Verheiratet mit dem Fischer Seth Gunderson.

Charlotte Jefferson: Verwitwete Mutter von Olivia, wohnt schon ihr ganzes Leben lang in Cedar Cove.

Stanley Lockhart: Von Olivia geschieden, Vater von James und Justine. Lebt mit seiner zweiten Frau in Seattle.

Will Jefferson: Olivias Bruder, Charlottes Sohn. Verheiratet, lebt in Atlanta.

Grace Sherman: Olivias beste Freundin. Bibliothekarin, verheiratet mit Dan, der spurlos verschwunden ist. Mutter von Maryellen und Kelly. Lebt in der Rosewood Lane Nummer 204.

Maryellen Sherman: Älteste Tochter von Grace und Dan. Geschieden. Geschäftsführerin der Harbor Street Art Gallery.

Kelly Jordan: Maryellens jüngere Schwester. Verheiratet mit Paul.

Jack Griffin: Zeitungsreporter und Chefredakteur des Cedar Cove Chronicle. Trockener Alkoholiker. Vater von Eric.

Cliff Harding: Ingenieur im Ruhestand und Pferdezüchter. Wohnt in der Nähe von Cedar Cove. Geschiedener Vater von Lisa, die in Maryland lebt, und Enkel von Tom Houston (Harding), einem Filmcowboy, der in den Dreißigerjahren ein Star war.

Cecilia Randall: Ehefrau des Marinesoldaten und ehemaligen U-Bootfahrers Ian Randall. Hat ihre Tochter Allison kurz nach der Geburt verloren.

Bob und Peggy Beldon: Beide im Ruhestand. Ihnen gehört das Thyme and Tide, eine Pension im Cranberry Point Nummer 44. Sie haben zwei erwachsene Kinder.

Roy McAfee: Pensionierter Polizist aus Seattle, jetzt Privatdetektiv. Verheiratet mit Corrie McAfee, die als Assistentin sein Büro führt. Sie haben zwei erwachsene Kinder und wohnen in der Harbor Street Nummer 50.

Troy Davis: Sheriff von Cedar Cove. Wohnt am Pacific Boulevard Nummer 92.

Warren Saget: Bauunternehmer, ehemals mit Justine Gunderson liiert.

1. Kapitel

Grace Sherman starrte auf das Formular hinunter, mit dem sie den Scheidungsprozess in Gang setzen würde. Zusammen mit ihrer ältesten Tochter Maryellen, die sie als moralische Unterstützung begleitet hatte, saß sie bei ihrem Rechtsanwalt. Eigentlich sollte das Ganze eine einfache Sache sein, denn ihre Entscheidung war gefallen. Sie war bereit, ihre Ehe zu beenden und den Scherbenhaufen ihres Lebens zusammenzukehren. Einen Neuanfang zu wagen … Trotzdem zitterte ihre Hand, als sie nach dem Stift griff, um zu unterschreiben.

Es ließ sich nicht leugnen, dass sie diesen Schritt nicht gehen wollte, aber Dan hatte ihr keine andere Wahl gelassen.

Im April, also vor fünf Monaten, war der Mann, mit dem sie seit fast sechsunddreißig Jahren verheiratet war, spurlos verschwunden. Eben noch war alles ganz normal gewesen, am nächsten Tag war er fort. Anscheinend aus freiem Willen und ohne ein Wort der Erklärung. Selbst jetzt fiel es Grace noch schwer zu glauben, dass der Mann, mit dem sie ihr Leben geteilt hatte, der Mann, den sie geliebt und dem sie zwei Töchter geboren hatte, so etwas Grausames tun konnte.

Wenn Dan sie einfach nicht mehr geliebt hätte, hätte sie das akzeptieren können. Hätte so viel Stolz und Großzügigkeit aufbringen können, ihn loszulassen, ohne deswegen verbittert zu reagieren. Wenn er in ihrer Ehe unglücklich war, dann hätte sie ihn gern gehen lassen, damit er mit einer anderen glücklich werden konnte. Was sie ihm aber nicht verzeihen konnte, war der Kummer, den er über ihre Familie gebracht hatte, und was er damit ihren Töchtern angetan hatte, vor allem Kelly.

Dan war verschwunden, kurz nachdem Kelly und Paul verkündet hatten, dass sie nach vielen Jahren vergeblicher Bemühungen endlich ein Kind erwarteten und sich wahnsinnig darauf freuten. Auch Dan war voller Vorfreude gewesen, genauso wie Grace. Dieses Baby würde ihr erstes Enkelkind werden, auf das sie schon so lange gehofft hatten.

Kelly hatte ihrem Vater immer sehr nahegestanden. Als er sie ausgerechnet in dieser entscheidenden Phase ihres Lebens im Stich ließ, war sie am Boden zerstört. Sie hatte Grace angefleht, mit der Scheidung zu warten, denn sie war überzeugt davon, dass ihr Vater wieder auftauchen würde, bevor Tyler zur Welt kam. Und dann würde sich zeigen, dass es einen vernünftigen Grund für sein Verschwinden gab, eine zufriedenstellende Erklärung.

Doch er war nicht zurückgekommen, und sie wussten immer noch nicht mehr als zuvor. Alles, was ihnen blieb, waren die Zweifel, ihre bohrenden Fragen und eine in den folgenden endlos scheinenden Wochen immer stärker brodelnde Wut.

Als Grace die Ungewissheit nicht länger ertrug, heuerte sie den Privatdetektiv und ehemaligen Polizisten Roy McAfee an. Ihm vertraute sie. In den letzten Wochen hatte Roy umfangreiche Nachforschungen angestellt, denn er war davon überzeugt, dass es irgendwelche Spuren geben musste, und er hatte recht behalten. Was er entdeckte, war für Grace jedoch ein gewaltiger Schock. Schon ein Jahr vor seinem Verschwinden hatte Dan einen Wohnwagen gekauft und in bar bezahlt. Grace hatte keine Ahnung, woher er das Geld genommen hatte, geschweige denn, dass dieser Wohnwagen überhaupt existierte. Dan hatte ihn nie erwähnt, gesehen hatte sie ihn auch nicht. Bis heute war es ihr ein Rätsel, wo er ihn all die Monate abgestellt hatte oder wo er jetzt stand.

Die Indizien häuften sich, und Grace hegte inzwischen einen Verdacht. Sie glaubte, dass Dan den Wohnwagen erworben hatte, um sich mit einer anderen Frau aus dem Staub zu machen. Einmal hatte man ihn in der Stadt gesehen, das war Ende Mai gewesen. Es wirkte gerade so, als habe ihr Mann dieses kurze Wiederauftauchen bis ins Detail geplant, als wolle er sie quälen, sie herausfordern, ihn aufzuspüren. Jener Tag war ein herber Schlag für Grace gewesen.

Einer von Dans Kollegen hatte ihn am Jachthafen gesehen und Maryellen informiert. Die war daraufhin sofort zur Stadtbibliothek gerannt, um ihre Mutter zu holen. Aber als Grace den Jachthafen erreichte, war Dan bereits wieder fort. Sein Kollege hatte beobachtet, wie eine Frau mit ihrem Wagen am Straßenrand hielt, Dan in das Auto stieg und sie fortfuhren. Seitdem hatte niemand mehr etwas von ihm gesehen oder gehört.

Rückblickend gelangte sie zu der Überzeugung, dass Dan ihr damit genau die Antworten lieferte, die sie so dringend brauchte. Sie konnte sich keinen anderen Grund vorstellen, warum er ausgerechnet dort in der Stadt auftauchte, wo am meisten los war, wo er garantiert gesehen – und erkannt – werden würde. Die Stadtbücherei, in der Grace arbeitete, war keine zwei Häuserblocks entfernt. Ganz offensichtlich fehlte ihrem Mann der Mut, ihr zu sagen, dass er eine Affäre hatte. Stattdessen hatte er sich für einen anderen Weg entschieden, sie darüber zu informieren, und sie vor der gesamten Stadt gedemütigt. Auch ohne dass man es ihr sagte, wusste Grace, dass jeder in Cedar Cove Mitleid mit ihr empfand.

Mit diesem Vorfall war die Angelegenheit für sie entschieden. Die Liebe, die sie noch für Dan empfand, starb an jenem Nachmittag. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht glauben wollen, dass eine andere Frau im Spiel war. Selbst nach der VISA-Rechnung für einen kostspieligen Ring, den Dan bei einem Juwelier in Cedar Cove gekauft hatte, hatte sie sich noch geweigert, zu glauben, dass ihr Mann eine Affäre mit einer anderen Frau hatte. Dan war einfach nicht der Typ Mann, der seiner Frau untreu wurde. Sie hatte ihm vertraut. Damit war es vorbei.

»Geht es dir gut, Mom?«, fragte Maryellen und berührte leicht ihren Arm.

Grace schloss die Finger fester um den Stift, den sie in der Hand hielt. »Bestens«, erwiderte sie scharf. Sofort tat es ihr leid, diesen Ton angeschlagen zu haben. Sie wollte ihre Tochter nicht angiften.

Die wandte den Blick ab. Grace konzentrierte sich auf die Papiere vor sich, zögerte noch einen Augenblick und unterschrieb dann hastig.

»Ich werde die Scheidung sofort einreichen«, sagte Mark Spellman.

Endlich entspannte sie sich und ließ sich gegen die Stuhllehne sinken. Das war alles gewesen? Man konnte eine fast sechsunddreißig Jahre währende Ehe einfach so mit einer Unterschrift beenden? »Das ist alles?«

»Ja. Da Sie seit fünf Monaten nichts von Dan gehört haben, ist nicht mit Problemen zu rechnen. In ein paar Wochen schon sollte die Scheidung rechtskräftig sein.«

Fast vier Jahrzehnte – wie Müll aus dem Fenster geworfen. Die guten Jahre, die schlechten Jahre, die mageren Jahre, die Jahre, in denen sie an allen Ecken und Enden sparen mussten. Wie jedes Ehepaar hatten auch sie Probleme gehabt, aber trotz allem hatten sie zusammengehalten. Bis jetzt, bis zu diesem Geschehnis …

»Mom?«, flüsterte Maryellen.

Grace nickte abrupt, selbst überrascht von den Empfindungen, die sie zu überwältigen drohten. Eigentlich hatte sie entschieden, längst die letzte Träne in dieser Angelegenheit vergossen zu haben. In den Monaten, die seit Dans Verschwinden ins Land gegangen waren, hatte sie um ihre Ehe und den Mann, den zu kennen sie geglaubt hatte, getrauert. Nun blieb ihr keine andere Wahl mehr. Die Scheidung war unausweichlich geworden, denn sie musste ihre finanziellen Interessen schützen. Ihr Anwalt hatte ihr erklärt, dass sie sich den Luxus, weiterhin nichts zu unternehmen, einfach nicht leisten konnte.

Ihre rechtliche Situation war das eine, damit war sie fertiggeworden. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass es sie derart aufwühlen würde. Allem, was sie sich vorgenommen hatte, zum Trotz trauerte sie immer noch genauso sehr wie zuvor – und fühlte sich durch das, was Dan getan hatte, zutiefst gedemütigt. Jeder in der Stadt wusste, wie es um sie stand und dass ihr Mann sie einfach verlassen hatte.

Langsam legte Grace den Stift aus der Hand.

»Dann höre ich von Ihnen«, sagte sie zu dem Anwalt und erhob sich von ihrem Stuhl. Maryellen stand ebenfalls auf.

Mark Spellman, ein junger Mann, der Maryellen altersmäßig näher stand als Grace, begleitete sie zur Bürotür. Er setzte dazu an, etwas zu erwidern, senkte dann aber nur den Blick und verabschiedete sich kurz.

Draußen hatte sich die Farbe des Himmels in ein deprimierendes Bleigrau verwandelt. Grace spürte, wie tiefe Traurigkeit sie überkam. Sie hatte gewusst, dass dieser Termin nicht leicht werden würde, aber dass er ihr Selbstvertrauen so erschüttern würde, hatte sie nicht für möglich gehalten.

Maryellen warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss zurück in die Galerie.«

»Ich weiß«, sagte Grace. Ihre Tochter hatte ihr angeboten, sie zu dem Anwaltstermin zu begleiten, um ihr den Rücken zu stärken. Grace war ihr dankbar dafür, auch wenn sie das für unnötig gehalten hatte. Maryellen hatte die Situation offenbar besser eingeschätzt.

Sie war selbst geschieden, hatte sehr jung und unüberlegt geheiratet, und ihre Ehe hatte nicht einmal ein ganzes Jahr gehalten. Seit ihrer Scheidung machte sie einen großen Bogen um Beziehungen. Grace hatte versucht, sie davon zu überzeugen, dass sie eines Tages einen wunderbaren Mann kennenlernen würde, einen Mann, der auf jemanden wartete, der exakt so war wie sie, aber Maryellen hielt das für naiv, wollte nichts davon hören, und inzwischen verstand Grace auch, warum. Eine Scheidung tat weh, richtig weh, und der Schmerz traf sie tief in ihrem Innersten. Grace fühlte sich aus dem Gleichgewicht gebracht und schuldig, als hätte sie versagt. Als wäre sie schuld an dem Desaster. Maryellen wusste, wie das war, weil sie all diese Empfindungen selbst durchgemacht hatte, in viel jüngerem Alter und noch ohne die Weisheit und den Blickwinkel, die man erst mit zunehmender Reife erlangt.

»Wirst du zurechtkommen?«, fragte Maryellen. Sie zögerte sichtlich, ihre Mutter allein zu lassen.

»Natürlich.« Grace zwang sich zu einem Lächeln, denn eigentlich sollte sie erleichtert sein, schließlich hatte sie endlich gehandelt. Sie hatte Dan jede nur denkbare Gelegenheit gegeben, die Scheidung abzuwenden, hatte ihm in Gedanken sogar mehrere Ultimaten und Fristen gesetzt. Zuerst war sie sicher, er würde zurückkommen, wenn Kellys Baby geboren war. Oder zum Vierten Juli. Zu ihrem Hochzeitstag. Eine Frist nach der anderen verstrich, bis sie sich der Realität stellte: Er kam nicht zurück. Wenn sie bis jetzt nichts von ihm gehört hatte, konnte sie nicht erwarten, dass sie je von ihm hören würde. Dan wollte nicht gefunden werden.

»Gehst du zurück an die Arbeit?«, fragte Maryellen.

»Nein.« Sie durfte jetzt bloß nicht in Selbstmitleid versinken. »Ich mache eine Mittagspause und esse etwas.«

»Mittagessen? Jetzt? Es ist doch schon nach vier. Hast du vorher nichts gegessen?«

»Nein.« Grace verschwieg, dass sie seit Tagen keinen Appetit hatte, während der Anwaltstermin immer näher gerückt war. »Ich komme wirklich zurecht«, setzte sie mit Nachdruck hinzu, weil sie wusste, dass ihre Tochter sich Sorgen machte.

Maryellen schaute den steilen Hang hinunter zum Ufer, wo Boote sacht im ruhigen Wasser der Bucht schaukelten. Auf der Harbor Street bewegte sich ein unablässiger Strom von Autos, der aus der Ferne wie eine ununterbrochene Linie wirkte. Wer in der Werft von Bremerton arbeitete, hatte schon Feierabend, und auf den Straßen herrschte dichter Verkehr, während Ehemänner und Väter nach Hause zu ihren Familien eilten. So, wie Dan es früher getan hatte.

»Ich bin so sauer auf Dad, dass ich nicht weiß, was ich tun würde, wenn ich ihn jemals wiedersehen sollte«, stieß Maryellen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Grace dagegen wusste es genau. Sie war überzeugt davon, dass Maryellen dankbar sein würde und dass es ihr egal sein würde, was er getan hatte, wenn er nur überhaupt wieder nach Hause käme. Und Kelly, ihre Jüngste, würde jubeln vor Freude und allen sagen, wie sehr sie sich in ihrem Vater geirrt hätten. Mit offenen Armen würde sie zu ihm laufen und gespannt die Entschuldigung erwarten, die alles erklären würde.

»Mir geht es gut«, wiederholte Grace. »Wirklich.«

Immer noch zögerte Maryellen. »Ich lasse dich nicht gern allein.«

»Keine Sorge, ich komme darüber hinweg.« Zwar entsprach das kaum ihren tatsächlichen Gefühlen, aber wenn Grace irgendetwas im Leben gelernt hatte, dann, welche große Bedeutung das Prinzip des Gleichgewichts einnahm. Für jeden Verlust gab es einen Ausgleich, und sie ermahnte sich, nie zu vergessen, was sie alles an Gutem erlebt hatte. »Ich habe so viel, wofür ich dankbar sein kann. Dich und Kelly und jetzt auch noch ein Enkelkind. Es tut mir leid, dass es mit eurem Vater und mir so enden muss, aber ich werde stärker denn je daraus hervorgehen.« Und noch während sie diese Worte aussprach, wurde ihr bewusst, dass sie die Wahrheit sagte. Ja, was sie verloren hatte, belastete sie schwer, aber auch ihr Leben würde wieder ins Gleichgewicht kommen, und damit würde auch die Freude zurückkehren.

Justine Gundersons Mittagspause hatte gerade begonnen, und sie sehnte sich danach, schnell nach Hause zu laufen und die Post durchzusehen. Seit fast einer Woche hatte sie nichts von Seth gehört. Na schön, es waren nur fünf Tage gewesen, aber für sie fühlte sich jeder Tag wie ein Jahr an. Der Mann, mit dem sie seit gut einem Monat verheiratet war, verbrachte gerade einige Zeit in Alaska, wo er in der krabbenreichen Beringsee fischte. Seth hatte sie auf der Fahrt zum Flughafen gewarnt, dass er sechzehn Stunden am Tag arbeiten würde. Im selben Zuge hatte er ihr versichert, dass er sie wahnsinnig liebte und wieder zu Hause sein würde, bevor sie auch nur auf die Idee kommen könnte, ihn zu vermissen.

Seth hatte sich geirrt, und Justine war todunglücklich. Sie hatten wie im Fieber geheiratet, weil sie keine Minute länger warten konnten als unbedingt nötig. Ohne ihren Eltern etwas zu sagen, rasten sie nach Reno, holten sich ihre Heiratslizenz, suchten sich einen Priester und zogen sich nach der Trauung sofort in ihr Hotelzimmer zurück.

Sie waren jung und sehr verliebt. Justine kannte Seth fast schon ihr Leben lang. Er war der beste Freund ihres Zwillingsbruders gewesen, bis dieser im Alter von dreizehn Jahren ertrank, und sie waren bis zum Highschoolabschluss in dieselbe Klasse gegangen. In den folgenden zehn Jahren lebte er in Cedar Cove, aber sie hatten keinen Kontakt miteinander, bis sie beide sich ein wenig widerwillig und zögerlich in das Planungskomitee für ihr zehnjähriges Klassentreffen einbinden ließen.

Zu dem Zeitpunkt traf Justine sich mit Warren Saget, einem lokalen Bauunternehmer. Warren war etliche Jahre älter. Genau genommen war er sogar nur wenig jünger als ihr Vater. Ihm gefiel es, eine schöne junge Frau an seiner Seite zu haben, und Justine füllte diese Rolle perfekt aus. Zudem war sie bereit, sein kleines Geheimnis für sich zu behalten. Denn Warren war zwar ein erfolgreicher Geschäftsmann, im Schlafzimmer versagte seine Männlichkeit jedoch. Justine hatte häufig die Nacht in seiner luxuriösen, auf einem Hügel über der Bucht gelegenen Villa verbracht, aber das war nur Show. Sie hatte ein eigenes Schlafzimmer in seinem Haus. Natürlich wusste sie, was die Leute dachten, aber das hatte sie nie sonderlich interessiert.

Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter. Olivia Lockhart hegte die gleichen Vermutungen bezüglich Justines Liaison mit Warren wie alle anderen, und sie hatte eine sehr dezidierte Meinung dazu. Justine klärte sie nicht über die wahre Natur ihrer Beziehung auf, denn das ging Olivia nichts an. Das Streitthema belastete jedoch das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter. Auch ihre Großmutter war nicht gerade angetan, aber Charlotte äußerte ihr Missfallen nicht annähernd so offen wie Olivia. In der Hoffnung, sie von Warren abzubringen, hatte Olivia Justine dazu ermuntert, sich mit Seth zu verabreden. Doch auch sie war schockiert gewesen, als Justine kurze Zeit später anrief, um ihr mitzuteilen, dass Seth und sie spontan geheiratet hatten.

Die Hochzeit war für Justine genauso überraschend gekommen wie für ihre Familie. Nach einem Streit wegen Warren hatte Seth sich von ihr distanziert. Justine hatte es nicht so enden lassen können, nicht mit Seth, und sie war zu ihm gefahren in der Hoffnung, dass sie sich wieder versöhnen würden. Zu behaupten, sie hätten ihre Streitigkeiten beigelegt, wäre eine Untertreibung.

Nach der Hochzeit blieb ihnen nur ein Wochenende, bevor Seth zurück nach Alaska musste. In den Wochen danach hatte sie in unregelmäßigen Abständen von ihm gehört, aber er konnte weder anrufen noch sich anrufen lassen, während er auf See war, und so hatten sie nur selten Gelegenheit, miteinander zu reden.

Justine warf einen Blick auf die Uhr und rang mit sich selbst. Sollte sie wirklich nach Hause fahren und die Post durchsehen? Wenn kein Brief gekommen war, würde sie das den ganzen Nachmittag deprimieren. Andererseits würde sie tagelang wie auf Wolken schweben, wenn Seth ihr einen Brief geschickt hatte. Sie brauchte einen Brief von ihm, einen Anruf, irgendetwas, das ihr wieder ins Gedächtnis rief, wie richtig es gewesen war, ihn zu heiraten. In ihren ganzen achtundzwanzig Lebensjahren hatte sie noch nie so impulsiv gehandelt wie mit dieser Heirat. Sie zog es vor, wenn ihr Leben in geordneten Bahnen verlief und berechenbar war. Alle ihre Entscheidungen waren von dem Bedürfnis geprägt, Ordnung zu bewahren und alles unter Kontrolle zu haben – bis sie sich in Seth verliebte.

Dieser Ordnungssinn war einer der Gründe, warum sie sich so gut in die First National Bank eingefügt hatte und so schnell zur Filialleiterin aufgestiegen war. Zahlen ergaben Sinn, mit ihnen konnte man sauber rechnen. Sie waren eindeutig und unmissverständlich. Dieses Prinzip machte Justine sich für ihr gesamtes Leben zu eigen: Sie vertrat starke Überzeugungen und war äußerst penibel, das ließ nur wenig Raum für Leichtsinn und Spontanität.

Aus Gewohnheit schaute sie auf, als die gläserne Doppeltür der Bank aufschwang. Warren Saget trat ein, die Selbstsicherheit in Person, und kam direkt auf ihren Schreibtisch zu. Seit ihrer spontanen Heirat mit Seth hatte Justine ihn nicht mehr gesehen, und leider waren sie nicht gerade im Guten auseinandergegangen. Warren war wütend gewesen, als er erfuhr, dass sie Seth geheiratet hatte, und hatte sich zu einigen hässlichen und gemeinen Bemerkungen hinreißen lassen. Justine legte daher absolut keinen Wert auf eine neuerliche Konfrontation.

Sie erhob sich von ihrem Stuhl. Mit ihren eins achtundsiebzig und auf hochhackigen Schuhen war sie genauso groß wie Warren. Die glatten braunen Haare trug sie lang mit einem Mittelscheitel, genau wie in der Highschool, eine Frisur, die ihre Größe noch betonte. Indem sie aufstand, teilte sie ihm ohne Worte mit, dass sie sich nicht von ihm einschüchtern lassen würde und er nur auf ein kurzes Gespräch hoffen durfte. Auf keinen Fall würde sie ihm erlauben, ihr vor ihren Mitarbeitern und Kunden eine Szene zu machen. Zach Cox, ein Steuerberater aus der Stadt, nickte ihr zu, als er die Bank verließ. Justine erwiderte den Gruß, bevor sie ihre Aufmerksamkeit erneut auf Warren richtete. »Hallo, Warren.«

»Justine.« Ihre Blicke trafen sich, sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass ihre Befürchtungen unbegründet waren.

»Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen«, erklärte er. »Das bin ich dir schuldig.«

»Ja, das bist du.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und verlagerte ihr Gewicht vom linken auf den rechten Fuß, um Ungeduld zum Ausdruck zu bringen.

»Darf ich dich zum Essen einladen?«, fragte er und fügte hastig hinzu: »Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Ich habe einiges gesagt, was ich nicht hätte sagen dürfen, und bereue das jede Minute.«

»Ich halte es für keine gute Idee, wenn wir zusammen gesehen werden.«

In seinen braunen Augen stand Enttäuschung geschrieben. »Das verstehe ich«, entgegnete er, aber zu ihrer Verwunderung nahm er auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz.

Unsicher, womit sie als Nächstes zu rechnen hatte, ließ Justine sich ebenfalls auf ihren Stuhl sinken.

»Wie geht es Seth?«, fragte er. »Immer noch in Alaska?«

Sie nickte. »Er kommt erst in ein paar Wochen nach Hause.« In achtundzwanzig Tagen, um genau zu sein, wenn alles so lief wie geplant. Sie strich die Tage jeden Abend im Kalender durch, bevor sie allein und einsam zu Bett ging. Sie hatten nicht über ihre Zukunft gesprochen, denn dafür hatte ihnen die Zeit gefehlt. Eines aber war sicher: Justine gefiel der Gedanke, dass ihr Mann sie jedes Jahr für mehrere Monate allein ließ, überhaupt nicht. Schon jetzt grauste ihr vor der nächsten Fischfangsaison, die im Mai beginnen würde.

»Du siehst gut aus«, meinte Warren bewundernd.

»Danke«, erwiderte sie, ohne zu lächeln.

Er seufzte. »Ich weiß, du glaubst mir nicht, aber ich will wirklich nur, dass du glücklich wirst.«

Warren war bereits dreimal verheiratet gewesen und dreimal geschieden. Er hatte sie etliche Male gebeten, seine Frau zu werden, aber Justine hatte immer abgelehnt. Eine Hochzeit mit ihm war für sie nie infrage gekommen.

Als ihm ihr wachsendes Interesse an Seth auffiel, kaufte Warren einen exorbitant großen Diamantring in der Hoffnung, dass sie es sich daraufhin anders überlegen würde. Justine gab es nur ungern zu, aber die Größe des Diamanten hatte tatsächlich ihre Entschlossenheit für einen Moment ins Wanken gebracht. Sie wusste, wie gern Warren ihr den Ring auf den Finger gesteckt und sie damit zu seinem ausschließlichen Eigentum erklärt hätte. Aber jetzt war der Mann, der sie einst nach Strich und Faden verwöhnt hatte, verletzt und reumütig und bat sie um Entschuldigung für seine wütende Reaktion auf ihre Heirat.

»Na schön, vielleicht können wir gemeinsam essen gehen«, sagte Justine und wusste, dass sie sich richtig entschieden hatte, als Warrens Miene sich schlagartig aufhellte. Sie musste darüber lachen, wie er von seinem Stuhl hochschnellte, ohne sich zu bemühen, seinen Eifer zu kaschieren. Seth würde es nichts ausmachen, wenn sie sich gelegentlich zwanglos mit Warren traf, dessen war Justine sich sicher. Er respektierte ihre Unabhängigkeit und ihren gesunden Menschenverstand, und er wusste, dass sie sein Vertrauen niemals missbrauchen würde.

»Wohin möchtest du gehen? Du entscheidest.«

»Ins D. D. am Wasser«, schlug sie vor, wohl wissend, dass dies sein Lieblingsrestaurant war.

»Wunderbar.« Er lächelte beifällig.

Justine griff nach ihrer Handtasche und folgte ihm zur Tür, die Warren ihr aufhielt. »Gehen wir zu Fuß?«, fragte sie. Das Restaurant lag nur wenige Häuserblocks entfernt, aber normalerweise zog Warren es vor, mit dem Auto zu fahren.

»Selbstverständlich«, sagte er. Er gab sich wirklich Mühe, es ihr recht zu machen. Zu ihrer Überraschung unterließ er es sogar, wie üblich nach ihrer Hand zu greifen, und dafür war sie ihm dankbar. Ein wenig hatte sie Warren vermisst. Natürlich hatte er seine Fehler, aber man konnte sich gut mit ihm unterhalten, und er war intelligent. Außerdem hatten sie eine gemeinsame Geschichte, eine Geschichte, die mehr mit Freundschaft zu tun hatte als mit Liebe. Auf seine Weise liebte er sie, und sie mochte ihn, allerdings nicht so, wie sie Seth liebte. Zwischen ihrem Mann und ihr herrschte eine unbändige körperliche Anziehungskraft, aber in den paar Tagen, die ihnen geblieben waren, bevor er nach Alaska zurückkehren musste, hatten sie keine Zeit gehabt, sich groß zu unterhalten. Ihr intensives Verlangen nacheinander hatte sie beide überwältigt. Justine brauchte keine Worte, um zu wissen, was Seth für sie empfand. Er bewies es ihr jedes Mal aufs Neue, wenn sie sich liebten.

Jenes Wochenende kam ihr inzwischen wie ein Traum vor, und sie fragte sich, ob das, was sie miteinander gefunden hatten, wirklich real sein konnte.

Im Restaurant setzten Warren und Justine sich an einen Tisch im Freien. Lange würde die Terrasse nicht mehr geöffnet bleiben, denn der Herbst kündigte sich an. Warren entschied sich trotzdem dafür, draußen Platz zu nehmen, weil er wusste, wie sehr sie die Sonne genoss.

»Ich hoffe, wir können dennoch Freunde bleiben«, meinte er lächelnd, als die Kellnerin ihnen die Speisekarten reichte.

»Das wäre schön.« Erneut sagte sie sich, dass es ihrem Mann sicherlich nichts ausmachen würde, wenn sie gelegentlich mit Warren essen ginge. Seth neigte ebenso wenig zur Eifersucht wie sie.

Da Warren ihr Interesse für die Finanzwelt teilte, hatten sie eine Menge zu bereden. Ihre Unterhaltung floss unkompliziert und leicht dahin, und Justine ging es deutlich besser, als sie mit dem Essen fertig waren. Natürlich vermisste sie Seth immer noch schrecklich, fühlte sich aber nicht mehr annähernd so allein und verloren wie am Vormittag. Warren hatte sie nicht gebeten, zu ihm zurückzukehren, hatte keinerlei Druck auf sie ausgeübt. Nach dem Restaurantbesuch verabschiedeten sie sich vor der Bank, sie dankte ihm für das Essen, und er ging.

Später am Nachmittag fuhr sie nach getaner Arbeit zu ihrem Apartment zurück und war besserer Stimmung als die ganze Woche zuvor. Aber auf ihrem Weg zu den Briefkästen vor dem Wohnhaus zögerte sie einen Moment lang. Ihr war beklommen zumute bei dem Gedanken, dass sie gleich herausfinden würde, ob ein Brief von Seth gekommen war.

Sie brauchte die Bestätigung, dass er sie liebte, denn am meisten fürchtete sie, er könne ihre überstürzte Heirat bereuen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie den Briefkasten öffnete und die Post herausholte.

Kein Brief von Seth.

Sie schaute den Stapel aus Werbung, Postwurfsendungen und zwei Rechnungen noch einmal durch, um sicherzugehen. Wieder ein Freitagabend, den sie allein vor dem Fernseher verbringen würde … Natürlich konnte sie ihre Mutter anrufen, aber Olivia traf sich mit Jack Griffin, dem Chefredakteur des Cedar Cove Chronicle, und war vermutlich beschäftigt. Niedergeschlagen betrat Justine ihr Apartment, warf die Post auf den Küchentresen und entledigte sich ihrer Schuhe.

Vor ein paar Wochen hätte sie sich über einen Freitagabend, den sie ganz für sich allein hatte, gefreut, denn Warren hatte sie fast immer verplant. Aber das war jetzt unwichtig, und Selbstmitleid half ihr auch nicht weiter. Wenn sie Seth vermisste, dann sollte sie besser etwas tun, was ihr das Gefühl gab, ihm näher zu sein.

Sofort fiel ihr sein Segelboot ein. Die Silver Belle lag im Jachthafen, und Seth hatte ihr den Schlüssel überlassen. Wenn er nicht in Alaska fischte, wohnte er auf dem Boot. Jedenfalls hatte er das bis zu ihrer Heirat getan. Darüber, wo sie wohnen würden, wenn er zurückkam, hatten sie noch gar nicht gesprochen … Egal, das konnte warten, aber jetzt brauchte sie den Trost, in seinem Zuhause zu sein und seine Sachen um sich zu haben. Wenn sie dort die Nacht verbrachte, konnte sie in seinen Pyjama schlüpfen, sich in seine Decke wickeln und seinen Duft einatmen. Sie hatte schon mehrmals dort geschlafen und sich hinterher immer besser gefühlt.

Zufrieden mit ihrer Idee entledigte Justine sich ihrer Geschäftskleidung und zog Jeans und ein Sweatshirt an. Dann packte sie einen Roman ein, prüfte, ob sie genug Musik auf ihrem Handy hatte und suchte frische Kleidung für den nächsten Morgen heraus. Auf dem Weg zum Jachthafen würde sie sich noch etwas zum Abendessen holen.

Sie stand schon auf dem Parkplatz, als sie bemerkte, dass sie ihr Handy vergessen hatte. Wenn Seth anrief, dann auf dieser Nummer. Also eilte sie zur Wohnung zurück, schloss auf und vernahm beim Öffnen der Tür den gedämpften Klingelton ihres Handys. Hastig eilte sie zu ihrem Telefon hinüber und nahm den Anruf an.

»Hallo, hallo!«, rief sie. »Seth? Seth, bist du das?«

Nur das Freizeichen war zu hören. Sie schaute nach der Anrufernummer, doch die war ihr unbekannt. Die Vorwahl gehörte jedoch zu Alaska. Also rief sie zurück und ließ das Telefon zehnmal klingeln, bevor sie schließlich aufgab.

Frustriert sank Justine auf die Sofakante und raufte sich die Haare. Das war Seth gewesen. Er musste es gewesen sein. Vermutlich hatte er sie von einem öffentlichen Fernsprecher im Hafen angerufen.

Da hatte sie mal eine Minute ihr Handy nicht dabei, und schon verpasste sie einen Anruf von ihrem Mann.

»Ich bin wieder zu Hause.« Zach Cox öffnete die Hintertür, die von der Garage ins Haus führte, und betrat die Küche. Angewidert stellte er fest, was für eine Unordnung hier herrschte: In der Spüle stapelte sich das schmutzige Frühstücksgeschirr, und eine angebrochene Milchpackung stand auf dem Tresen.

»Wer hat die Milch draußen stehen lassen?«, fragte er.

Seine beiden Kinder zogen es vor, ihn nicht zu hören. Die fünfzehnjährige Allison saß am Computer im Arbeitszimmer und surfte im Internet, während der neunjährige Eddie im Wohnzimmer bäuchlings auf dem Teppich vor dem Fernseher lag und sich irgendeine geistlose Sendung anschaute.

»Wo ist Mom?«, fragte Zach seinen Sohn.

Eddie hob den rechten Arm und deutete wortlos zum Nähzimmer hinüber.

Auf dem Weg ins Bad kam Zach am Hobbyraum seiner Frau vorbei. »Hi, Rosie, ich bin zu Hause.« Seit siebzehn Jahren waren sie nun miteinander verheiratet. »Was gibt es zum Abendessen?«

»Oh, hallo, Schatz.« Seine Frau blickte kurz von der Nähmaschine auf. »Wie spät ist es denn?«

»Sechs«, murmelte er. Mittlerweile konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal nach Hause gekommen war und das Essen bereits im Ofen gewartet hatte. »Die Milch stand schon wieder nicht im Kühlschrank«, sagte er. Wahrscheinlich musste man sie wegschütten, nachdem sie sechs Stunden lang der Zimmertemperatur ausgesetzt gewesen war.

»Eddie hat sich nach der Schule eine Schale Müsli gemacht.«

Dann war die Milch vielleicht doch noch zu gebrauchen.

Rosie richtete den glänzenden schwarzen Stoff aus, ließ die Nähmaschine rattern und entfernte beim Nähen die Stecknadeln.

»Was nähst du da?«

»Ein Halloween-Kostüm«, murmelte sie, vier oder fünf Stecknadeln zwischen den Lippen. »Übrigens …« Sie hielt inne und legte die Nadeln weg. »An Eddies Schule ist heute Elternabend. Gehst du hin?«

»Elternabend? Kannst du nicht hingehen?«

»Nein«, lautete ihre nachdrückliche Antwort. »Ich habe heute Abend Chorprobe.«

»Oh.« Der Tag im Büro war anstrengend gewesen, und eigentlich hatte er gehofft, sich nun entspannen zu können. »Was gibt es zum Abendessen?«, wiederholte er seine Frage.

Seine Frau zuckte mit den Schultern. »Bestell uns Pizza, okay?«

Das wäre das dritte Mal in den letzten zwei Wochen. »Nicht schon wieder.«

»Hat der neue Chinese nicht auch einen Lieferdienst?«

»Nein.« Das wusste er zufällig genau, denn Janice Lamond, eine erst kürzlich eingestellte Mitarbeiterin, hatte für ihn heute Krabben süß-sauer dort geholt. »Außerdem hatte ich schon Chinesisch zum Mittagessen.«

»Was möchtest du dann?«, fragte Rosie, immer noch mit dem Umhang beschäftigt, der zu dem Harry-Potter-Kostüm gehörte, das Eddie sich gewünscht hatte.

»Hackbraten, Stampfkartoffeln, gegrillten Maiskolben und einen frischen Salat.«

Rosie runzelte die Stirn. »Ich glaube, im Tiefkühlschrank liegt ein Hackbraten.«

»Selbst gemachten Hackbraten«, präzisierte Zach.

»Tut mir leid, nicht heute Abend.«

»Wann denn dann?« Inzwischen war er gereizt. Es war doch nicht zu viel verlangt, dass seine Frau das Essen fertig hatte, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, oder? Als Steuerberater verdiente Zach genug Geld, sodass Rosie zu Hause bei den Kindern bleiben konnte. Genau das hatten sie sich beide gewünscht, und für diese Lösung hatten sie sich gemeinsam entschieden, als sie ihre Familie gründeten.

Ursprünglich war Zach davon ausgegangen, dass Rosie eine Arbeit in seinem Büro annehmen würde, sobald Allison und Eddie zur Schule gingen. Die Kanzlei Smith, Cox and Wright suchte häufig nach neuen Mitarbeitern. Rosie hatte immer vorgehabt, wieder eine bezahlte Stelle anzutreten, aber irgendwie war es nie dazu gekommen. In der Schule wurden ehrenamtliche Helfer gebraucht. Als Allison acht oder neun war, ging sie zu den Pfadfindern, und jetzt war Eddie ebenfalls Mitglied dort. Hinzu kamen Sportvereine, nachmittägliche Veranstaltungen, Tanzunterricht … Schon bald wurde klar, dass Rosie nicht mehr Zeit haben würde, wenn die Kinder älter wären. Da sie beide davon überzeugt waren, dass die Bedürfnisse der Kinder Priorität haben mussten, hatten sie schließlich entschieden, dass Rosie nicht wieder ins Berufsleben einsteigen würde.

»Ich bin müde«, erklärte Zach, »und ich habe Hunger. Ist es zu viel verlangt, wenn ich ein Abendessen mit meiner Familie erwarte?«

Rosie holte tief Luft, als hätte sie Mühe, nicht die Geduld zu verlieren. »Eddie hat heute Elternabend. Allison begleitet mich nachher zur Jugendchorprobe, und dieses Halloween-Kostüm muss vor Freitag fertig sein. Eddie braucht es für die Feier seiner Fußballmannschaft. Ich habe auch nur zwei Hände.«

Er konnte hören, dass seine Frau verärgert war, und sah davon ab, sie zu fragen, was sie eigentlich den ganzen Tag getan hatte.

Rosie funkelte ihn zornig an. »Wenn du willst, dass ich jetzt einfach alles stehen und liegen lasse, um dir Essen zu kochen, tue ich das, aber du solltest wissen, dass ich das tatsächlich für etwas unverschämt halte.«

Er dachte über ihre Worte nach. »Na schön«, sagte er schließlich geschlagen und ein bisschen schuldbewusst. »Ich bestelle uns Pizza.«

»Denk dran – keine grüne Paprika«, erwiderte sie und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kostüm zu.

»Zufällig mag ich grüne Paprika«, grummelte er, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass Rosie ihn hören konnte.

»Eddie und Allison verabscheuen sie – sie mögen lieber schwarze Oliven. Das weißt du. Jetzt mach doch nicht so ein Theater.«

»In Ordnung. Ich bestelle Salamipizza mit Oliven auf der einen und grüner Paprika auf der anderen Hälfte.«

Seine Frau verdrehte die Augen. »Ich stehe auch nicht sonderlich auf grüne Paprika, wie du weißt.«

Also war er nicht nur unverschämt, sondern auch noch egoistisch. Na schön, wenigstens war er beruflich ausgesprochen erfolgreich. »Also Salami mit schwarzen Oliven«, gab er nach.

»Großartig.« Er ging in die Küche, griff zum Telefon – die Nummer von Pizza Pete kannte er auswendig –, gab die Bestellung auf und wandte sich zum Schlafzimmer.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Rosie, als er am Nähzimmer vorbeikam.

»Duschen und mich umziehen.«

»Muss das sein?«, murmelte sie.

»Was ist daran falsch?«

Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Ich dachte, du könntest im Anzug zum Elternabend gehen.«

»Warum?« Er freute sich schon den ganzen Nachmittag darauf, endlich die Krawatte ablegen zu können.

»Es macht einen besseren Eindruck, wenn du dich Eddies Lehrerin im Anzug vorstellst. Dann weiß Mrs. Vetter, dass du ein Geschäftsmann bist«, meinte sie mit einem gewinnenden Lächeln, fegte eine Schuppe von seiner Schulter und strich eine Knitterfalte glatt. »Du siehst so gut aus in deinem Anzug«, fügte sie lächelnd hinzu. »Aber vielleicht solltest du dich rasieren.«

Zach fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und spürte kratzende Bartstoppeln. Sie hatte recht. »Wenn ich dusche und mich rasiere, dann ziehe ich diesen Anzug aus.«

Rosie legte die Stirn in Falten. »Ich verstehe nicht, warum du dich so anstellen musst.«

»Wenn ich ab und an ein richtiges Abendessen bekommen würde, wäre ich vielleicht eher geneigt, deinen Bitten nachzugeben«, erklärte er kurzangebunden. Unwillkürlich fiel ihm wieder ein, wie nett die Mittagspause mit Janice gewesen war. Sie hatte ihre Stelle am Ersten des Monats angetreten und sich, soweit Zach es beurteilen konnte, bereits als wertvolle Mitarbeiterin erwiesen. Sie lernte schnell, war kompetent und kooperativ. Schon zweimal hatte sie keine Mühen gescheut, damit er das Gericht zum Mittagessen bekam, das er sich wünschte. So auch heute, als sie darauf bestanden hatte, zu Mr. Wok zu fahren und Krabben süß-sauer für ihn zu holen.

Im Schlafzimmer setzte er sich ans Fußende des Doppelbettes, zog seine Anzugjacke aus und legte sie aufs Bett. Dann knöpfte er die Manschetten seines Hemdes auf, rollte die Ärmel hoch und ging ins Bad.

Er ließ gerade heißes Wasser einlaufen, um sich zu rasieren, als Rosie hereinkam. »Hast du genug Kleingeld für den Pizzaboten?«

»Ich glaube schon. Schau in meiner Brieftasche nach.«

Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. »Tut mir leid wegen des Abendessens«, sagte sie.

»Du hast viel zu tun.«

»Heute war es der reinste Wahnsinn«, erwiderte sie und setzte sich auf die Kante des Whirlpools. Den hatten sie sich geleistet, als das Haus vor drei Jahren gebaut wurde, und da es sich um eine Spezialanfertigung handelte, hatte es Monate gedauert, bis er geliefert wurde. Rosie hatte ihn sich so sehr gewünscht, dass sie dafür auf Fliesen für den Fußboden im Flur und in der Küche verzichtet hatte. Zach hätte lieber geflieste Böden gehabt, aber er hatte seiner Frau diesen kleinen Luxus nicht ausschlagen können. Allerdings fragte er sich, wann Rosie wohl das letzte Mal in den Whirlpool gestiegen war, denn genau wie er sprang sie immer nur rasch unter die Dusche, weil eine Verpflichtung die andere jagte.

Sie erzählte von ihrem Tag, von Ausschusssitzungen, von Allisons Zahnarzttermin und irgendeiner Bibliotheksfunktion, die sie freiwillig übernommen hatte. »Ich begreife nicht, wie berufstätige Mütter das alles bewältigen.«

»Ich auch nicht«, sagte Zach, obwohl er den Verdacht hegte, dass die Frauen seiner beiden Kanzleipartner abends ein anständiges Essen auf den Tisch brachten und es trotzdem schafften, vierzig Stunden pro Woche zu arbeiten. Er vermutete auch, dass diese Frauen einfach besser organisiert waren als Rosie.

»Morgen Abend koche ich ein Abendessen«, versprach sie.

Zach verteilte Rasierschaum auf seinem Gesicht. »Hackbraten mit Stampfkartoffeln?« Allzu große Hoffnung hegte er nicht, aber das Versprechen hörte sich gut an.

»Was immer du möchtest, mein Großer.«

Trotz seiner Verärgerung grinste er. Vielleicht stellte er sich ja wirklich nur an.

2. Kapitel

Die Kreditkarte gehörte vermutlich der Frau, die am letzten Montag an einem der anderen Tische im Restaurant gesessen hatte, entschied Cliff Harding. Sie war ihm aufgefallen. Er hätte sie gar nicht übersehen können, denn an diesem Nachmittag waren er und sie die einzigen Gäste im Pancake Palace gewesen. Der Mittagsandrang war längst vorbei, und fürs Abendessen war es noch zu früh.

Sie war attraktiv und etwa in seinem Alter, wirkte aber abgelenkt und geistesabwesend. Vermutlich hatte sie ihn überhaupt nicht wahrgenommen. Sie hatten beide fast gleichzeitig ihre Rechnung bezahlt, und dabei musste es passiert sein. Seine Rechnung war korrekt, aber er hatte Grace Shermans Kreditkarte in seine Brieftasche zurückgesteckt. Demnach musste sie wohl seine Karte haben.

Die ganze Woche hatte er nicht bemerkt, dass er die Kreditkarte einer anderen Person bei sich trug. Wenn nicht eine aufmerksame Verkäuferin in der Apotheke ihn darauf hingewiesen hätte, wäre es ihm vermutlich noch viel später aufgefallen.

Sobald er zu Hause war, suchte er Grace Sherman im Telefonbuch – vergebens. Immerhin fand er einen Eintrag für D. und G. Sherman in der Rosewood Lane 204, Cedar Cove. Die Stimme auf dem Anrufbeantworter war die einer Frau, also hinterließ er eine Nachricht und wartete auf ihren Rückruf. Bisher hatte sich noch niemand gemeldet, und in ihm keimte der Verdacht, die falsche Mrs. Sherman kontaktiert zu haben. Wahrscheinlich sollte er die fremde Karte einfach dem Geschäftsführer des Pancake Palace aushändigen und Ersatz für seine eigene anfordern.

In letzter Zeit hatte Cliff jede Menge Gründe gefunden, um nach Cedar Cove zu fahren. Im Juni hatte Charlotte Jefferson ihn wegen seines Großvaters angerufen, den er nie kennengelernt hatte. Cliff hatte nicht viel für Tom Harding übrig, mochte er auch der berühmte Jodelnde Cowboy gewesen sein, der seit den späten Dreißigern bis Mitte der Fünfzigerjahre berühmt gewesen war. Er hatte Cliffs Vater und Großmutter im Stich gelassen, um berühmt zu werden. Gegen Ende seines Lebens musste er bereut haben, welches Leid er seiner Familie zugefügt hatte, aber da war es zu spät. Cliff war sein einziger Enkel, und wenn er Charlotte Jefferson Glauben schenkte, dann hatte der alte Mann Kontakt zu ihm aufnehmen wollen.

Charlotte musste etwa Mitte siebzig sein, aber sie besaß eine Menge Mumm. Sie hatte seinen Großvater kennengelernt, während sie als ehrenamtliche Helferin im Cedar-Cove-Rehazentrum arbeitete. Offenbar hatte sie den alten Mann gemocht, denn sie sagte, sie seien Freunde gewesen.

Der alte Tom hatte nach einem schweren Schlaganfall nicht mehr sprechen können, aber anscheinend war es Charlotte dennoch gelungen, mit ihm zu kommunizieren. Sie erzählte Cliff, Tom habe ihr kurz vor seinem Tod einen Schlüssel anvertraut. Mithilfe einiger Nachforschungen fand sie seinen persönlichen Nachlass in einem Lagerraum und kam dabei zu dem Schluss, dass Tom der ehemalige Film- und Fernseh-Cowboy Tom Houston gewesen war. Als einziger noch lebender Nachkomme hatte Cliff ein Anrecht auf die Erinnerungsstücke.

Zunächst hatte Cliff nichts mit dem alten Mann zu tun haben wollen, aber Charlotte ließ das nicht gelten. Sie hatte sich vorgenommen, Toms Sachen, zu denen Plakate, Drehbücher und sein sechsschüssiger Revolver gehörten, in Cliffs Besitz zu übermitteln, ob er sie nun haben wollte oder nicht.

Nachdem er Charlotte persönlich kennengelernt hatte, konnte Cliff verstehen, warum sein Großvater sich in Gegenwart der älteren Dame so wohlgefühlt haben musste, und im Laufe des Sommers hatten sie rasch Freundschaft geschlossen.

Inzwischen besuchte er sie regelmäßig und rief gelegentlich an. Sie schien seine Besuche zu genießen und prahlte jedes Mal stolz mit ihren zwei Kindern und ihren Enkeln, wenn sie einander trafen. Ihr Sohn William lebte irgendwo im Süden, wenn er sich recht erinnerte, und ihre Tochter namens Olivia war Familienrichterin in Cedar Cove. Cliff hatte sie noch nicht kennengelernt, fragte sich aber, ob eine Frau jemals dem gerecht werden konnte, was ihre Mutter über sie erzählte.

Inzwischen hatte er Zeit gehabt, sich mit den Dingen zu befassen, die Charlotte für ihn aus dem Lagerraum gerettet hatte, und mittlerweile wusste er zu schätzen, was sie getan hatte. Zum Dank ließ er eines der Filmplakate einrahmen, um es ihr zu schenken. Schließlich hatte Charlotte seinen Großvater wirklich gemocht, und das schon, bevor sie in ihm den Jodelnden Cowboy erkannt hatte.

Cliff parkte seinen Truck auf dem steilen Hügel über der Bucht und sicherte ihn zusätzlich davor, wegzurollen, indem er das Steuer scharf einschlug. Das sperrige Filmplakat in den Händen stieg er die wenigen Stufen hinauf zu dem großen Haus der Familie. Wie immer lag Harry, ihr Wachkater, zusammengerollt auf dem Sims des Wohnzimmerfensters. Noch bevor Cliff klingeln konnte, hörte er, wie Charlotte die Türschlösser öffnete.

Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, zu zählen, wie viele Schlösser Charlotte hatte anbringen lassen, aber er hegte den Verdacht, dass selbst Houdini nicht ins Haus gelangen könnte. Was sie so Wertvolles im Inneren aufbewahren mochte, konnte er sich nicht vorstellen, aber er wusste, dass jeder wertvolle Gegenstand vermutlich zwischen ihrer Unterwäsche versteckt war. Außerdem war ihm klar, dass Charlotte ihn im Laufe des Gesprächs vermutlich nach seiner Verdauung fragen würde.

»Cliff«, begrüßte sie ihn fröhlich und entriegelte das Fliegengitter, erst ein Schloss, dann noch eines. »Was für eine schöne Überraschung. Ich wünschte, du hättest Bescheid gesagt, dass du vorbeischaust. Ich hätte Kekse für dich gebacken.«

Genau das war der Grund, warum er nicht vorher angerufen hatte. Die alte Dame hatte sich offenbar vorgenommen, ihn zu mästen, und dabei brauchte Cliff nun wahrlich keine Hilfe. Er hatte schon ein Bäuchlein, das sich im mittleren Alter ausgebildet hatte und das er unbedingt loswerden wollte. Inzwischen hatten seine Bemühungen so weit gefruchtet, dass er seit Anfang des Jahres fünf Kilo abgenommen hatte, obwohl er hätte schwören können, dass es leichter gewesen wäre, Felsen abzumeißeln. Bis zu seinem Ruhestand hatte er sich nie Gedanken über sein Gewicht machen müssen.

»Ich habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht«, sagte er, als sie das Fliegengitter für ihn aufschwang. Harry hob den Kopf, musterte ihn kurz und kam offenbar zu dem Schluss, dass Cliff ein Freund war. Also schloss der Kater seine Augen wieder und schlief weiter.

»Setz dich, ich mache uns einen Tee«, meinte Charlotte. »Ich habe noch etwas Sandkuchen da.«

»Nein, danke, mach dir keine Umstände«, versuchte er abzuwehren, obwohl er wusste, dass er wahrscheinlich nichts damit erreichen würde. Er hatte sowieso vor, nur ein paar Minuten zu bleiben, anschließend wollte er Grace Shermans Kreditkarte im Pancake Palace abgeben. Vielleicht lohnte es sich, Charlotte zu fragen, ob sie Grace kannte, denn die ältere Frau schien so ziemlich jeden in Cedar Cove zu kennen.

»Du musst doch Hunger haben«, erwiderte Charlotte leicht gekränkt, weil er ihr Angebot abgelehnt hatte.

»Willst du dein Geschenk nicht auspacken?« Es war nicht in Geschenkpapier gewickelt, aber die Mitarbeiter des Ladens, in dem er das Plakat hatte rahmen lassen, hatten es in einem Pappkarton verstaut.

Charlotte schaute ihn fragend an. »Das ist für mich?«

Grinsend nickte er, erfreut, sie offenbar ein wenig aus der Fassung gebracht zu haben. Sie gehörte zu den Menschen, die stets freigebig zu anderen waren, sich aber nicht wohlfühlten, wenn ihnen etwas geschenkt wurde.

Sie öffnete den Karton, Cliff half ihr, das gerahmte Plakat herauszuholen, und hielt es hoch. Als ihr klar wurde, was er ihr überreichen wollte, schnappte sie nach Luft, schlug eine Hand vor den Mund, und ihre grauen Augen füllten sich mit Tränen.

»Oh, Cliff, das hättest du nicht tun sollen«, sagte sie, heftig gegen die Tränen anblinzelnd. »Das ist viel zu wertvoll, um es mir zu geben.«

»Unfug. Ich bin sicher, dass mein Großvater gewollt hätte, dass du es bekommst. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich nichts von dem, was er hinterlassen hat.« Außerdem hätte er auch nichts über seinen Großvater erfahren, abgesehen von dem, was sein Vater ihm erzählt hatte. Inzwischen sah er in Tom mehr als einen egoistischen, ruhmsüchtigen Mistkerl – er erkannte den reumütigen alten Mann, der gern die Zeit zurückgedreht und andere Entscheidungen getroffen hätte.

»Du warst aber auch eine harte Nuss«, erinnerte Charlotte ihn stirnrunzelnd.

Da musste er ihr recht geben. Sie hatte hartnäckig immer wieder angerufen und ihm geschrieben, und Cliff vermutete, wenn er nicht irgendwann nachgegeben und sie aufgesucht hätte, hätte sie ihm die Sachen persönlich nach Hause gebracht und dafür eine Fahrt auf der Schnellstraße in einem Auto auf sich genommen, das seines Erachtens noch nie auf mehr als fünfundsechzig Stundenkilometer beschleunigt worden war.

Charlotte zog ein spitzengesäumtes Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und putzte sich lautstark die Nase. »Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Soll ich es für dich aufhängen?«

»Oh ja, bitte.«

Darauf war er vorbereitet, denn er war davon ausgegangen, dass sie dafür seine Hilfe benötigen würde.

»Hältst du es für unpassend, wenn es in meinem Schlafzimmer hängt?«, fragte sie.

»Ich finde, das ist ein sehr guter Platz für das Bild«, beruhigte er sie. Dann folgte er ihr durch den langen Flur zum Schlafzimmer am anderen Ende des Hauses. Das Doppelbett an der Wand hatte ein schlichtes geschwungenes Kopfteil. Ihm gegenüber standen eine altmodische Kommode mit großem Spiegel sowie in einer Ecke ein bequemer Sessel mit abgewetztem grünen Polster und ein Tischchen mit einer Leselampe. Wahrscheinlich liest sie vor allem hier, vermutete Cliff, denn auf dem Tischchen stapelten sich Bücher.

»Was hältst du von der Stelle?«, fragte Charlotte und deutete auf eine freie Stelle an der weißen Wand gegenüber vom Bett.

Auf der Kommode standen etliche Bilder, aber Cliff hatte keine Gelegenheit, sie näher zu betrachten. Eines stach ihm beim Vorbeigehen jedoch ins Auge. Charlotte bemerkte, woran sein Blick hängengeblieben war. »Das ist Olivia im Alter von sechs Monaten«, sagte sie, auf das Foto eines Babys deutend. »Sie war damals schon ein außergewöhnliches Kind.«

Er verkniff sich ein Lächeln. Die sechs Monate alte Olivia nuckelte an ihrem großen Zeh und zeigte ein zahnloses Grinsen. Was die Richterin wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass er dieses Foto gesehen hatte?

»Mom?« Als hätte das Foto Charlottes Tochter herbeigezaubert, erklang plötzlich die Stimme einer Frau aus dem Wohnzimmer. »Alles in Ordnung mit dir, Mom? Die Haustür war offen und …«

»Du liebes bisschen …« Charlotte rannte aus dem Schlafzimmer. »Olivia?«

»Die Tür war nicht abgeschlossen, und du lässt sie nie …« Olivia, die inzwischen den Flur erreicht hatte, brach mitten im Satz ab, als Cliff aus dem Schlafzimmer trat. Sie starrte ihre Mutter an und dann ihn.

»Hallo«, sagte er, amüsiert über ihre Verblüffung. Olivia war zu einer äußerst attraktiven Frau herangewachsen. Wahrscheinlich war es keine gute Idee, sie jetzt zu fragen, ob sie immer noch gelenkig genug war, um ihren Fuß zum Mund zu führen, aber bei dem Gedanken musste er unwillkürlich grinsen.

Dass die beiden Mutter und Tochter waren, erkannte man vor allem an ihren Augen, obwohl die von Olivia braun waren. Hätte er nicht bereits gewusst, dass Olivia Richterin war, hätte er vermutet, dass sie in verantwortungsvoller Position arbeitete, denn ihre würdevolle Haltung ließ darauf schließen. Sie war mittelgroß, etwa in seinem Alter, und ihre Haare waren glänzend braun.

»Ich bin Cliff Harding«, stellte er sich vor und streckte ihr die Hand entgegen.

»Toms Enkelsohn«, erläuterte Charlotte. »Er wollte gerade ein Filmplakat des Jodelnden Cowboys für mich aufhängen.«

Stirnrunzelnd schüttelte Olivia ihm die Hand. »Du liebe Güte, Sie sind Cliff Harding!«

»Das sagte ich gerade«, murmelte Charlotte.

»Er hat die Kreditkarte von Grace.«

Cliff war eher der Ansicht, dass Grace seine Kreditkarte hatte. »Sie kennen Grace Sherman?«

Olivia nickte. »Wir sind seit Jahren befreundet. Sie wollte Sie heute Abend anrufen.«

Hilflos wanderte Charlottes Blick zwischen ihnen beiden hin und her, als hätte sie irgendwie die Pointe eines guten Witzes verpasst.

So gut er konnte, erklärte Cliff die Situation.

»Am besten kümmerst du dich sofort darum«, meinte Charlotte. »Ich benutze ja keine Kreditkarten. Da fühle ich mich, als würde ich Spielgeld mit mir herumtragen.«

»Ich hatte gehofft, meine eigene Karte zurückzubekommen. Glauben Sie, ich könnte einfach bei Grace vorbeischauen?«, wandte Cliff sich wieder an Olivia.

»Sie arbeitet in der Stadtbücherei«, erklärte Charlotte. »Du könntest deinen Truck hier stehen lassen und zu Fuß hingehen. Es sind nur ein paar Häuserblocks, und ich glaube nicht, dass uns in der nächsten Zeit noch viele so sonnige Nachmittage beschert sind.«

»Ich denke auch, dass Sie sich mit Grace treffen sollten«, fügte Olivia hinzu und wandte dabei den Blick ab, sodass Cliff sich fragte, ob ihm jetzt irgendetwas entgangen war.

»Oh ja«, stimmte Charlotte sofort zu. »Olivia hat recht, du solltest Grace kennenlernen. Sie kann einen Freund gebrauchen nach dem, was Dan ihr angetan hat.«

»Dan«, erklärte Olivia rasch, »ist ihr Mann. Beziehungsweise, er war ihr Mann. Er ist Anfang des Jahres spurlos verschwunden.«

Daraufhin begannen die beiden Frauen über Dan zu reden, darüber zu spekulieren, wo er wohl stecken mochte, und über ihre Vermutung, dass er Grace verlassen und mit einer anderen Frau durchgebrannt war.

»Grace hat letzten Montag ihre Scheidung eingereicht«, erklärte Olivia ihm.

Am selben Tag also, als die Kreditkarten vertauscht worden waren. Kein Wunder, dass sie geistesabwesend und in Gedanken versunken gewirkt hatte. Kein Wunder, dass sie allein gewesen war. Obwohl sie Cliff wohl selbst inmitten einer Menschenmenge aufgefallen wäre.

Grace Sherman war wie … wie eine Gebirgsblume. Normalerweise war er nicht poetisch veranlagt und hätte auch nicht sagen können, warum sich ihm dieser Vergleich aufdrängte, aber genau dieses Bild hatte er vor Augen. Eine Wildblume, die trotz Kälte, Wind und kargem Boden blühte. Er hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie faszinierte ihn, und er hatte sich Gedanken über sie gemacht. Es war lange, sehr lange her, dass er eine Frau so angeschaut hatte wie Grace.

»Ich denke, ich werde zu Fuß zur Stadtbücherei gehen«, murmelte er.

»Gute Idee«, meinte Olivia fröhlich.

Charlottes Tochter schien darauf bedacht zu sein, ihn loszuschicken. Vielleicht wollte sie ihn dazu ermuntern, ihre Freundin kennenzulernen. Wenn dem so war, war es unnötig. Cliff brauchte keine Aufforderung. Er verabschiedete sich von Charlotte und Olivia, verließ das Haus und schlenderte die steile Straße hinunter in Richtung Wasser. Die Stadtbücherei hatte er noch nie besucht, und er blieb davor stehen, um die Wandgemälde an der Fassade zu bewundern. In der Stadt gab es mehrere weitere Wandgemälde, die er schon oft staunend betrachtet hatte.

Grace Sherman stand am Empfangstresen, als Cliff die Bücherei betrat.

Sie blickte auf, als er sich dem Tresen näherte. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich bin Cliff Harding«, sagte er und wartete auf ihre Reaktion.

Offensichtlich brauchte sie einen Moment, um seinen Namen einzuordnen. »Oh, hallo … Sie sind derjenige, der meine Kreditkarte hat, und ich habe Ihre. Wenn Sie einen Moment warten wollen – ich hole meine Handtasche.« Sie atmete tief ein. »Ich wollte Sie heute Abend anrufen.«

»Das hat Olivia mir gesagt.«

»Sie kennen Olivia?«

»Wir sind uns heute Nachmittag zum ersten Mal begegnet. Bei Charlotte.«

Wieder zögerte sie, als bräuchte sie Zeit, den Zusammenhang zu verstehen. »Ach so, Sie sind Tom Hardings Enkel. Charlotte hat Sie schon oft erwähnt. Tut mir leid, ich habe nicht sofort begriffen, wer Sie sind. Entschuldigen Sie mich einen Moment, bitte.«

»Natürlich.«

Sie verschwand in einem kleinen Büro direkt hinter dem Tresen und kam mit ihrer Handtasche zurück. Seine Kreditkarte steckte in einem kleinen weißen Umschlag. Sie tauschten die Karten aus, lachten über das, was passiert war, und dann standen sie da und schauten einander ein paar Sekunden lang an, schweigend und verlegen.

Jetzt oder nie, entschied Cliff. »Ich dachte gerade, wir könnten vielleicht irgendwann bei einem Abendessen darüber lachen.« Es war Jahre her, dass er eine Frau um eine Verabredung gebeten hatte, und er fühlte sich ein wenig unsicher. Als sie nicht reagierte, glaubte er schon, er habe es vermasselt.

»Abendessen?«, fragte Grace schließlich. »Zu zweit?«

»Ich bin seit fünf Jahren geschieden«, erläuterte Cliff hastig. »Ich bin nicht mehr mit einer Frau ausgegangen, seit meine Frau mich verlassen hat, und … nun ja, ich glaube, vielleicht wird es Zeit, das wieder zu tun.«

»Verstehe«, sagte sie und starrte ihn weiter an. »Ich meine …« Sie stockte, holte hörbar Luft. »Danke.« Ihre Hand wanderte zu ihrer Kehle. »Sie wissen nicht, wie sehr es mir schmeichelt, dass Sie mich darum bitten. Leider bin ich aber noch nicht so weit.«

Das war eine faire Antwort. »Wann, glauben Sie, sind Sie möglicherweise so weit?«

»Ich … weiß es nicht. Ich habe vor Kurzem die Scheidung eingereicht. Es wäre nicht richtig von mir, mich mit jemandem zu verabreden, bevor ich von Gesetzes wegen frei bin.« Sie wandte den Blick ab. »Ich nehme an, Sie haben gehört, was mein Mann getan hat?«

Cliff nickte langsam. »Ich werde warten, Grace, und ich bin ein geduldiger Mann.«

Ihre Blicke trafen sich, und er sah, wie sich langsam ein Lächeln in ihre Augen stahl. Das hoffte er noch einmal zu sehen, und zwar bald.

»Sag mir lieber, was los ist«, meinte Jack. Die Füße hatte er auf den Hocker vor Olivias großem Fernseher hochgelegt. Fast jeden Dienstagabend trafen sie sich. Heute hatte Olivia ihn eingeladen, und nun schauten sie gemeinsam The New Detective auf dem Discovery Channel. Sie waren vor Kurzem dazu übergegangen, abwechselnd für das Essen zu sorgen. Diese Woche war Olivia an der Reihe, und sie hatte eine Hähnchenpfanne zubereitet, die preisverdächtig war. Er brachte meist etwas aus dem Restaurant mit.

»Wie kommst du darauf, dass etwas los ist?«, fragte sie.

»Du bist so schweigsam heute Abend.«

Olivia seufzte und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Es war ein Glückstag für ihn gewesen, jener Tag vor neun Monaten, an dem er morgens ihren Gerichtssaal betreten hatte. Als neuer Chefredakteur der Lokalzeitung einer für ihn damals noch fremden Stadt hatte er das Familiengericht von Cedar Cove besucht, um sich Scheidungsprozesse anzusehen. Seine eigene Erfahrung hatte ihn abgestumpft, und er hatte erwartet, das zu hören, was er jedes Mal hörte.

Aber Olivia hatte ihn überrascht. Ein junges Paar stand vor ihrem Richtertisch, Ian und Cecilia Randall in Begleitung ihrer Anwälte. Wieder eine Scheidung, wieder zwei Menschen mit gebrochenen Herzen, die so taten, als mache ihnen das gar nichts aus. Dabei war beiden der Schmerz überdeutlich anzumerken. Jack konnte das sehen, und er fragte sich, ob auch andere es sahen. Er ging davon aus, dass alle, die mit dem Verfahren zu tun hatten, inzwischen blind geworden waren für den Trümmerhaufen, der von einer Beziehung übrig geblieben war, wenn Eheleute vor dem Scheidungsrichter standen. Blind dafür, dass den Gerichtssaal geschundene und verletzte Paare betraten, die durch den Schmerz, den sie einander wieder und wieder zugefügt hatten, gebrochen waren.

Die Randalls hatten eine Tochter im Säuglingsalter verloren und baten Olivia, ihren Ehevertrag zu annullieren, damit sie die Scheidung einreichen konnten. Olivia wies ihren Antrag ab und verweigerte ihnen damit im Grunde die Scheidung. Jacks Zeitungskolumne, die an jenem Wochenende erschien, war ein Loblied auf ihren Mut.

Olivia wusste die unerwünschte Aufmerksamkeit, die er auf sie gelenkt hatte, nicht zu schätzen, aber sie hatte ihm vergeben. In den kommenden Monaten hatte er sie immer besser kennengelernt. Sie waren einander nähergekommen, und in ihm keimte die Hoffnung, dass diese Beziehung eine Zukunft hatte.

»Sagst du mir nun, was los ist?«, hakte er nach und fragte sich dabei, ob er mehr in ihr Schweigen hineininterpretierte, als er sollte. Auch er hatte an diesem Nachmittag beunruhigende Nachrichten erhalten, war aber noch nicht bereit, ihr davon zu erzählen.

»Ich mache mir Sorgen um Justine«, gab Olivia nach kurzem Schweigen zu.

»Warum das?« Soweit Jack wusste, war Olivias Tochter unsterblich verliebt in den Fischer, den sie geheiratet hatte.

»Sie wurde letzten Freitag mit Warren Saget gesehen – bei einem gemeinsamen Mittagessen.«

»Warren?« Jack hatte nie verstanden, was Olivias Tochter in dem Bauunternehmer sah. Nun, da Justine ihren Seth geheiratet hatte, hatte er gehofft, Warren würde sich grüneren Weiden zuwenden – also vermutlich einer noch jüngeren Frau.

»Du hast davon gehört, oder hat Justine es dir gesagt?«

»Ich habe davon gehört«, erwiderte Olivia und kaute auf ihrer Unterlippe. »Justine erzählt mir nicht allzu viel.« Sie schaute ihn mit angsterfülltem Blick aus weit geöffneten Augen an. »Ich glaube … sie bereut, Seth geheiratet zu haben.«

Jack nahm die Füße vom Hocker und beugte sich vor. Das war ein ernstes Thema. Er runzelte Stirn und überlegte, was er sagen konnte, um Olivia zu beruhigen. Leider war er nicht gerade ein Fachmann, was die Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern anging. Seine Beziehung zu seinem eigenen Sohn war heikel, und das mit gutem Grund. Als Kind war Eric an Leukämie erkrankt, Jack hatte Trost im Alkohol gesucht und jahrelang seine Frau und seinen Sohn emotional vernachlässigt. Nach der Scheidung wollte Eric nichts mehr mit seinem Vater zu tun haben. Jack konnte es dem Jungen nicht verübeln, aber es schmerzte ihn trotzdem. Jetzt, nach vielen Jahren, in denen er keinen Tropfen Alkohol angerührt hatte, und mit Olivias Ermunterung bemühte er sich ernstlich darum, den Kontakt zu seinem Sohn wiederaufzubauen.

Olivia und ihre Tochter hatten ebenfalls Probleme mit ihrer Beziehung zueinander, aber auf ganz anderer Ebene.

»Frag sie einfach«, meinte Jack. »Sie wird vermutlich bereit sein, es dir zu sagen.«

Olivia schüttelte rasch den Kopf. »Das kann ich nicht … Justine wird das als Einmischung empfinden. Ich traue mich nicht, das Thema anzusprechen, solange sie es nicht selbst tut. Außerdem will ich nicht, dass sie weiß, dass ich von ihrem Essen mit Warren erfahren habe. Sie wird mir nur vorwerfen, dass ich dem Stadtklatsch Gehör schenke.« Olivia stellte ebenfalls ihre Füße auf den Boden und beugte sich vor. »Wie ist es nur möglich, dass ich im Gerichtssaal Entscheidungen treffen und Urteile fällen kann, die großen Einfluss auf unsere Gemeinschaft haben, und dennoch nicht in der Lage bin, offen mit meiner Tochter zu kommunizieren?«

Dieselbe Frage hatte Jack sich selbst schon in Hinblick auf seinen Sohn gestellt. Woche für Woche schrieb er seine Beiträge für den Cedar Cove Chronicle. Dabei fiel es ihm nie schwer, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen. Aber wenn es darum ging, mit seinem eigenen Kind zu reden, ließ ihn sein Selbstvertrauen im Stich. Immer hatte er Angst, zu viel oder nicht genug zu sagen, entweder voreingenommen oder gleichgültig zu klingen.

»Eric hat heute Nachmittag angerufen«, erklärte er niedergeschlagen. »Er war aufgebracht, und ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. Ich bin sein Vater, er hat sich mit einem Problem an mich gewandt, und ich hätte in der Lage sein sollen, ihm zu helfen.«

»Was für ein Problem?« Genau wie Jack wusste auch Olivia, dass es einen Durchbruch in der schwierigen Beziehung der beiden bedeutete, wenn Eric sich überhaupt an seinen Vater wandte. Als Jack nicht sofort antwortete, strich sie ihm mit der Hand über den Rücken. »Jack?«

»Das Mädchen, mit dem Eric zusammenlebt, ist schwanger.«

»Sie haben nicht verhütet?«

»Nein. Er hat nicht gedacht, dass das passieren könnte.«

Olivia lachte leise. »Ich begreife einfach nicht, warum die Leute es bei der Verhütung einfach darauf ankommen lassen.«

Jack wandte sich ihr zu. »Weil Eric als Jugendlicher Krebs hatte, ist er unfruchtbar. Die Medikamente und die verschiedenen Therapien haben dazu geführt. Das haben uns die Ärzte schon vor Jahren gesagt.«

Olivia runzelte die Stirn. »Du meinst, das Baby ist nicht von ihm?«

Jack fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Es kann nicht von ihm sein, und Eric weiß das.«

»Oje.«

Jack hätte seinem Sohn zu gern etwas Hilfreiches gesagt, aber ihm war nichts Tröstliches eingefallen, kein Rat, den er ihm hätte geben können. Als er auflegte, hatte er das Gefühl gehabt, seinen Sohn wieder einmal im Stich gelassen zu haben.

In der Harbor Street Gallery war im Augenblick nichts los. Maryellen nutzte die Pause, um sich im Hinterzimmer eine Tasse Kaffee zuzubereiten. An Wochentagen kamen nicht viele Kunden, vor allem nicht im Herbst. In den Sommermonaten zog die Galerie jede Menge Touristen an und war immer voll. Als Geschäftsführerin war Maryellen die herbstliche Flaute sehr willkommen, zumal schon bald der vorweihnachtliche Ansturm einsetzen würde. Sie bereiteten sich jetzt schon darauf vor.

Irgendwann am heutigen Tag wollte Jon Bowman vorbeischauen. Sie hatte ihn zuletzt im Juni gesehen und erinnerte sich peinlich berührt an dieses Treffen. Jon war ein zurückhaltender, vielleicht sogar schüchterner Mann, der nichts für Small Talk übrig hatte. Sie hatte gehofft, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, und stattdessen nur über allerhand Unwichtiges geplappert. Als er schließlich ging, hätte sie sich am liebsten in den Hintern gebissen, weil sie sich in ihrem Eifer lächerlich gemacht hatte.

Kaum hatte sie sich den Kaffee eingeschenkt, hörte sie Schritte auf dem polierten Boden des Verkaufsraums. Sie nahm rasch einen belebenden Schluck, stellte ihren Becher weg und eilte nach vorn, bereit, einen Kunden zu begrüßen.

»Willkommen«, sagte sie und wurde schlagartig fröhlicher, als sie sah, wer da vor ihr stand. »Jon, gerade habe ich an Sie gedacht.« Seine Fotografien gefielen ihr seit Langem am besten von allen Kunstwerken, die sie verkauften. Die Galerie bot alle möglichen Kunstgegenstände an: Ölgemälde, Aquarelle, Marmor- und Bronzeskulpturen, Porzellanfiguren und einzigartige Töpferwaren. Jon war der einzige Fotograf, der von der Harbor Street Gallery vertreten wurde.

Er fotografierte sowohl in Schwarz-Weiß als auch in Farbe, und seine Motive reichten von Landschaften bis hin zu Detailaufnahmen aus der Natur wie Nahaufnahmen eines porösen Steins an einem Strand oder dem Muster einer Baumrinde. Manchmal stand von Menschenhand Geschaffenes im Mittelpunkt, zum Beispiel ein verwittertes Ruderboot oder die Hütte eines Fischers. Menschen fotografierte er jedoch nie. Maryellen war beeindruckt davon, wie er das Wesentliche in einer offenbar komplexen Landschaft zum Ausdruck brachte und dem Betrachter die zugrunde liegende schlichten Formen und Linien vor Augen führte. Und ebenso davon, wie er die Komplexität in den kleinen einfachen Details enthüllte. Er war ein Künstler mit einem ganz besonderen Blick, einem Blick, der ihr half, die Dinge ebenfalls mit anderen Augen zu sehen.

Sie kannte Jon nur durch seine Arbeit. Wie sie inzwischen festgestellt hatte, war er kein wortgewandter Mann, aber seine Bilder sprachen Bände. Deshalb hätte sie ihn zu gern besser kennengelernt. Nur deshalb, aus keinem anderen Grund. Obwohl er ausgesprochen unwiderstehlich aussah …

Jon Bowman war groß und sportlich, eins dreiundachtzig mindestens. Er trug die Haare lang, meistens aus dem Gesicht gekämmt und im Nacken zusammengebunden. Dabei war er im konventionellen Sinne kein attraktiver Mann. Er hatte scharfe Gesichtszüge, und seine Nase wirkte zu groß für sein schmales Gesicht. Er kleidete sich lässig, meistens trug er Jeans und karierte Hemden.

Vor drei Jahren hatte er erstmals seine Werke in die Galerie gebracht, immer wenige Stücke auf einmal und in größeren Abständen. Maryellen arbeitete schon seit zehn Jahren in der Galerie und kannte die meisten Künstler, die in der Gegend lebten, gut. Mit Jon hatte sie bisher jedoch kaum gesprochen, es sei denn, es ging um Geschäftliches.

Es kam ihr seltsam vor, dass ihr Lieblingskünstler sich ihren Bemühungen, sich mit ihm anzufreunden, verschloss.

»Ich habe wieder ein paar Fotografien für die Galerie«, sagte er.

»Das hatte ich gehofft. Ich habe schon alles verkauft, was Sie im Juni geliefert haben.«

Diese Nachricht zauberte ein leichtes Lächeln auf sein Gesicht. Jon lächelte in etwa so selten, wie er sich mit jemandem unterhielt.

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