×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Repair Club«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Repair Club« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Repair Club

Als Buch hier erhältlich:

Ein Meister im Reparieren – gelingt ihm das auch mit seiner Vergangenheit?

Ein pensionierter Spion und drei seiner treuen Gehilfen betreiben einen »Repair Club«. An den Wochenenden reparieren sie Toaster, Haartrockner und Wasserkocher. Unter der Woche versuchen sie die Vergangenheit zu reparieren, und die ist im Fall von John Antink ziemlich komplex.

Sein Leben ist auf Lügen und Halbwahrheiten aufgebaut: »Hüte deine Geheimnisse« war das Motto während seines ganzen Lebens als Agent im Außendienst.

Ein Mysterium aus seiner Vergangenheit als Spion in Ostdeutschland in den Achtzigerjahren taucht jedoch plötzlich wieder auf, um ihn zu verfolgen. Der »Repair Club« wird aktiv, um es zu entlarven, stillzulegen und zu beseitigen. Schritt für Schritt muss John zusehen, wie all seine Geheimnisse aufgedeckt werden. Alles scheint in Einzelteile zu zerfallen. Nur die drastischsten Maßnahmen können dies noch verhindern. Und John zögert keine Sekunde ...


  • Erscheinungstag: 20.02.2024
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365006108

Leseprobe

Für @

1

JOHN ANTINK

Der Mann fällt sofort auf. Nicht weil er auffällig wäre – im Gegenteil, er tut sein Bestes, um das zu vermeiden, und das sieht man. Es liegt an seiner Haltung, an der Art, wie er sich bewegt, zielbewusst und dabei nonchalant, als hätte er alle Zeit der Welt. Zeit, die es nicht gibt. Er hat einen träge suchenden Blick, nicht gehetzt, eher zielgerichtet, er sucht etwas, von dem er sicher weiß, dass er es finden wird, wenn nicht heute, dann bestimmt morgen. Er schaut und beurteilt, was er sieht, als hätte er eine Checkliste im Kopf, auf der er die Dinge abhakt, die seinen Augen begegnen. John erkennt das, darum ist ihm der Mann aufgefallen. Ein ganz gewöhnlicher Mann, Anfang fünfzig, schätzt er. Slawisches Aussehen mit extrem heller Haut, selbst nach dem wärmsten Sommer seit Jahren. Kaum Bartwuchs, nur ein paar spärliche dünne Härchen, die wie ein leichter Flaum sein Kinn überziehen. Er trägt einen ordentlichen Anzug aus grauem Stoff, wirkt gepflegt. Hemd ohne Krawatte, hellbraune Lederschuhe. Eine Sonnenbrille hängt mit einem Bügel im Hemdkragen, die dunklen Gläser wie Spiegel auf der Brust.

Er darf den Mann nicht zu lange anschauen, sich nicht anmerken lassen, dass er ihn beobachtet, das sind die Regeln, die John automatisch im Kopf hat, quasi hören kann. Er richtet seine Aufmerksamkeit wieder auf die Arbeit. Seine Finger sind nicht mehr so geschmeidig und schnell wie früher, und trotzdem finden sie immer noch ohne Probleme die richtige Stelle, die Schrauben und Muttern, die Federn und Klemmen. Was er ertastet, sieht er als Bild im Kopf, er hat ein außergewöhnlich stark ausgeprägtes Visualisierungsvermögen. Zum Teil ist das Veranlagung, Talent, und zum Teil geht es auf die Jahre zurück, in denen er im Dunkeln mechanische und elektrische Apparate zum Sprechen bekommen musste. Er schaut zu der Frau ihm gegenüber am Tisch hinüber und lächelt freundlich, während er tief drinnen im kaputten Toaster die gebrochene Sprungfeder findet. Es ist ein ruhiger Tag im Repair Club. Die Sonne scheint, das schöne Spätsommerwetter zieht die Menschen nach draußen und an den Strand.

»Müssen Sie denn da gar nicht hinsehen?«, fragt die Frau und deutet auf den Apparat, der sich nicht mehr abschaltet, wenn der Toast fertig ist.

»Habe ich schon.« Das hat er noch nicht verlernt. Ein einziger Blick, und er weiß genau, wo alles ist. Er braucht das nicht immer wieder zu kontrollieren, er sieht blitzschnell, was funktioniert und was nicht. Ob es jetzt um Menschen oder um Technik geht – er schaut hin und weiß Bescheid. Seine Augen stehen dann in direkter Verbindung mit einem Gedächtnisarchiv, in dem unendlich viele Bilder gespeichert sind. Er erkennt Muster und Strukturen; wenn er das Gehäuse eines Toasters aufschraubt und sich dessen Innenleben anschaut, sieht er sehr schnell, wo der Fehler liegt. In diesem Fall war es allerdings wirklich sehr einfach. Die Feder, die den Halter mit den Brotscheiben nach oben springen lässt, ist gebrochen. Dadurch unterbleibt die Unterbrechung des Kontakts, und der Toast verbrennt. Viel simpler ginge es gar nicht. Genau wie dieser Mann mit dem slawischen Aussehen, den brauchte er auch nur eine einzige Sekunde zu sehen, um ihn einordnen zu können. In dieser Hinsicht ist der Mann eine Art Toaster. John sieht ihn und erkennt Marke und Modell. Dann kann er an die Arbeit gehen.

Sie betreiben zu viert den Repair Club. Reparieren ist schön. Es bedeutet, dass man wissen will, wie alles funktioniert, welche einzelnen Teile es gibt und warum auch das kleinste von ihnen für das Ganze gebraucht wird. Reparieren ist begreifen. Und es ist ein Grund, sich regelmäßig zu treffen. Jaap, George und er sind alle drei technisch begabt, schon immer gewesen. Der eine Mechaniker, der andere Hausmeister und er selbst ein nicht zu definierender Experte. Nur bei Lydia liegt die Sache anders; sie kommt aus der Pflege und hat ihr ganzes Leben lang alles mit den Händen gemacht, auch in Zeiten, in denen nichts funktionierte und kein Geld da war, um die Dinge zu kaufen, die man brauchte. Für sie ist der Repair Club eine Fortsetzung ihrer praktischen Arbeit. Jahrelang hat sie älteren Menschen mit ihren kaputten Sachen geholfen, weil sie es einfach nicht übers Herz gebracht hätte, sie ohne Unterstützung sitzen zu lassen. Alle sagten diesen alten Menschen immer nur, dass sich eine Reparatur nicht mehr lohne, dass sie keinen Sinn ergebe und ein neues Gerät billiger sei. Manchmal schien es, als ginge es dabei um die Menschen selbst, dass sie nicht mehr der Mühe wert wären, und darum hatte Lydia ihnen geholfen. Nach ein paar Jahren in der häuslichen Pflege hatte sie immer einen kleinen Schraubenzieher, eine Zange und ein scharfes Messer dabei, mit denen sie die am häufigsten auftretenden Defekte beheben konnte. Niemand hat mehr lebensgefährliche alte Stecker gesehen als sie.

Sie kennen sich schon mehrere Jahrzehnte, und zusammen bilden sie ein kleines Netzwerk. Als er noch arbeitete, brauchte John Menschen, die außerhalb des Geheimdienstes Dinge regeln konnten – ein sicheres Haus, einen Einbruch, das Platzieren eines Mikrofons, jemanden aufnehmen, verschiedene Jobs, große und kleine. Lydia, George und Jaap sind beim Geheimdienst nicht bekannt. Was sollte der auch über sie wissen? Gar nichts. Es gibt so viele Menschen, über die der Geheimdienst keine Informationen hat. Der Club ist entstanden, als John einmal eine Aktion überhastet abbrechen musste und keine Zeit mehr hatte, alles zu regeln. Genau das, nämlich das Chaos beseitigen, die Fehler beheben, ohne dass es jemand sieht, war damals lebenswichtig. Das machen sie noch immer.

Aus dem Augenwinkel verfolgt John den Mann, der langsam an der Tür zwischen den wenigen Leuten hindurchschlurft. Überall auf den Arbeitstischen liegen Einzelteile und Geräte, ein bunt gemischtes Chaos. An Jaaps Tisch schaut der Mann zu, wie Jaap eine Kaffeemaschine repariert. Das ist komplizierter als bei einem Toaster, denn so eine Kaffeemaschine hat kaum bewegliche Teile. Haartrockner sind oft einfach, außer wenn das Element durchgeschmort ist. In dem Fall ist eine Reparatur unmöglich. Manchmal funktioniert das Gebläse nicht mehr, dann lässt sich noch etwas machen. Je mehr Elektronik, desto schwieriger. Wenn das Gerät einen Chip hat, kommt auch noch Software ins Spiel, und man kann nur hoffen, dass kein digitales Problem aufgetreten ist. Aber solange es die Mechanik oder Elektrik betrifft, können sie fast alles reparieren.

Der Mann geht weiter, allem Anschein nach ist er fasziniert von dem, was in diesem großen Raum abläuft. Er hat zwei Supermarktplastiktüten bei sich, eine knallrote von Dirk van den Broek und eine grüne von Plus.

»Meinen Sie, Sie kriegen das hin?«, erkundigt sich die Frau. Sie ist jünger als er, schätzt John. Wirklich? Plötzlich traut er seinem eigenen Urteilsvermögen nicht mehr. Wie alt ist sie? Sechzig? Oder älter? Blondes Haar, gefärbt, das schon, offen, nicht zu lang, helle blaue Augen, eine wohlgeformte Stirn, kaum eine Falte. Nicht aus Den Haag. Aus Brabant wahrscheinlich, irgendwo aus dieser Region, auch wenn er das jetzt schon rät. Ihr Akzent ist kaum wahrnehmbar, nur am weichen G und an den melodischen Vokalen.

»Fast fertig«, sagt er. Aus einer Werkzeugtasche holt er eine Dose mit Kleinteilen, sucht eine Sprungfeder in der richtigen Größe heraus und fummelt sie in den Toaster. In seiner Tasche ist alles Mögliche, von kleinem Werkzeug bis hin zu Schrauben und Muttern, Lötdraht, Sicherungen und Schaltern. Im Laufe der Jahre hat er überall Zeug zusammengetragen, das er aufbewahrt und zu den Treffen mitnimmt. Wenn ihm irgendwo ein Elektrogrill begegnet, der sich nicht mehr reparieren lässt, holt er die brauchbaren Teile heraus und bewahrt sie auf. So ist er auch an diese Sprungfeder gekommen.

Der Mann steht jetzt neben Lydia, die jemandem mit einem Radio hilft, einem etwas älteren Transistormodell. Das Interesse des Mannes ist nur vorgetäuscht, das kann John aus der Entfernung sehen. Er interessiert sich nicht für die Reparatur. Er sucht etwas. Oder jemanden.

Er muss aufpassen; das hier läuft zu glatt. Während seiner Jahre im Einsatz hat er gelernt, dass man solchen Situationen misstrauen muss. Der Argwohn steckt ihm in den Genen, eine Eigenschaft, die er in den vergangenen vierzig Jahren perfektioniert und die sich ihm so tief eingeprägt hat, dass er sie wahrscheinlich nie wieder loswird. Er hat gelernt, sie zu lieben wie eine warme, schützende Schicht um sich herum. »Auf Misstrauen kann man vertrauen«, das ist eines seiner Prinzipien. Er hat noch ein paar mehr, zum Beispiel seine vier Grundregeln: Man muss warten können, man muss den Mund halten können, man darf nie übertreiben, und man muss lügen können. Mit diesen Regeln hat er sich schon aus allen möglichen Situationen gerettet. Gut lügen zu können, ist nützlicher, als gut kochen zu können. Mit einer Lüge kann man das eigene Leben retten, mit einem Pilzcappuccino nicht. Sein gesundes Misstrauen hat ihn noch nie im Stich gelassen.

Der Mann steht immer noch bei Lydia. Hier und da warten Leute mit Apparaten, die nicht mehr funktionieren und an denen sie aus dem einen oder anderen Grund hängen. Hier können die Leute alles auf den Tisch legen, und das im wörtlichen Sinne. Sie trinken Kaffee oder Tee, manchmal auch ein Bier. Es herrscht eine gemütliche Atmosphäre, und die Leute kommen nicht nur wegen der Reparaturen. Zweimal im Monat trifft sich der Repair Club irgendwo hier in der Gegend, in einem Gemeindezentrum, einer Kirche, einem Firmengebäude oder wie heute in einem leeren Ladenlokal. Das Modegeschäft, das hier vorher drin war, wurde vor einem halben Jahr geschlossen, und bisher ist noch niemand Neues eingezogen. In jeder Ladenzeile gibt es Leerstand, und an einem solchen Ort werden sie mit offenen Armen empfangen.

Langsam, aber sicher kommt der Mann in seine Richtung, wie zufällig, scheint es, aber daran gibt es nichts Zufälliges. John hat diese Art des Anpirschens zu oft selbst angewandt, um darauf hereinzufallen, er kennt die Bewegungen und die Blicke. Der Mann hier beherrscht sie nicht besonders gut. Er gibt sich nonchalant, ist es aber nicht. Das kann John an seiner ganzen Haltung sehen, an der Anspannung in seinen Schultern und seinem Hals. Ein Amateur, und die sind am gefährlichsten.

John schließt die Augen, konzentriert sich und versucht die Sprungfeder an der richtigen Stelle einzuhängen. Die Frau ihm gegenüber redet immer weiter. Jetzt, wo sie einmal angefangen hat, hört sie nicht mehr auf. Kaputte Sachen sind häufig ein Anlass zum Erzählen, zum Reden, und wer repariert, kann gut zuhören. Während man mit den Händen zugange ist, hört man zu. Mit halbem Ohr reicht meistens. Im Einsatz hat das auch ausgezeichnet funktioniert. Er hat immer dafür gesorgt, dass er etwas in den Händen hatte, dann wirkte es, als würde er nicht aufpassen oder als wäre er mit den Gedanken irgendwo anders. So schuf er eine Atmosphäre der Unaufmerksamkeit, in der sein Gegenüber, ohne es zu merken, mehr sagte, als gut für ihn oder sie war. Dann erfuhr er Dinge oder konnte zuschlagen, Menschen kompromittieren und auf die andere Seite manövrieren, auf seine Seite. Das konnte er besser als alle anderen, überall, wo er geheime Operationen durchführte.

»Meine Tochter wollte mich eigentlich abholen«, sagt die Frau und schaut zur Tür. »Wir arbeiten beide in derselben Firma, als Reinigungskraft, aber sie kann es besser als ich. Nicht mehr lange, dann wird sie meine Chefin.« Sie lacht. »Können Sie sich das vorstellen? Dass das eigene Kind die Chefin wird? Das ist doch ziemlich ungewöhnlich.«

Er dreht eine Schraube im Toaster fest, und damit ist das Gerät repariert.

Die Frau schaut wieder zur Tür. »Ach, da ist sie ja.« Sie hebt den Arm und winkt. Eine energievolle hochblonde junge Frau küsst ihre Mutter zur Begrüßung dreimal auf die Wangen, bevor sie zu ihm und dem Toaster herschaut, den John den beiden nun hinschiebt.

»Fertig«, verkündet er. Die Mutter hält die Tasche auf, und er lässt den Toaster hineingleiten.

»Vielen Dank. Wie viel bekommen Sie von mir?«

Sie legt fünf Euro auf den Tisch, und die Frauen verschwinden zwischen den Wartenden. John schaut sich um. Lydia hat inzwischen eine Nähmaschine vor der Nase, Jaap arbeitet immer noch an der Kaffeemaschine, und George begrüßt gerade einen neuen Kunden, der vorsichtig einen alten Videorekorder auf den Tisch stellt. George hat ein breites, stumpfes Gesicht, sein Äußeres verhüllt einen scharfen Verstand und eine enorme technische Begabung. Was seine Augen sehen, können seine Hände schaffen. Er fühlt sich mit einer Zange und einem Computer wohler als mit Menschen. Durch die Ablenkung hat John nicht bemerkt, dass der slawische Mann mit den beiden Plastiktüten an seinem Tisch steht und wartet. Jetzt hat er ihn doch noch unbemerkt erreicht.

Der Mann schaut ihn schweigend an, ruhig. Er scheint zu zweifeln, ob er etwas sagen soll. Dann beugt er sich nach vorn, kommt näher, als wollte er John besser sehen, als ob er einen Hinweis sucht, den nur er kennt. Nun setzt er sich, stellt die rote Tüte auf den Boden und nimmt die grüne auf den Schoß. Er steckt die Hand hinein und legt eine Pistole auf den Tisch.

John rührt sich nicht, blinzelt nicht einmal. Jede Bewegung kann die falsche sein, nur Totenstille ist sicher. Das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Er muss etwas sagen, um die Stille zu durchbrechen, um die Initiative zu übernehmen. Er muss.

»Ist die kaputt?«, fragt er.

»Vielleicht.«

John starrt die Waffe an. Zwischen dem ganzen Zeug auf seinem Tisch fällt sie kaum auf. Er kann mit geschlossenen Augen eine Pistole auseinandernehmen, reinigen und wieder zusammensetzen. Es ist eine Fähigkeit, die lebenswichtig war, als er beim Geheimdienst gearbeitet hat. Seine Glock liegt in einem Schließfach. Es gab Zeiten, da war es lebenswichtig, dass er seine Waffe immer griffbereit hatte. Jetzt nicht mehr, dachte er zumindest. Vor ihm liegt eine Makarow, eine russische Handfeuerwaffe, die schon seit den Fünfzigerjahren von Heer und Polizei in Russland eingesetzt wird. Er hat schon mehrmals eine in der Hand gehabt. Jetzt rührt er sie nicht an.

»Haben Sie dafür einen Waffenschein?«

Der Mann antwortet nicht, sondern stützt sich mit den Armen auf dem Tisch ab, nimmt die Makarow in die Hand, schraubt einen Schalldämpfer darauf und hält die Pistole jetzt mit beiden Händen fest, der Schaft ruht auf der Tischplatte zwischen den Schraubenziehern und Zangen, den Zeigefinger hat der Mann am Abzug, der Lauf ist auf Johns Herzgegend gerichtet.

»Und jetzt?«, fragt John. Sein Atem verlangsamt sich, wie bei einem Raubtier, das sich ohne eine Bewegung zum Angriff bereit macht.

Der Mann entsichert die Waffe. »Jetzt dürfen Sie raten: Tut sie’s, oder tut sie’s nicht? Und während Sie sich Ihre Antwort überlegen, habe ich noch eine Frage. Sie sind doch Herr Danzler? Max Danzler?«, sagt er auf Deutsch.

In Johns Kopf stehen die Gedanken still. Er kann nur noch an eines denken.

Vera anrufen.

2

VERA ANTINK

»Bei der Arbeit hat er sein Handy immer aus.«

»Bei der Arbeit?« Der junge Mann an der Tür schaut überrascht. »Meneer Antink ist doch schon im Ruhestand?« Seine Überraschung verwandelt sich in etwas anderes, jetzt scheint er eher beunruhigt, als hätte man ihm versichert, Meneer Antink würde nicht mehr arbeiten.

Er ist jung, er kennt ihren Mann nicht, er weiß nicht, dass John immer irgendetwas zu tun hat. Man hat ihn losgeschickt, damit er jemandem von früher eine Nachricht überbringt. Im Laufe der Jahre hat sie Dutzende solcher jungen Männer an der Tür gehabt, alle voller Ehrgeiz und darauf brennend, sich zu beweisen. Laufburschen des Ministeriums, ganz frisch in der Beamtenhierarchie, im ordentlichen Anzug, die ganze Karriere noch vor sich, eine großartige Zukunft in greifbarer Nähe. Herr John Antink gehört inzwischen zur alten Garde, ein Relikt aus vergangenen Zeiten, das ab und zu noch mal hervorgezaubert wird, um Probleme zu lösen, um auf diplomatische Weise Konfliktparteien wieder zusammenzubringen, Feinde an einen Tisch zu bekommen, denn die höchsten Höhen des Beamtentums sind eine wahre Schlangengrube. Manchmal wird er gebeten, eine Untersuchungskommission zu leiten. »Weil ich für niemanden mehr gefährlich bin«, sagt er dann. Gleichzeitig genießt er das Ganze – jedes Mal, wenn man in einer Angelegenheit auf ihn zukommt, lebt er auf. Er ist schon seit fast sechs Jahren im Ruhestand, aber Johns Ansicht nach kam der zehn Jahre zu früh.

Jetzt steht also wieder so ein junger Mann vor der Tür, vor ihrer Tür, ihrem Haus. In ihrem Vorgarten. Es ist ein ordentliches Haus in Den Haag, nichts Großartiges, auch nicht im schicksten Viertel, wie sie das früher einmal gehofft hatte. Dieses Haus ist groß und gediegen, mit vier Schlafzimmern, zwei Bädern und einer großen Küche mit Esszimmer, einem herrlichen Wohnzimmer und einem prächtigen weitläufigen Garten.

John war früher im Staatsdienst tätig, man hat ihn losgeschickt, wenn Dinge erledigt werden mussten. Worum es dabei ging, hatte er nie erzählt. Später hatte er ihr immer mehr über seine Reisen ins Ausland anvertraut und darüber, was er dort getan hatte. Er arbeitete viel im Untergrund, das wusste sie. Vor allem während der ersten Ehejahre war er oft unterwegs, für Einkauf und Handel. So nannte er das. Nach mehr als zwanzig Jahren wurde er befördert und blieb öfter in Den Haag. Er wurde Chef beim Staatsdienst, und wenn sie ihn fragte, welcher Dienst denn genau, erwiderte er: »Das ist geheim.«

Davon war kein Wort gelogen. Geheim. Aufträge. Im Untergrund. Vera begriff alles, auch wenn sie seine Arbeit nie genau beim Namen nannten. Es war ein Spiel zwischen ihnen beiden, und in diesem Spiel erzählte er ihr, was sie wissen musste. Nie direkt, nie buchstäblich, immer über einen Umweg. Sie hatte das Zuhören neu lernen müssen, um ihn zu begreifen, und genau das brachte sie einander näher, darum erzählte er ihr mehr, als er vielleicht durfte. Schließlich ist sie für ihn die Einzige, das hat er gesagt, und das sagt er immer noch. Trotzdem hatte sie manchmal Zweifel.

»Er ist also nicht da?«

Allmählich wird der junge Mann nervös. Vera hat schon fast Mitleid mit ihm. Sie ist die Anständigkeit und Höflichkeit in Person. Vier Jahre jünger als ihr Mann und ein ganzes Leben weiser. John ist derjenige, der nie irgendetwas erzählt, sie wird nie irgendetwas gefragt, sie ist nur »Johns Frau«, und darum glauben alle, sie wisse nichts. Schon vor langer Zeit hatte sie entdeckt, wie praktisch das sein kann. Ihre angebliche Unwissenheit ist eine Art Knautschzone zwischen ihr und den Machomännern und -frauen im Ministerium. Sie ist klein, John reicht sie gerade so bis zur Schulter. Sie trägt eine lange Hose und eine Sommerjacke, sie ist schlank und zuvorkommend, ihr zartes Äußeres täuscht, denn sie ist zäh und stark. Was ihr an körperlicher Kraft fehlt, kompensiert sie mit dem Kopf, ihr Geist ist wach und scharf. Hinter ihren ausgezeichneten Manieren verbirgt sich eine Frau, die gelernt hat, für sich selbst zu sorgen. Dank John. Oder vielleicht ist es vielmehr seine Schuld. In den Jahren, in denen er ohne sie unterwegs war, musste sie allein zurechtkommen. Geld war immer genug im Haus, darum kümmerte sich John schon, und er kontaktierte sie, wenn auch in manchen Phasen nicht öfter als zweimal im Monat. Das waren lange, einsame Jahre, und sie haben sie härter werden lassen.

Sie liebt Ordnung und Komposition, Farben faszinieren sie, sie philosophiert unendlich gern über bestimmte Kombinationen, warum manche Farben nicht zusammenpassen und andere schon. Was steckt dahinter? Ist das eine Eigenschaft der Farben, oder legt sie die in die Farben hinein? Als sie ein Kind war, sagte ihre Mutter immer, Grün und Blau würden sich beißen, und das stimmte auch. Diese Überzeugung ihrer Mutter übernahm sie, ohne sie zu hinterfragen. Jahre später hieß es plötzlich, dass Grün und Blau in Wirklichkeit besonders gut zusammenpassten, und das ganze Konzept der sich beißenden Farben wurde hinfällig. Orange und Rot? Grün und Gelb? Egal was, alles passt zusammen, das ist jetzt die vorherrschende Ansicht. Ihre nicht. Es gibt richtige Farbkombinationen und falsche, da ist sie sich ganz sicher, und so schaut sie auch Menschen an: Sie sieht sie als Kombinationen, Kompositionen aus Farben und Schattierungen, die zusammenpassen oder eben nicht. Darin ist sie schnell.

Der Junge da im Anzug ist so blass wie das Sonnenlicht im Nebel, er passt zu allem.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, erkundigt sie sich. Eine überflüssige Frage, sie weiß nur zu gut, dass er nicht zu ihr will. Trotzdem hofft sie, ihn beruhigen zu können. Nervösen jungen Leuten muss man ein wenig entgegenkommen.

»Ich habe eine Nachricht für Ihren Mann.«

»Das ist mir klar, Sie sind nicht der Erste, der hier an der Tür klingelt.«

»War heute schon jemand da?« Er hat ihre Antwort falsch interpretiert, seine Nervosität schlägt in Panik um. »Das hätte ich wissen müssen. Wissen Sie auch, wer das war?«

»Heute sind Sie der Erste, machen Sie sich keine Sorgen. Aber ich weiß ja nicht einmal, wer Sie sind.« Sie lässt sich durch seine Panik nicht aus der Ruhe bringen und auch nicht provozieren. Er steht vor ihrer Tür, er will etwas, also wird er sich anpassen müssen.

»Mein Name ist Klophart. Jurgen Klophart.« Er entschuldigt sich dafür, dass er sich nicht vorgestellt hat, das hätte er natürlich tun müssen, aber durch die Anspannung hat er es vergessen.

Vera streckt den Kopf ein wenig weiter nach draußen und schaut rechts und links die Straße hoch. Es ist ruhig, eine stille Wohngegend am Stadtrand, direkt hinter den Dünen. Ein wenig rechts vom Haus, halb vor dem der Nachbarn, steht ein Auto mit laufendem Motor. Ein dunkler Audi A6. Am Steuer sitzt ein Chauffeur. Jurgen Klophart ist nicht einfach nur ein Laufbursche, er wurde hergefahren mit der Absicht, dass er mit ihrem Mann im Auto wieder wegfährt. Er hat nicht wirklich eine Nachricht für ihn, er kommt ihn abholen.

»Kann ich ihm etwas ausrichten?«, fragt sie. »Er ist heute mit seinem Repair Club unterwegs, und ich erwarte ihn erst am späten Nachmittag zurück. Frühestens um sechs.«

»Repair Club? Wo ist der denn?«

Das weiß sie nicht, sie merkt sich solche Dinge nicht. Und auch wenn sie es wüsste, würde sie es dem jungen Mann hier nicht einfach so sagen, ohne das erst mit John zu besprechen.

»Irgendwo in der Stadt. Wie gesagt, ich kann ihm gern etwas ausrichten, wenn ich ihn sehe.«

Klophart schüttelt heftig den Kopf. »Nein, nein, ich muss ihn persönlich sprechen. Mevrouw Calder will sich wegen der Angelegenheit in Syrien mit ihm beraten. Dringend.«

Calder. Vera flucht innerlich, ohne auch nur einen Muskel ihrer freundlichen Miene zu verziehen. Die Frau ist hoffnungslos, jedes Mal, wenn es ein Problem gibt, darf John wieder antanzen. Und jetzt ist es auch noch dringend.

3

MAX DANZLER

John ist völlig verwirrt. Den Namen Max Danzler hat er seit über fünfundzwanzig Jahren nicht mehr benutzt. Er stammt aus einer Vergangenheit, die tief in unerreichbaren Archiven und Akten verborgen liegt. In diesem leer stehenden Ladenlokal, zwischen all den Menschen mit kaputten Haushaltsgeräten, hat niemand diesen Namen zu kennen. Und trotzdem steht hier ein Mann, der ohne Umschweife nach Max Danzler fragt, der ihn zu erkennen scheint und der eine Waffe auf ihn gerichtet hat.

»Wozu denn die Pistole?«

»Um sicher sein zu können, dass Sie gut aufpassen.« Er schirmt die Waffe mit dem Körper ab, damit die anderen im Raum sie nicht sehen können. »Sie streiten es nicht ab, es stimmt also, Sie sind Max Danzler. Hören Sie zu, Danzler-Mann, ich sage das nur ein Mal.«

»Kann das Ding weg?« John hat keine Angst. Er ist vielleicht alt und langsamer als früher, aber er ist noch stark und weiß genau, wie er sich in solchen Situationen verhalten muss. Soweit möglich tun, als wäre nichts, sich nichts anmerken lassen und dafür sorgen, dass der andere die Waffe wieder wegsteckt.

»Sie sagten doch, ich soll raten? Dann rate ich, dass die Waffe nicht funktioniert. Also …« Er will aufstehen, um den Mann loszuwerden.

»Daneben«, gibt der Mann zurück. Er lächelt falsch, hebt die Waffe ein wenig, richtet sie nach links und schaut sich rasch um. Niemand achtet auf sie. Dann betätigt er den Abzug, und mit einem gedämpften Plopp bohrt sich die Kugel in eine Platte der Systemdecke. John hört die Kugel leise pfeifen. Ganz kurz. Im herrschenden Stimmengewirr fällt das Geräusch nicht einmal auf.

John hält den Atem an, seine sämtlichen Sinne sind geschärft, er sieht sich selbst in den spiegelnden Gläsern der Sonnenbrille. Er schaut sich um, als hätte er noch andere Dinge zu tun, durchsucht mit dem Blick gründlich den Raum. Lydia hat ihre Tasche mit Werkzeugen und Einzelteilen auf den Tisch gestellt. Jaap ist nach hinten gegangen, hat sich dort ein Glas Wasser eingeschenkt. George ist gerade dabei, das Gehäuse des Videorekorders loszuschrauben. Alles ist genau wie vor fünf Minuten, nur ein ganz klein wenig anders. Niemand außer ihm merkt es. Am liebsten würde er seine Leute vom Repair Club dazuholen.

»Anschauen!«, sagt der Mann.

»Warum sollte ich?«

»Weil du zuhören sollst, das habe ich schon mal gesagt.«

Im Klang seiner Stimme nimmt John Nervosität und Panik wahr, seine Worte klingen ängstlich. Das ist kein gutes Zeichen, denn ängstliche Menschen sind unberechenbar. Der Mann ist ein Amateur, genau wie er vermutet hat. John weitet die Augen und schaut den Mann an. Die Angst, die er gehört hat, erkennt er in den blauen Augen des Mannes nicht.

Der Mann zieht die Makarow zu sich hin, bis er sie sich an die Brust drückt, sichert sie wieder und lässt sie in der grünen Plastiktüte verschwinden. Dann stellt er die rote Plastiktüte auf den Tisch und holt einen viereckigen kleinen Koffer hervor, schwarz mit deutlichen Gebrauchsspuren. Er klickt die Schlösser auf. Jetzt, wo die Pistole nicht mehr auf ihn gerichtet ist, hört John der Stimme des Mannes an seinem Tisch zu. Die Stimme kennt er, der Akzent kommt geradewegs aus seiner Vergangenheit und sitzt jetzt hier im Repair Club.

Der Mann dreht den geöffneten Koffer zu John hin. Eine alte Schreibmaschine ist darin.

»Nichts wert, natürlich, und ich benutze sie selbst auch nie, aber sie hat meinem Vater gehört«, sagt er. »Und jedes Mal, wenn ich sie sehe, denke ich an meine Familie. Diese Erinnerung will ich bewahren, verstehen Sie?«

Diese Stimme, sein Akzent. Was für ein Akzent ist das? Ein russischer?

»Ich bin auf der Suche nach etwas, was Sie, Herr Danzler, einmal an sich genommen haben. Und das will ich zurück.«

John hört den Namen Danzler im Kopf, und sein Blick wird magisch zu der Schreibmaschine hingezogen, die der Mann zur Reparatur mitgebracht hat. Es ist eine Robotron. Sprachlos starrt er auf die Maschine. Robotron ist eine Marke aus der ehemaligen DDR, weder die Fabrik noch das Land existieren noch. Die Erinnerung daran umso mehr.

»Es ist ein inneres Problem«, erklärt der Mann.

»Das ist meistens so«, erwidert John. Er holt die Maschine zu sich heran und verzieht keine Miene, während die Panik durch seinen Körper peitscht, aufgehetzt von Gedanken und Erinnerungen und von Dingen, die er tun muss. Er muss Vera anrufen. Und Calder, die Chefin, denn die Vergangenheit ist plötzlich wieder da. Ganz offensichtlich ist der Geheimdienst, den er vor sechs Jahren verlassen hat, noch sehr deutlich anwesend, und das in einem Augenblick, in dem er das nicht mehr erwartet hatte.

4

ALISHA CALDER

Sie steht an einem großen, fast leeren Konferenztisch. Nur die Kopie eines Zeitungsartikels liegt darauf. Sie braucht ihn sich nicht einmal anzusehen, um zu wissen, welcher es ist. Auf der anderen Seite des Tisches sitzt ihr Chef, der Generalsekretär des Innenministeriums, ein freundlicher, gut ausgebildeter, intelligenter weißer Mann. Er hat Kaffee für sie bringen lassen. Selbst trinkt er Wasser – so einer ist das. Den Kaffee rührt sie nicht an; so sehr willkommen fühlt sie sich auch wieder nicht.

»Hier«, sagt er. Er schiebt ihr den Artikel hin. Es ist September, die Sommerferien sind gerade vorbei, bald wird die Thronrede gehalten, und jetzt das.

NIEDERLANDE UNTERSTÜTZEN TERRORBEWEGUNG

Die Niederlande haben Hilfsgüter im Wert von mehreren Millionen Euro an gemäßigte bewaffnete Gruppen in Syrien geliefert. In den vergangenen Jahren wurden in aller Heimlichkeit Pick-ups, Uniformen, Satellitentelefone, Kameras, medizinische Versorgungssets, Zelte und Gummimatratzen an Rebellengruppen im Land geliefert. Doch diese Hilfe haben auch Terroristen erhalten …

»Das steht in der Zeitung, im Fernsehen wird ebenfalls darüber berichtet, doch das hätte nicht passieren dürfen.« Der Generalsekretär strahlt eine eisige Ruhe aus, auch seine Stimme ist ruhig und dadurch im stillen Zimmer besonders eindringlich. Seine Augen sind auf sie gerichtet, Alisha Calder, die Chefin des Nachrichtendienstes. Das hier ist ihre erste Besprechung seit dem Erscheinen des Artikels vor vierundzwanzig Stunden, und ihr GS ist höchst verstimmt, auch wenn man das an seinem Verhalten nicht ablesen kann. Selbstbeherrschung ist seine mächtigste Waffe.

»Im Prinzip fällt das in den Zuständigkeitsbereich des Außenministeriums, nicht in unseren«, sagt Calder und versucht dabei genauso ruhig zu bleiben wie ihr Vorgesetzter.

»Ach was.«

Stille. Calder reagiert nicht, es ist besser für sie, wenn sie jetzt den Mund hält und erst einmal hört, was der GS zu sagen hat, aber er sagt nichts. Er kann ungerührt ein Schweigen so lange andauern lassen, bis sich sein Gegenüber dadurch unbehaglich fühlt. Er schaut einfach, rührt sich nicht und wartet ab. Sein Gesichtsausdruck verändert sich nicht, er schaut neutral, weder freundlich noch verärgert, nicht aufgeregt oder aufgewühlt. Calder muss seinen Blick erwidern, und es fühlt sich so an, als dürfte sie den eigenen Blick nicht abwenden. Ihr Chef erwartet von ihr, dass sie weiß, was er fragen will. Das hier ist eine Besprechung, und es ist ein Test. Er will sie zwingen, etwas zu sagen, was er nicht für Unsinn hält, will sie zwingen zu tun, was er will. Und das kommt für sie nicht infrage.

In diesem Zimmer geht es um mehr als um ein durchgesickertes Geheimnis. Hier sitzt ein weißer Mann einer Schwarzen Frau gegenüber. Im Ministerium gibt es viele Leute, die ihre Ernennung zur Generaldirektorin immer noch nicht akzeptieren können. Sie ist GD des Nachrichten- und Sicherheitsdienstes. Mehr als fünfundzwanzig Jahre Erfahrung in der Welt der Beamten und in der des Untergrunds haben sie gelehrt, dass die Schicht der Antidiskriminierung dünner ist als die Glasur auf einem Donut. Und auch nicht so süß. Wenn es zu Konflikten und gegenseitigen Beschuldigungen kommt, spielt der Hintergrund immer eine Rolle. Calder hat sich nach oben gekämpft, sie hat sich zum Erreichen ihrer Karriere durch ein Bergmassiv von Vorurteilen schlagen müssen. Der Rassismus ist nie weg, er schläft nur, solange alles gut geht. Sie weiß, dass sie jetzt sehr vorsichtig sein muss, dass jeder Schritt, jede Antwort stimmen muss, jede Quelle hinter der Quelle hinter der Quelle muss überprüft werden. Doppelt überprüft. Keine Fehler. Sie ist eine Frau, und sie ist Schwarz, und ihr Chef, ein weißer Mann, tut sich damit schwer. Unbewusst vielleicht, aber das ist egal.

Er muss als Erster sprechen, er ist der Generalsekretär. Er muss sagen, was los ist, das ist seine Arbeit, seine Verantwortung, und das hält sie gut aus.

Sie sagt nichts. Schweigen kann sie genauso gut wie er.

»Das hier ist inakzeptabel«, verkündet er. »Es kann nur aus einem einzigen Grund passieren, und zwar dem, dass bei euch da irgendwas ist. Es ist völlig egal, ob das Finanzielle übers Außenministerium läuft. Meinetwegen läuft es über das Bildungsministerium. Aber das hier ist ein Staatsgeheimnis, es war ein Staatsgeheimnis, sollte ich besser sagen, und darum brauche ich jetzt Antworten.«

Jetzt benennt ihr Chef die einzelnen Fragen. Wo befindet sich das Leck, wer ist es? Welche Interessen haben die Niederlande dort in Syrien? Wen oder was schützen sie dort? Was haben die Niederlande als Gegenleistung für die Unterstützung erhalten? All diese Fragen hat sich Calder auch schon gestellt, aber jetzt kommen sie vom Generalsekretär, und dann kommen sie nie ohne einen Preis.

»Sie haben eine Woche.«

»Und dann?«

»Dann haben Sie Antworten, oder Sie sind raus. Ein GD vom Geheimdienst, der seinen eigenen Dienst nicht unter Kontrolle hat, hat kein GD zu sein. Klar?«

Sie nickt.

»Und holen Sie Ihren Vorgänger dazu, Antink. Der weiß wenigstens, was in diesem gottverlassenen Sandkasten los ist.«

»Sicher. Ich habe schon jemanden losgeschickt, der ihn holen soll.«

Damit ist die Besprechung beendet. Sie verlässt das Zimmer und spürt den vorwurfsvollen Blick im Rücken. Fünfundzwanzig Jahre hat sie alle Vorurteile bekämpft, und dieser Kampf ist noch nicht vorbei. Er wird nie vorbei sein.

5

JESTESTWENNO

Sein Zweithandy vibriert in seiner Hosentasche. Eine Nachricht von Vera, nur sie hat die Nummer von diesem Gerät, es ist ein altes Modell, kein Smartphone, denn es ist alles andere als smart.

Sie suchen dich.

John antwortet.

Wer?

Die Jungs und Mädels vom Ministerium, du weißt schon. Einer stand hier vor der Tür, samt Auto mit Chauffeur.

Auch das noch.

Das bedeutet, dass auf seinem anderen Handy wahrscheinlich zig verpasste Anrufe sind, WhatsApp- und SMS-Nachrichten, die mit jedem Mal panischer werden. »Dringlichkeit« nennen sie das, ein unbequemes Wort, das er nicht ausstehen kann. Wenn die Leute von Dringlichkeit anfangen, hört er schon gleich nicht mehr zu.

Calder will dich sprechen. Irgendwas mit Syrien.

Okay.

Wenn seine Nachfolgerin beim Dienst etwas von ihm will, muss er reagieren. Nicht nur weil es sich so gehört, sondern auch, weil er für Alisha Calder eine Schwäche hat; er hat sie selbst zum Dienst geholt und enormes Vertrauen in sie. Jetzt muss sie trotzdem kurz warten. Er steckt das Handy zurück in die Tasche und wendet seine Aufmerksamkeit wieder dem Mann auf der anderen Seite des Tisches zu, dem Mann mit der Makarow und der Robotron M125 Comfort.

»Entschuldigung«, sagt er. »Ich musste schnell eine Nachricht beantworten.« Äußerlich ist er ruhig, in seinem Kopf fällt jedoch eine Reihe Dominosteine um. Calder will ihn sprechen, aber er kann hier nicht weg. Wer ist dieser Mann mit der Schreibmaschine und der geladenen Pistole in der Tasche? Das muss er erst wissen. Ein Mann, der seinen alten Tarnnamen kennt. Der Mann will etwas. Er will, dass seine Schreibmaschine repariert wird. Und dann gibt es da noch etwas.

»Danzler, sagen Sie? Den kenne ich nicht.«

Ohne Vorbereitung muss er improvisieren. Jetzt würde er am liebsten George, Lydia und Jaap zur Beratung dazuholen, damit sie zusammen entscheiden könnten, was am besten zu tun ist. So wie sie das seit Jahren tun, als Team. Doch das geht jetzt nicht. Wenn sie jetzt zu viert zusammenstehen, fällt das auf. Damit würden sie die Aufmerksamkeit aller auf sich ziehen, und das darf jetzt nicht sein. Er geht in Gedanken einen Schritt nach dem anderen durch. Es gibt einen festen Ablauf.

Versuchen, die Identität festzustellen.

Wanze und Tracker anbringen.

Adresse feststellen.

Vera anrufen. Calder anrufen.

»Geben Sie sich keine Mühe, Herr Danzler. Leugnen ist zwecklos und außerdem viel zu spät.«

»Und Sie sind?«

Der Mann antwortet nicht sofort, fummelt stattdessen an der Tüte herum. Die Nerven. Das hier ist kein Spiel.

»Wenn Sie nicht Max Danzler sind, sagt mein Name Ihnen auch nichts.«

»Da ist was dran.« John beugt sich über die Robotron. Der Repair Club erledigt Reparaturen, das muss er also jetzt tun. »Eine Schreibmaschine, na, so was.« Er schaut den Mann an, mit ruhigem, scharfem Blick. Wer ist das? Die Frage brennt ihm unsichtbar im Kopf. Ist das einer der Männer, auf die er seit Jahren wartet? Gehört er zu einem Aufräumteam aus Moskau, das Feinde aus der Vergangenheit ausschalten muss? Ist das hier einer der Männer, die so wenig greifbar sind, dass man an ihrer Existenz zweifelt? Er sucht in einem Blick, einem Augenaufschlag, einem körperlichen Merkmal nach Bestätigung. Bilder schießen ihm durch den Kopf, Fotos, Zeichnungen, Skizzen, Filmaufnahmen. Diese Bilder vergleicht er mit dem Gesicht des Mannes ihm gegenüber. Und die ganze Zeit redet er weiter, als würde er gar nichts denken. »Was genau ist denn das Problem?« Er beugt sich vor und schaut sich den Apparat genauer an.

»Bei dem Ding klemmt was«, sagt der Mann, sein Niederländisch klingt dickflüssig, träge.

»Ach ja, dass was klemmt, das kennen wir alle, oder?«

Der Mann lacht. Es ist ein nervöses Lachen, auch das ist kein gutes Zeichen.

John zieht den Apparat zu sich heran. »Eine Robotron, schön, die habe ich hier noch nie gesehen. Die haben Sie nicht hier gekauft«, fährt er fort. »Nicht in den Niederlanden, meine ich.« Er schaut den Mann an.

»Nein, nicht hier. In Dresden.«

Dresden. Der Name dieser Stadt löst einen Erinnerungsstrom in ihm aus, den er jetzt nicht gebrauchen kann. In Dresden ist so viel passiert, dort hat alles angefangen. Er zwingt seine Gedanken in die Gegenwart zurück und konzentriert sich.

»Dresden war mal eine prächtige Stadt.« Im Kopf hakt er die Information ab. Dresden. Ostdeutschland. Alter. Wie alt ist dieser Mann? Höchstens an die fünfzig. Abgehakt. Er schaut wieder die Schreibmaschine an und runzelt die Stirn. »So eine begegnet einem hier nicht oft, das ist sicher.«

»Sie kennen sich mit Schreibmaschinen aus.«

»Wenn man so viele Geräte repariert hat wie ich, gehen sie einem irgendwann in Fleisch und Blut über. Und dann ist ein auffälliges Modell gerade besonders interessant. Darf ich die Maschine kurz ausprobieren?«

»Deswegen bin ich hier.«

John betätigt ein paar Tasten, doch die Metallarme mit den Buchstaben bleiben totenstill im Gehäuse liegen. Auch als er fester zudrückt, tut sich nichts. Die Maschine bewegt sich nicht, es ist, als wäre sie mit einem Schloss blockiert.

»Die muss ich wohl auseinandernehmen.«

»Jestestwenno«, sagt der Mann. Das ist Russisch und heißt »selbstverständlich«, denkt John und tut, als hätte er es nicht gehört. »Das dauert jetzt einen Moment«, sagt er. »Wenn Sie inzwischen etwas trinken möchten, können Sie sich da drüben Wasser nehmen oder Kaffee, Tee oder Limonade.« Er dreht sich halb um und deutet auf die improvisierte Bar. »Wenn Sie sowieso gehen, können Sie mir vielleicht ein Glas Wasser mitbringen, dann fange ich direkt an.«

Der Mann steht auf und geht nach hinten, in Richtung Bar. Die grüne Tüte nimmt er mit. John denkt an die Pistole in dieser Tüte und fragt sich, was er jetzt tun soll. Er muss ruhig bleiben, er will hier keine Panik verursachen. Er nimmt die Maschine und schraubt das Gehäuse los, hebt es von der Maschine und legt die Einzelteile vorsichtig in eine Ecke des Tisches. Alter Kunststoff und altes Metall. Das Innenleben der Maschine ist nun sichtbar, und er erkennt schnell, was da los ist. Eine Verbindungsachse im Transportmechanismus hat sich gelöst und blockiert alles. Er holt die Stange heraus und probiert, die Mechanik wieder in Gang zu bekommen, aber sie bewegt sich immer noch nicht. Beim Weitersuchen entdeckt er eine Häufung kleinerer Defekte, die zusammen dafür sorgen, dass sich die Maschine nicht bewegt. So viele gleichzeitig auftretende kleine Probleme, das ist nicht logisch, es sieht fast so aus, als hätte man die Schreibmaschine mit Absicht unbrauchbar gemacht. Als er durch ein Vergrößerungsglas die Schrauben betrachtet, mit denen das Gehäuse an der Maschine befestigt war, entdeckt er kleine Kratzer und Schäden, die er nicht verursacht hat. Die weisen darauf hin, dass man die Maschine vor nicht langer Zeit geöffnet hat. Er nimmt die Abdeckung des Gehäuses in die Hand und betrachtet sie von allen Seiten, dreht sie um und sieht einen Zettel, den jemand mit Klebeband auf der Innenseite befestigt hat. Er nimmt die Lupe wieder zur Hand. Es ist kein alter Zettel, der Tesafilm ist noch so gut wie neu. Diese Nachricht hat man hier erst vor Kurzem platziert.

Vorsichtig macht er den Tesafilm los und faltet den Zettel auseinander. Ein Code steht darauf, eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen.

2.349.7/zu1744353

Die Vergangenheit, die sich gerade angekündigt hat, kommt mit einem gnadenlosen Schlag zurück.

6

ZUCKERTÜTCHEN

Der Mann kommt zurück und stellt einen Becher mit Wasser vor John ab. Für sich selbst hat er Kaffee geholt. Er reißt ein Zuckertütchen auf und schüttet den Inhalt in die Tasse. Den Kaffeeweißer hinterher. Seine Bewegungen sind sehr präzise. Er rührt um und trinkt einen Schluck. Alles ohne ein Wort.

John denkt an die Zeit zurück, in der er als Max Danzler durchs Leben gegangen ist, denn er hat mehr als nur eine Vergangenheit, er hat viele verschiedene Namen gehabt. Alles, was er tat, war unter einer falschen Identität und streng festgelegten Abläufen und strikten Protokollen verborgen, damit er seine Geheimnisse hüten konnte. Die Vergangenheit mit Robotron spielte sich in Dresden ab, der Stadt in der östlichsten Ecke von Ostdeutschland, nicht weit entfernt von der Grenze zur Tschechoslowakei und zu Polen. Eine langweilige Industriestadt, wiederaufgebaut nach der völligen Zerstörung durch die Bombardierungen am Ende des Zweiten Weltkrieges, als Dresden innerhalb von zwei Tagen zu drei Vierteln in Schutt und Asche gelegt wurde. Ein Brandbombenteppich hatte einen gewaltigen Feuersturm über der Stadt entfesselt. Vierzig Jahre später, in den Achtzigerjahren, war Dresden ein unerwartetes Zentrum für die Geheimdienste von Ostdeutschland und der Sowjetunion. Moskau hatte überall das Sagen, die Stadt war eine Hochburg des illegalen Handels und der geschmuggelten Technologie, es gab quasi unbegrenzte Möglichkeiten für Menschen, die die Embargos umschiffen konnten oder sie einfach ignorierten. Offiziell durfte kein einziges westliches Land, keine einzige westliche Firma mit dem Ostblock Handel treiben. Inoffiziell sah es anders aus: In Dresden trafen sich Ost und West mit gut gefüllten Bankkonten. Dort hatte alles angefangen, vor fast fünfunddreißig Jahren. John war damals achtunddreißig und dieser Mann da noch keine zwanzig. Wäre er in diesem Alter nach Ostdeutschland gekommen, wäre das als Neuling gewesen, er wäre dort stationiert worden, wahrscheinlich mit einer Frau, denn ein Mann allein wurde nicht einfach so auf einen Außenposten geschickt. Vielleicht hätte er sogar schon ein Kind. Das wünschte sich Moskau immer von seinen Leuten: Stabilität. Ein Mann allein könnte leichter in den Westen flüchten. Eine Frau und ein Kind hielten ihn dort fest, wo er war.

John schaut ab und zu über die Schreibmaschine weg. Er erkennt etwas in der Stimme, im Timbre, einen trägen Rhythmus. Der Mann spricht gerade nicht seine eigene Sprache, er behilft sich mit einer Mischung aus Niederländisch, Deutsch und Englisch. John kennt den Mann nicht, aber der kennt ihn. Dieser Mann weiß, wer John ist, und das ist eigentlich unmöglich. Er hat sich zielgerichtet an seinen Tisch gesetzt. John ist in jeder Hinsicht ein ganz gewöhnlicher freundlicher Pensionär, Durchschnitt, vielleicht etwas größer, graue Haare, normale Kleidung. Der Repair Club ist sicher; dass dieser Mann jetzt hier auftaucht, hätte Zufall sein können, das ist es aber nicht. Zufälle gibt es nicht, und ganz sicher nicht, wenn da ein versteckter Zettel klebt, und schon gar nicht, wenn Moskau irgendetwas damit zu tun hat.

Eine Angst durchläuft seine Adern wie schleichendes Gift. Passt dieser Mann möglicherweise in ein Puzzle, das er vor so vielen Jahren abgebrochen hat? In ein Puzzle, von dem er gehofft hatte, es müsste nie gelöst werden? Dieser Mann sucht etwas, und die Kombination auf dem Zettel ist der Hinweis, mit dem er es finden kann. Es bedeutet, dass dieser Mann auch nur diesen Hinweis hat und selbst nicht weiß, worum es geht, sonst würde er das schon sagen. John ist es, der herausfinden muss, was genau der Hinweis bedeutet.

»Ich habe das Problem gefunden«, sagt er.

»Ein Glück.«

»Die Frage ist allerdings, ob ich es beheben kann. Darf ich ein Foto machen?« Er nimmt sein Smartphone und macht schnell eine Aufnahme von der Schreibmaschine und dem Mann, der jetzt wieder ihm gegenüber am Tisch sitzt. Darum ging es ihm, um ein Foto von dem Mann. Ist er Freund oder Feind? Das ist noch nicht klar, sogar ein Mann mit einer Pistole kann ein Verbündeter sein, aber was will er? Die Kombination auf dem Zettel ist der einzige Hinweis. Was will er damit? Warum ist dieser Zettel so versteckt, so geheim? Das bedeutet, dass John nicht einfach so davon anfangen kann, ohne den Mann und sich selbst vielleicht in Gefahr zu bringen.

Er verlässt sich auf sein altes Training, auf seine Erfahrung. Vertraue niemandem, nur dir selbst, und auch das nicht immer. Darum führt er dieses Gespräch so nonchalant wie möglich scheinbar darüber, was an dem Gerät kaputt ist. Während er spricht, arbeitet er weiter und zeigt hin und wieder auf die entsprechenden Stellen. Währenddessen hört er konzentriert weiter zu in der Hoffnung, dass der Klang der Stimme irgendwo in seinem Gedächtnis ein Bild findet, ein Gesicht und einen Ort, damit er sich erinnern kann, wer dieser Mann ist.

Was er tut, ist nicht ungefährlich, noch immer gibt es jedes Jahr Abrechnungen. Von Moskau aus werden alte Spuren ausgelöscht. Jedes Jahr verschwinden Leute, stellt sich heraus, dass wieder jemand gestorben, überfahren, von einer Brücke gefallen oder Opfer eines Raubüberfalls oder einer Vergiftung geworden ist. Einige dieser Leute hat John gekannt, sie waren Teil des Netzwerks, zu dem er auch gehört hat. Sie waren diejenigen, mit denen die Sowjetunion handelte, bis zu ihrem Zerfall im Jahr 1991. Das waren die Leute, denen es gelang, die Hunderte von Millionen, Milliarden Dollar halb legal aus dem in sich zusammenstürzenden Reich zu lotsen, bevor das ganze Vermögen im schwarzen Loch der bankrotten Sowjetwirtschaft verschwand. Es war die größte Kapitalflucht der Geschichte des Russischen Reiches. Die Kommunistische Partei und der sowjetische Geheimdienst, der KGB, verkauften riesige Mengen an Grundstoffen – Öl, Gas, Korn, Nickelerz – auf dem westlichen Markt, zu Westpreisen. Das alles hatten sie vorher in der Sowjetunion zu staatlich festgelegten Preisen erworben, häufig zu weniger als einem Viertel von dem, was die Stoffe auf dem Weltmarkt wert waren. Die Differenz verschwand auf den Bankkonten von GmbHs und AGs in Steuerparadiesen. Die Sowjetelite sicherte sich die Zukunft, und er saß mittendrin, mit einem falschen Namen, einer falschen Identität und einem falschen Job. John ist einer von denen, die zu viel wissen, die eine Bedrohung darstellen und die einer nach dem anderen ausgelöscht werden. Vom Dresden-Netzwerk ist nicht mehr viel übrig.

»Sieht nicht so aus, dass ich die Maschine hier reparieren kann. Das ganze Ding muss auseinandergenommen werden, und wahrscheinlich muss ich ein paar Einzelteile anfertigen lassen.« John nimmt den oberen Teil des Gehäuses in die Hand und schraubt ihn wieder an die richtige Stelle. »Wollen Sie die Maschine bei mir lassen und sie irgendwann abholen kommen? Nächste Woche oder so?«

Der Mann vermeidet jetzt den direkten Augenkontakt, beobachtet aus dem Augenwinkel weiter die Umgebung.

Typisch, denkt John. Er kennt dieses Verhalten eines Agenten im Einsatz, alles sehen und nichts sagen. Das Gespräch dreht sich angeblich um die Reparatur, in Wirklichkeit sprechen sie über die Nachricht auf dem Zettel. Ohne das überhaupt zu erwähnen, müssen sie einander begreifen und eine Verabredung treffen. Wenn er die Schreibmaschine behält und mitnimmt, müssen sie einander zu einem bestimmten Zeitpunkt irgendwo wiedertreffen. Und John weiß nicht einmal, wer dieser Mann ist. Auch nicht, was er will. Er braucht Zeit, um herauszufinden, was genau der Zettel bedeutet.

»Wenn Sie mir Ihre Adresse geben, kann ich vielleicht jemanden bei Ihnen vorbeischicken«, schlägt John vor.

»Das geht leider nicht.«

Eine zusätzliche Komplikation. Der Mann will seine Adresse nicht sagen, wahrscheinlich beobachtet man ihn, also muss John damit rechnen, dass es noch andere gibt, die er nicht kennt.

»Wie kann ich Sie denn erreichen? Dann rufe ich Sie an, wenn die Maschine fertig ist. Haben Sie eine Handynummer?«

Natürlich hat er das, jeder hat eine Handynummer, die Frage ist nur, ob er sie auch herausgeben will. Der Mann zögert.

»Ich könnte krank werden«, sagt John. »Oder Sie könnten krank werden. Es kann alles Mögliche passieren, und dann ist es praktisch, wenn man …« Er sieht, dass der Mann immer nervöser wird. Wenn er ihn noch weiter drängt, besteht das Risiko, dass er ihn abschreckt und der andere sich davonmacht. Das will John verhindern.

»Vielleicht machen Sie einfach einen Vorschlag? Dann können wir schauen, ob sich so etwas regeln lässt.«

Immer noch sitzt ihm der Mann bewegungslos gegenüber, er schwitzt stark, ab und zu hebt und senkt er die Augenbrauen, er hat ständig die Umgebung im Blick. Er sagt nichts.

John macht einen letzten Versuch. Er nimmt einen Zettel, schreibt seine eigene Handynummer darauf und hält sie ihm hin.

»Unter dieser Nummer können Sie mich immer erreichen.« Er wartet ab und hält den Zettel fest. »Geben Sie mir auch Ihre?« Er tut sein Bestes, um den Vorschlag so attraktiv wie möglich zu machen. So normal wie möglich. Zwei Männer und eine kaputte Schreibmaschine tauschen Kontaktdaten aus, das ist das Normalste von der Welt. »Was meinen Sie?«

Der Mann streckt die Hand aus, nimmt Johns Zettel an und steckt ihn ins hinterste Fach seines Geldbeutels. Dann steht er auf, und kurz wirkt es, als wollte er gehen, dann dreht er sich um und verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

»Gibt es hier eine Toilette?«

»Natürlich.« John erhebt sich ebenfalls und zeigt in eine Ecke hinter sich. »Den Gang runter, hinter der Tür da.«

Der Mann macht sich auf den Weg, und sobald er die Toilettentür hinter sich zugezogen hat, geht John zu Jaaps Tisch.

»Ganz schön was los, was? Alles in Ordnung?«, fragt sein Freund. »Brauchst du Hilfe?«

John hockt sich zu Jaap und erklärt das Ganze. »Da ist gerade ein Mann auf der Toilette, und ich will wissen, wer das ist. Also: hinterher, Adresse rausfinden, Nummernschild seines Autos checken, nicht aus den Augen verlieren. Kümmere dich drum. Ich muss zurück.«

Jaap sagt nichts mehr, er geht zu Lydia und dann zu George. Aus dem Augenwinkel bekommt John mit, wie sich ihre Arbeitsweise verändert: Ihre Bewegungen werden schneller, zielgerichteter. John geht zurück zu seinem eigenen Tisch, holt aus der Werkzeugtasche eine kleine runde Scheibe und klebt sie an die Unterseite der roten Tüte. Einen Minigeolokator. Dann schraubt er den letzten Gehäuseteil wieder fest, stellt die Schreibmaschine in den Koffer, schließt den Deckel und wartet darauf, dass der Mann zurückkommt. Er schaut sich die Dinge auf dem Tisch an. Zwischen den ganzen Werkzeugen und Ersatzteilen stehen da ein Becher Wasser und eine Kaffeetasse, und da liegen ein leeres Päckchen Kaffeeweißer und ein Löffel. Automatisch streicht er alles von einer Checkliste, die er im Kopf hat. Unbewusst, es erfordert fast keine Anstrengung, seine Augen scannen und vergleichen das, was sie da sehen, mit dem, was da liegen müsste. Zum Beispiel das Zuckertütchen. Der Mann hat den Zucker in den Kaffee geschüttet und das leere Tütchen auf den Tisch gelegt. Alles ist noch da, nur das Tütchen nicht.

Check. Zuckertütchen.

Er wartet geduldig, bis der Mann zurückkommt, und stellt die Schreibmaschine neben seinen Tisch auf den Boden.

»Die Toiletten sind sehr sauber«, sagt der Mann. »Sogar die Abfalleimer.«

»Darüber bin ich auch sehr froh«, gibt John zurück. Sie verstehen einander, als wären sie zusammen im Training gewesen. Anfangs konnte John das nicht gleich erkennen, aber dieser Mann ist ein Profi, genau wie er.

»Kann ich den leeren Becher hier stehen lassen, oder soll ich ihn wegräumen?«

»Lassen Sie nur, das mache ich schon.«

»Danke.« Der Mann bückt sich und hat nun die grüne Plastiktüte in der rechten und die rote in der linken Hand. »Kennen Sie das Zeeheldenkwartier?«, will er wissen. »Die Zoutmanstraat?«

»Natürlich.«

»Übermorgen, halb elf, an der Ecke Piet Heinstraat. Rote Tüte bedeutet alles sicher, grüne Tüte bedeutet Gefahr.« Er hebt die Tüten nacheinander ein wenig an. »Auf Wiedersehen, Herr Danzler«, sagt er auf Deutsch. »Und machen Sie keine Dummheiten.« Er dreht sich um und geht zum Ausgang.

Hinter seinem Rücken gibt John Lydia ein Zeichen, die dem Mann nach draußen folgt. Er selbst eilt in die Toiletten, zu dem Abfalleimer unter dem Waschbecken, und sucht zwischen den zusammengeknüllten Papierhandtüchern, flucht, als er nichts findet, hält inne, holt einmal tief Luft. Ruhig bleiben. Er sucht weiter und findet das Zuckertütchen, ganz klein zusammengeknüllt.

Zurück im Laden, packt er sein Werkzeug ein, macht seine Tasche zu, entschuldigt sich tausendmal, weil er die noch wartenden Leute enttäuschen muss, und kurze Zeit später steht er mit Jaap draußen auf der Straße. Lydia und George beschatten den Mann bereits. Er friemelt das Tütchen auseinander und liest, was der Mann darauf geschrieben hat.

Sorge du für deinen Teil, dann besorge ich den Rest.

John knüllt das Zuckertütchen wieder ganz klein zusammen und steckt es sich in die Tasche. Jetzt muss er wirklich Vera anrufen.

7

EIN NAME

John holt sein normales Handy heraus und sitzt eine Weile mit dem Gerät in der Hand da. Es ist ausgeschaltet. Wenn Calder und ihre Experten das wollen, können sie ihn immer noch aufspüren, aber es ist ein bisschen schwieriger. Wenn er das Smartphone jetzt anschaltet, wissen sie innerhalb einer Minute, wo er ist, und das will er nicht. Er muss noch einen Moment außer Sicht bleiben, erst muss er seine eigenen Dinge geregelt haben, die Verbindungen aus der Vergangenheit wiederaufnehmen und die entsprechenden Fäden ziehen. Er schickt über sein geheimes Handy noch eine Nachricht an seine Frau.

Komme ein bisschen später, warte nicht mit dem Essen auf mich, ich wärme mir was auf.

Mehr braucht er ihr nicht zu sagen. Im Laufe der Jahre haben sie eine eigene Art der Kommunikation entwickelt. Ihre Ehe war auf seiner Abwesenheit aufgebaut, das weiß er. Jahrelang hat Vera akzeptieren müssen, dass er häufig weg war, manchmal für längere Zeit. Sie war mit einem ungewöhnlichen Beamten verheiratet; er durfte ihr nicht sagen, was er machte, sie blieb außen vor. Sie hat sich ein eigenes Leben rund um einen Mann aufgebaut, der de facto unerreichbar war, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne. Wenn er unterwegs war, wusste sie oft nicht einmal, wo er sich befand oder wie lange er wegbleiben würde. Trotzdem blieb sie seine Frau, und er verließ sich darauf, dass sie da wäre, wenn er nach Hause kam, wenn er manchmal nach einem halben Jahr plötzlich wiederauftauchte.

Diese längeren Phasen hatten begonnen, als er in den Libanon geschickt wurde, UNIFIL in den Siebzigerjahren war seine erste lange Mission, damals war er noch keine dreißig. Dort hatte er das Arbeiten unter Umständen gelernt, die er oft nicht unter Kontrolle hatte. Seit dieser Mission hatten sie einander über fünfzehn Jahre so selten gesehen, dass sie ihr Bestes hatten geben müssen, um einander immer weiter zu lieben. Mitte der Achtzigerjahre wurde er in die Schweiz geschickt, nach Zürich. Er brach in ein neues Leben in einem neuen Land auf, und sie kam nicht mit. Er arbeitete bei einer auf Finanzdienstleistungen und Technologie spezialisierten Tarnfirma. Drei Jahre blieb er dort, es waren die schönsten und vielleicht auch die gefährlichsten seines Lebens, gerade weil die Schweiz so sicher erschien. Er agierte als Geschäftsmann, vom Geheimdienst platziert, er trieb Handel mit Leuten aus Ostdeutschland und aus der im Einsturz begriffenen Sowjetunion. Von Zürich fand er den Weg nach Dresden, wo er sich als jemand ausgab, mit dem man Geschäfte machen konnte. Man hatte eine Firma namens Econocom Tech gegründet, die durch den Geheimdienst geschützt wurde, um für die Riesenmengen an Kapital einen Weg aus der implodierenden Sowjetunion zu schaffen.

In Dresden fand das Ganze statt, denn dort saß Robotron, der ostdeutsche Technologiegigant, der in jeder Hinsicht abhängig vom Westen war. Nach Dresden kamen alle, die Kontakte zwischen Ost und West benötigten, und John mit seiner unabhängigen Finanzberatungsfirma stellte das ideale Zwischenglied für andere Parteien dar. Er war ein unbekannter Regler im Hintergrund, der immer ein finanzielles Konstrukt parat hatte. Und alles, was er hörte oder sah, gab er in Berichten nach Den Haag weiter.

Vera kümmerte sich um das Haus in Den Haag, er ging seiner Arbeit nach. Kinder haben sie keine: Vera wurde nicht schwanger, und John war das nur recht. Er hat sich für sie entschieden, und er darf gar nicht daran denken, dass sie ihn verlassen, sich von ihm scheiden lassen oder das auch nur in Erwägung ziehen könnte. Ihr gegenseitiges Vertrauen reicht tief, und er weiß, dass ihr völlig klar ist, was die Nachricht bedeutet. Noch nie hat er seine Aktivitäten explizit benannt. Vera ist zur Spezialistin geworden, wenn es darum geht, zwischen den Zeilen zu lesen. Sie haben eine eigene Sprache entwickelt, eine eigene Art und Weise, einander zu verstehen.

Nach diesen Nachrichten ist John sehr unruhig. Der Repair Club hat vorzeitig geschlossen, und das zur großen Unzufriedenheit der Leute, die gehofft hatten, noch an die Reihe zu kommen. Jetzt will John so schnell wie möglich weiter. Der Russe hat ihn in Alarmbereitschaft versetzt. Lydia ist dem Mann nachgegangen und hat sich das Kennzeichen seines Wagens notiert. John selbst hat einen Geolokator an die Tüte des Mannes geklebt. Der Beginn einer Aktion, es gibt Arbeit für den Repair Club, der auf das Ganzmachen kaputter Dinge spezialisiert ist, auf das Korrigieren von Fehlern aus der Vergangenheit. So wie diesem hier. Er weiß noch nicht, worin genau der Fehler besteht, nur dass da etwas genauso kaputt ist wie die Schreibmaschine.

8

INFORMATIONEN UND VERTRAUEN

In einer Einkaufsstraße würde sie nicht einmal auffallen. Sie ist mittelgroß, Ende vierzig, nicht mehr ganz schlank, hat kurzes, lockiges Haar, trägt eine Brille und einen Anzug. Sie hat einen Juraabschluss und in Sozialgeografie promoviert, sie hat mehr als zehn Jahre Erfahrung bei Operationen, ihr Training hat sich dauerhaft in ihre Muskeln und Sehnen eingeprägt. Alisha Calder ist der erste weibliche Chef des Geheimdienstes, und sie ist Schwarz.

Das Gebäude des Geheimdienstes kennt sie, als würde sie dort wohnen, und manchmal ist das auch so, wenn sie während einer Krise ganze Nächte durcharbeiten muss. In ihrem Büro steht ein Schlafsofa, es gibt eine Toilette und auf dem Gang eine Dusche, die Kantine ist Tag und Nacht geöffnet, alle Korridore und Räume, alle Stockwerke fühlen sich vertraut an. Die Architektur mit dem vielen Glas soll Transparenz ausstrahlen, aber das ist das Allerletzte, was der Dienst will. Hier ist sie groß geworden, hier hat ihr Erwachsenenleben seine Form erhalten. Der Nachrichten- und Geheimdienst ist das Herz all dessen, was der Staat wissen muss, und all dessen, was er lieber nicht wissen will. Auf dem Konferenztisch liegen hohe Aktenstapel und Kopien des Zeitungsartikels. Alle Anwesenden haben eine Kopie. Innerhalb eines Tages haben ihre Mitarbeitenden alle Dokumente zusammengetragen, die auch nur im Entferntesten irgendetwas mit der Angelegenheit zu tun haben können. Calder beugt sich vor, die Ellbogen auf dem Tisch, mit entschlossenem, ungeduldigem Blick.

»Die meisten Fragen sind beim Außenministerium gelandet, weil dahin die finanzielle Verbindung läuft, aber in Syrien sind sie nicht aktiv. Wir schon, und ich will wissen, wie.«

Die Leute glauben, man könnte auf Abruf alle Fakten und Informationen bekommen. Dabei wird alles von Tag zu Tag nur immer komplizierter. Auch das wissen alle, und trotzdem fragen sie immer weiter. Regieren heißt Vorausschau, so sagt man. Wer sich das ausgedacht hat, hat noch nie für die Regierung gearbeitet. Regieren heißt, einander entgegengesetzte Strategien zu entwickeln, um sich alle zum Freund zu machen, und dann erstaunt zu reagieren, wenn in der Ausführung etwas nicht läuft. Mit einer gequälten Geste schiebt sie den Aktenstapel zur Seite. Nichts ist ermüdender als Beamte, die sie über jedes Detail informieren wollen. Immer wieder muss sie ihren Mitarbeitenden und auch den Politikern deutlich machen, dass die Informationsflut sie erdrückt.

»Ich muss nicht wissen, wie groß das Ladevolumen von einem Toy...

Autor