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Raue Wasser

Als Buch hier erhältlich:

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Ein traurigschöner Debütroman über Familie und Traumata, Erlösung und Neuanfänge vor der Kulisse der einsamen Shetlandinseln

Jane ist ihr Leben lang vor ihrer Vergangenheit geflohen, aus Angst, die psychische Krankheit ihrer Mutter Sylvia geerbt zu haben. Die ist verschwunden, als Jane noch ein Teenager war.

Jetzt lebt Jane in einem Trailer in einer windumpeitschten Ecke auf den rauen und einsamen Shetlandinseln, arbeitet in einer Fischfabrik und verbringt stille Abende zuhause, gemeinsam mit Mike, dem ersten Menschen seit vielen Jahren, dem sie sich ein bisschen öffnet.

Als die Leiche ihrer Mutter gefunden wird, kommt die verdrängte Erinnerung an den Tag wieder hoch, an dem vor vielen Jahren ihr kleiner Bruder starb. Alte Wunden werden wieder aufgerissen, und ihr bleibt keine andere Wahl, als sich ihren Dämonen zu stellen.


  • Erscheinungstag: 25.10.2022
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783753000718
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für meinen Mann Lewis,
meinen Sohn Arthur und
meine Eltern Lynda und Bill,
in Liebe.

PROLOG

Da treibt etwas im Steinbruchsee von Crowholt.

Es ist Spätherbst. Nebel liegt auf dem Wasser. Die steilen Kalksteinklippen sind mit Weißdorn, Eschen, Bergahorn und Birken gesäumt, deren vergilbendes, sich kräuselndes Laub zum See hinabschwebt. Ein Schwarm Schwalben kreist am Himmel, bereit für den jährlichen Winterzug.

Zwei Wochen vergehen. Gänse gleiten über den See, ihre V-Formation spiegelt sich im Wasser. Das Ding treibt noch immer in der Mitte des Sees, wird von unsichtbaren Strömungen sanft bewegt. Die Temperaturen sinken allmählich. Eines Nachts friert der Steinbruchsee zu, die Eisschicht so dünn wie die Haut auf einer heilenden Narbe.

Am Morgen kommen zwei Mädchen in Schuluniformen ans Ufer. Sie rauchen Slimzigaretten und werfen Steine auf den gefrorenen See, lauschen dem Knacken und Splittern. Sie treten mit den Stiefelspitzen auf den Rand der Eisschicht und kreischen auf, als ihnen das Wasser über die Füße läuft. Eine der Schülerinnen bemerkt, dass ein Stück weiter etwas im Eis steckt. Ein toter Fisch? Ein bleicher Ast ohne Rinde? Doch dann beginnt es zu schneien, die Mädchen fangen Schneeflocken mit dem Mund, und das Ding im Eis ist vergessen.

Schwaches Sonnenlicht bricht durch die Wolken. Der See taut auf. Regen tropft von den kahlen schwarzen Bäumen. Ein Mann kommt mit einem Spaniel vorbei. Er hebt einen Stock auf, wirft ihn in den See, und der Hund hechtet hinterher. In seiner Jugend ging der Mann hier oft schwimmen, in den langen heißen Sommern, als die Steinbrucharbeiten eingestellt worden waren und die Grube sich mit Grundwasser gefüllt hatte. Er erinnert sich noch an den schlammigen Boden zwischen den Zehen, wenn man ins Wasser ging, an den Geruch von Cannabis in der schwülen Luft, an die Felsen, die bleich in der Sommerhitze schimmerten. Die beste Zeit seines Lebens.

Doch dann ertranken dort zwei Jungs aus seiner Schule. Zwölf Jahre alt, ihre jungenhaften Gesichter begannen sich gerade erst zu verfestigen. Der See wurde eingezäunt, am Ufer wurden Schilder aufgestellt:

BADEN VERBOTEN

ACHTUNG UNTIEFEN

LEBENSGEFAHR

Der Mann hat jetzt selbst einen Sohn im Teenageralter. Bei der Vorstellung, sein Sohn würde mit dem Gesicht nach unten im kalten Wasser treiben, wird ihm angst und bange.

Der Hund pflügt durch den See. Da treibt etwas in seiner Nähe, das seltsam riecht, nach Kleidung, Dreck, Fett, Fäulnis, Knochen. Der Hund schwimmt darauf zu.

Der Mann schaut gedankenverloren in den Himmel, als der Hund ihm etwas vor die Füße legt. Er bückt sich, um es aufzuheben, berührt es fast, doch dann erkennt er, was es ist.

Der Mann starrt auf das bleiche, nass glänzende Ding. Mit Schaudern erinnert er sich an die Frau, die vor all den Jahren verschwand, ihr Schwarz-Weiß-Porträt, das einen von jedem Laternenpfahl, aus jedem Schaufenster anstarrte. Die Polizisten in gelben Jacken, die reihenweise die Felder durchkämmten, die Froschmänner, die lautlos ins Wasser glitten, die Schlagzeilen in den Zeitungen.

Der Mann schluckt. Dann holt er mit zitternden Händen sein Mobiltelefon aus der Tasche und ruft die Polizei an.

KAPITEL EINS

Jane schmiegt sich an Mikes Brust und blinzelt in das Licht der Morgendämmerung, das durch die Vorhänge dringt. Noch ist alles im Zimmer grau. Ihre Klamotten liegen unordentlich auf einem Stuhl, Mikes Ölzeug hängt an der Rückseite seiner Tür. Ihr Blick schweift über seine Stiefel und zwei leere Gläser. Eine Kondomverpackung schimmert matt auf dem Nachttisch.

Sie lauscht Mikes Herzschlag: padam, padam, padam, ein leises rhythmisches Wummern.

Es ist kalt im Zimmer. Doch unter Mikes Bettdecke ist es schön warm. Sie atmet seinen Geruch ein, nach Salz auf der Haut und etwas Achselschweiß. Es ist berauschend, einem anderen Menschen so nahe zu sein. Zehn Jahre lang hatte sie keinen Menschen mehr angefasst, im wahrsten Sinne des Wortes. Hatte nur Hautkontakt mit totem Fisch, mit eiskaltem, glitschigem Lachs. Bis vor sechs Monaten. Und nun liegt sie hier, nackt unter einer Bettdecke mit einem Mann, ganz dicht bei ihm, sein Brusthaar kitzelt sie an der Nase.

Sie ist überglücklich. So glücklich war sie noch nie. Am liebsten würde sie für immer in diesem Bett bleiben. Aber der Wecker auf dem Nachttisch zeigt 07:32, und sie muss sich beeilen, sonst kommt sie zu spät zur Arbeit.

Jane setzt sich auf, gähnt im schwachen bläulichen Licht. Schaut den hünenhaften Mike an. Sie ist auch groß, doch er überragt sie locker. Ein Berg von einem Mann, mit breitem Kreuz, rotbraunem Haarschopf und dichtem Bart.

Mike regt sich grunzend. Dreht sich auf die Seite und blinzelt zu ihr hoch. Plötzlich wird Jane verlegen. Aus seinem Blickwinkel muss sie ja furchtbar aussehen, hat garantiert ein Doppelkinn, stinkt womöglich nach Schweiß. Sie presst die Oberarme an den Körper.

»Ich muss jetzt aufstehen«, sagt sie.

»Mmh.« Mike reibt sich die Augen.

»Willst du ’nen Kaffee?«

»Mmh«, sagt Mike und greift nach ihr. »Nein. Bleib noch ein bisschen.«

Er küsst sie. Sein Bart kitzelt, sie bekommt Gänsehaut.

»Das geht nicht«, sagt sie. »Sonst komme ich zu spät.«

Zehn Sekunden später ist sie wieder unter der Bettdecke und schmeckt seinen schlaftrunkenen Mund.

Die Fabrik taucht vor ihr auf, der riesige weiße Kasten leuchtet in der Wintersonne. Jane lässt den Wagen über das Viehgitter ruckeln, biegt rasch auf den Parkplatz, hält mit quietschenden Bremsen und schaut auf die Uhr. 8:15 Uhr. »Mist«, sagt sie.

Sie steigt aus, knallt die Tür zu. Am Dock werden bereits die Trawler entladen, Männer in orangefarbenen Overalls wuchten die Fischkästen ans Ufer. Hier ist sie Mike zum ersten Mal begegnet; er arbeitete damals noch auf einem Trawler. Sie machte gerade eine Zigarettenpause, er bat sie um Feuer. Als sie ihm ihr Zippo reichte, berührten sich ihre Hände, und in dem Moment geschah etwas mit ihr; Explosionen ließen ihren Körper erzittern, Sirenen heulten, rote Lichter blinkten, eine Lautsprecherdurchsage: Achtung, menschliche Berührung, menschliche Berührung! Ihr war gar nicht klar gewesen, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte. Und als die Wärme dieser Männerhand sie streifte, weckte das einen tiefen Urtrieb, ihr wurde plötzlich ganz heiß da unten. Sie hatte sich völlig vertrocknet gefühlt, seit einer Ewigkeit keine sexuelle Erregung, aber in diesem Moment hätte sie schwören können, dass aus ihren Ovarien ein Ei kullerte, wie bei einem rostigen alten Kaugummiautomaten, dem man einen Tritt verpasste.

Eine Beziehung einzugehen, war eigentlich unvorstellbar für sie gewesen. Sie hatte wie eine Nonne gelebt, eine geordnete, ruhige, enthaltsame Existenz geführt. Bis sich ihr Körper im Rausch der Pheromone über den Verstand hinwegsetzte. Sie hatte noch am selben Abend Sex mit ihm, nach ein paar Pints in der Bar des Baltasound Hotels waren sie zu ihrem Wohnwagen gestolpert, um sich elektrisiert und ausgehungert die Kleider vom Leib zu reißen.

Als Jane über den Parkplatz rennt, denkt sie unwillkürlich an den Morgen mit Mike. Daran, wie sie eben noch in Reitstellung auf ihm saß und das Kopfende des Bettes umklammerte. An ihren Orgasmus, der sich langsam zu einer strahlenden Explosion der Lust ausbreitete. Bei der Erinnerung daran schießt ihr das Blut in die Wangen. Hastig stößt sie die Metalltür zur Damenumkleide auf. Sie ist leer; die anderen sind längst fertig. Sie nimmt ihren gelben Arbeitsoverall vom Haken, zieht ihn sich über die Jeans, steigt in die Gummistiefel, stülpt sich hastig ihre Haube auf den Kopf.

Eine Frau in den Vierzigern mit Stoppelhaaren kommt hereingeplatzt.

»Verdammt, wo warst du so lange?«

»Tut mir leid, Pat«, sagt Jane.

»Du bist zu spät.«

»Ich weiß.«

»Und?«

»Es tut mir leid.«

»Hast du eine Erklärung dafür?«

Jane hat sofort vor Augen, wie sie in der Eile ihre Sachen verkehrt herum anzog und Mike sich darüber kaputtlachte. Sie muss sich zusammenreißen, um nicht loszuprusten.

»Das Auto wollte nicht anspringen«, sagt sie und stopft ihre Tasche in den Spind.

»Kaum zu fassen, dass die alte Rostlaube überhaupt noch fährt«, sagt Pat kopfschüttelnd.

»Die Seeluft halt«, sagt Jane. »Was soll ich machen.« Sie knallt ihren Spind zu und steckt den Schlüssel ein.

Pat schaut auf ihr Klemmbrett.

»Heute bist du zum Köpfen eingeteilt«, sagt sie. »Los jetzt. Und komm nicht noch einmal zu spät.«

»Ja, Pat«, sagt Jane und streift sich die Handschuhe über.

In der Fabrik stinkt es nach Fisch und Blut. Das laute Dröhnen und Zischen der Maschinen ist allgegenwärtig. Rechts von Jane stürzen Lachse eine Rutsche hinunter, und der Mann neben ihr – Anthony, sein Name steht mit Filzstift auf der Rückseite seines Overalls – streicht das Scherbeneis von ihnen ab und schiebt sie auf dem Fließband weiter zu Jane.

Jane steht vor der Köpfmaschine, deren Klinge mit einem Pedal gesteuert wird. Jane schiebt einen Fisch hinein, tritt auf das Pedal, und die messerscharfe Klinge senkt sich, trennt den Kopf vom Körper, die Haut teilt sich sauber wie Gummi, Blut spritzt heraus. Die Fischköpfe purzeln auf ein kleines Förderband, das am Boden entlangrattert; sie werden zu Katzenfutter verarbeitet. Die kopflosen Körper schiebt Jane weiter zum nächsten Kollegen, der die Bäuche der Fische vom Hals bis zum Schwanz aufschlitzt. Anschließend schneidet jemand den Eingeweidestrang durch, saugt die Innereien heraus und schöpft den orangefarbenen glitschigen Rogen in Eimer. Ein unaufhörlicher Strom von Lachsen wird von einer behandschuhten Hand zur nächsten über den Edelstahl geschoben, bis der Fisch frei von Blut ist und sauber und ordentlich in Konservendosen landet.

Die Arbeit ist eintönig, doch Jane kommt gut damit klar. Als sie damals in der Fabrik anfing, betrachtete sie den Job noch als eine Art Strafe oder Selbstgeißelung. Sie gab sich dem Lärm und Gestank, der Kälte und Monotonie hin, bis sie völlig erschöpft war; auf diese Weise konnte sie alles andere ausblenden. Nach Schichtende war sie so ausgelaugt, dass sie nur noch in ihr Bett kriechen konnte und sofort einschlief. Inzwischen hat sie sich längst daran gewöhnt. Sie ist stärker und schneller geworden, und die Monotonie hat fast schon etwas Meditatives. Beim Köpfen der Lachse kann sie träumen. Von Mike hauptsächlich. Von Mike und davon, was sie einander bedeuten. Von ihrer gemeinsamen Zukunft.

Einige Monate nachdem sie sich kennengelernt hatten, hängte er seinen Trawlerjob an den Nagel, um die Muschelfarm seines Onkels zu übernehmen. »Aquakultur«, sagte er zu ihr. »Das ist die Zukunft.« Einmal nahm er sie morgens mit aufs Boot, die Dämmerung über dem Meer, und zeigte ihr, wie sie die verkrusteten Langleinen hochzogen und den monatealten grün-violetten Seetang abschlugen, um die Miesmuscheln freizulegen, die an den Leinen festhingen wie Reben an einem Weinstock.

Das Geschäft floriert. Mike hat eine eigene Website mit kunstvollen Schwarz-Weiß-Fotos: Bojenreihen in der Bucht, das nasse Deck eines Fischerboots, Mikes Hände, die eine Muschel auslösen. »Bio-Miesmuscheln aus Shetland«, heißt es da, »in den reinsten Gewässern des Nordatlantik gediehen. Nachhaltig und natürlich.« Einmal bereitete er abends welche für sie zu, mit Weißwein, Knoblauch und Sahne. Sie waren fleischig, köstlich, aphrodisierend; dazu die herzförmigen Schalen. An jenem Abend sagte sie ihm zum ersten Mal, dass sie ihn liebte. Liebe geht eben durch den Magen.

Die Hupe ertönt, Zeit für die Mittagspause. Jane streift die Handschuhe ab, reckt sich, holt ihre Schachtel Marlboro hervor und geht nach draußen. Sie zündet sich eine Zigarette an, pult einen Fischbrocken von ihrem Overall und schnippt ihn zu Boden. Sofort stürzt sich eine Möwe darauf und verschlingt ihn.

Die Sonne ist hinter Wolken verschwunden. Das Meer wogt schiefergrau unter dem Perlmutthimmel, in der Ferne gleitet ein Tanker vorbei, die Luft ist kalt und frisch. Jane atmet tief durch, um den Fischgestank aus ihrer Nase zu vertreiben. Ein Lastwagen rumpelt vorbei; an seiner Seite prangt das Logo der Fischfabrik, eine blaue Meerjungfrau. Jane fand das Logo schon immer grotesk. Was soll es überhaupt aussagen? Dass sie Meerjungfrauen fangen wollen, um sie zu Konserven zu verarbeiten? Sie zu köpfen, ihnen die Bäuche aufzuschlitzen, ihnen die Eingeweide mitsamt Rogen herauszusaugen und sie fein säuberlich zu filetieren?

Jane zieht an ihrer Zigarette. Eigentlich sollte sie mit dem Rauchen aufhören. Mike versucht es gerade. Er kaut Kaugummi, klebt sich Pflaster auf den Oberarm. Sie selbst raucht seit achtzehn Jahren. Mit dreizehn fing sie an. Als Kind hatte sie immer fasziniert zugeschaut, wenn ihre Mutter sich Zigaretten drehte und rauchte. Ihre Mutter benutzte dafür eine silberne Maschine. Sie gab Tabakbrösel hinein, legte das angefeuchtete Papier dazu, drückte den Deckel mit ihrer einen Hand zu, und zack, kam auf magische Weise eine perfekte, glatte Zigarette heraus. Manchmal forderte sie Jane auf, eine für sie zu drehen. Dann knabberte Jane an den Tabakbröseln, die an ihren Fingern kleben blieben, und verzog das Gesicht, weil sie so komisch schmeckten.

Als Kind knabberte sie eigentlich pausenlos an irgendetwas herum. Meistens an einer Haarsträhne, die nach Shampoo roch. Oder an einem Fetzen Papier, den sie von der Rückseite eines Schulhefts abgerissen hatte. Oder an einem Kugelschreiber, einem Smarties-Tubendeckel oder irgendeinem anderen Plastikteil. Wenn sie auf den Sachen herumkaute, wurden sie warm, und dann fuhr sie mit der Zunge darüber. »Hör mit dem Kauen auf«, sagte ihre Mutter. »Du bist doch keine verdammte Kuh auf der Weide! Nimm die Haare aus dem Mund. Sonst verstopfen sie dir den Magen, und der Arzt muss dich aufschneiden und sie rausholen.«

Jane zieht an ihrer Zigarette. Was sollte das ganze Kauen und Knabbern damals überhaupt? Vielleicht fehlte ihr irgendetwas. Eisen oder so. Schwangere zum Beispiel bekommen oft Heißhunger auf Kreide oder Erde. Als sie in der Pubertät war, erzählte eine Freundin mal irgendetwas über orale Regression. Dass die Leute sich Sachen in den Mund stecken, um die Mutterbrust zu ersetzen. Ein Versuch, an diesen warmen, weichen, geborgenen Ort zurückzukehren. Blödsinn, sagte Jane. Ihr wurde richtig übel bei der Vorstellung.

Warum denkt sie ausgerechnet jetzt an ihre Mutter? Sie hat keine Lust, an sie zu denken. Sie drückt die Zigarette aus, wirft sie in den an die Wand geschraubten Metallaschenbecher und geht in die Kantine. Schnappt sich ein Tablett, schiebt es am Büfett entlang, betrachtet die Speisen unter den Wärmelampen.

»Thunfisch-Nudelauflauf«, sagt die Frau neben ihr, Terri, und rümpft die Nase. »Können die sich denn nicht denken, dass wir keinen Fisch mehr sehen können?«

Jane zuckt mit den Schultern. »Ich hab kein Problem damit«, sagt sie und schaufelt sich eine Portion auf den Teller.

Terri schnaubt. »Ich kann’s nicht mehr ertragen. Wenn ich Fisch auch nur rieche, könnte ich kotzen.« Sie schaufelt sich Fritten auf den Teller.

»Wie geht’s denn so?«, fragt Jane.

»Letzte Nacht war der reinste Albtraum. Millie hat die Windpocken. Sie konnte überhaupt nicht schlafen. Der ganze Körper ist übersät. Zinklotion bringt nichts.«

Sie setzen sich an einen Tisch, an dem bereits zwei andere Frauen Platz genommen haben; die eine hat kupferrote Locken, die andere hat ihr graues Haar zu einem Dutt gebunden.

»Hallo, Dawn, hallo, Judy«, sagt Terri.

»Terri. Jane. Alles okay bei euch?«

»Nein«, sagt Terri. »Ich bin total erledigt. Ich hab Jane gerade schon erzählt, dass Millie die Windpocken hat. Schrecklich. Sie hat die ganze Nacht geweint und konnte gar nicht mehr aufhören, sich zu kratzen.«

»Aloe Vera«, sagte Judy. »Das hilft.«

»Nein«, sagt Dawn. »Haferflocken helfen. Füll eine Socke damit, bind sie zu und leg sie in die Badewanne – so hat meine Oma es immer gemacht.«

Kaum hat Dawn das Wort »Badewanne« ausgesprochen, verändert sich die Atmosphäre. Einen kurzen Moment nur; jemandem, der die Unterhaltung flüchtig mitbekäme, würde es gar nicht auffallen. Doch am Tisch spüren es alle. Wie einen kalten Luftzug.

Jane isst mechanisch weiter, weicht den Blicken der anderen aus, die sich weiter über Windpocken austauschen. Dawn zeigt eine Narbe an ihrem Hals, Terri erzählt von einem Gürtelroseanfall, den sie vor zehn Jahren hatte. Jane bleibt still und würgt die klebrige Pasta hinunter.

Das ist ihr Beitrag zur Gruppendynamik. Wenn die anderen witzeln, tratschen, nörgeln oder von ihren Familienproblemen erzählen, hört sie einfach nur zu, und Sehnsucht steigt in ihr auf; sie schaut in das Leben der anderen hinein, als stünde sie draußen im Dunkeln vor einem Haus und spähte in die erleuchteten Fenster. Wie mochte es sein, so ein Leben zu führen? Ohne Schatten? Ohne das Gefühl, auf Schritt und Tritt von der Vergangenheit verfolgt zu werden wie von einem schwarzen Loch, das einen verschlingen will und einem die Kehle zuschnürt?

»Ach übrigens, Jane«, sagt Judy und dreht sich zu ihr. »Pat hat ja nächste Woche Geburtstag, sie wird fünfzig. Nächsten Freitag gehen wir nach der Arbeit in die Hotelbar. Stuart kümmert sich um die Glückwunschkarte und sammelt Geld. Kommst du auch? Bring ruhig deinen Freund mit. Ich will ihn unbedingt kennenlernen.«

»Mal sehen«, sagt Jane. »Kann sein, dass ich dann schon was anderes vorhabe.«

Dawn verdreht die Augen. »Was denn? In deinem Wohnwagen sitzen und aus dem Fenster starren?«

»Dawn!«, sagt Terri.

Jane zuckt mit den Schultern. »Vielleicht braucht Maggie dann meine Hilfe. Kann ich jetzt noch nicht sagen.«

Dawn zieht die Augenbrauen hoch. »Wie du meinst.«

Beim Pinkeln betrachtet Jane das Plakat, das in der Klokabine hängt; es rollt sich an den Ecken auf. »ACHTEN SIE AUF IHRE BRÜSTE« steht da. »Es könnte Ihr Leben retten.« Darunter sind Abbildungen von Knoten, eingezogenen Brustwarzen und dergleichen. Pat hat das Plakat vor ein paar Jahren dort aufgehängt, nach ihrer doppelten Mastektomie. Durch die Chemotherapie waren ihr die Haare ausgefallen, und sie trug eine Zeit lang eine Perücke, einen schwarzen Bob, der überhaupt nicht zu ihrem augenbrauenlosen Gesicht passte. Irgendwann war sie das Ding leid und warf es in den Mülleimer des Damenklos. Als Terri die Perücke dort entdeckte, kreischte sie vor Schreck, denn sie hielt sie für eine tote Ratte. Pats Haare sind seither nie richtig nachgewachsen, deshalb trägt sie sie stoppelkurz.

Als Jane sich abputzt, hört sie zwei Frauen hereinkommen.

»Warum hast du sie überhaupt gefragt?« Dawns Stimme, unverkennbar. »Wir haben ihr schon so oft angeboten, mit zum Chinesen oder zum Sonntagstee zu kommen, aber sie ist kein einziges Mal aufgetaucht.«

»Weil es nun einmal höflich ist, sie zu fragen«, erwidert Judy.

Kabinentüren öffnen und schließen sich, Reißverschlüsse werden aufgezogen, Klobrillen klappern. Jane lauscht.

»Es ist aber sinnlos. Ich meine es nicht böse, aber ich finde sie unnahbar, verstehst du? Hält sich für was Besseres. Sie ist ganz schön hochnäsig.«

»Das würde ich nicht sagen. Ich finde, sie ist freundlich. Aber manche Leute bleiben eben lieber für sich.«

Klospülungen rauschen. Kabinentüren gehen auf. Wasser läuft aus Hähnen.

»Gott, ich muss mir den Ansatz färben lassen«, sagt Judy. »Schau dir das an. Grässlich.«

»Ich finde sie seltsam«, sagt Dawn. »Warum lebt sie in einem Wohnwagen, wenn ihr doch dieser kleine Hof gehört? Weißt du eigentlich, dass mein Bruder ihr den abkaufen wollte? Das würde er immer noch tun. Er hat ihr einen guten Preis geboten; ich fand ihn sogar zu großzügig. Er will das alte Farmhaus abreißen und ein Ferienhaus dahinbauen. So ein schönes Fleckchen, mit Blick auf die Bucht, Keen of Hamar direkt vor der Haustür. Im Sommer wäre das die perfekte Geldquelle! Aber sie wollte nichts davon hören. Hat rundweg abgelehnt.«

Die Rolle Papierhandtücher rumpelt im Spender.

»Was für eine Verschwendung, das Farmhaus so verkommen zu lassen. Alles mit Brettern vernagelt, das Dach stürzt allmählich ein. Der reinste Schandfleck. Zum Gruseln. Sie bringt mich zum Gruseln.«

»Ach, Dawn.«

»Aber es stimmt doch, oder? Sie ist irgendwie unheimlich. So blass und still. Ich weiß, ihr ist was Schlimmes passiert, aber …«

Die Tür geht zu. Es ist wieder still, bis auf den tropfenden Wasserhahn.

Jane bleibt noch einen Moment sitzen. Dann zieht sie ab. Tritt aus der Kabine, wäscht sich die Hände, schaut in den Spiegel. Ihre Wangen glühen.

Sie stopft sich die Haare zurück unter die Haube. Geht durch die Kantine zurück in die Fabrikhalle. Stellt sich an ihren Platz am Fließband. Schnappt sich einen Fisch. Schlägt ihm den Kopf ab.

An der Vorderseite von Mikes Cottage lehnt eine Holzleiter. Oben auf der Leiter steht Mike in seinem Ölzeug, Strickmütze auf dem Kopf, Eimer in der Hand. Jane wird ganz mulmig bei diesem schwindelerregenden Anblick.

»Mike.«

Er schaut zu ihr, lächelt, steigt herunter. Jane atmet erleichtert auf.

»Ich mach bloß die Dachrinne sauber«, sagt er und zeigt ihr den Eimer, der mit Moos und Schlamm gefüllt ist.

»Ach so.«

»Alles okay bei dir? Kommst du gerade von der Arbeit?«

»Ja.«

Er gibt ihr einen Kuss.

»Wie war dein Tag?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Wie immer. Schnappe mir einen Fisch, schlage ihm den Kopf ab, reiche ihn weiter. Du kennst das ja.«

Mike sieht sie an. »Ist wirklich alles okay bei dir?«

»Ja«, sagt sie. »Bin bloß müde.«

»Gut, dass jetzt Wochenende ist.«

»Willst du Tee?«

»Klar«, sagt er. »Ich komm gleich nach.«

Sie schaut zu, als er die Leiter wieder hinaufsteigt.

»Sei vorsichtig da oben«, sagt sie. Dann geht sie ins Haus.

Sie macht Tee, gibt zwei Stück Zucker in seine dampfende Tasse und lässt sie auf dem Küchentresen stehen. Dann schlurft sie mit ihrer Tasse ins Wohnzimmer, setzt sich aufs Sofa und schaltet den Fernseher ein. Irgendeine Sendung über einen Hauskauf in Spanien. Sonnenwarme Hügel, Olivenhaine. Ein älteres Paar besichtigt eine alte Scheune. Manchmal stellt Jane sich vor, wie es wäre, an einem Ort zu leben, wo es nicht nasskalt und windig, sondern warm und trocken ist. An einem Ort, wo die Schatten der Vergangenheit restlos in der Sonne verglühen. Sie nippt an ihrem Tee. Vielleicht können Mike und sie ja irgendwann nach Spanien ziehen. Das wäre doch schön. Cervezas unterm Sonnenschirm schlürfen und zusammen braun werden. Und alt und schrumpelig. Wie zwei Rosinen.

Vielleicht hätte sie damals nach Spanien ziehen sollen, statt nach Shetland zurückzukehren. Vielleicht hätte sie einen sauberen Schlussstrich ziehen und woanders neu anfangen sollen. Aber sie war sechzehn, als sie weglief, allein, ohne Pass, und Shetland war der einzige Ort, der ihr einfiel. Außerdem hatte sie Heimweh. Nach der Insel Unst, der Seeluft, dem klaren Himmel. Nach den Menschen. Menschen, die sie noch aus der Zeit kannten, bevor das alles passierte. Als sie damals von der Fähre stieg und Maggie auf sie zukam und sie in die Arme schloss, fiel ihr ein Stein vom Herzen.

Aber vielleicht ist es an der Zeit, dass ich weiterziehe, denkt Jane, als sie ihren Tee austrinkt. Genug Geld hat sie jedenfalls. Seit sie arbeiten geht, zahlt sie den Großteil ihres Lohns auf das Sparkonto ein, das ihre Großmutter für sie eröffnete, als sie noch klein war. Inzwischen hat sie so viel beisammen, dass sie sich in Spanien ein Häuschen leisten könnte.

Jane reibt sich die Augen. Legt sich hin und sieht dem Moderator im Fernsehen zu, der über die wärmespeichernden Eigenschaften von Lehmziegelwänden spricht. Sie gähnt. Dann fallen ihr die Augen zu.

Als sie wieder aufwacht, ist Mikes Jacke über ihr ausgebreitet, das Licht ist an. Sie hört ihn in der Küche hantieren. Sie blinzelt auf den Fernseher. Irgendeine Quizshow mit Comedians.

Mike kommt mit zwei Tellern herein. »Ich wollte dich gerade wecken«, sagt er und reicht ihr einen Teller mit einem Burger. »Du musst wirklich erledigt gewesen sein, bist sofort eingeschlafen.«

Sie essen mit den Tellern auf dem Schoß. Mike spritzt Brown Sauce auf seinen Burger. Sie schaut ihm zu.

»Gib mal her«, sagt sie.

»Ich dachte, du kannst Brown Sauce nicht ausstehen?«

»Stimmt. Aber jetzt ist mir gerade danach. Keine Ahnung, warum.«

Sie nimmt die Flasche, spritzt ein wenig Soße auf ihren Teller, taucht den Finger hinein und leckt daran. Der säuerlich-würzige Geschmack prickelt ihr auf der Zunge. Sie drückt sich einen Klecks Soße auf den Burger.

Sie essen. Sehen fern. Jane denkt an Dawn und daran, was sie auf dem Klo gesagt hat. Sie schluckt einen Bissen hinunter und sieht Mike an.

»Findest du mich unheimlich?«, fragt sie.

»Unheimlich?«

»Dawn meinte, ich sei unheimlich. Gruselig sogar.«

»Dawn? Welche Dawn?«

»Dawn Henderson. Die mit den Locken. Petes Schwester.«

»Ach, die. Die hat dich gruselig genannt?«

»Ich hab sie sagen hören, dass ihr Bruder noch immer den Hof kaufen will.« Jane tupft ein paar lose Sesamkörner von ihrem Teller. »Wegen dem Grundstück. Um dort ein Ferienhaus zu bauen. Vielleicht sollte ich es doch verkaufen. Um endlich damit abzuschließen.«

»Aber hattest du nicht gesagt, du willst das alte Farmhaus renovieren? War das nicht der Plan?«

»Ja, stimmt. Aber … Ich nehme mir das jetzt schon seit dreizehn Jahren vor, Mike. Ich kriege es einfach nicht hin. Immer denke ich, nächstes Frühjahr fang ich damit an, wenn das Wetter besser wird, wenn ich etwas mehr Geld gespart habe. Und dann ist der nächste Frühling da, und … Meine Güte, ich schaffe es ja noch nicht mal, das Haus zu betreten. Aber den Gedanken, es zu verkaufen, kann ich auch nicht ertragen. Es ist ja noch alles drin. Dads Sachen. Und Charlies Sachen auch.«

Sie schweigt eine Weile. Dann sagt sie: »Vielleicht sollte ich einfach verschwinden. Den Hof verkaufen und nach Spanien abhauen.«

»Spanien?«

»Irgendwohin, wo immer die Sonne scheint. Und wo mich niemand kennt.«

»Ist das dein Ernst? Willst du auswandern?«

»Nein«, sagt sie. »Aber manchmal spüre ich so eine Sehnsucht, alles hinter mir zu lassen und irgendwo neu anzufangen. Dich natürlich nicht«, fügt sie hinzu. »Aber den Rest schon. Manchmal möchte ich einfach nur verschwinden. Deshalb gefällt es mir auch, im Wohnwagen zu leben, verstehst du? Wenn ich wollte, könnte ich ihn einfach ans Auto hängen und losfahren.«

Mike stellt seinen Teller ab. »Komm mal her«, sagt er, und Jane lehnt sich an ihn und atmet seinen Geruch nach Meer, feuchter Wolle und Motoröl ein. Er legt die Arme um sie. »Hast du schon mal daran gedacht, Urlaub zu nehmen?«, sagt er. »Du brauchst mal ’ne Pause, Jane. Du schuftest schon seit Jahren ununterbrochen. Fahr mal zwei Wochen weg. Oder gleich einen ganzen Monat. Irgendwohin, wo es warm ist. Setz dich an den Strand und trink Cocktails.«

Jane verzieht das Gesicht. »Nein. Das kann ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Keine Ahnung. Es kommt mir irgendwie egoistisch vor.«

»Du kannst dir ruhig auch mal was gönnen, weißt du. Das Leben genießen. Manchmal kommt es mir so vor, als wolltest du …«

»Was?«

»Na ja … als wolltest du dich für irgendetwas bestrafen.«

Jane schaut auf den Fernseher. »Gleich kommt Outlander«, sagt sie. »Stell mal lauter.«

Als Jane am nächsten Morgen aufwacht, ist sie allein. Auf dem Nachttisch liegt ein Zettel: »Wollte dich nicht wecken. Phil hat angerufen, der Anlasser vom Boot ist kaputt. Muss mich drum kümmern. Werd wohl den ganzen Tag unterwegs sein. Liebe dich. M.«

Sie macht sich einen Toast und schaut Frühstücksfernsehen. Die braun gebrannten Moderatoren grinsen mit perfekten Zähnen in die Kamera. Sie steht auf, geht ins Bad, betrachtet sich im Spiegel. Blass, dunkle Ringe unter den Augen. Die hat sie von ihrem Vater geerbt, seine Großmutter war Italienerin. Die dunklen Ringe ließen seine blauen Augen strahlen. Bei ihr sehen sie aus wie alte Blutergüsse.

Das feine glatte Haar hat sie von ihrer Mutter geerbt. Sie steckte es oft hoch, sprayte dann eine Wolke Elnett drum herum. »Wie verdammte Teppichfransen«, stöhnte sie. »Zu nichts zu gebrauchen.«

Jane schiebt sich die Haare hinter die Ohren, dreht sie zu einem Dutt, lässt sie wieder fallen.

Gruselig, denkt sie.

Jane putzt sich die Zähne, dann geht sie unter die Dusche und benutzt Mikes Seife, sie ist grün und duftet nach Kiefern. Als sie sich die Brüste einseift, zuckt sie zusammen; sie fühlen sich ungewohnt empfindlich an. Sie schaut an sich herunter. Denkt einen Moment an Pats Plakat auf dem Damenklo. Tastet sich ab. Kein Knoten. Muss an den Hormonen liegen. Apropos Hormone: Sie muss unbedingt Tampons kaufen.

Sie zieht sich an; Thermotop, Pulli drüber, Schlauchschal, Parka, fingerlose Handschuhe. Als sie das Haus verlässt, bläst ihr ein starker Wind entgegen. Sie muss die Tür ihres Wagens regelrecht aufstemmen, gleitet hinein, schließt die Tür.

Die Fahrt von Mikes Haus in Haroldswick zu ihrem Wohnwagen in Baltasound dauert zehn Minuten, die Zeit reicht gerade für eine Zigarette. Jane lässt den Rauch aus dem offenen Fensterspalt entweichen, während sie der Straße folgt, die sich durch die Landschaft aus Himmel, Moor und Meer schlängelt, vorbei an stahlblau glitzernden Seen, verfallenen Kirchen und Häuserruinen. Manche Leute finden Shetland düster und trostlos, und im Winter mag das sogar stimmen, wenn der Wind über die kargen Hügel peitscht und alles zu einem einzigen Grau verschwimmt. Doch Jane liebt es. Die Hügel und Moore erinnern sie an das Fell eines großen schlafenden Bären, der mit Schorf und Narben übersät ist. Und selbst an den trostlosesten Tagen ist Shetland von subtiler Schönheit; man muss nur richtig hinschauen. Die Lachse in der Fabrik zum Beispiel: eigentlich nur silbrige Fische, doch aus der Nähe betrachtet sind sie wunderschön, leopardenfleckig, schillernd, wolkenfarben.

Jane biegt ab und fährt eine einspurige Straße hinunter, an der alten Ruine vorbei, neben der ein paar Schafe Schutz vor dem Wind suchen. Als sie schließlich anhält, glimmt ihre Zigarette noch. Sie schaltet den Motor ab, bleibt sitzen und raucht zu Ende.

Sie betrachtet das Haus, vor dem sie geparkt hat, ein großes weißes Gebäude mit angrenzender Scheune. Maggies Haus. Im Vorgarten liegt noch Gerümpel von früher: ein alter Traktorreifen, Hühnerdrahtrollen, eine Baggerschaufel, zwei alte rosa Badewannen, die den Tieren als Wassertröge dienten. Auf dem Feld dahinter dreht sich ein Windrad, und neben der grünen Eingangstür steht eine gigantische orangefarbene Boje; HAMARSGARTH ist in großen Buchstaben daraufgemalt.

Jane schaut zu der Holperpiste hinüber, die durch die Felder und durch ein Gatter zu dem Hof führt. Ihrem Hof. Peerie Hamarsgarth. Ein Farmhaus mit Blick auf die Bucht. Sie lässt den Blick über die schmutzige Tünche, die verrutschten Dachziegel und die vernagelten Fenster schweifen.

Gegenüber vom Farmhaus steht ihr Wohnwagen. Ein Bailey Mikado von 1979. Er ist genauso alt wie sie. Vor zehn Jahren hat sie ihn jemandem vom Festland abgekauft, als Ersatz für ihren ersten Wohnwagen, der bei einem heftigen Sturm sein Dach verlor. Der Bailey Mikado war fast wie neu, als sie ihn kaufte, weil er den Großteil der Zeit in einer Garage gestanden hatte, eine Zeitkapsel aus den Siebzigern mit avocadogrünem Klappwaschbecken, orangefarbenen Blumenvorhängen und einem geometrisch gemusterten braun-beigen Teppich. Sie liebt diesen Wohnwagen. Deine Konservendose, sagt Maggie immer. Als wäre Jane ein Dosenlachs.

Jane drückt die Zigarette im Aschenbecher ihres Micra aus, steigt aus und stapft durch den Wind zu Maggies Haus. Maggie öffnet ihr die Tür, eine kleine Frau mit einem Gesicht wie ein verschrumpelter Apfel, umrahmt von einem wild zerzausten weißen Haarkranz.

»Komm rein!«, sagt sie und zieht ihr Schultertuch enger. »Ziemlich ungemütlich draußen.«

Jane betritt die heimelige Innenveranda voller Topfpflanzen, Jacken und Gummistiefel und zieht die Tür hinter sich zu. Eine Collie-Hündin taucht auf, wedelt freudig mit dem Schwanz.

»Hallo, Nell«, begrüßt Jane die Hündin. Nell leckt ihr die Hand, bevor sie sich auf den Rücken legt und von Jane den weißen Bauch kraulen lässt.

»Das alte Dummerchen«, sagt Maggie. »Du kommst übrigens gerade richtig. Ich habe bis eben mit Dave telefoniert.«

»Ach ja? Wie geht’s ihm denn?«

»Wie immer.« Maggie zupft ein paar welke Blätter von einer Topfpflanze. »Viel zu tun auf der Arbeit. Aber es geht ihm gut. Er will, dass ich über den Computer mit ihm und den Kindern rede. Über Video. Ich sagte, das habe ich schon mal mit Steven versucht, aber es war schrecklich. Ich musste die ganze Zeit brüllen, weil die Verbindung so schlecht war und alles mit Verzögerung ankam. Er sagte, die Kids würden dich aber gern sehen. Ich sagte, Kids? Furchtbar, dieser amerikanische Slang. Ich sagte, du lebst schon viel zu lange drüben, du redest schon wie ein Yankee. Steven ist genauso schlimm, er klingt wie Crocodile Dundee. Es ist zum Verzweifeln. Warum mussten sie so weit wegziehen …« Sie wirft die welken Blätter in den Mülleimer. »Was soll’s. Ich habe gerade Kaffee gekocht, willst du auch einen?«

»Nein danke.« Jane krault der Hündin noch einmal den Bauch, dann steht sie auf. »Ich muss weiter. Gibst du mir deine Liste?«

Maggie wühlt in ihrer Tasche und holt einen Zettel heraus.

»Hoffentlich sind die Regale nicht leer«, sagt sie. »Für morgen ist Sturm vorhergesagt, die Fähren haben den Betrieb eingestellt. Kommst du da draußen zurecht?« Maggie schaut aus dem Verandafenster zum Wohnwagen hinüber.

»Ja«, sagt Jane. »Mit den Bodenankern stehe ich so sicher wie ein Haus.«

»Mir wäre wohler, wenn du hier übernachtest.«

»Ich komm schon klar, Maggie.«

Maggie schaut sie mit ihren durchdringenden blauen Augen an. »Wie viele Jahre wohnst du jetzt schon in so einem Ding?«

»Dreizehn«, sagt Jane.

»Dreizehn«, sagt Maggie. »Jane – wenn es daran liegt, dass du Geld brauchst …«

»Mags. Daran liegt es nicht, das weißt du doch. Ich hab genug gespart.«

Maggie zuckt mit den Schultern. »Gut. Mein Angebot steht trotzdem, falls du es jemals brauchen solltest. Wie sieht’s denn mit Wäsche aus? Heute Nachmittag mache ich Weißwäsche. Hast du was?«

»Nein, danke. Ich habe letztens bei Mike gewaschen.«

Maggies Augen funkeln. »Wann lerne ich den Jungen endlich kennen? Bring ihn doch morgen zum Mittagessen mit. Es gibt Roastbeef.«

»Bald«, sagt Jane. »Ist noch zu früh. Aber bald. Gibt es sonst irgendwas im Haus zu erledigen? Was ist mit der Glühlampe im Bad?«

»Oh, die habe ich selbst ausgewechselt.«

»Wie bist du denn da hochgekommen?«

»Ich habe mich auf einen Stuhl gestellt.«

»Maggie. Du sollst doch nicht auf Stühle klettern.«

»Ach, es hat doch geklappt.«

»Na gut«, sagt Jane. »Bin gleich wieder zurück.« Auf dem Weg nach draußen wirft sie einen Blick auf die Liste. Milch, zwei Dosen Baked Beans, Weißbrot, zwei Dosen Suppe, Margarine, Klopapier und drei Päckchen Salzgebäck. Dann setzt sie sich die Kapuze auf und marschiert los.

Im Laden ist viel los, die Leute decken sich ein. Jane füllt ihren Korb und stellt sich in die Schlange an der Kasse. Während sie wartet, schaut sie sich um. Manchmal verirren sich unpraktisch gekleidete Touristen hierher, um im nördlichsten Laden von ganz Großbritannien Postkarten mit Shetlandponys vorne drauf oder andere Souvenirs zu kaufen. Heute sind allerdings nur sturmerprobte Insulaner in Gummistiefeln, Parkas und traditionellen Strickpullis unterwegs.

Auf dem Rückweg denkt Jane wieder an Spanien. Daran, alles zu verkaufen und wegzuziehen. Aber sie kann nicht. Unst ist ihre Heimat. Sie gehört hierher. Sie liebt diese Insel, ihre Formen und Farben, sogar im Winter. Nein, ich bleibe hier, denkt sie, als sie die Straße zu Maggies Haus hochläuft. Ich lasse mich nicht noch einmal zur Außenseiterin machen und von hier vertreiben.

Doch als sie das Gatter erreicht, stockt sie.

Neben Maggies Haus steht ein Polizeiauto. Seine gelb-blauen Leuchtfarben heben sich grell vom gedämpften Grün und Grau der Wiesen und des Himmels ab.

Maggie steht an der Haustür, ihr Tuch fest um die Schultern geschlungen, und spricht mit Police Constable Barry French, dem einzigen Polizeibeamten auf der Insel. Er wirkt nervös, hält die Mütze in den Händen, der Wind zerzaust sein schütteres Haar. Beide schauen zu Jane herüber.

Jane schlägt das Herz bis zum Hals, als sie sich nähert. Ihr Mund ist trocken. Sie umklammert die Plastiktüte mit den Lebensmitteln.

»Jane«, sagt Barry. »Ich habe Neuigkeiten. Sollen wir hineingehen und uns setzen?« Er deutet auf Maggies Haus.

»Ist es wegen der Aufstellgenehmigung für den Wohnwagen?«, fragt Jane. »Ich habe das nämlich mit der Gemeinde geklärt, falls du die Unterlagen sehen willst. Die Nutzung ist erlaubt, während ich das Farmhaus renoviere. Hat sich jemand beschwert?«

»Es geht nicht um den Wohnwagen, Jane.«

Sie starrt ihn an.

»Was ist denn los?«, fragt sie. »Habe ich etwas verbrochen?«

»Maggie, würdest du uns bitte allein lassen?«

»Oh«, sagt Maggie. »Natürlich.« Sie nimmt Jane die Tüte ab und wirft ihr einen Blick zu, bevor sie die Tür hinter sich schließt.

Jane wendet sich PC French zu. »Also?«

»Es geht um deine Mutter, Jane.«

Jane wird flau im Magen.

»Wurde sie gefunden?«, stößt sie hervor.

PC French schluckt. Sein Adamsapfel wackelt.

»Nein«, antwortet er. »Das kann man so nicht sagen. Ich bekam einen Anruf von den Kollegen aus Devon. Sie haben etwas gefunden und vermuten, dass es …« Er zögert. »Sie haben eine Armprothese gefunden. In einem Steinbruchsee in Devon. In Crowholt.«

Jane ist, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen. Die Welt um sie herum gerät ins Schwanken. Schwarze Flecken schwirren am Rande ihres Blickfelds. Sie muss sich an der Hauswand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Jane, sollen wir nicht lieber hineingehen? Das muss schwer für dich sein, ich verstehe das.«

Jane schüttelt den Kopf. Ringt nach Luft.

»Sie wissen noch nicht mit Sicherheit, ob er von deiner Mutter ist«, sagt PC French. »Sie vermuten es zwar, müssen aber noch einige forensische Untersuchungen durchführen, um …«

»Untersuchungen?«

»Nun, einen DNA-Abgleich, um zu bestätigen, dass es ihre ist, und …«

»Natürlich ist es ihre«, sagt Jane. »Wem sollte die Prothese denn sonst gehören? Oder wird außer ihr noch eine andere Prothesenträgerin in Crowholt vermisst? Herrgott noch mal.«

»Jane, bist du sicher, dass du dich nicht setzen willst? Möchtest du vielleicht einen Tee?«

Aber Jane drängt sich schon an ihm vorbei und stürmt die Holperpiste hinunter, an ihrem Farmhaus vorbei zu ihrem kleinen weißen Bailey Mikado. Sie knallt die Tür hinter sich zu und bleibt einen Moment lang regungslos im Wohnwagen stehen.

Dann klappt sie die Spüle auf und übergibt sich.

Die Dunkelheit bricht schnell herein. Der Wind peitscht über die Insel. Der Wohnwagen knarrt, ächzt, drückt gegen die stählernen Anker, die ihn am Boden halten. Jane liegt im Bett und starrt auf die Überreste des letzten Lecks an der Decke. Sie denkt an die Armprothese ihrer Mutter. Sie erinnert sich noch an sie – an die kühle, beigefarbene Glätte, die ovalen Fingernägel und die leicht gekrümmte Form der Hand, wie bei der Queen, wenn sie der Menschenmenge zuwinkt. Die tiefe Kerbe am Handgelenk, als ihr Vater mit der Motorsense eine Blechdose traf, während ihre Mutter sich im Gras sonnte. Der gelbe Fleck zwischen Zeige- und Mittelfinger von den Zigaretten.

Sie weiß noch, wie sie ihre Mutter einmal fragte, was eigentlich mit dem Arm passieren würde, wenn sie stirbt. Ihre Mutter schaute gerade Coronation Street und rauchte.

»Mum.«

»Was?«, sagte Sylvia, den Blick auf den Bildschirm geheftet.

»Was passiert eigentlich mit deinem Arm, wenn du mal stirbst?«

Ihre Mutter drehte sich langsam zu ihr um und sah sie angewidert an; Zigarettenqualm quoll ihr aus dem Mund.

»Das ist ja krank«, sagte sie. »Was für eine entsetzliche Frage.«

Janes Wangen glühten vor Scham, als ihre Mutter die Zigarette im Aschenbecher ausdrückte und sich wieder dem Fernseher zuwandte.

Jane stellte ihr diese Frage nie wieder. Doch nachts lag sie wach und dachte darüber nach. Sie wusste, dass es Feuerbestattungen gab, bei denen Leichen zu Asche verbrannt wurden. Aber Plastik verbrannte nicht; das wusste sie, weil ihre Mutter einmal versehentlich eine Plastikschüssel auf den heißen Herd gestellt hatte, die daraufhin geschmolzen war, lange, glibberige Stränge baumelten daran wie Käsefäden an einer Pizza; der beißende Geruch hatte sich noch tagelang in der Küche gehalten.

Wahrscheinlich bekäme ihre Mutter keine Feuerbestattung, sondern eine Beerdigung. Aber Plastik verrottete auch nicht. Das wusste Jane, weil Maggies Collie-Hündin ihre Sindy-Puppe vergraben hatte, und als Maggie ein Jahr später die Blumenbeete umgrub, tauchte die Puppe wieder auf und sah noch genauso aus wie am Tag ihres Verschwindens, bis auf das verdreckte Haar. Jane warf die Puppe daraufhin in den Müll, weil sie es unheimlich fand, dass sie so lange unter der Erde gelegen hatte. Wenn Plastik nicht verrottete, würde ihre Mutter im Sarg zu einem Skelett zerfallen und alles, was bliebe, wären ihre Knochen und der beigefarbene Arm. Doch das schien nicht recht.

Plastik kann weder brennen noch verrotten, denkt Jane, während sie auf den blassen Wasserfleck an der Decke ihres Wohnwagens starrt. Aber es kann auf dem Wasser treiben. Sie bekommt eine Gänsehaut.

Die Polizei hatte den Steinbruchsee damals durchsucht. Aber er war über dreißig Meter tief und trüb, und der Boden war mit versenkten Maschinen übersät. Die Taucher hatten die Suche schließlich aufgegeben. War ihre Mutter vielleicht doch dort unten? Lag sie am Grund dieses riesigen Drecktümpels, der einem Loch in einem verfaulten Zahn glich?

Und falls ja, warum tauchte der Arm nach all den Jahren ausgerechnet jetzt auf?

Oder sie liegt gar nicht auf dem Grund des Sees, denkt Jane schaudernd. Weil sie vielleicht noch lebt.

Jane stellt sich vor, wie ihre Mutter am Ufer steht, den Arm ins Wasser schleudert, sich lachend umdreht und in den Wald rennt.

In den ersten Jahren nach dem Verschwinden ihrer Mutter war Jane fest davon überzeugt, dass sie noch lebte. Dass sie davongelaufen war, nach Russland, Südamerika oder Afrika. An irgendeinen Ort, wo niemand sie finden konnte. Vielleicht hatte sie ein Flugzeug genommen. Sich eine Perücke aufgesetzt. Ihre Papiere gefälscht, ihren Namen geändert. Jahrelang hatte Jane immer wieder das Gefühl, sie in einer Menschenmenge, einem vorbeifahrenden Bus oder beim Abbiegen in eine Seitenstraße zu sehen; beim Anblick eines Hinterkopfs mit dunklem Pferdeschwanz stieg ihr jedes Mal der Duft von Anaïs Anaïs in die Nase. Einmal, sie war vielleicht vierzehn gewesen, klingelte das Telefon, und sie ging dran, doch niemand antwortete, sie hörte nur jemanden in der Leitung atmen. Ihr gefror das Blut in den Adern. »Mum?«, flüsterte sie. Aber die andere Person legte auf.

Vielleicht ist sie jetzt auf dem Weg zu mir, denkt Jane beklommen. Vielleicht steht sie mit flatternden Haaren an der Reling der Nachtfähre. Oder sie ist schon auf der Insel, stapft über das windgepeitschte Gras am Farmhaus vorbei zum Wohnwagen hinunter. Vielleicht ist ihr bleiches Gesicht sogar schon am Fenster, hinter den Gardinen. Jane lässt den Blick zu den orangegelben Vorhängen mit dem Chrysanthemen-Muster wandern.

Reiß dich zusammen, denkt sie. Deine Mutter ist schon lange tot.

Doch sie kann sich nicht dazu überwinden, das Licht auszuschalten.

Es ist Nacht. Jane steht am Ufer des Steinbruchsees und blickt auf das stille Wasser. Alles ist silbrig-schwarz, die bleichen Felsen leuchten im Mondlicht. Eine Eule ruft in der Ferne.

Plötzlich bekommt Jane Angst. Entsetzliche Angst.

Sie hört ein Geräusch hinter sich. Jemand ruft mit heiserer Stimme ihren Namen. Ihren alten Namen. Aber Jane will sich auf keinen Fall umdrehen. Denn sie weiß, wem die Stimme gehört. Sie gehört ihrer Mutter. Jane kann sie in ihrem Rücken spüren.

Doch ihre Mutter hört nicht auf zu rufen.

Hannah!, ruft sie.

Hannah.

Und Jane muss sich umdrehen.

Ihre Mutter kommt hinter den Bäumen hervor. Schreitet vorwärts ins Mondlicht. Sie ist nackt. Und sie ist tot. Ihre Augen sind milchig weiß, das Haar verfilzt, die Haut marmoriert. Jane ist wie gelähmt.

Hannah!, ruft ihre Mutter. Sie reißt den verwesenden Mund auf. Streckt die Hand aus. Verzieht das Gesicht zu einer tragischen Maske.

Hannah.

Jane ringt nach Luft, dann schreit sie, wieder und wieder, bis sie keuchend in ihrem zerwühlten Bett aufwacht.

Jane schiebt das Roastbeef auf ihrem Teller herum. Maggie sieht ihr mit gerunzelter Stirn zu.

»Komm schon, Jane«, sagt sie sanft. »Erzähl mir, was los ist.«

Jane presst die Lippen zusammen. Ihr Blick schweift zu Nell, die schlafend vor dem Kaminfeuer liegt. Schließlich schaut sie Maggie an.

»Man hat ihren Arm gefunden.«

Es ist still. Nur das Ticken der antiken Uhr auf dem Kaminsims ist zu hören. Und Nell, die im Schlaf leise jault.

Maggie starrt Jane an. »Was?«, stößt sie schließlich hervor.

»Ihre Prothese«, sagt Jane. »Sie wurde in einem Steinbruchsee gefunden. In Crowholt. Den See hat man damals durchsucht, aber vergeblich. Der Hund eines Spaziergängers hat sie jetzt entdeckt, sie trieb im Wasser.«

»Meine Güte, Jane.«

Jane stochert auf ihrem Teller herum.

»Ich wünschte, sie hätten ihre Leiche gefunden, Maggie«, sagt sie mit zitternder Stimme. »Dann wüsste ich, dass sie tot ist. Für immer weg. Dann könnte ich sie endlich loslassen und nach vorne schauen. Aber das jetzt … Das fühlt sich irgendwie absichtlich an.«

»Was meinst du damit?«

Jane lehnt sich seufzend in ihrem Stuhl zurück. »Ich habe gerade erst angefangen, mich sicher zu fühlen. Ich habe mir hier eine Existenz aufgebaut. Nichts Besonderes, aber es ist mein Leben, verstehst du? Endlich kann ich mal entspannen. Durchatmen. Ein bisschen in die Zukunft planen. Und jetzt das – als wollte sie mir ein makabres Zeichen hinterlassen. Deine Vergangenheit wird dich nie loslassen, Jane. Und ich dich auch nicht …« Sie schluckt. Starrt auf das Kaminfeuer, die knackenden, Funken sprühenden Holzscheite.

»Ich möchte einfach nur, dass es aufhört«, sagt sie. »Dass man sie endlich findet. Komplett. Dann kann ich sicher sein, dass sie nie wieder auftaucht.«

Maggie nimmt Janes Hand und drückt sie.

»Sie werden sie finden, Jane«, sagt sie sanft. »Und selbst wenn nicht – es steht fest, dass sie tot ist. Schon sehr lange.«

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