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Rache

Als Buch hier erhältlich:

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Ex-FBI-Agentin Jane Hawk suchte die wahren Schuldigen für den vermeintlichen Freitod ihres Ehemannes Nick und hat die Verschwörung um die elitäre Gruppe der Arkadier aufgedeckt. Während ihres Kreuzzuges gegen die Terrorgruppe hat sie sich viele Feinde gemacht, die auf Rache sinnen. Nun endlich scheinen diese ihrem Ziel nahe: Die Arkadier haben Janes fünfjährigen Sohn Travis aufgespürt, den sie bei Freunden in Sicherheit wähnte. Zeitgleich bereiten sie sich darauf vor, die Schwiegereltern von Jane mental umzuprogrammieren. Jane ist gerade am anderen Ende des Landes - wird sie rechtzeitig da sein, um die Rache der Arkadier zu verhindern?


  • Erscheinungstag: 22.06.2021
  • Aus der Serie: Jane Hawk
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959675857
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lieferbare Titel

Suizid (Jane Hawk, Band 1)
Gehetzt (Jane Hawk, Band 2)
Gefürchtet (Jane Hawk, Band 3)

Dieses Buch ist

Leason und Marlene Pomeroy gewidmet,

liebevoll Feuerball und Knallfrosch genannt,

die wundersam entzückend sind.

Für alles, was wir haben und sind,
Fürs Schicksal aller unserer Kinder …

RUDYARD KIPLING,
»For All We Have and Are«

Stakkatosignale ständiger Informationen,

Ein lockerer Verbund von Millionären

Und Milliardären und, Baby,

Dies sind Tage voller Wunder und Staunen.

PAUL SIMON,
»The Boy in the Bubble«

Eine neurale (Gehirn-)Verknüpfung zu schaffen,

ist die Sache, auf die es wirklich ankommt, um eine Mensch-Maschinen-Symbiose zu erreichen.

ELON MUSK

TEIL EINS

EIN VERZWEIFELTES HERZ

EINS

Anfangs war die Brise nicht mehr als ein lang gezogener Seufzer, der durchs texanische Hochland strich, als drückte er irgendeine der Natur eigene Traurigkeit aus.

Sie saßen im Spätnachmittagslicht im Freien, weil sie glaubten, das Haus sei verwanzt, sodass alles, was sie in seinem Inneren sagten, in Echtzeit mitgehört werden würde.

Ebenso trauten sie weder den Veranden noch der Scheune noch den Pferdeställen.

Hatten sie etwas Wichtiges zu besprechen, zogen sie sich zu der Sitzgruppe aus Redwood unter der mächtigen Eiche hinter dem Haus zurück, vor der sich ebenes Grasland erstreckte, das in sanften Wellen bis zum Horizont und scheinbar noch ewig weiter reichte.

Als der Sonntagnachmittag in den Abend überging, saßen Ancel und Clare Hawk in diesen Sesseln, sie mit einem Martini, er mit Macallan Scotch auf Eis, und machten sich auf eine angekündigte Fernsehsendung gefasst, die sie nicht sehen wollten, obwohl sie vielleicht ihr Leben verändern würde.

»Welche Bombe könnten sie platzen lassen?«, rätselte Clare.

»Typisch Fernsehen«, sagte Ancel. »Sie bewerben fast jede Story, als könnte sie die Grundfesten der Welt erschüttern. So verkaufen sie Seife.«

Clare beobachtete, wie er über das hohe, zitternde Gras und in die Weite des Himmels schaute, als könnte er sich nie an ihnen sattsehen und entdeckte immer wieder neue Bedeutungen, wenn er sich auf sie konzentrierte. Dieser große Mann mit von Wind und Wetter gegerbtem Gesicht und von der Arbeit schwieligen Händen sah aus, als könnte er ein Herz aus Stein haben, aber in Wirklichkeit kannte sie kein weicheres.

In vierunddreißig Ehejahren hatten sie Entbehrungen ertragen und viele gemeinsame Erfolge gefeiert. Aber jetzt – und vielleicht bis ans Ende ihrer Tage – wurde ihr Leben durch eine Gnade und einen nie zu verschmerzenden Verlust definiert: die Geburt ihres einzigen Kindes Nick und seinen Tod mit zweiunddreißig Jahren im vergangenen November.

Clare sagte: »Ich habe das Gefühl, dass es nicht nur darum geht, Seife zu verkaufen, sondern das verdammte Messer bösartig in der Wunde herumzudrehen.«

Ancel streckte seine linke Hand aus, und sie umklammerte sie. »Wir haben uns alles genau überlegt, Clare. Wir haben Pläne. Wir sind auf alles vorbereitet.«

»Ich bin nicht darauf vorbereitet, auch Jane zu verlieren. Das könnte ich nie ertragen.«

»Dazu kommt es nicht. Sie sind, wer sie sind, und sie ist, wer sie ist, und ich würde jederzeit auf sie wetten.«

Als der Himmel sich gerade von ausgebleichtem Denimstoff zu Saphirblau verdunkelte, frischte die Brise auf und ließ das Eichenlaub über ihnen leise rascheln.

Ihre Schwiegertochter Jane Hawk, die ihnen so nahestand wie eine leibliche Tochter, war vor Kurzem wegen Spionage, Landesverrat und sieben Morden angeklagt worden – alles Verbrechen, die sie nicht begangen hatte. Das Sunday Magazine, eine einstündige Fernsehsendung, die selten jemandem vom Präsidenten bis zum Popsänger mehr als zehn Minuten widmete, würde sich heute Abend ausschließlich mit ihr befassen. Als meistgesuchte Verbrecherin Amerikas und Mediensensation wurde Jane von der Boulevardpresse und in der Werbung für diese Sondersendung des Sunday Magazine als »das schöne Ungeheuer« bezeichnet.

Ancel sagte: »Die Anklage durch eine irregeführte Grand Jury, jetzt diese Sendung, der ganze Medienrummel … ist dir klar, was das bedeuten muss?«

»Nichts Gutes.«

»Nun, ich glaube, dass sie Beweise hat, die diese Schweinehunde vernichten werden – und sie wissen, dass Jane sie besitzt. Sie sind verzweifelt. Findet sie einen Journalisten oder jemanden beim FBI, dem sie vertrauen kann …«

»Das hat sie schon versucht. Je größer die Story, desto weniger Leuten kann sie vertrauen. Und größer als diese Story geht’s kaum.«

»Sie sind verzweifelt«, wiederholte Ancel. »Sie bieten alles gegen sie auf, versuchen, das ganze Land gegen sie aufzubringen, machen sie zu einem Monster, was kein Mensch jemals glaubt.«

»Und was dann?«, fragte Clare. »Was kann sie noch hoffen, wenn das ganze Land gegen sie ist?«

»Das ist es nicht.«

»Ich weiß nicht, wie du davon so überzeugt sein kannst.«

»Wie sie dämonisiert wird, diese Hysterie, die sie in den Medien erzeugt haben … das ist alles zu viel. Das merken die Leute.«

»Alle, die sie kennen, aber die sind keine Mehrheit.«

»Überall reden Leute davon, wie die wahre Story aussehen könnte und ob Jane vielleicht etwas angehängt werden soll.«

»Was für Leute? Und wo überall?«

»Überall im Internet.«

»Seit wann bist du länger als fünf Minuten online?«

»Seit den neuesten Entwicklungen.«

Die Sonne schien hinter dem Horizont zu versinken, der in Wirklichkeit vor ihr aufstieg und sie verdeckte. In dem Augenblick, in dem alles restliche Tageslicht den roten westlichen Himmel indirekt erhellte, frischte die Brise erneut auf, wurde zu einem spürbaren Wind, als funktionierten alle Abläufe wie ein Uhrwerk.

Als vom Wind losgerissene Blätter der Lebenseiche durch die Luft segelten, ließ Clare Ancels Hand los und bedeckte ihr Glas, während er seines schützte.

Im Haus gab es keine Ungestörtheit, und sie waren noch nicht fertig damit, einander in Bezug auf traurige und hoffnungsvolle Themen zu beraten und sich auf den Affront durch die Fernsehsendung vorzubereiten. Der Wind brachte die Dunkelheit, die wiederum nächtliche Kühle brachte, aber das Sternenmeer war wundersam und tröstlich zugleich.

ZWEI

Zehn Meilen von der Hawk Ranch entfernt leitet Egon Gottfrey das Unternehmen mit dem Ziel, Ancel und Clare Hawk in Gewahrsam zu nehmen und ihre vollste Kooperation bei der Fahndung nach ihrer Schwiegertochter sicherzustellen.

Nun, Gewahrsam ist ein allzu förmlicher Ausdruck. Jeder Angehörige von Gottfreys Team besitzt einen gültigen Dienstausweis des Ministeriums für Heimatschutz. Außerdem können sie sich bei Bedarf als NSA- und FBI-Agenten ausweisen, obwohl sie dort nur auf dem Papier arbeiten. Sie beziehen drei Gehälter und verdienen sich drei Pensionen – nach außen hin, um die Vereinigten Staaten zu schützen und zu verteidigen, während sie in Wirklichkeit für die Revolution arbeiten. Die Anführer der Revolution sorgen dafür, dass ihre Fußsoldaten von eben dem System, das sie beseitigen wollen, gut entlohnt werden.

Weil Egon Gottfrey beim Heimatschutz Karriere gemacht hat, wurde er eingeladen, sich den Techno-Arkadiern anzuschließen – den Visionären, die die geheime Revolution anführen. Nun ist er einer von ihnen. Und warum nicht? Er glaubt ohnehin nicht an die Vereinigten Staaten.

Die Techno-Arkadier werden die Welt verändern. Sie werden die streitsüchtige Menschheit befrieden, die Armut besiegen und eine Utopie durch Technologie erschaffen.

Zumindest möchte der Unbekannte Autor uns das glauben machen.

Die Hawks werden nicht verhaftet. Gottfrey und seine Crew werden sie entführen. Weder Anwälten noch Gerichten ist dabei eine Rolle zugedacht.

Nachdem Egon Gottfrey kurz nach 16.00 Uhr in Worstead, Texas, angekommen ist, langweilt ihn die Kleinstadt binnen einer halben Stunde nach seinem Einchecken im Holiday Inn.

Im Jahr 1896, als dieses Kaff zu einem Umschlagplatz für die Produkte von Farmern und Ranchern aus der Region wurde, hieß es aufgrund der vielen Wollballen, die von hier aus an Spinnereien gingen, Sheepshear Station. So wird es zumindest erzählt, und es gibt keinen Grund, das anzuzweifeln.

Als das Nest 1901 zur Stadt erhoben wurde, fanden die Gründerväter den Namen Sheepshear Station nicht erhaben genug für ihre Zukunftsvisionen. Außerdem machten boshafte Leute daraus gewohnheitsmäßig Sheepshit Station. Also erhielt es den Namen Worstead nach der Gemeinde Worstede im englischen Norfolk, in der erstmals Kammgarn hergestellt wurde.

Jedenfalls soll Gottfrey das glauben.

Über 14.000 Bauernlümmel haben hier jetzt ihr Zuhause.

Unabhängig davon, wie sie ihr Kaff nennen, findet er, dass es eine blasse Kopie einer Stadt ist, ohne genügend Details, vergleichbar der Bleistiftskizze eines Künstlers für ein Ölgemälde. Aber für ihn sieht jede Stadt so aus.

Die Straßen sind nicht von Bäumen gesäumt. Die einzigen stehen im Park am Town Square, als hätte für das Bühnenbild nur ein begrenztes Budget zur Verfügung gestanden.

Kurz vor Sonnenuntergang schlendert er durch die Innenstadt, in der die meisten Gebäude Flachdächer mit Brüstungen von der Art haben, hinter denen in tausend alten Filmen Schurken und Sheriffs kauern, um einander zu beschießen. Viele Häuser sind aus Kalkstein aus der Umgebung oder rostbraunen Klinkersteinen erbaut. Ihre Schlichtheit und Gleichförmigkeit hindert die Handelskammer daran, das Stadtbild als malerisch zu bezeichnen.

In Julio’s Steakhouse, dessen Bar sich bis auf eine erhöhte Veranda an der Straßenfront erstreckt, sind Paloma Sutherland und Sally Jones, zwei der Gottfrey aus Dallas zur Unterstützung zugeschickten Agents, genau dort, wo sie sein sollten, und genießen einen Drink an einem Tisch auf dem Gehsteig. Als er vorbeiläuft, nehmen sie Blickkontakt mit ihm auf.

Und im Park sitzt Rupert Baldwin auf einer Bank und liest Zeitung. Mit Hushpuppies an den Füßen und in einem etwas zu großen Cordsamtanzug mit beigem Hemd und Western Bolotie, deren Verschluss mit Türkisen besetzt ist, sieht er aus wie der nerdige Biologielehrer einer Highschool, aber er ist taff und skrupellos.

Als Gottfrey vorbeigeht, räuspert Rupert sich nur.

Auf einer anderen Bank sitzt Vince Penn, halb so breit wie hoch, mit plattem Gesicht und den riesigen Pranken eines geborenen Würgers.

Vince hat eine Handvoll Kieselsteine gesammelt. Ab und zu wirft er einen davon mit gemeiner Zielsicherheit nach einem der ahnungslosen Eichhörnchen, die von den Einheimischen gelernt haben, Menschen für harmlos zu halten.

Südlich des Parks steht das Zwei-Sterne-Motel Purple Sage Inn, ein Familienbetrieb, so wenig überzeugend wie jede andere Örtlichkeit der Stadt.

Vor Zimmer 12 parkt ein von Overfinch North America veredelter Range Rover mit erheblicher Leistungssteigerung, einem Styling-Paket aus Kohlefaser und einem Doppelauspuff aus Titan, den eine bestimmte Klasse von Revolutionären als zusätzlichen Anreiz erhält. Der Range Rover beweist, dass Christopher Roberts und Janis Dern – Gottfreys erfahrenste Agenten – dort eingecheckt haben.

Mit Egon Gottfrey und den beiden Männern, die im Augenblick die Zufahrt zur Hawk Ranch zehn Meilen östlich von Worstead überwachen, ist das Neun-Personen-Team vollständig.

Bei dieser Unternehmung benutzen sie keine Wegwerfhandys, nicht einmal die Handfunkgeräte Midland GXT, die oft sehr praktisch sind. In manchen Teilen des Landes, zu denen Texas gehört, gibt es zu viele paranoide Idioten, nach deren Überzeugung sich Teile der Regierung und bestimmte Industrien gegen sie verschworen haben. Manche von ihnen sind bei der Polizei oder waren beim Militär und verbringen jetzt ungezählte Stunden damit, auf der Suche nach Beweisen für ihre Verschwörungstheorien Funkfrequenzen abzuhören.

Zumindest möchte der Unbekannte Autor uns das glauben machen.

Als Gottfrey seinen Rundgang durch die Kleinstadt fortsetzt – jetzt nicht mehr, um sich von der Anwesenheit seines Teams zu überzeugen, sondern rein als Zeitvertreib –, überflutet die untergehende Sonne die Straßen mit karmesinrotem Licht. Die zuvor blassen Gebäude aus Kalkstein scheinen jetzt aus durchsichtigem Onyx zu bestehen, der von innen heraus leuchtet. Selbst die Luft scheint zu glühen, als begänne alles Licht im unsichtbaren Spektrum sich vor dem Auge des Betrachters zu manifestieren, als wäre die ohnehin nur illusionäre Welt geplatzt und ließe erkennen, was unter ihrer sogenannten Realität liegt.

Egon Gottfrey ist nicht nur ein Nihilist, nach dessen Überzeugung das Leben keinen Sinn hat. Er ist ein radikalphilosophischer Nihilist, der behauptet, es könne keine objektive Grundlage für Wahrheit geben, sodass nicht nur keine Wahrheit existiert, sondern auch die gesamte Welt und ihre Existenz – jedermanns Existenz – eine Fantasie, eine lebhafte Sinnestäuschung sind.

Die Welt ist vergänglich wie ein Traum, jeder Augenblick des Tages nur ein Trugbild innerhalb einer unendlichen Vielfalt von Illusionen. Das Einzige, was von ihm bestimmt existiert, ist sein Verstand in der Hülle seines illusionären Körpers. Er denkt, also ist er. Aber sein Körper, sein Leben, sein Land und die Welt … alles nur Illusionen.

Angesichts dieser Auffassung von der condition humaine wäre ein geringerer Verstand vielleicht übergeschnappt, hätte sich der Verzweiflung ergeben. Gottfrey ist bei Verstand geblieben, indem er in der Illusion, die diese Welt nun mal ist, mitspielt, als wäre sie ein Theaterstück für ein unsichtbares Publikum, als träte er als Schauspieler in einem Drama auf, ohne jemals ein Rollenbuch gesehen zu haben. Das Ganze ist ein Marionettentheater. Er ist eine Marionette, aber das findet er okay.

Dass er das für vertretbar hält, hat zwei Gründe, von denen der erste seine ausgeprägte Neugier ist. Er ist sein eigener Fan, der gespannt darauf wartet, was ihm als Nächstes widerfahren wird.

Zweitens gefällt Gottfrey seine Rolle als Autorität mit Befehlsgewalt über andere. Obwohl alles nichts bedeutet, obwohl die Ereignisse sich seiner Kontrolle entziehen und er nur als Beifahrer an Bord ist, ist es weit besser, einer derjenigen zu sein, durch die der Unbekannte Autor Macht ausübt, als zu denen zu gehören, die diese Macht zu spüren bekommen.

DREI

Der Raum wird nur durch das unterweltartige fahle Leuchten des Fernsehers erhellt, während vage Reflexionen von Gestalten, die sich auf dem Bildschirm bewegen, Spektralerscheinungen gleich über die Wände huschen …

Ancel saß steif in seinem Sessel und nahm die Lügen und Verdrehungen des Sunday Magazine mit starrer Miene zur Kenntnis, während seine grauen Augen die Dinge auf dem Bildschirm widerspiegelten.

Clare hielt es nicht in ihrem Sessel aus; sie konnte nicht nur zuhören und zusehen, ohne etwas zu tun. Sie stand auf, ging erregt auf und ab und kommentierte das Gehörte: »Bullshit« und »Lügner!« und »Abscheulicher Dreckskerl«.

Diese Sendung war anders als frühere Ausgaben des Sunday Magazine. Bisher hatte es Gefälligkeitslob und scharfe Angriffe gleichermaßen vermieden, war manchmal fast intellektuell gewesen. Und jetzt das. Dies war mit Alarmismus gekoppelter schlimmster Boulevardjournalismus. Die Sondersendung »Das schöne Ungeheuer« hatte nur einen Zweck: Jane als gefallenen Engel, als Landesverräterin hinzustellen, die nicht nur zu schrecklichen Gewaltverbrechen imstande war, sondern vielleicht auch aus Blutlust mordete.

Vor der Halbzeitpause machte der Moderator Andeutungen über die sensationelle Enthüllung, mit der seit Tagen geworben wurde. In verheißungsvollem Tonfall versprach er sie für die zweite Hälfte der Sendung.

Als der erste Werbespot lief, sank Clare auf einen Hocker, schloss die Augen und schlang ihre Arme um den Oberkörper, als fröre sie. »Was ist das, Ancel? Doch kein Journalismus, nicht im Entferntesten!«

»Rufmord. Propaganda. Diese Leute, die Janes Feinde sind, durchziehen Staat und Industrie wie Fäulnisadern und wollen sie um jeden Preis vernichten, bevor sie ihre Story erzählen kann.«

»Glaubst du, dass es in Zukunft noch Leute geben wird, die sie verteidigen?«

»Ganz sicher, Clare. Diese Dummköpfe übertreiben, sie stellen sie wie eine weibliche Kombination aus Dracula, Charles Manson und Benedict Arnold hin.«

»Viele dumme Leute werden ihnen glauben«, erwiderte Clare sorgenvoll.

»Ein paar Dumme. Ein paar Leichtgläubige. Nicht alle. Vielleicht nicht die meisten.«

Sie sagte: »Ich mag mir nicht noch mehr von diesem Scheiß ansehen.«

»Ich auch nicht. Aber uns bleibt nichts anderes übrig, nicht wahr? Jane und wir sind eins. Zerstören sie ihr Leben, zerstören sie auch unseres. Wir müssen mit eigenen Augen sehen, was uns nach dieser Sendung noch bleibt.«

Nach der Werbeunterbrechung machte das Sunday Magazine mit einem Foto weiter, das Jane nach Abschluss ihrer FBI-Ausbildung in Quantico zeigte, wo sie Nick kennengelernt hatte, der beim Marine Corps auf demselben Stützpunkt stationiert gewesen war. Dann folgten Hochzeitsfotos: Nick in Ausgeh-Uniform, Jane in einem schlichten weißen Brautkleid. Ein umwerfend attraktives Paar.

Clare kämpfte mit den Tränen, als sie ihren toten Sohn und seine junge Frau so glücklich, so lebensfroh vor sich sah.

Als Nächstes zeigte ein Film, wie Nick mit dem Navy Cross, nur eine Stufe unter der Medal of Honor, ausgezeichnet wurde, während Jane liebevoll und stolz zusah.

Clare stand von dem Hocker auf, setzte sich auf Ancels Armlehne und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er legte ihr eine Hand aufs Knie, drückte leicht zu und sagte: »Ich weiß.«

Der Moderator begann, von Nicks Selbstmord im November letzten Jahres zu reden.

Jane und er waren in ihrem Haus in Alexandria, Virginia, gewesen, hatten das Abendessen zubereitet und dabei etwas Wein getrunken. Ihr Sohn Travis übernachtete bei einem anderen Fünfjährigen in der Nachbarschaft, sodass seine Eltern einen romantischen Abend planen konnten. Nick ging auf die Toilette … und kam nicht mehr zurück. Jane fand ihn vollständig bekleidet in der Badewanne sitzend. Mit seinem Ka-Bar-Kampfmesser hatte er sich die linke Halsschlagader durchtrennt. Er hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen, der in sauberer Schrift begann, die jedoch rasch unleserlich wurde: Mit mir ist irgendetwas nicht in Ordnung. Ich muss. Ich muss unbedingt. Ich muss unbedingt tot sein.

Seit jenem niederschmetternden Anruf von Jane waren über vier Monate vergangen. Clares Tränen waren jetzt ebenso heiß wie damals.

»Das«, verkündete der Moderator ernst, »war Jane Hawks Story, die durch die polizeilichen Ermittlungen in allen Einzelheiten bestätigt wurde. In den Tagen nach Nicks Tod soll Jane sich Aussagen von Freunden zufolge in die Idee verrannt haben, es gebe im ganzen Land einen unerklärlichen Anstieg von Selbstmorden. Sie entdeckte, dass Tausende von glücklichen, erfolgreichen Menschen wie ihr Mann, die nie Depressionen gehabt hatten, ohne erkennbaren Grund Selbstmord verübten. Vom FBI beurlaubt und in so tiefer Trauer, dass ihre Freunde um ihre geistige Gesundheit fürchteten, begann sie, diesen unheimlichen Trend zu erforschen, was sie bald ganz ausfüllte.

Der Tenor der Sendung schien sich plötzlich dahin gehend verändern zu wollen, dass all die schlimmen Dinge, die in der ersten Hälfte über Jane gesagt worden waren, jetzt aus mitfühlenderer Perspektive betrachtet wurden, was Zweifel an ihrer amtlichen Charakterisierung als verräterisch und grausam wecken musste.

Als Nächstes trat ein Universitätsprofessor und Experte für Selbstmordverhütung auf. Er führte aus, der Anstieg der Suizidrate in den vergangenen zwei Jahren sei keineswegs ungewöhnlich, weil die Rate immer stark schwanke. Er behauptete, die Zahl der wohlhabenden, anscheinend glücklichen Menschen, die Selbstmord verübten, liege weiter innerhalb der normalen Grenzen.

»Das kann unmöglich stimmen«, sagte Clare.

Ihm folgte eine Expertin für Kriminalpsychologie, eine Frau, die ihr Haar zu einem straffen Nackenknoten zusammengefasst trug, schlank wie ein Windhund und mit hinter einer runden schwarzen Hornbrille eulenhaft wirkenden Augen, deren streng geschnittener Hosenanzug zu ihrem ernsten Auftreten passte, als sie analysierte, was über die unglückliche Kindheit der Protagonistin bekannt war.

Jane. Mit vier Jahren ein Wunderkind am Klavier. Tochter des berühmten Pianisten Martin Duroc. Manche bezeichneten ihn als fordernd, distanziert. Jane war ihm entfremdet. Ihre Mutter, ebenfalls eine begabte Pianistin, hatte Selbstmord verübt. Die damals neunjährige Jane hatte sie verblutet in der Badewanne aufgefunden. Ein Jahr später hatte Duroc trotz der Einwände seiner Tochter wieder geheiratet. In dem folgenden Jahrzehnt hatte Jane ein Vollstipendium am Oberlin College abgelehnt, das Musizieren ganz aufgegeben, vier Jahre College in drei Jahren absolviert und sich für eine Karriere beim FBI entschieden.

»Und es ist interessant, ihre sieben Jahre beim FBI zu betrachten«, sagte die Psychologin. Als die Kamera ihr Gesicht in Großaufnahme zeigte, um ihre blasse Ernsthaftigkeit einzufangen, senkte sie die Stimme, als hätte sie vertrauliche Informationen mitzuteilen. »In ihrer Dienstzeit im Bureau hat sie der Critical Incident Response Group angehört, die vor allem für die Analystengruppen 3 und 4 ermittelte, die für Verhaltensanalysen von Massenmördern und Serienmördern zuständig waren. Sie war an zehn Ermittlungen beteiligt, von denen acht erfolgreich waren. Für eine junge Frau, die Männer vielleicht schon lange hasste, bedeutete dieses Eintauchen in die Welt mörderischer Soziopathen, dass sie wie sie denken musste, um sie aufspüren zu können. Und diese Erfahrung kann schwere traumatische Auswirkungen auf ihre Psyche gehabt haben.«

Clare spürte einen kalten Schauder, als stünde etwas Grässliches bevor. Sie erhob sich von der Armlehne. »Was zum Teufel soll das heißen?«

Auf dem Bildschirm erschien jetzt ein Foto von J. J. Crutchfield. Der Moderator wiederholte die grausige Story dieses Frauenmörders, der die Augen seiner Opfer in Formaldehyd eingelegt aufbewahrt hatte. Jane hatte ihn angeschossen und festgenommen.

Und als Nächstes: kommentierte Videoaufnahmen einer Farm, auf der zwei Verbrecher einundzwanzig Mädchen vergewaltigt und ermordet hatten. Hier war der FBI-Agent, dessen Partnerin Jane war, erschossen worden, sodass sie nachts mit den Mördern, die Jagd auf sie machten, allein gewesen war. Sie hatte beide erledigt – den zweiten Kerl in dem Kellerverlies, in welchem die Täter ihre Opfer vergewaltigt und ermordet hatten, um sie danach im ehemaligen Schweinepferch zu verscharren.

Weitere Videoaufnahmen aus dieser Nacht, nachdem die Polizei eingetroffen war. Jane im Scheinwerferlicht mehrerer Streifenwagen im Gespräch mit uniformierten Beamten: frappierend schön wie eine Rachegöttin, aber mit zerzaustem Haar und durch das subtile Spiel von Licht und Schatten auf ihrem Gesicht leicht bedrohlich wirkend.

Die Macher des Sunday Magazine hielten das Video bei einer Nahaufnahme an, die ihre Schönheit nicht negierte, aber auch … was zeigte? Ihre verstörende Härte? Potenzielle Grausamkeit? Verrücktheit?

Unterwegs auf einer Straße in Alexandria, wo Nick und Jane gewohnt hatten, fragte der Moderator die Kamera: »Wie schmal ist der Grat zwischen Heroismus und Schurkentum?«

»Red keinen Unsinn«, sagte Clare. »Die liegen nicht dicht beieinander. Das sind Länder, zwischen denen sich ein Meer erstreckt.«

Ancel saß schweigend und mit grimmiger Miene da.

»Wenn ein guter Mensch«, fuhr der Moderator fort, »der durch ein profundes Kindheitstrauma geschädigt ist, zu lange in der finsteren Welt von Serienmördern zubringt … könnte er da nicht vom rechten Weg abkommen?«

Er blieb vor dem Polizeipräsidium Alexandria stehen.

»Nach den Ereignissen der vergangenen Wochen, die Jane Hawk in die Schlagzeilen gebracht haben, hat das Police Department, das den Tod ihres Mannes ursprünglich als Selbstmord eingeordnet hatte, die Ermittlungen unauffällig neu aufgenommen. Der Leichnam ist exhumiert worden. Eine Autopsie und umfangreiche toxikologische Untersuchungen haben ergeben, dass Nicholas Hawk unter der Wirkung eines starken Betäubungsmittels stand und sich die tödliche Schnittwunde unmöglich selbst beigebracht haben kann.«

Clare erschauderte bis ins Mark. Diese ungeheuerliche Täuschung! Solch freche, schamlose Lügen! Nicks sterbliche Überreste waren verbrannt worden. Nur seine Asche war auf dem Arlington National Cemetary beigesetzt. Es gab keinen Leichnam, der hätte exhumiert werden können.

VIER

Das Sunday Magazine war nicht auf Janes Radar.

Vor einigen Stunden hatte sie am Lake Tahoe eine Feuerprobe überlebt, die ihr fast den Rest gegeben und sie erschüttert und verzweifelt zurückgelassen hatte. Sie hatte Beweise für einen Mord gefunden, die ihr vielleicht helfen würden, die Verschwörung aufzudecken, die Nick und so viele andere das Leben gekostet hatte. Aber das hatte sie emotional, psychisch und moralisch schwer gefordert.

An einem kalten, durch Schneeschauer verfinsterten Tag war sie erst nach Süden, dann nach Westen gefahren, raus aus der Sierra Nevada und aus dem Blizzard. Und nach vielen Meilen raus aus jener trüben Stimmung in Freude und Dankbarkeit für ihr Überleben.

In Placerville zahlte sie bar für eine Nacht in einem Allerweltsmotel, in dem sie Elizabeth Bennetts Führerschein vorlegte, weil sie die schwarze Wuschelperücke, das starke Make-up und den blauen Lippenstift trug, die sie in Liz verwandelten.

In einem Lebensmittelmarkt in der Nähe kaufte sie Sandwiches und eine Flasche Wodka, holte sich Coca-Cola und Eiswürfel aus dem Automaten in der Verkaufsecke des Motels, duschte so heiß, wie sie es aushielt, und aß dann die Sandwiches im Bett, während sie im Radio Mariah Carey hörte. Sie trank Wodka-Cola und war froh darüber, am Leben zu sein und bei ihrem zweiten Drink, als ihr Wegwerfhandy klingelte.

Sie hatte Gavin und Jessica Washington im östlichen Orange County anrufen wollen: die Freunde, bei denen sie ihren Sohn Travis versteckt hatte, dem vermutlich einzigen Ort der Welt, an dem er sicher war. Hätten ihre Feinde ihren Sohn in die Hände bekommen, hätten sie ihn ermordet, denn sie wussten, dass sein Tod ihren Willen zum Widerstand brechen würde. Als das Handy klingelte, erwartete sie einen Anruf von Gavin oder Jessica, niemand sonst hatte ihre Nummer.

Aber der Anrufer war Travis. »Mommy? Onkel Gavin und Tante Jessie sind einkaufen gefahren und nicht mehr zurückgekommen.«

Jane schwang die Beine vom Bett, stand auf und hatte das Gefühl, vor einem Henker zu stehen, eine Schlinge eng um den Hals und eine Falltür unter den Füßen. Schwindlig vor Angst musste sie sich sofort wieder setzen.

Er war über zwei Monate lang bei Gavin und Jessie gewesen. Falls ihnen etwas zustieß, war er allein. Fünf Jahre alt und allein.

Ihr Herz schlug laut wie eine Leichenzugtrommel, aber viel schneller als in gemessenem Trauertakt, durch Blut und Knochen hallend.

Travis war ein zäher kleiner Bursche, stark, wie sein Vater gewesen war, ängstlich, aber beherrscht. Er erstattete Jane einen brauchbaren Lagebericht. Gavin und Jessie hatten gemerkt, dass sie überwacht wurden, dass ihre Verbindung zu Jane irgendwie aufgeflogen war. Mit Travis und ihren beiden Schäferhunden waren sie mit ihrem Land Rover aus ihrem Haus in die nachtdunklen Hügel geflüchtet. Sie waren verfolgt worden – »von diesem verrückten Monstertruck und sogar einem Hubschrauber, Mom, der uns bei Nacht sehen konnte« –, hatten die Verfolger aber abschütteln können. Sie waren zu einem von Jane vor langer Zeit genehmigten Zufluchtsort im Borrego Valley südlich von Borrego Springs gefahren. Nachdem sie ein kleines Haus auf dem Grundstück eines Mannes namens Cornell Jasperson bezogen hatten, hatte Gavin sich den Kopf rasiert, während Jessie ihr Aussehen mit einer Perücke und viel Make-up verändert hatte, bevor sie zum Einkaufen in die Stadt gefahren waren. Sie hatten in zwei Stunden zurück sein wollen. Inzwischen waren acht vergangen.

Sie mussten tot sein. Sie hätten sich nicht gefangen nehmen lassen und niemals versucht, sich ihrer Verantwortung für Travis zu entziehen. Gavin und Jessie, die beide in der Army gewesen waren, gehörten zu den besten und zuverlässigsten Menschen, die Jane jemals gekannt hatte.

Sie hatte die beiden wie Geschwister geliebt, schon bevor sie ihnen ihr Kind anvertraut hatte, und sie liebte sie noch mehr wegen ihres unermüdlichen Einsatzes für Travis. Selbst in diesen dunklen Zeiten voller Tod und Terror, in denen jeder Tag neue Gefahren und Sorgen, neue Schocks für Herz und Verstand brachte, hatte sie nicht gelernt, Verluste gleichmütig zu ertragen. Dieser traf sie wie ein Geschoss, das sie in Tränen und betäubenden Schmerz gestürzt hätte, wenn ihr Kind nicht in solcher Gefahr schweben würde.

Sie sagte Travis nicht, dass die beiden tot waren. Seine gepresste Stimme ließ vermuten, dass er das ohnehin vermutete, aber mit einer Bestätigung seines Verdachts war ihm nicht geholfen. Sie musste Ruhe und Zuversicht ausstrahlen, musste ihm Mut machen.

»Wo bist du, Sweetheart? In dem Haus, in dem du mit ihnen warst?«

War er noch in dem Haus, in dem Gavin und Jessie sich mit ihm hatten verkriechen wollen, würde er umso eher aufgespürt werden.

»Nein. Ich bin mit den Hunden zu Mr. Jasperson rübergegangen, wie wir’s tun sollten, wenn’s Probleme gibt.«

Gavins Cousin Cornell Jasperson lebte unter dem Radar. Niemand würde ihn ohne Weiteres mit Gavin und Jessie in Verbindung bringen. Bei ihm war Travis vermutlich zwei, drei Tage sicher, aber nicht viel länger. Das Wort vermutlich traf sie wie ein Hieb in den Magen.

»Schatz, bei Cornell und mit den Hunden bist du sicher, bis ich dich holen komme. Ich hole dich so schnell wie möglich, Sweetie. Niemand kann mich aufhalten.«

»Ja, ich weiß. Ich weiß, dass du mich holst.«

»Kommst du mit Cornell gut aus?«

»Er ist ein bisschen komisch, aber echt nett.«

Cornell war ein brillanter Exzentriker, dessen Extravaganzen durch einen leichten Autismus verstärkt wurden.

»Hör zu, du hast keinen Grund, dich vor Cornell zu fürchten. Mach einfach, was er verlangt, Sweetie, und ich hole dich so schnell wie möglich ab.«

»Okay, ich kann’s kaum erwarten, aber ich warte.«

»Wir können nicht mal mehr telefonieren, das ist jetzt zu gefährlich. Aber ich komme dich holen.« Sie stand wieder auf, stand diesmal fest auf den Beinen. »Niemand liebt dich mehr als ich, Travis.«

»Ich dich auch. Du fehlst mir dauernd. Hast du die Lady, die ich dir geschenkt habe?«

Die Lady war eine billige Kamee, der abgebrochene Deckel eines Medaillons, den er gefunden hatte und für wichtig hielt, weil das in Speckstein geschnittene Frauenprofil seiner Meinung nach Jane ähnlich sah.

Sie lag zwischen anderen Gegenständen auf dem Nachttisch – Springmesser, Gasfeuerzeug, dünne Stablampe, kleine Dose Pfefferspray Sabre 5-0 und vier mit Gummibändern zusammengehaltene Kabelbinder – den Werkzeugen und einfachen Waffen und Handfesseln, die sie aus den Taschen ihrer Sportjacke geholt hatte, bevor sie die Jacke aufgehängt hatte. Jane nahm die Kamee vom Nachttisch und sagte: »Ich halte sie jetzt in der Hand.«

»Sie bringt Glück. Du wirst sehen, wie alles gut ausgeht, wenn du sie nur immer bei dir hast.«

»Ich weiß, Baby. Ich habe sie. Ich verliere sie nie. Alles wird gut.«

FÜNF

Vor dem Abendessen kehrt Egon Gottfrey in sein Motel zurück, um nachzusehen, ob der Kurier aus dem Labor in Menlo Park, Kalifornien, schon da war.

An der Rezeption wartet ein großer weißer Styroporbehälter von der Art auf ihn, der Mail-Order-Steaks oder ein Dutzend Liter Speiseeis enthalten könnte.

Dieses Marionettentheater, in dem er eine Rolle spielt, wird gut geführt, und die nötigen Requisiten sind stets zur Hand, wenn sie gebraucht werden.

Er nimmt den Isolierbehälter mit in sein Zimmer, in dem er das Klebeband, das den Deckel fixiert, mit seinem Springmesser aufschneidet. Blasse kalte Dampfwolken entweichen aus perforierten Trockeneispaketen, die einen Medexpress-Behälter von der Größe eines Schuhkartons umhüllen.

Ein Seitenfach ohne Trockeneis enthält Spritzen, Kanülen und weiteres Zubehör für intravenöse Injektionen.

Im Bad stellt Gottfrey den Behälter auf die Ablage neben dem Waschbecken. Die digitale Anzeige meldet eine Innentemperatur von 3,3 Grad Celsius. Er klappt den Behälter auf und zählt zwölf zylindrische Isolierhüllen aus einem silbrigen Gewebe, die bei zweieinhalb Zentimeter Durchmesser gut fünfzehn Zentimeter lang sind und jeweils eine Ampulle mit einer milchigen bernsteingelben Flüssigkeit enthalten.

Je drei Ampullen für die Bewohner der Hawk Ranch: für Juan Saba, den Ranchmanager, und seine Frau Maria. Und für Ancel und Clare Hawk.

Jeder Satz aus drei Ampullen enthält ein Nanotech-Gehirnimplantat. Einen Kontrollmechanismus. Hunderttausende von Teilchen, vielleicht Millionen, jeweils nur wenige Moleküle groß. Sie sind bis zur Injektion ruhend, werden erst durch Körperwärme aktiv und dringen dann ins Gehirn ein.

Diese Vorstellung fasziniert Gottfrey. Obwohl er selbst kein Implantat erhalten hat, hält er sich für eine von unbekannten Mächten bewegte Marionette. Und sobald er anderen diese Teilchen injiziert, wird er gewissermaßen zum Puppenspieler: eine Marionette, die ihrerseits eigene Marionetten kontrolliert. Sein Verstand steuert ihren.

Die unglaublich kleinen Nanokonstrukte gelangen durch den Blutkreislauf ins Herz und weiter ins Gehirn, wo sie die Blut-Hirn-Barriere überwinden und wie alle Nährstoffe, die das Gehirn braucht, aus den Kapillaren austreten. Sie verteilen sich im Gehirngewebe und konstruieren selbstständig ein kompliziertes netzartiges Gebilde.

Die Injizierten sind darauf programmiert, gehorsam zu sein. Auf Befehl vergessen sie, dass sie eine Injektion bekommen haben. Sie wissen nicht, dass sie versklavt sind. Sie gehören nun zu den »Angepassten«. Ihr Gehorsam ist so absolut, dass sie auf Befehl sogar Selbstmord verüben.

Tatsächlich hatte Clare und Ancel Hawks Sohn Nick einer besonderen Kategorie angehört: den Angepassten auf der Hamlet-Liste. Die Arkadier haben ein Computermodell entwickelt, das Männer und Frauen identifiziert, die in ihrem Beruf Hervorragendes leisten und bestimmte Eigenschaften besitzen, mit denen sie für Führungspositionen prädestiniert sind. Vertreten solche Leute Überzeugungen, die im Widerspruch zur Philosophie und den Zielen der Arkadier stehen, erhalten sie eine Injektion und werden kontrolliert. Um sicherzustellen, dass sie niemanden mit ihren gefährlichen Ideen beeinflussen und ihre gefährlichen Gene nicht an eine Kinderschar weitergeben, werden sie angewiesen, Selbstmord zu verüben.

Dieser Kontrollmechanismus könnte Gottfrey ängstigen, wenn er nicht glaubte, das Gehirn und der Körper, den er kontrolliert, seien ebensolche Illusionen wie alles andere in der sogenannten Realität. Allein sein körperloser Verstand ist existent. Wo nichts real ist, gibt es nichts zu befürchten. Man muss sich nur dem Unbekannten Autor anvertrauen, der das Narrativ fortschreibt, und dorthin gehen, wohin das Stück einen führt; dann kommt man sich vor wie in einem faszinierenden Traum, der niemals endet.

Er klappt den Medexpress-Behälter zu und trägt ihn wieder ins Zimmer, wo er ihn in die Styroporbox mit Trockeneis zurückstellt.

Als er zum Abendessen ausgeht, lässt er das Licht brennen und hängt das Schild BITTE NICHT STÖREN an den Türknauf.

SECHS

Der nur schwach beleuchtete Raum, der Widerschein des Bildschirms, der nichts wirklich erhellt, die Nacht vor den Fenstern, die moralische Finsternis des Sunday Magazine …

Clares Brust war schmerzhaft beengt, jeder Atemzug fiel ihr schwer, als sie dastand und einen angeblichen Kriminalbeamten beobachtete, der so adrett wie jeder Familienvater in einer für Familien geeigneten Komödie aus den Fünfzigerjahren aussah, aber in Wirklichkeit schmutziger als jeder Dealer oder Zuhälter sein musste. Er sprach von einem exhumierten Leichnam, den es nicht gab, der seit November nur mehr Asche war, von toxikologischen Untersuchungen, die nicht an Asche vorgenommen worden sein konnten. Er behauptete, Beweise dafür zu haben, dass Nick Hawk mit seiner Dienstwaffe ermordet worden sei. Schließlich sei bekannt, sagte er, dass Jane schon damals militärische Geheimnisse an Feindstaaten verkauft habe, und er spekulierte, dass Nick, ein wahrer amerikanischer Held, der das Navy Cross erhalten hatte, sie vielleicht verdächtigt oder sogar mit seinem Verdacht konfrontiert habe.

Ancel stand ruckartig aus seinem Sessel auf. Er war von Natur aus nicht leicht erregbar. Er gewährte jedem einen Vertrauensvorschuss, wurde selten laut und ging Auseinandersetzungen aus dem Weg, indem er schwierige Leute mied. Clare hatte ihn noch nie so aufgebracht erlebt, auch wenn andere seinen Zorn vielleicht übersehen hätten, weil er sich nur in dem Puls an seiner Schläfe, seinen geballten Fäusten und den zurückgenommenen Schultern manifestierte.

Während die Sendung allmählich zu Ende ging, standen sie in schweigender Empörung über diesen Rufmord beieinander, während Martin Duroc, Janes Vater, in seinem Heim interviewt wurde – mit einem Konzertflügel im Hintergrund, um jedermann an seine Berühmtheit zu erinnern. »Jane war ein liebes, aber emotional fragiles Kind. Und so jung, als sie ihre Mutter auffand, die Selbstmord begangen hatte.« Er schien mit den Tränen zu kämpfen. »Damals ist etwas in ihr zerbrochen, fürchte ich. Sie hat sich komplett zurückgezogen. Kein Gespräch, keine Therapie konnte ihr helfen. Mir ist es vorgekommen, als hätte ich Frau und Tochter verloren. Aber ich hätte mir nie vorstellen können, dass sie einmal werden könnte, was … was sie jetzt ist. Ich bete dafür, dass sie sich stellt.«

Jane wusste, dass er seine Frau ermordet hatte, um eine andere heiraten zu können. In jener Nacht war er angeblich Hunderte von Meilen entfernt, aber in Wirklichkeit im Haus gewesen, obwohl sie das nicht beweisen konnte.

Als die Sendung damit endete, dass Duroc ein Ziertaschentuch aus der Brusttasche seines Jacketts zog und sich die Augen abtupfte, fragte Clare: »Mein Gott, was können wir tun? Was können wir tun

»Ich besaufe mich sinnlos«, sagte Ancel. »Sonst kriege ich heute Nacht kein Auge zu. Und wir können absolut nichts für Jane tun. Zum Teufel mit dieser Verbrecherbande!«

Clare hatte Ancel noch niemals betrunken erlebt und bezweifelte sehr, dass er diesmal vorhatte, seinen Kummer in Alkohol zu ertränken.

Er bestätigte ihre Zweifel, indem er sich ihr zuwandte und mit den Fingern einer Hand flatternde Bewegungen machte, die an einen Vogelflügel erinnerten: ihr vereinbartes Signal für müssen die Fliege machen.

Sie konnte nicht widersprechen. Jane hatte sie gewarnt, die Verschwörer könnten aus Frustration darüber, dass sie nicht zu fassen war, ihre Schwiegereltern festsetzen, um vielleicht so an sie heranzukommen. Nachdem die bösartigen Scheißkerle diese Nummer mit dem Sunday Magazine abgezogen hatten, würden sie erwarten, dass Clare und Ancel morgen mit einer Erklärung vor die Presse treten würden. Also würden sie vor Tagesanbruch kommen.

Das Telefon klingelte.

Ancel sagte: »Das ist irgendein Freund, der Jane kennt, die Sendung gesehen hat, uns versichern will, dass er zu uns hält. Lass ihn auf den Anrufbeantworter sprechen. Er wird nicht der Letzte sein. Bin nicht in der richtigen Stimmung dafür. Wir können sie morgen zurückrufen. Ich hole mir jetzt diese verdammte Flasche Scotch. Was ist mit dir?«

»Mir ist ganz schlecht«, sagte Clare. »Ich bin wütend und habe Angst um sie, und … und ich fühle mich so hilflos!«

»Was kann ich tun, Schatz? Was willst du tun?«

»Ich weiß, dass wir nichts tun können. Das ist das Schlimme daran. Ich gehe ins Bett.«

»Du kannst bestimmt nicht schlafen. Nicht nach diesem Zeug.«

»Ich nehme eine Ambien. Ich kann nicht trinken wie du, ich müsste mich die ganze Nacht übergeben.« Clare war überrascht, wie überzeugend alles klang. Dabei hatten sie diese Szene nie geprobt.

Sie sprachen nicht weiter, als sie sich darauf vorbereiteten, vor Sonnenaufgang zu flüchten.

Clare liebte dieses Haus, das sie nach der Hochzeit bezogen hatten, in dem Nick aufgewachsen war, in dem sie bei einem Besuch von Nick und Jane erfahren hatten, dass sie mit ihrem ersten – und nun einzigen – Enkel schwanger war. Clare fragte sich, wann sie zurückkehren können würden. Sie fragte sich, ob …

SIEBEN

Weil die Revolution ihm alles bedeutet, arbeitet Ivan Petro sieben Tage in der Woche, und an diesem ersten Aprilsonntag scheint es sein Los zu sein, Tag und Nacht durcharbeiten zu müssen.

Stationiert ist er in Sacramento, wo die Techno-Arkadier ein umfangreiches Netzwerk in der Staatsregierung aufgebaut haben, die so korrupt wie jede und korrupter als die meisten ist.

Er sitzt bei seinem Lieblingsitaliener beim Abendessen, als er wie Tausende von Arkadiern Textnachrichten über einen Vorfall mit Jane Hawk am Lake Tahoe erhält. Dazu gehört auch ein dort aufgenommenes Foto, das ihr gegenwärtiges Aussehen zeigt.

Noch ist kein Hit-Team entsendet worden, um sie zu erledigen, da aufgrund des Blizzards in der Sierra Nevada kein Hubschrauber fliegen kann.

Obwohl die dortigen Highways schneebedeckt sind, sind sie passierbar. Niemand weiß, was für ein Auto sie fährt oder wohin sie unterwegs ist, aber sie wird das Sturmgebiet um den Lake Tahoe bestimmt verlassen wollen, bevor sie sich für die Nacht einigelt.

Flüchtet sie auf dem U.S. Highway 50 nach Westen, kommt sie genau auf Ivan Petro zu.

Während er seine Portion Saltimbocca aufisst, checkt er den Wetterbericht und sieht, dass es nur bis Riverton schneit. In den zwanzig Meilen westlich von Riverton gibt es keinen größeren Ort vor Placerville, das etwa zehntausend Einwohner hat.

Ivan leert sein zweites Glas Chianti. Er verzichtet darauf, eine doppelte Portion Cannoli siciliani zu bestellen, auf die er sich so gefreut hat.

Eine Stunde nach Sonnenuntergang ist er in Placerville, um in der vielleicht wichtigsten Nacht seines Lebens nach dem sogenannten schönen Ungeheuer zu fahnden.

Ivan Petro scheint eine größere Molekulardichte als gewöhnliche Männer zu besitzen, als wäre der Stoff, aus dem er besteht, erst in einem Schmelzofen verflüssigt und dann in eine Menschenform gegossen worden. Zähne weiß und massiv wie die eines Pferdes, das breite Gesicht wie von Wind und Wetter gegerbt und permanent gerötet. Die Leute nennen ihn »großer Kerl«, seit er elf war.

Ivan ist selbst ein Einmann-Hit-Team.

Nach allgemeiner Auffassung übernachtet Jane in Motels, zahlt bar, benutzt gefälschte Ausweise und bleibt nirgendwo länger als ein bis zwei Nächte. Motels der großen Ketten akzeptieren Barzahlung im Voraus, wenn jemand keine Kreditkarte besitzt, aber in der Praxis kommt das sehr selten vor. Um unliebsames Aufsehen zu vermeiden, bevorzugt sie wahrscheinlich Familienbetriebe, Ein- oder Zwei-Sterne-Motels, in denen Barzahlung üblicher ist.

Placerville ist nicht so groß, dass es dort Dutzende von familiengeführten Motels gäbe. Mit seinem Dienstausweis vom Heimatschutzministerium, seinem gebieterischen Auftreten und der Personenbeschreibung von Tahoe Jane, ohne ihren Namen zu erwähnen, erhält er am Empfang der am ehesten infrage kommenden Betriebe bereitwillig jede gewünschte Auskunft.

Bei einem Unternehmen dieser Art kommt es auch auf Glück an. Hat Jane sich dazu entschlossen, durch Placerville nach Sacramento und vielleicht noch weiter zu fahren, vergeudet Ivan seine Zeit. Aber nach dem zweiten Halt hat er Glück. Er sitzt in seinem Range Rover, hat im Navi die Adresse eines dritten Motels eingegeben und wartet an einer roten Ampel, als er eine Frau, die infrage kommen könnte, aus einem Supermarkt kommen sieht.

Mit einer Tragetasche in der Hand geht sie an dem Range Rover vorbei und überquert die Straße, um zu dem Motel in der Nordwestecke zu gelangen. Sie ähnelt dem in Tahoe gemachten Foto von Jane incognita: modischer schwarzer Wuschelkopf, stark geschminkte Augen.

Ob sie wie auf dem Foto einen Nasenring und blauen Lippenstift trägt, kann er nicht sehen, aber sie ist sehr attraktiv in ihrer Sportjacke, die vielleicht ein Schulterholster tarnt. Und sie hält sich gut, bewegt sich geschmeidig und selbstbewusst, was Jane Hawk oft von Augenzeugen bescheinigt wird.

Sie geht am Empfang vorbei und auf dem überdachten Weg zu den Motelzimmern weiter.

Die Ampel springt auf Grün, und Ivan fährt so langsam über die Kreuzung, dass er vorbeirollt, als die Frau in Zimmer 8 verschwindet.

Das Motel ist offenbar schwach belegt, denn auf dem Parkplatz stehen nur vier Autos. Eines davon parkt in der Nähe von Zimmer 8: ein Ford Explorer Sport in Metallic-Grau, der direkt vor der Tür steht.

Ivan wendet an der nächsten Kreuzung, kommt zurück und hält auf dem Parkplatz einer Wohnanlage gegenüber dem Motel.

Der Apartmentblock besteht aus glatt verputzten Elementen, die jemand mit dekorativen schmiedeeisernen Geländern und Fensterlädchen ohne Funktion aufzuhübschen versucht hat. Vor dem Gebäude steht eine lange Pergola, die tagsüber die Autos von Gästen und Besuchern vor der Sonne schützt. Jetzt dient sie als Mondschirm für den Range Rover.

Der Explorer Sport parkt zwischen zwei Lampenmasten, sodass Ivan keine Mühe hat, das Kennzeichen durch sein Fernglas zu lesen. Mit dem Computerterminal in der Mittelkonsole seines Range Rovers hackt er die Datenbank der kalifornischen Zulassungsbehörde und gibt das Kennzeichen ein. Der Wagen ist auf Leonard Borland in San Francisco zugelassen.

Ivan ruft Google Street auf und kontrolliert, was an der angegebenen Adresse steht: ein zehnstöckiger Wohnturm. Er hat den Verdacht, dass unter dieser Adresse kein Leonard Borland anzutreffen wäre, wenn er hinführe.

Statt sich diese Mühe zu machen, sucht er in der Datenbank der Zulassungsbehörde nach Führerscheinen, die auf den Namen Leonard Borland ausgestellt sind, von denen es mehrere mit verschiedenen zweiten Vornamen gibt. Keiner von ihnen wohnt dort, wo der Explorer Sport registriert ist.

Das könnte natürlich heißen, dass der Sport einem weiteren Leonard Borland gehört, der ihn jedoch nicht selbst fährt, weil er überhaupt nicht fährt.

Aber was sein könnte, ist in diesem Fall belanglos.

Seit einiger Zeit ist bekannt, dass Jane Hawk eine Quelle für gefälschte Papiere hat, die so hochklassig sind, dass der Fälscher sie unentdeckt in amtliche Unterlagen integrieren kann, um sicherzustellen, dass sie damit durch jede Polizeikontrolle kommt.

Kurz nach der Überprüfung der verschiedenen Leonard Borlands erhält Ivan Petro einen elektrisierenden Anruf. Die Beschützer, denen Travis Hawk anvertraut war, sind in Borrego Springs gestellt und bei einem Schusswechsel erschossen worden. Der Junge ist noch nicht aufgespürt worden. Eine große Suchaktion ist angelaufen, um die Kleinstadt und das sie umgebende Borrego Valley zu durchkämmen.

Nach vielen hektischen Berechnungen beschließt Ivan fast eine Stunde später einen Aktionsplan. Er wird keine Verstärkung anfordern, um nicht zu riskieren, dass die Ehre, Jane Hawk gefasst zu haben, an die über ihm stehenden Arkadier geht, von denen viele die Angewohnheit haben, ihre Lebensläufe mit Erfolgen zu schmücken, die nicht ihre sind.

Er nennt sie Wilderer, allerdings niemals von Angesicht zu Angesicht. Sie sind gefährliche Leute, solche Vipern, dass es ein Wunder ist, dass ihr eigenes Gift sie nicht umbringt. Obwohl er sie verabscheut, behandelt er sie stets respektvoll.

Ivan besitzt jedoch genug Selbstreflexion, um zu wissen, dass er sie nicht länger hassen, sondern für ideale Partner halten würde, wenn er zu ihnen aufsteigen könnte und von ihnen akzeptiert würde. Er verabscheut die Insider nur, weil er keiner von ihnen ist: Das Ausgeschlossensein befeuert seinen Hass.

Seit seiner Kindheit ist er ein perfekter Hasser. Er hat seinen Vater wegen der vielen Prügel gehasst – und seine gleichgültige Mutter dafür, dass sie nicht eingeschritten ist. Sein Hass ist zu einer schwärenden Wunde geworden, bis er mit fünfzehn groß und wütend genug gewesen war, um seinem Alten alles mit Zinseszinsen heimzuzahlen und auch seiner Mutter etwas Bedauern einzuprügeln, bevor er die beiden für immer verlassen hat. Da sie kein Interesse daran hatten, ihm außer Kadavergehorsam irgendwas beizubringen, ahnen sie noch heute bestimmt nicht, dass ihre Grausamkeit ihn die wichtigste Lebenslektion gelehrt hat: Glück hängt davon ab, möglichst viel Macht zu erlangen, Macht in all ihren Formen – körperliche Stärke, überlegenes Wissen, Geld und noch mehr Geld, politische Kontrolle über andere.

Seine Eltern sind ignorante Alkoholiker voller Klassenressentiments, aber im Prinzip nicht anders als die arkadischen Wilderer, die bisher Ivans Aufstieg innerhalb der Revolution verhindert haben. Er hasst sie alle.

Jedenfalls hat er jetzt einen Plan, einen guten Plan, der ihm den Platz in der Hierarchie verschaffen kann, den er verdient.

Das Motel ist kein Ort, an dem er sie überraschen, überwältigen, in seine Gewalt bringen und scharf verhören könnte, ohne unliebsames Aufsehen zu erregen. Wenn er geduldig ist, wird sich eine bessere Gelegenheit bieten.

Dann kann er ihren Widerstand selbst brechen und herausfinden, wo der Junge ist … kann er der Revolution Mutter und Kind in einem Paket und in solcher Form präsentieren, dass niemand ihm die Ehre streitig machen kann.

Im Laderaum des Range Rovers liegen alle möglichen Überwachungsmittel, aus denen er einen Transponder mit einer Lithiumbatterie auswählt. Nachdem er den Code des Geräts mit seinem Navi verlinkt hat, überquert er die Straße zum Motel.

Eine Aufgabe dieser Art geht man am besten kühn an, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, sich neben einem fremden Auto hinzuknien und einen Transponder anzubringen. Auf seiner Rückseite befindet sich eine Kunststoffblase mit einem starken Kunstharzkleber. Ivan schlitzt sie auf, greift über den Hinterreifen hinweg und drückt das Gerät ans Blech des Radkastens. Der Kleber härtet in zehn Sekunden aus. Weil er dafür entwickelt wurde, die Kacheln der Hitzeschilde von Space Shuttles zu fixieren, besteht keine Gefahr, dass der Transponder auf Schotterstraßen oder bei einem Zusammenstoß abfallen könnte.

Falls Passanten Ivan bei seiner Arbeit beobachten, sind sie nicht neugierig. Er überquert wieder die Straße und kehrt unbehelligt zu dem Range Rover zurück.

Dann vergehen jedoch keine zehn Minuten, bevor die Tür von Zimmer 8 geöffnet wird und die Frau mit einer Reisetasche erscheint. Sie muss zweimal gehen, um den Ford zu beladen. Sie ist sichtbar aufgeregt und in Eile.

Für ihn steht jetzt ohne Zweifel fest, dass sie Jane Hawk ist.

Vermutlich hat sie irgendwie erfahren, was Gavin und Jessica Washington, den beiden Beschützern ihres Sohns, zugestoßen ist, die in Borrego Springs erschossen wurden.

Er beobachtet, wie sie von dem Motel wegfährt, verfolgt sie aber nicht gleich. Er braucht sie nicht in Sicht zu behalten, um sie zu beschatten. Auf dem Navi des Range Rovers wird die aktuelle Position des Transponders, den er an ihrem Explorer angebracht hat, als rot blinkender Punkt dargestellt.

Ivan wartet ein paar Minuten, bevor er von seinem Platz unter der Pergola zurücksetzt. An der Straße biegt er links ab. Jane ist auf dem Highway 50 nach Osten unterwegs – nach Sacramento und zu noch weiter entfernten Zielen. Ivan Petro ebenfalls.

ACHT

Angst um ihren geliebten Jungen konkurrierte mit tiefer Trauer um Gavin und Jessie. Die beiden hatten gewusst, wie gefährlich ihr Einsatz für Jane und Travis sein würde. Aber sie hatten die eigene Freiheit bedroht gesehen, durch die Verschwörer und ihre orwellsche Technologie, denen Jane den Kampf angesagt hatte. Sie hatten das Risiko auf sich genommen. Nun waren sie auf ewig ein Teil von ihr. Falls die Arkadier Gavin und Jessie aufgespürt hatten, waren sie gefoltert oder mit Nanoimplantaten versklavt worden, um das Versteck ihres Sohnes zu erfahren. Und jetzt würden ihre Mörder die Kleinstadt Borrego Springs und das Borrego Valley nach Travis absuchen.

Sie durfte sich nicht von der Angst lähmen, sich aber auch nicht von ihr zu übereilten Reaktionen verleiten lassen. In ihren sieben Dienstjahren hatte sie grausige Begegnungen mit Serien- und Massenmördern ertragen und war in den vergangenen Monaten, in denen eine Welt von totalitären Soziopathen Jagd auf sie gemacht hatte, mehr Todesgefahren entkommen als in ihrer gesamten FBI-Laufbahn. Sie hatte nur überlebt, weil sie in den hitzigsten Krisen einen kühlen Kopf bewahren konnte.

Kein Gefühl brannte heißer als das Entsetzen, das eine Mutter erfasste, deren Kind in Gefahr war. Ihren Jungen zu verlieren, würde sie am Boden zerstören. Wollte sie ihn retten, musste sie klug und kalt berechnend vorgehen, musste strategisch denken und Taktiken einsetzen, die sich in gefährlichen Situationen bewährt hatten.

Um das Borrego Valley zu erreichen, würde sie fast die ganze Nacht durchfahren müssen. Ihre Feinde würden sie erwarten. Zweifellos würden sie das Tal entmutigend dicht besetzt halten. Sie würde erschöpft und leicht zu überwältigen sein. Deshalb musste sie ihre Ankunft hinauszögern, bis sie einen Plan hatte und wieder voll einsatzfähig war.

Schlafen konnte sie jetzt nicht. Also würde sie fahren, bis sie müde genug war. Wo immer das war, würde sie ihrem Jungen schon näher sein, wenn der Morgen kam.

Nachdem sie sich wieder in Elizabeth Bennett verwandelt hatte, lud sie ihr Gepäck in den Explorer. Dann fuhr sie in Richtung Sacramento nach Westen davon. Meile um Meile sagte sie sich, dass die Welt auf ihrer holprigen Bahn nicht böse konstruiert war, dass ihr Mechanismus Barmherzigkeit kannte und dass ihr Sohn, das Ebenbild seines Vaters, ihr nicht wie ihr Ehemann und vor vielen Jahren ihre Mutter genommen werden würde. Und trotzdem blieb ihre Angst groß.

NEUN

Egon Gottfrey isst in Cathy’s Café mitten in Worstead allein zu Abend. Obwohl er die meisten Mahlzeiten allein einnimmt, leidet er nie unter Einsamkeit. Würde er mit zwei oder zwanzig Tischgenossen essen, wäre er trotzdem allein, weil nur sein eigener Verstand beweisen kann, dass er real ist. Sind das Café, die Stadt und die Welt Illusionen, könnte das auch auf den Verstand anderer Leute zutreffen, der in den Phantomkörpern steckt, mit denen er interagiert.

Sicher weiß das nur der Unbekannte Autor.

Aus irgendeinem Grund will der Unbekannte Autor, dass das Essen in Cathy’s Café gut schmeckt, und das tut es auch. Gottfrey hat keine Erklärung dafür, wie ein von seinen Sinnesorganen getrennter körperloser Verstand schmecken und riechen und sehen und hören und fühlen kann, aber er tut das alles.

Er könnte annehmen, seine Lage wäre mit Keanu Reeves in dem Science-Fiction-Film Matrix vergleichbar: sein gelähmter Körper in einem Tank schwebend, sein illusionäres Leben nur eine in sein Gehirn eingespeiste Computersimulation. Um sich diese Erklärung zu eigen zu machen, müsste er jedoch seinen radikalphilosophischen Nihilismus aufgeben, dem er seit seinem ersten Collegejahr anhängt, vor dem er in Bezug auf sein Leben und seinen Daseinszweck gänzlich verwirrt war. Die Existenz des Tanks, des gelähmten Körpers und der Computersimulation kann er so wenig beweisen, wie er beweisen kann, dass es Filme oder ein Wesen namens Keanu Reeves gibt.

Also wird er an der Philosophie festhalten, die ihn bisher geleitet hat. Nichts ist real. Alles Erlebte ist eine Illusion, die aus einer geheimnisvollen Quelle kommt. Er ist sozusagen nur als Beifahrer dabei.

Nach dem Abendessen macht Gottfrey einen Spaziergang durch die nähere Umgebung. Bei Nacht wirkt Worstead noch weniger überzeugend als tagsüber. Schon um 9.00 Uhr abends scheinen mindestens zwölftausend seiner angeblich vierzehntausend Einwohner im Bett zu sein.

Am lebhaftesten von den wenigen Orten, an denen noch Betrieb herrscht, scheint es in einer Bar mit Country Music zuzugehen, die von Pick-ups und SUVs umgeben ist. Die Leuchtreklame auf dem Dach verkündet den Namen NASHVILLE WEST, während darunter in etwas kleinerer Schrift die Worte ESSEN – TRINKEN – MUSIK stehen.

Auch wenn der Unbekannte Autor möchte, dass Egon diese Welt für real hält, gibt es Augenblicke wie diesen, in denen er oder sie – oder es – Fehler macht, die enthüllen, dass alles nur ein Fake ist. Die Leuchtreklame wäre sinnvoll, wenn alle drei Wörter Substantive wären: ESSEN – DRINKS – MUSIK. Oder wenn alles Verben wären: ESSEN – TRINKEN – ZUHÖREN. Aber in der jetzigen Fassung wird der Gast aufgefordert, Musik zu essen und zu trinken, was unvernünftig ist.

Manchmal kommt es Egon vor, als wäre er cleverer als der Unbekannte Autor – ein seltsamer Gedanke, mit dem er sich lieber nicht näher befasst.

Als er um 10.00 Uhr zurück in seinem Motelzimmer ist, wechselt er seine Straßenschuhe gegen Trekkingstiefel.

Dann hockt er zwanzig Minuten lang auf der Bettkante und starrt den Radiowecker an.

Er tauscht sein Sportsakko gegen eine wärmere Jacke, die weit genug ist, um sein Schulterholster mit der Pistole zu tarnen.

Er nimmt den Medexpress-Behälter aus der Box mit Trockeneis und trägt ihn zu seinem Rhino GX hinaus. Das ist das größte amerikanische Luxus-SUV, ein Produkt der U.S. Speciality Vehicles. Es sieht wie ein veredeltes, gepanzertes Militärfahrzeug mit mattschwarzer Lackierung aus. Das Rhino ist ein Symbol seines Werts für die Revolution, zumindest soll er das glauben.

Auf der neun Meilen langen Fahrt zur Hawk Ranch müsste sogar jemand, der weit weniger aufgeklärt ist als Egon Gottfrey, erkennen, dass die Welt nicht real ist, weil sie in großen Teilen unfertig geblieben ist. Diese weiten Ebenen sind oft bis zum Horizont dunkel. Hier und da lassen Ansammlungen winziger Lichtpunkte isolierte Siedlungen erahnen. Man kommt sich vor, als träte man hinter eine raffinierte Kulisse, die eine belebte Großstadtstraße darstellt, und entdeckte dahinter einen höhlenartigen Bühnenraum mit Flaschenzügen und schrägen Drahtseilen und bemalten Hängekulissen, der totenstill und verlassen die aus dem Zuschauerraum sichtbare Metropole negiert.

Acht Meilen von Worstead entfernt verlässt er die Straße, fährt querfeldein und steuert nun den Transponder des Ford Explorer an, der von Pedro Lobo, einem der beiden jüngsten Teammitglieder, gefahren wird. Pedro und sein Zwillingsbruder Alejandro überwachen die Zufahrt zur Hawk Ranch seit mittlerweile sechsunddreißig Stunden.

Eine halbe Meile vor Pedros Position schaltet Gottfrey die Scheinwerfer aus. Hält er weiter gerade auf den Transponder zu, dürfte er eigentlich auf keine Geländehindernisse treffen.

Die endlos weite Prärie ist an manchen Stellen zerfurcht, und das Gras steht fast einen halben Meter hoch. Selbst in dieser kühlen Nacht werden kleine Schwärme geflügelter Insekten, die im Mondschein nicht zu identifizieren sind, aus dem Gras aufgeschreckt und prallen mit ihren spröden Flügeln und Panzern wehrlos gegen den Rhino GX.

Pedro hat ihren Beobachtungsposten in einem Pappelwäldchen eingerichtet. Im blassen Mondlicht ragen die Bäume schwärzer auf als der mit Sternen übersäte Nachthimmel.

Gottfrey trifft als Letzter ein. Unter den Schwarzpappeln steht außer dem Explorer der von Speciality Vehicle Engineering getunte, achthundert PS starke Cadillac Esplanade, den Paloma Sutherland und Sally Jones fahren. Außerdem stehen hier der Jeep Wrangler mit dem Poison Spyder Package des Tuners 4 Wheel Parts, den Rupert Baldwin und Vince Penn sich teilen, sowie der von Overfinch North America veredelte Range Rover, der Christopher Davis und Janis Dern zugewiesen ist.

Bei einem Unternehmen dieser Art, das in einer Kleinstadt abläuft, ist es wichtig, das Team auf verschiedene Fahrzeuge aufzuteilen, die nicht zusammenzugehören scheinen und daher weniger auffallen, als eine Gruppe von Außenstehenden mit identischen Wagen auffallen würde.

Die fünf Männer und drei Frauen sind um den im Schatten der Bäume nur schemenhaft erkennbaren Explorer versammelt und reden halblaut miteinander, als Gottfrey aus dem Rhino GX steigt und sich zu ihnen gesellt.

Das Pappelwäldchen steht dreißig Meter von der State Road entfernt genau gegenüber der Einfahrt von Ancel und Clare Hawks Ranch.

Gottfrey hat Videoaufnahmen der Ranch gesehen. Ihre private Zufahrt beginnt zwischen gemauerten Torsäulen, welche ein schmiedeeiserner Bogen mit dem eingearbeiteten Namen Hawk überspannt. Zwischen Weidezäunen verläuft das Asphaltband der einspurigen Zufahrt von Lebenseichen, beschattet ungefähr hundertfünfzig Meter weit durch üppiges Grasland.

Aus dieser Entfernung sind Haupthaus, Stallungen, Scheune und Verwalterhaus auch bei Tageslicht wegen der Eichen nicht sichtbar. Tagsüber haben Pedro und Alejandro sich dabei abgewechselt, diese einzige Ein- und Ausfahrt der Ranch mit dem Fernglas zu beobachten.

Jetzt überwachen sie die Zufahrt mit Nachtsichtbrillen ATN PVS7-3, der Zivilausführung der ATN AN/PS-7 Generation 4, die alles Restlicht achtzigtausendfach verstärken.

»Heute Morgen um 7.30 Uhr«, berichtet Pedro Gottfrey, »sind Ancel und Clare mit ihrem Ford F-550 in die Kirche gefahren. Drei Minuten später sind ihnen Juan und Maria Saba mit ihrem Pick-up gefolgt.«

»Wissen Sie mit Sicherheit, dass sie nur in die Kirche wollten?«

»Wir haben eine tragbare Satellitenschüssel. Damit kommen wir sogar hier draußen ins Internet. Dann zapfen wir die Audioaufnahmen der NSA aus beiden Häusern an.«

Gottfrey muss zugeben, dass der Unbekannte Autor Lob für kuriose Details wie den Kirchenbesuch verdient, der diesen Schauplatz in Texas, der manchmal nur flüchtig skizziert erscheint, realistischer wirken lässt.

Alejandro Lobo sagt: »Um 9.26 Uhr sind Juan und Maria aus der Kirche zurückgekommen. Ancel und Clare sind nach der Kirche in der Stadt geblieben, um zu frühstücken. Um 10.34 Uhr waren sie wieder auf der Ranch.«

»Wo sie seither sind«, ergänzt Pedro.

»Wie sieht’s dort jetzt aus?«

»In beiden Häusern herrscht Ruhe«, berichtet Alejandro. »Die Sabas sind früh ins Bett gegangen, die Hawks haben sich das Sunday Magazine angesehen.«

»Wie haben sie darauf reagiert?«

»Empört, angewidert. Er hat angekündigt, er werde sich betrinken. Sie hat eine Ambien eingeworfen. Soweit wir es beurteilen können, haben sie sich für heute Nacht außer Gefecht gesetzt.«

»Soweit ihr beurteilen könnt, anscheinend, vermutlich, wie wir jetzt annehmen und glauben sollen«, antwortet Gottfrey.

»Sir?«, fragt Alejandro leicht verwirrt, und sein Zwillingsbruder fragt: »Denken Sie, dass wir etwas übersehen haben?«

»Nein, nein«, versichert Gottfrey ihnen. Er wendet sich den sechs anderen schemenhaften Gestalten zu, die in einem shakespeareschen Drama vielleicht nur Geister wären, hinter denen die Schwarzpappeln wie ein Eibenhain stehen, in dem die kummervollen Toten sich versammeln, um ihr Ableben zu beklagen. »Ziehen wir uns also an, Leute. Kein Motorengeräusch, das sie warnen könnte. Wir gehen zu Fuß rüber.«

Im Laderaum des Explorers liegen Kevlarwesten und schussfeste Helme bereit. Sie legen ihre Jacken und Schulterholster ab, um die Westen anzuziehen, und bewaffnen sich dann wieder.

Obwohl Ancel und Clare Hawk Waffen im Haus haben, wollen Gottfrey und seine Crew niemanden erschießen, sondern sie nur mit Nanotech-Kontrollmechanismen versklaven.

ZEHN

Kurz vor Mitternacht zahlt Jane – völlig erschöpft und mit Sehstörungen aufgrund ihrer Übermüdung – bar für ein Motelzimmer in Lathrop, Kalifornien.

Sie wollte immer ein Kingsize-Bett, nicht weil sie sich im Schlaf herumwarf, was sie nicht tat, sondern weil sie gern wie jetzt eine Pistole leicht erreichbar unter dem Kissen neben dem eigenen hatte. Nick und sie hatten sechs Jahre lang in Kingsize-Betten geschlafen. War sie nachts halb aufgewacht, hatte sie immer eine Hand nach ihm ausgestreckt; sobald sie ihn berührte, hatte sie sich sicher und geborgen gefühlt und war rasch wieder eingeschlafen. Jetzt war er nicht mehr da, aber solange sie seinen Platz frei hielt, konnte sie im Halbschlaf glauben, er sei nur kurz aufgestanden und werde gleich zurückkommen und das Bett neben ihr wärmen, woraufhin ihre Träume sanft und unbeschwert zurückkehrten. Aber wenn sie selbst schlaftrunken erkannte, dass er für immer aus ihrer Welt gegangen war, tröstete die für ihn reservierte Hälfte sie mit dem Gedanken, dass er in irgendeinem kaum vorstellbaren Reich jenseits dieses Lebens ihr Nick blieb, der sie unvermindert liebte und einen Platz für sie frei hielt.

Trotz ihrer Erschöpfung fürchtete sie, dass sie so lange wach läge, bis ihr nichts anderes blieb, als aufzustehen, sich anzuziehen und weiterzufahren. Aber als dann ihr Kopf das Kissen berührte, überwältigte der Schlaf sie sofort.

Sie hatte erwartet, ihre Träume würden in dieser schwierigen Nacht mit Szenen angefüllt sein, die ihr Kind in Gefahr zeigten, aber stattdessen träumte sie von Schiffen auf See und Bussen und Zügen. Ihre Mitreisenden an Bord waren finstere Albtraum-Gestalten. Im Zug waren es Gavin Washington, seine Frau Jessie, Nathan Silverman – Janes ehemaliger Mentor beim FBI – und ihre Mutter, alle in der realen Welt tot, mit ihr unterwegs ins Totenreich … Nein, noch nicht, erklärte Jane ihrer Mutter. Noch nicht, nicht einmal für dich. Sie stieg aus, um mit einem Bus weiterzufahren, in dem unter anderen die beiden Serienmörder saßen, die sie auf einer abgelegenen Farm erschossen hatte, dazu ein Darknet-Händler, den sie in Notwehr erschossen hatte, und J. J. Crutchfield, der Sammler von Frauenaugen, den sie angeschossen und verhaftet hatte und der später hinter Gittern gestorben war.

Mehr als einmal streckte sie eine Hand nach der leeren Betthälfte aus und schlief jedes Mal wieder ein, nur um sich erneut in einem Bus, einem Zug oder auf einem Schiff auf See wiederzufinden.

ELF

Der hohe Mond gleicht einer Silbermünze in der paillettenbesetzten Geldbörse der Nacht, das schäbige Motel in Lathrop ist nur schwach beleuchtet in dem Wissen, dass auch blinkende Leuchtreklamen und ein Zimmer frei-Schild zu dieser späten Stunde keinen einzigen Reisenden dazu bewegen werden, hier einzukehren.

Auf der Straßenseite gegenüber dieser elenden Unterkunft versucht Ivan Petro, einen Mord zu planen, kommt aber dabei nicht voran.

Das Motel hat fünfzehn Zimmer. Die davor geparkten Autos lassen darauf schließen, dass nur sechs davon besetzt sind. Also sind außer Jane Hawk mindestens fünf und bis zu zehn weitere Gäste anwesend. In dem Apartment über der Rezeption liegt oder liegen der oder die Eigentümer in unruhigem Schlaf, in dem sie von Konkurs träumen. Das macht wenigstens sechs Personen außer Jane – und bis zu zwölf.

Wären es sechs oder sieben, könnte er in dem Apartment anfangen und sich zu ihrem Zimmer vorarbeiten, indem er alle potenziellen Zeugen erledigt. Mit einer Lockpick-Pistole kann er jede Tür fast geräuschlos öffnen. Mit seiner Nachtsichtbrille kann er sich in dunklen Schlafzimmern bewegen, ohne geblendet zu werden. Er kann rasch und lautlos mit einem Messer töten. Aber weil die Hawk-Schlampe in Selbstverteidigung ausgebildet ist, wird er sie nur nach einem Kampf überwältigen können, bei dem Lärm unvermeidbar ist. Also kann er nicht gegen sie vorgehen, wenn andere Motelgäste, die den Krach hören, vielleicht die Polizei rufen.

Dass Ivan auf seinem Gebiet Hervorragendes leistet, hat vier Gründe: Erstens ist er weit cleverer als die übrigen Arkadier in seiner Zelle der Verschwörung. Zweitens besitzt er nicht nur eine Leidenschaft, sondern auch eine intellektuelle Basis für die Zerstörung der überlieferten Ordnung und die Schaffung eines Utopias durch eine Elite, denn er hat Nietzsche, Max Weber und Freud ganz gelesen und versteht, wie effizient und stabil die Gesellschaft wäre, wenn die orientierungslosen Massen aller Deutungszweifel und der Illusion, einen freien Willen zu haben, entledigt wären. Drittens verachtet er jene Arkadier, die ihn bisher von der Führungsriege der Revolution ferngehalten haben, und hasst sich selbst dafür, dass er den Aufstieg bisher nicht geschafft hat; all dieser Zorn befeuert seinen Ehrgeiz und bewirkt, dass er fleißiger arbeitet als jeder andere. Und viertens ist er sehr geduldig. Er ist kein hitzköpfiger Rebell, kein Anarchist mit wildem Blick, der so von seiner Ideologie eingesponnen ist, dass er sich ohne Schlachtruf in den Kampf stürzt.

Unter diesen Umständen ist der Versuch, Jane Hawk zu überwältigen, zu riskant. Er kann warten. Irgendwann bietet sich eine bessere Gelegenheit.

Seine Armbanduhr hat eine Alarmfunktion. Ivan stellt den Wecker auf 5.00 Uhr. Wo er parkt, gibt es keine Straßenlampen. Er verwandelt seinen elektrischen Sitz in eine Liege, schließt die Augen, und weil er ein Mann ist, der nur an sich selbst denkt und sich seiner Zukunft zu sicher ist, um sich Sorgen zu machen, schläft er binnen Sekunden ein.

ZWÖLF

Pedro und Alejandro bleiben bei den im Pappelwäldchen geparkten Fahrzeugen.

Vince Penn, der Kampfpanzer auf zwei Beinen, geht mit aufgesetzter Nachtsichtbrille voraus übers Grasland, in dem Insekten den Mond anzirpen.

Paloma Sutherland mit dem Medexpress-Behälter folgt an zweiter Stelle der Kolonne. Egon Gottfrey ist der Dritte, und die übrigen vier Mitglieder seines Teams folgen ihm einzeln nacheinander.

Zu dieser späten Stunde ist auf der Straße kein Auto mehr unterwegs, sodass sie nicht länger irgendwohin zu führen scheint, wo noch Menschen oder Maschinen existieren. Ihr unterbrochener Mittelstrich glüht sanft wie eine kodierte Nachricht, die drauf wartet, entschlüsselt zu werden.

Um nicht vorzeitig entdeckt zu werden, nähert das Team sich dem Ranchhaus nicht auf der Zufahrt. Es steigt über den Zaun und marschiert im Gras weiter.

Der bei Sonnenuntergang aufgekommene Wind ist nach Westen abgezogen und hat nur Totenstille zurückgelassen.

Das zweigeschossige Haupthaus mit weißer Holzverschalung steht unter alten Eichen mit weit ausladenden Kronen. Hinter mehreren Fenstern im Erdgeschoss und im ersten Stock brennt Licht.

Trotz Ambien und Scotch sind die Hawks offenbar noch spät auf.

Ancels Ford F-550 steht auf einem mit Kies bestreuten Parkplatz.

Stallungen und Scheune sind ebenso dunkel wie das Verwalterhaus, dessen geometrische Umrisse zweihundertfünfzig Meter nordwestlich kaum auszumachen sind.

Die Stille ist hier, wo keine Insekten zirpen, tiefer als anderswo.

Sie nehmen ihre Positionen rings um das Haus ein – alle bis auf Paloma, die mit dem Medexpress-Behälter im Hintergrund bleibt.

Rupert und Chris steigen zur rückwärtigen Veranda hinauf, während Vince und Gottfrey sich die Haustür vornehmen. Ihre elektrischen Dietriche der Marke LockAid öffnen die Schlösser fast lautlos.

Es gibt keine Alarmanlage, denn die Hawks glauben, in Bezug auf Selbstverteidigung autark zu sein. Schließlich sind sie Texaner und noch dazu Rancher; wenn sie nicht als Waffenkenner auf die Welt gekommen sind, haben sie zumindest die Prädisposition geerbt, den Umgang damit zu lernen. Jeder aus Gottfreys Team, auch Egon selbst, könnte erschossen werden.

Mit schussbereiten Pistolen wagen Egon und Vince sich in die Diele, in der Licht brennt, während Rupert und Chris durch die Küchentür ins Haus eindringen.

Zuvor haben sie sich den auf ihren Laptops gespeicherten Grundriss des Hauses eingeprägt.

Rupert und Chris werden das Erdgeschoss absuchen. Vince und Gottfrey halten direkt auf die Treppe zu und steigen ins Obergeschoss hinauf.

Jede offene Tür bedeutet Gefahr, jede geschlossene Tür eine noch größere Bedrohung, wenn man sich für ein physisches Wesen hält, das sterben kann. Vince stehen kleine Schweißperlen auf der Stirn. Egon Gottfreys Stirn bleibt trocken. Sie durchsuchen im ersten Stock ein Zimmer nach dem anderen, ohne jemanden zu finden.

Wieder an der Treppe, sieht Gottfrey Rupert und Chris unten in der Diele. Chris zuckt mit den Schultern, Rupert macht ein angewidertes Gesicht.

Weiter zu der riesigen Scheune. Licht einschalten. Aufgewirbelter Staub bildet kleine Galaxien. Der Geruch von Heu. In einer Ecke haben die Hawks zwei weitere Autos stehen: einen viertürigen Chevy und einen Ford Explorer. Beide sind da.

Vince Penn ist groß und kräftig und robust, aber der Unbekannte Autor hat beschlossen, ihn zum langsamsten Denker des Teams zu machen. Er brabbelt sich zu einer Erkenntnis, die für alle anderen sofort auf der Hand gelegen hat: »Hey, glaubt ihr, dass sie vielleicht auf Pferden abgehauen sind? Könnte doch sein, oder? Als Reiter könnten sie querfeldein flüchten, wisst ihr. Ohne dass Pedro und Alejandro merken, dass sie abgehauen sind.«

Also weiter zu den Stallungen. Als Licht aufflammt, stecken Pferde leise wiehernd ihre Köpfe über Boxentüren. Acht Boxen. Nur drei Pferde.

»Wie viele verdammte Pferde haben sie denn?«, fragt Gottfrey. »Falls sie weggeritten sind, muss der Verwalter wissen, wohin sie wollen.«

Das Verwalterhaus wird über eine einspurige Zufahrt erreicht, deren Asphalt rissig ist und an den Rändern abbröckelt.

Der innen und außen dunkle Bungalow im Craftsman-Stil steht unter einer weiteren Eiche.

Gottfrey will unbemerkt eindringen wie im Haupthaus. Doch als sie noch fünfzehn Meter entfernt sind, gehen sämtliche Lampen im Haus an. Außenscheinwerfer tauchen seine Umgebung in grelles Licht. Sie machen halt, als die Haustür aufgeht.

Nach Fotos in Jane Hawks NSA-Akte deutlich identifizierbar treten Juan und Maria Saba aus dem Bungalow. Er ist augenscheinlich mit einem Kleinkalibergewehr bewaffnet, und sie umklammert eine Machete mit langer Klinge.

Gottfrey ist der Begriff Humor nicht fremd, auch wenn er in der Drehbuchrealität seiner Existenz nicht viel Humorvolles entdecken kann. Aber ihn amüsiert, wie dieses Paar sich zutraut, mit seiner jämmerlichen Bewaffnung sieben schwer bewaffnete Profis abwehren zu wollen.

Aus der Haustür hinter den Sabas quellen zwei, vier … acht weitere Männer und Frauen, alle besser bewaffnet.

Und von beiden Seiten des Bungalows tauchen weitere Männer und Frauen auf und ein paar Teenager, die Schusswaffen und teilweise auch Macheten in Lederscheiden tragen. Ungefähr die Hälfte von ihnen scheinen Hispanics zu sein.

Niemand in diesem kleinen Heer aus Bürgersoldaten wirkt belustigt, und auch Gottfreys Lächeln verschwindet rasch wieder.

Wie lange ist diese Menge schweigend versammelt gewesen, sodass Pedro und sein Bruder bei ihrer Überwachung des Hauses kein gesprochenes Wort gehört haben?

»Wir wollen keinen Ärger«, sagt Juan Saba. »Lasst uns in Ruhe!«

»FBI«, behauptet Gottfrey, statt seinen Dienstausweis vom Heimatschutzministerium zu zücken. Das FBI besitzt mehr Geschichte, mehr Glamour und ist angesehener als der Heimatschutz. »Wir sind mit Haftbefehlen hier.«

Sie haben natürlich keine, aber eine Lüge ist keine Lüge, wenn es keine Wahrheit gibt. Wörter sind nur Wörter, die als Werkzeuge dienen.

Er hält seinen Dienstausweis hoch, damit ihn alle sehen können. »Weg mit den Waffen!«

»FBI«, wiederholt Saba. »Klar doch, FBI, das sollen wir glauben.«

Interessant. Saba scheint Zweifel zu äußern wie jemand, der wie Gottfrey dem radikalphilosophischen Nihilismus anhängt. Das suggeriert, dass sein Verstand vielleicht so real wie der Egons ist.

»Hier stehen tapfere Onkel, Tanten, Cousins«, sagt Juan Saba. »Einige sind Nachbarn, mutige Freunde von Mr. und Mrs. Hawk – und Freunde von Jane.«

»Jane Hawk«, erklärt Gottfrey, »ist eine Mehrfachmörderin und Landesverräterin. Wer sie jetzt unterstützt, gilt als Komplize und wird angeklagt und vor Gericht gestellt.«

Vor dem Haus sind ungefähr dreißig Personen versammelt, von denen keine zornig oder ängstlich wirkt. Alle Gesichter sind ausdruckslos, als wollten sie vermitteln, dass ihr Widerstand nicht emotional und womöglich unter Druck nachgiebig ist, sondern auf Loyalität oder Gerechtigkeitssinn oder ähnlich noblen Gefühlen basiert.

In ihr herausforderndes Schweigen hinein sagt Gottfrey: »Wenn Sie darauf bestehen, zu einer Mörderin und Verräterin zu halten, wenn Sie uns nicht helfen, Ancel und Clare zu finden, fordere ich Verstärkung an. Die macht dann kurzen Prozess mit Ihnen. Nehmen Sie Vernunft an, Mr. Saba.«

Nach halbminütigem Schweigen, das vielleicht nur betonen soll, dass diese Drohung ihn nicht einschüchtert, sagt Juan Saba: »Sie wollen hier keine große, lärmende Sache. Sie kommen mit Ihren Nadeln, um Ancel und Clare zu Sklaven zu machen. Solches Teufelswerk braucht die Stille der Nacht. Die beiden sind nicht mehr hier. Ihr könnt uns nicht zwingen, euch zu helfen, sie zu finden. Wir schlagen Krach und richten die Scheinwerfer der Justiz auf euch.«

Das ist eine Wendung, die Egon Gottfrey nicht vorausgesehen hat. Jane hat ihren Schwiegereltern von den Gehirnimplantaten erzählt, und sie haben ihrerseits Juan Saba informiert, der diesen Leuten davon erzählt hat. Und alle sind leichtgläubig genug, um die Geschichte mit dem Kontrollmechanismus für wahr zu halten.

Rupert Baldwin hat wenig Geduld mit dem anmaßenden Gehabe solcher einfachen Leute, die an den Mythos verfassungsmäßiger Rechte glauben. Laut genug, dass Saba ihn hören kann, fragt er: »Von solchen Bauernlümmeln lassen wir uns nichts gefallen, stimmt’s?«

Gottfrey hätte nichts gegen eine Schießerei. Seine physische Existenz ist eine Illusion; er kann nicht getötet werden. Es wäre interessant zu sehen, wie dieser Nahkampf ausgehen würde.

Aber genau wie er mit dieser Illusion eines physischen Körpers irgendwie sehen, hören, fühlen, schmecken und riechen kann, kann er auch Schmerz empfinden.

Gottfrey besitzt kein Exemplar des Drehbuchs. Der Unbekannte Autor scheint stets darauf zu vertrauen, dass er intuitiv ahnt, was er sagen und tun soll. Gottfrey ist zu der Überzeugung gelangt, dass der Unbekannte Autor ihm Schmerzen zufügt, wenn seine Intuition nicht ausreicht, um ihn erkennen zu lassen, was von ihm erwartet wird. Als sollte er ermuntert werden, sich in Zukunft mehr anzustrengen, näher am Narrativ zu bleiben.

Seine Crew und er sind nicht von Kopf bis Fuß in Kevlar gehüllt. Eine Beinwunde, eine Armverletzung kann sehr schmerzhaft sein.

Nach Gottfreys Erfahrung erwartet der Unbekannte Autor meist heimliche Aktionen. Dass er für eine von ihm befohlene wilde Schießerei belohnt wird, ist wenig wahrscheinlich.

Saba sagt: »Diese Freunde bleiben bei Maria und mir, wenn wir unsere Arbeit tun und die Rancharbeiter beaufsichtigen. Und während wir schlafen. Damit sind wir vor einem Überraschungsangriff sicher. Wir wissen uns zu wehren.«

»Auch wenn sie als Reiter unterwegs sind«, sagt Gottfrey, »besitzen wir Mittel, sie zu verfolgen, Mittel, sie aufzuspüren.«

»Dann gehen Sie Ihres Weges«, rät Saba ihm.

»Das werden Sie noch bereuen.«

»Wer recht handelt, hat nichts zu bereuen. Gehen Sie Ihres Weges.«

»Unverschämter Bauernlümmel«, knurrt Rupert Baldwin.

Bevor die Situation außer Kontrolle gerät, weist Gottfrey seine Leute an, nachzugeben und in das Pappelwäldchen zurückzukehren.

Als sie wieder bei Pedro und Alejandro sind, wieder in dem mit schwachem Mondlicht durchwobenen Schatten der Pappeln stehen, übernimmt er den Medexpress-Behälter von Paloma und schickt sein Team in die Motels zurück.

Nur Rupert Baldwin erhält einen Auftrag, den er hoffentlich bis mittags ausführen kann. Rupert versteht sich glänzend darauf, Flüchtende durch die Millionen tränenloser, niemals blinkender Augen zu verfolgen, die die Straßen und Gebäude des Landes beobachten und von Überwachungskameras in dunklen Gassen bis zu Satellitenkameras im Weltraum reichen. Droht irgendeine Gefahr, arbeitet Rupert verbissen, schnell und zuverlässig.

Sie werden Ancel und Clare bald genug finden. Und wenn es so weit ist, werden die Sabas, Juan und Maria, gedemütigt und grausam benutzt werden.

Und warum auch nicht? Wie alle anderen existieren die Sabas nur als Idee, deren Realität sich nicht beweisen lässt. Symbole, die nie gedeutet werden können, Luftgespenster, bedeutungslose Verzerrungen des Lichts.

DREIZEHN

Cornell Jasperson wusste viele Dinge, genau wie er Tausende von Büchern kannte, weil er sein Leben dem Lesen gewidmet hatte.

Auf seinem fünf Morgen großen Grundstück stand ein kleines blaues Haus mit weiß gestrichenem Blechdach im Schatten zotteliger Kokospalmen. Die gefährlich baufällige Scheune in einigem Abstand hinter dem Haus schien zitternd am Rand des Einsturzes zu stehen.

Wie nur wenige Menschen wusste Cornell, dass die Scheune durchaus stabil war und – nur durch Stahltüren mit elektronischen Schlössern zugänglich – eine Bibliothek für den Weltuntergang enthielt.

An drei Wänden und Teilen der vierten enthielt die verborgene, fensterlose, zwölf mal zwölf Meter große Bibliothek vierhundert laufende Meter Bücherregale. Vier raffiniert gemusterte Orientteppiche wärmten den polierten Betonestrich. Reichlich Sitzgelegenheiten: Sessel und Liegesessel, keine zwei im selben Stil oder aus derselben Epoche. Ihre Anordnung kannte er so gut, dass er lesend je nach Lust und Laune von einem Sessel zum anderen wechseln konnte, ohne seine Lektüre unterbrechen zu müssen. Beistelltische und Fußschemel. Lampen, Lampen, Lampen. Tischlampen, Stehlampen, Lampenschirme aus gefärbtem Glas von Tiffany, aus mundgeblasenem Glas, aus geätztem Glas, aus farbigem Kristallglas. Cornell liebte Licht, das durch Farbe und Struktur gefiltert und gedämpft wurde, und seine Bibliothek lag in funkelndem Juwelenglanz.

Cornell wusste, dass die Zivilisation ein wackeliges Konstrukt war und dass im Lauf der Weltgeschichte viele Zivilisationen untergegangen waren. Er wusste – oder glaubte zumindest –, auch die gegenwärtige Zivilisation werde kollabieren. Er gehörte zu den sogenannten Preppern, aufs Ende vorbereitet und in der Lage, dreißig Monate Chaos und Gewalt abzuwettern, in denen vielleicht eine neue Zivilisation aus den Ruinen der jetzigen auferstehen würde.

In dem unwirtlichen zweieinhalb Millionen Hektar großen Anza-Borrego Desert State Park war Borrego Springs die einzige Kleinstadt. Und hier am Südende des Borrego Valley wohnten nur wenige Menschen. Wenn in den fernen Großstädten Strom, Wasser und Benzin knapp wurden, wenn die Lebensmittelversorgung zusammenbrach, würden Millionen Menschen sterben. Die verzweifelten Überlebenden würden fruchtbares, leicht zu verteidigendes Land aufsuchen, aber keinen Grund haben, aus weiten Fernen ins sonnendurchglühte Ödland des Anza-Borrego Parks zu ziehen. Zumindest hier würde es nicht nötig sein, wilde Horden abzuwehren.

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