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Nur ein Sommer mit dir

Als Buch hier erhältlich:

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Alice ist wieder Single, doch wie soll sie es sich leisten ihr geliebtes Zuhause zu behalten? Da hat sie eine grandiose Idee: Sie wird Borne Manor über den Sommer vermieten und selbst in den kleinen Wohnwagen im Garten ziehen. Allerdings hat sie nicht mit sexy Country-Star Robinson als neuen Mieter gerechnet. Dabei will Alice gerade gar keine Beziehung. Zum Glück geht es Robinson ganz genauso, da kann eine harmlose Sommerromanze ja gar nicht kompliziert werden … oder etwa doch?

"Kat French kombiniert Humor so frisch und spritzig wie Zitroneneis mit einer fantastischen Besetzung. Ich kann mir kein perfekteres Urlaubsbuch vorstellen." Claudia Carrol


  • Erscheinungstag: 07.08.2017
  • Seitenanzahl: 268
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955766290
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Danksagung

Vor allem danke ich meiner Lektorin Caroline Kirkpatrick. Es hat Spaß gemacht, mit dir an diesem Buch zu arbeiten! Dein Herz schlug genauso für Robinson wie meins. Danke für deine Unterstützung! Ich werde die Zusammenarbeit vermissen.

Auch allen anderen aus dem Avon-Team bei HarperCollins gilt mein Dank. Ihr seid mir immer eine große Hilfe!

Vielen Dank an Sabah Kahn von LightBrigadePR für ihre gute Arbeit!

Wie immer danke ich meinen Schreibfreundinnen, den „Minxes of Romance“. Danke, dass ihr meine Liebe zur Country-Musik geteilt habt! Eines Tages fahren wir alle zusammen nach Nashville. Stellt euch den Spaß vor! Wir rocken Music City!

An dieser Stelle auch ein riesiges Dankeschön an alle Country-Sänger! Ihr habt mich jeden Tag beim Schreiben dieses Romans inspiriert. Irgendwann besorge ich mir echte Cowboystiefel und einen Stetson. Ein Teil meines Herzens gehört für immer der Country-Musik.

Von Herzen danke ich meiner Familie und meinen Freunden. Ich schätze eure Begeisterung und euer Interesse sehr. Tausend Dank!

Zu guter Letzt geht mein Dank an meine Leserinnen und Leser, an die Blogger und all die wunderbaren, manchmal auch seltsamen Menschen in den sozialen Netzwerken. Ihr bringt mich zum Lachen, ihr haltet mich auf dem Laufenden und steht hinter mir. Danke!

Meinen schreibenden Freundinnen, den „Minxes“
Sally, Rose, Jojo, Romy, Suzanne, Lorraine,
Sri und Lacey.
Mögen uns die Worte gewogen bleiben.

1. Kapitel

„McBride: Ehe-Aus?“, titelte der „Daily Mirror“ an diesem Morgen. Weiter hieß es:

Ertappt! Geht die Fernsehliebe zwischen Brad McBride und Felicity Shaw hinter der Kamera weiter? Diese Fotos lassen keinen Zweifel. Sie zeigen den Hauptdarsteller McBride zusammen mit seiner jungen Kollegin Felicity in einer Londoner Nobelbar. Auf weiteren Fotos ist zu sehen, wie Brad am frühen Morgen des 1. Januar die Wohnung der alleinstehenden Schauspielerin verlässt. Pikant: Brad ist mit Alice McBride verheiratet.

„Sie konnten kaum die Hände voneinander lassen“, teilte ein Nachtschwärmer, der nicht namentlich genannt werden will, dem „Daily Mirror“ mit. „Kurz nach Mitternacht verließen sie knutschend den Club. Ich wette, der Taxifahrer hat große Augen gemacht!“

Die Sprecher der beiden Schauspieler wollten sich nicht zu dem Vorfall äußern.

„Alice, es ist nicht so, wie du denkst! Ich kann dir alles erklären.“

Langsam hob Alice den Blick von der Zeitung und sah ihren Ehemann an, der gestikulierend vor ihr stand. Seine Miene strafte seine Unschuldsbeteuerungen Lügen. Brad McBride. Als ehrgeizigen jungen Schauspieler hatte sie ihn vor über einem halben Jahrzehnt kennengelernt und geheiratet. Die Situation hatte sich schlagartig geändert, als er die Hauptrolle in einer neuen Polizeiserie bekommen hatte. Die Serie hatte auf beiden Seiten des Atlantiks wie eine Bombe eingeschlagen und ihn über Nacht zum gefeierten Medienliebling gemacht – und darüber hinaus in hohem Bogen in die Arme der Hauptdarstellerin befördert, sofern man dem Bericht Glauben schenken wollte.

Und dem Glauben blieb da nicht wirklich viel überlassen. Die Bilder von Brad und Felicity sprachen eine eindeutige Sprache und ließen nur eine Schlussfolgerung zu. Klar, der Zungenkuss konnte rein platonischer Natur sein. Und womöglich musste sich Felicity auf Brads Schoß setzen, weil die Beine ihr urplötzlich den Dienst versagt hatten. Unklar blieb allerdings, warum ihr eh knapper Rock bis an die Hüfte hochgerutscht war. Selbstverständlich war es auch möglich, dass er nur deshalb verschlafen vor ihrem kuscheligen Häuschen gesehen worden war, weil sein Wagen zufällig direkt vor ihrer Haustür und ausgerechnet in der Nacht des Taxistreiks liegen geblieben war. Bloß dass die Taxifahrer gar nicht gestreikt hatten. Außerdem war das genau die Nacht, in der Brad sie angerufen hatte, um ihr mitzuteilen, dass er übers Wochenende nicht nach Hause kommen würde, weil die Dreharbeiten länger dauerten als geplant. Alice hatte sich gewundert, dass über Neujahr gedreht werden sollte, hatte aber nicht nachgehakt. Sie hatte sich daran gewöhnen müssen, dass ihr Ehemann als Filmstar jetzt in der Öffentlichkeit stand und sie als seine Ehefrau oft mit ins Blitzlichtgewitter geriet. Sie genoss das nicht sonderlich, lächelte aber Brad zuliebe in die Kameras. Immerhin hatte dieser Medienzirkus ihnen ermöglicht, sich Borne Manor zu kaufen, das Landhaus in Shropshire, von dem sie immer geträumt hatten. Oder besser: von dem Alice immer geträumt hatte. Brad mochte das Haus zwar, aber es zog ihn doch immer wieder nach London. Und warum auch nicht? Sie hatten ihre Wohnung in London ja extra behalten, aber eine Familie wollten sie in dem Haus auf dem Land gründen. Diese Familie gab es natürlich noch nicht – und würde es auch nicht geben, denn so wie es aussah, fand Brad das Leben mit Alice nicht mehr aufregend genug. Seufzend verschränkte sie die Arme vor der Brust und sah ihrem Mann in die Augen.

„Ich kann’s kaum erwarten.“

Er kniff die Augen zusammen. „Was? Was kannst du kaum erwarten?“

Dass du deine Koffer packst und abhaust. „Dass du es mir erklärst. Die Fotos, du sagtest gerade: Ich kann dir alles erklären.“ Alice warf einen Blick auf die Zeitung, die auf dem Tisch vor ihr lag. „Ich bin ganz Ohr.“

Sie wickelte den Morgenmantel fester um ihren Oberkörper und ließ sich erschöpft auf den Stuhl am Esstisch sinken. Dabei war es noch nicht einmal acht. Den teuren, taubengrauen Morgenmantel aus Kaschmir hatte Brad ihr erst letzte Woche zu Weihnachten geschenkt. Alice fragte sich, ob Felicity in diesem Moment denselben Mantel anhatte. Brad schrieb Effizienz groß, und Alice konnte sich gut vorstellen, dass er Geschenke gleich doppelt kaufte.

Verunsichert stutzte Brad.

„Na ja …“ Er fuhr sich durch das dunkle Haar, dann rieb er sich die Wangen. Offensichtlich wollte er den Blickkontakt mit ihr vermeiden. Das waren die klassischen Zeichen, so benahm sich jemand, der lügt. Wie er sein Gesicht berührte, sich mit der Hand über den Mund fuhr, seine hektischen Blicke, der flache Atem, bei dem sich seine Brust unter dem teuren Oberhemd kaum hob und senkte. Für einen Schauspieler war diese Darstellung erbärmlich, dachte Alice. Sie musste emotionalen Abstand gewinnen, um sich zu schützen. Er wand sich. Ihm war klar, dass er in der Falle saß, und er versuchte nun verzweifelt, sich daraus zu befreien. Leicht machen würde sie es ihm bestimmt nicht. Das konnte sie gar nicht. Sie brauchte all ihre Kraft, um auf dem Stuhl sitzen zu bleiben und ihm nicht ins Gesicht zu springen.

„Es tut mir so leid, Alice“, sagte er plötzlich ernst. Er zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor, setzte sich neben sie und wandte sich ihr zu. Seine Knie berührten ihre, und der Duft seines Duschgels stieg ihr in die Nase. „Es war ein Ausrutscher. Sie bedeutet mir nichts.“

Alice blickte auf ihren Schoß und ihre verschränkten Finger, die Brad nun mit seinen gebräunten Händen umschloss. Diese Hände trugen den Ehering, den sie ihm angesteckt hatte. In diese Hände hatte sie vertrauensvoll ihr Herz gelegt. Diese Hände hatten eine andere Frau berührt, dabei hätten sie nur Alice berühren dürfen. Sie schwieg. Zu reden, während ihr Herz in tausend Stücke zersprang, war unmöglich. Sie konnte es förmlich zersplittern hören, und der Schmerz fuhr ihr vom Scheitel bis in die Zehen.

„Es war nur eine Nacht, Liebling, ein Fehler, ein Riesenfehler!“

Seine Worte ergossen sich wie ein Schwall heißen Wassers über sie. Es fühlte sich an, als verbrühe sie. Beschwichtigend wirkte das, was er sagte, jedenfalls nicht. Dachte er ernsthaft, sein Verrat wiege weniger schwer, nur weil es nur einmal passiert war? Dabei war das noch nicht einmal wahr. In den letzten Monaten hatte es viele kleine Anzeichen dafür gegeben, dass etwas nicht stimmte. Eine Restaurantrechnung hier, eine Erinnerungslücke da, und jedes Mal hatte Alice das unter den Teppich gekehrt oder nach sinnvollen Erklärungen gesucht, um nicht gleich das Schlimmste zu denken. Aber das hier … diese Fotos … da gab es beim besten Willen nichts zu deuteln. Die nackte Wahrheit hieß Betrug und Untreue. Selbst ihre schlimmsten Befürchtungen konnten die schockierende Erkenntnis nicht abmildern. Die harten Fakten waren schwerer zu schlucken als bloße Mutmaßungen. Kalte Furcht kroch ihr unter die Haut, und der Morgenkaffee schmeckte bitter auf ihrer Zunge. Sie wusste, dass es jetzt auf die richtigen Worte ankam: „Geh!“ oder „Bleib“.

„Sag mir, was ich tun soll, Alice. Ich will das wiedergutmachen.“ Brad drückte ihre Hand. „Ich tue alles, was du verlangst.“

Gehörte es wirklich zu ihren Aufgaben, ihm zu sagen, wie er seine Fehler ausbügeln konnte? Und warum glaubte er, dass er einen Fehltritt überhaupt wiedergutmachen konnte? Dennoch kostete es sie wahnsinnig viel Kraft, zu sagen, was sie zu sagen hatte.

„Das Einzige, was du jetzt noch tun kannst, Brad, ist, deinen Koffer zu packen und zu gehen.“

„Nein! Das will ich nicht!“ Tiefe Verzweiflung trübte seine Stimme. „Alice, bitte, gemeinsam schaffen wir das. Ich liebe dich und ich weiß, dass du mich auch liebst.“ Sein Griff um ihre Hand wurde fester. „Das muss uns unsere Ehe wert sein.“

Offensichtlich war ihm nicht klar, wie viel er bereits zerstört hatte. Sie nickte, während ihr die volle Bedeutung seiner Worte bewusst wurde und heiße Wut ihr Blut erhitzte.

„Unsere Ehe war für dich nicht wertvoll genug, als du Felicity flachgelegt hast. Mir soll sie jetzt aber so viel wert sein, dass ich um sie kämpfe. Habe ich das richtig verstanden?“

Sie hob den Blick und beobachtete, wie er vergeblich nach einer Antwort suchte.

„So habe ich das nicht gemeint“, sagte er leise. Das Handy in seiner Hosentasche brummte, und beide sahen auf seine Jeans, Alice wissenden Blicks, Brad schuldbewusst.

„Du solltest besser rangehen“, sagte Alice so ruhig wie möglich. Sie stand auf und schob den Stuhl über die Steinfliesen. „Ich geh und hole deinen Koffer.“

DREI MONATE SPÄTER

Sie hatte Brad aus der gemeinsamen Wohnung geworfen, was Alice immer noch wehtat. Ein „bewusstes Entpaaren“ hatte Gwyneth Paltrow ihre Trennung von dem Sänger Chris Martin genannt. So ein Quatsch. Alice kam es eher vor, als hätte man ihr das Herz herausoperiert, ohne Betäubung. Oder als wären ihr die Lebensgeister von einem Industriestaubsauger aus den Adern gesaugt worden. Jeden Morgen, wenn sie in den Spiegel sah, war sie überrascht, dass sie noch aufrecht stand.

„Ich habe gestern all deine Zeitschriftenabos gekündigt“, sagte Niamh und reichte Alice einen Becher Kaffee. Dann setzte sie sich zu ihr auf die Gartenbank. Die Sonne war gerade über Borne Manor aufgegangen und stand verheißungsvoll an dem noch kühlen, zartblauen Himmel.

„Hatte ich dich darum gebeten?“, fragte Alice stirnrunzelnd. Sie konnte sich nicht daran erinnern, aber das hieß momentan nicht viel. Sie wechselte jeden Morgen ein paar Worte mit Niamh und hätte eine halbe Stunde später nicht mehr sagen können, worüber sie gesprochen hatten. Und das betraf nicht nur Niamh, sondern alles und jeden, seitdem Brad weg war. Ihr Gehirn war Suppe – und zwar keine klare Kraftbrühe, sondern eine aus Resten zusammengerührte Pampe. Es bemühte sich zu funktionieren, doch vergeblich.

Niamh schüttelte den Kopf. „Nein, hast du nicht. Ich habe sie trotzdem gekündigt. Noch mehr Fotos von Brad, diesem Schuft, und der höschenlosen Felicity kannst du brauchen wie ein Fisch ein Fahrrad.“

„Aber …“ Natürlich hatte Niamh recht. Nach der Trennung von Brad hatte Alice sich angewöhnt, jeden Tag fieberhaft die Zeitschriften und Hefte zu überfliegen und nach Bildern von ihm zu suchen. Brad hatte tief in die Tasche gegriffen und sämtliche überregionalen Titel abonniert, als sie nach Borne Manor gezogen waren. Kritiken und Notizen über sich und seine Arbeit zu lesen war ihm Quell sowohl größter Freude als auch größten Frusts.

Genau genommen machte sie es derzeit nicht anders. Nur Spaß bereitete es ihr nicht. Im Gegenteil, Alice musste sich jedes Mal innerlich wappnen, und sie entspannte sich nicht, ehe sie auch die letzte Seite der letzten Zeitschrift gesichtet hatte. Andererseits vermittelte ihr die Lektüre eine Art Sicherheit. So wie einem auch der Besuch eines im Krankenhaus liegenden Angehörigen auf seltsame Weise Gewissheit gab. Immerhin wäre es noch viel schlimmer, wenn die Person überhaupt nicht mehr leben würde. Mit der Kündigung der Abos hatte Niamh gleichsam den Stecker aus der lebenserhaltenden Maschine ihrer Ehe gezogen. Dabei hätte jeder Arzt ihre Ehe ohnehin für tot erklärt, musste sich Alice eingestehen.

„Aber?“, fragte Niamh und bückte sich, um ein Apportierstöckchen für Pluto aufzuheben. Der ehemalige Rettungshund war ihr treuester Gefährte. „Du willst lieber eine lange Folter statt kalten Entzug? Da schrillen meine Alarmglocken. So ein Unsinn, Alice.“

Die beiden Frauen schauten Pluto hinterher, der überglücklich über den feuchten Rasen jagte und auf der Suche nach dem Stöckchen in Richtung Wald abdüste. Er war ein großartiger Hund, allerdings auf einem Auge blind, und sein zweites war auch nicht gerade ein Adlerauge.

„Ich wette, das war ein gefundenes Fressen für Davina“, brummte Alice bei dem Gedanken an die Besitzerin des Tante-Emma-Ladens, der gleichzeitig das Postamt des Ortes war. Die dunkelhaarige Davina mit ihren listigen Augen hatte ihre Ohren überall und auch schon alle Männer des Dorfes in ihrem Bett gehabt. Sie schnitzte Kerben in ihre Bettpfosten, munkelten die betrogenen Ehefrauen nach einigen Gin abends im Pub. Der mädchenhafte Typ war sie nicht gerade. Vormittags schnatterte sie fröhlich mit den Müttern vorm Schultor, nachmittags beglückte sie deren Ehemänner. Auch Brad hatte sie ein paar Mal angebaggert, nachdem er und Alice vor nicht ganz anderthalb Jahren nach Borne Manor gezogen waren. Was er Alice jedes Mal freudestrahlend erzählt hatte. Damals hatte sie sich darüber nicht den Kopf zerbrochen. Solange er ihr davon erzählte, hieß das wohl, dass er kein gesteigertes Interesse an Davina hatte. Rückblickend war sich Alice jetzt allerdings nicht mehr so sicher. Hätte Davina ihn in einem schwachen Moment erwischt, hätte Brad sich womöglich mehr als nur Briefmarken und Erdbeeren von ihr besorgen lassen.

Niamh lachte. „Oh ja, sie hat ihre Fühler ausgestreckt. Sie hat treuherzig geguckt und an ihren Haaren gespielt, während sie mich nach dir und Brad ausquetschte. Ganz die Unschuld vom Lande und voller Sorge um euer Wohlergehen.“

Alice nippte an ihrem Kaffee und beobachtete Pluto, der am Waldrand herumstromerte. Das Grundstück und vor allem der Garten machten den besonderen Reiz von Borne Manor aus. Alice hatte sich hier Kinder vorgestellt, die Hütten zimmerten und im Wald zelteten. Brad hingegen hatte sich Gartenpartys und Bälle ausgemalt, zu denen er die Stars und Sternchen der Szene einladen wollte. Seine ersten Erfolge waren ihm sofort zu Kopf gestiegen, und er hatte sich schon inmitten der High Society gesehen. Alice verdrängte den Gedanken an ihren abtrünnigen Ehemann und dachte stattdessen voller Sorge an den Brief, der vor wenigen Tagen im Briefkasten gelegen hatte.

„Es kann sein, dass ich das Haus verliere, Niamh“, sagte sie nüchtern und umfasste mit beiden Händen den Kaffeebecher. Es war kalt an diesem Märzmorgen. „Es trudeln immer mehr Briefe von der Bank ein. Brad wird den Kredit nicht ewig weiterzahlen. Und ich kann es mir nicht leisten. Ich habe ja noch nicht einmal einen Job.“

„Lass dich scheiden und bezahl das Haus von dem Unterhalt. Sag der Bank, sie soll warten.“

„Das geht nicht schnell genug. Selbst wenn ich heute zum Anwalt ginge, würde es sich Monate hinziehen.“ Sie erwähnte nicht, dass sie noch nicht bereit war, sich dem Scheidungsprozess zu stellen. Für eine Scheidung brauchte man Kraft, und sie fühlte sich außerstande, diesen Kampf in absehbarer Zeit zu bewältigen.

„Hältst du es für möglich, dass Brad das Haus haben will?“

„Nur über meine Leiche!“, sagte Alice wie aus der Pistole geschossen. Allerdings hatte sie nicht den Hauch einer Ahnung, wie sie ihn daran hindern konnte, sollte er versuchen, sie zu vertreiben. Das Haus gehörte ihr! Auch wenn auf der Urkunde beide Namen standen. Sie kannte jeden Ziegel, jede Zinne, sie liebte jede Ecke und jeden Winkel des Hauses. Sie kannte seine Geschichte, sie wusste alles über das Anwesen. Begeistert hatte sie alles über den Ort gelesen. Sie hatte Borne Manor auf den ersten Blick in ihr Herz geschlossen und dem lichten Gemäuer ewige Liebe geschworen. Wie bei ihrem Ehegelübde. Bloß dass Brad sie enttäuscht hatte, Borne Manor nicht. Dafür wollte sie sich jetzt erkenntlich zeigen.

Nur wie sie das anstellen sollte, war ihr leider mehr als unklar.

„Wie viel Zeit bleibt dir?“

Unglücklich zuckte Alice mit den Schultern. „Vielleicht noch zwei Monate?“

Niamh hielt geräuschvoll den kalten Atem an. „Dann sollten wir uns schnell etwas überlegen.“

Wir. Nicht du. Sie hatte „wir“ gesagt. Dankbarkeit erfasste Alice, und das nicht zum ersten Mal. Niamh war ihre Nachbarin, seit sie und Brad nach Borne Manor gezogen waren. Aber erst nachdem Brad sie verlassen hatte, war ihre Freundschaft über den gelegentlichen Kaffee im Dorf oder den Plausch an der Gartenpforte hinausgegangen. Niamh hatte angeklopft und gefragt, ob sie Pluto auf das Grundstück lassen dürfe, das sei sicherer als auf freiem Gelände. Seitdem kam sie jeden Morgen vorbei. Dann saßen sie, jede mit einer Tasse Kaffee in der Hand, auf der Gartenbank hinter dem Haus und redeten stundenlang über Gott und die Welt. Alice vermutete, dass Niamh mitbekommen hatte, welche Sorgen sie in letzter Zeit hatte, und ihr deshalb nun zur Seite stand. Sie gehörte zu den Menschen, die so etwas taten. Wenn Alice so darüber nachdachte, waren sie eigentlich mehr als Nachbarn. Auch die vier Häuschen, die an das Haupthaus grenzten, gehörten ihr, sie war also somit auch Niamhs Vermieterin. Was nicht hieß, dass Alice von Tür zu Tür ging und die Miete kassierte. Diesbezüglich war alles genau im Kaufvertrag geregelt worden.

Im ersten Häuschen wohnte Stewie Heaven, ein ehemaliger Pornodarsteller aus den Siebzigern. Er war dauergebräunt und hatte zu jeder Gelegenheit die passende Perücke parat. Bisher hatte Alice ihn immer nur zwischen Tür und Angel erwischt, da er die Winter meist in Benidorm verbrachte. Aber wie Niamh ihr erzählt hatte, war er seit etwa einer Woche mit allerhand Geschichten über seine Eroberungen im Gepäck zurück. Seine monatliche Miete belief sich auf die hochherrschaftliche Summe von einem britischen Pfund. Ein symbolischer Betrag für eine irgendwie geartete Leistung an den Vorbesitzer von Borne Manor. Worin genau diese Leistung bestanden hatte, hatte niemand den Mumm zu fragen.

Im zweiten Haus lebte Hazel, eine Frau, so breit wie groß, die jedem, der es hören wollte oder auch nicht, erzählte, dass sie eine praktizierende Hexe sei. Bei ihr wohnten außerdem ihr Sohn Ewan, ein pubertierender Grufti und Langschläfer, und Rambo, ihr sprechender Vogel, ein Beo, der meist auf ihrer Fensterbank saß und den Passanten Schimpfworte hinterherrief. Hazel zahlte doppelt so viel Miete wie Stewie, nämlich zwei Pfund im Monat. Im Gegenzug hatte sie Borne Manor angeblich vor zwanzig Jahren von einem Poltergeist befreit.

Blieb noch Niamh. Sie war letzten Sommer nach Borne zurückgekehrt, um ihre Mutter nach einem Schlaganfall zu pflegen. Nachdem diese einige Monate später gestorben war, war Niamh geblieben. Im Kaufvertrag stand ausdrücklich, dass Niamhs Mutter und alle ihre Kinder solange mietfrei in Haus Nummer drei wohnen dürften, wie sie es wollten oder brauchten. Ein weitere Erklärung dazu gab es nicht, und Alice hinterfragte diese Regelung auch nicht – ganz im Gegensatz zu Brad, doch da hatte sie, was ungewöhnlich für sie war, ein Machtwort gesprochen und ihm jegliche Diskussion schlichtweg untersagt. Jetzt war sie jeden Tag froh, ihm Einhalt geboten zu haben, denn Niamh war ihr eine treue Freundin in dieser schweren Zeit geworden.

Das letzte Haus in der Reihe, die Nummer vier, stand leer, seit Bornes ältester Bewohner, Albert Rollinson, verstorben war. Laut Hazel suchte er jetzt als Geist die Häuser und ihre Bewohner heim und stahl ihnen morgens die Zeitungen, um die aktuellen Ergebnisse der Pferderennen in Aintree zu lesen. Albert, der zu Lebzeiten Wetten und ein Bier zu schätzen gewusst hatte, war, wenn überhaupt, ein sehr nettes Gespenst. Casper, der freundliche Geist, war dagegen geradezu bösartig. Nach Alberts Tod und damit auch dem Ende der ebenfalls nur symbolischen Mietzahlungen hatte der Makler vor einigen Monaten einen Käufer für das Häuschen mit den je zwei Räumen auf zwei Stockwerken gefunden. Bislang war dort allerdings noch niemand eingezogen.

„Pluto!“, rief Niamh, stellte ihren Kaffeebecher neben die Bank und stand auf. „Bei Fuß! Ich muss los. Ich habe einen Termin. Gleich kommt ein Hofbesitzer aus der Gegend, der seiner Frau ein Aktbild zum Geburtstag schenken will. Wieso glauben Männer eigentlich, dass ihre Frauen sie nackt auf einem Gemälde sehen wollen?“

Alice musste trotz ihrer gedrückten Stimmung lachen. „Vielleicht kannst du ihm eine Hand Bananen oder eine Weintraube als Lendenschurz andrehen. Sag ihm, das sei Kunst.“

Niamh schnaufte verächtlich und beugte sich über Pluto, um ihm die Leine anzulegen. „Leider habe ich keine Bananen oder Trauben im Haus. Glaubst du, er wäre beleidigt, wenn ich ihm stattdessen eine schrumpelige Feige gebe?“

„Seine Frau würde es wahrscheinlich nicht merken“, bemerkte Alice. Die Frauen lachten leise, während Alice Niamh zum Gartentor begleitete. „Sag Bescheid, falls er übermütig wird. Dann komme ich mit meiner Obstschale.“

„Keine Sorge. Ich habe ja meinen Wachhund.“ Niamh strich Pluto über den Kopf, und Pluto warf Alice mit seinem guten Auge zum Abschied einen Blick zu.

„Bis morgen. Zur selben Zeit am selben Ort.“

„Der Termin ist notiert“, rief Niamh winkend über ihre Schulter. Bedächtig schloss Alice die Pforte zu dem Weg, der hinunter zu den Häuschen führte, und ging zurück zur Gartenbank. Dort beobachtete sie die rosa- und goldfarbenen Wolken am morgendlichen Himmel. Ihre Lieblingstageszeit war nun schon vorüber, und es war noch fast zu früh fürs Frühstück.

Würde es jetzt immer so sein? Dass ihr jeder neue Tag wie eine Bergbesteigung vorkam? Der Brad-hat-mein-Herz-gebrochen-Berg hatte zwar einen unaussprechlichen Namen, stand aber unverrückbar auf der Landkarte ihres Lebens. Und der Erdrutsch drohte sie heimatlos zu machen.

Alice beugte sich vor, um die leeren Becher aufzuheben, und ließ dabei ihren Blick über die weitläufigen Gärten bis zum Wald schweifen. Durch die Bäume sah sie das silbrige Glänzen des amerikanischen Retro-Wohnwagens, den sie letzten Herbst spontan auf Ebay gekauft hatte. Sie hatte vorgehabt, den Anhänger aufzurüsten, um damit Wochenendausflüge mit Brad zu machen. Berühmt wie er war, war es nahezu unmöglich, Städtetrips zu unternehmen und in Hotels zu übernachten, ohne dass er erkannt wurde. Daher hatte sie sich wildromantische Campingausflüge ausgemalt oder einen Abstecher nach Frankreich übers verlängerte Wochenende, mit Wein, Käse und Sex. Jetzt machte sie der Anblick des Wohnwagens traurig. Vielleicht könnte sie da einziehen, falls die Bank ihr den Kredit kündigte und sie das Haus verlassen müsste. Sie könnte einfach mit dem Wohnwagen ihren geliebten Garten besetzen. Sie seufzte und machte sich auf den Weg in die warme Küche.

Alice stellte die Lasagne, ein Fertiggericht für eine Person, auf den Küchentisch. Dazu ein Glas und eine Flasche Wein, und zwar den höchstprozentigen, den sie hatte finden können. Das einzige Geräusch in der nun viel zu großen und viel zu ruhigen Küche war das Ticken der Uhr. Ganz anders als vor einiger Zeit, als sie noch mit Brad hier gelebt hatte. Die Küche war Mittelpunkt ihres Zusammenlebens gewesen und das Zimmer, das sie am meisten liebte.

Gleichzeitig war es der Raum, in dem sich die unschönen Szenen am Ende ihrer Ehe abgespielt hatten, die Vorwürfe und gegenseitigen Beschuldigungen. Die Wand hatte sie neu streichen müssen, nachdem sie einen Becher Kaffee nach Brad geworfen und ihn knapp verfehlt hatte. Zwar sagte sie sich, dass sie absichtlich danebengezielt hatte, doch er hatte es fertiggebracht, innerhalb kürzester Zeit zuerst die besten und dann die schlechtesten Seiten an ihr zum Vorschein zu bringen.

Wäre ihr Leben ein Film, säße Alice jetzt einsam und allein am Küchentisch, während der Abspann lief und die Zuschauer das Kino ohne Happy End verließen. Vielleicht war die Rolle der verlassenen Ehefrau, die Alice sich auf den Leib schrieb, zu melodramatisch, schließlich war sie noch nicht einmal dreißig. Aber manchmal konnte sie einfach nicht mehr und hätte am liebsten alles aufgegeben und sich in ihrem Brautkleid auf den Dachboden unter die Spinnweben verzogen.

Sie stocherte lustlos in der Pasta auf ihrem Teller. Ihr Blick glitt zu dem Stapel ungeöffneter Briefumschläge mit den Mahnungen. Sie zu verdrängen war auch keine Lösung, das wusste Alice. Sie würde erst ihre Pappmahlzeit beenden und dann ihren Mut zusammennehmen und die Briefe öffnen. Allein der Anblick machte sie ganz krank, so konnte das nicht weitergehen. Zur Berieselung schaltete sie den Fernseher ein, aber das war kaum tröstlich. Auf BBC 1 lief „East Enders“, eine Daily Soap, in der die mit viel buntem Lippenstift geschminkten Darsteller ihre Streitigkeiten in einem Pub austrugen. Die Serie „Central“ hatte sich Alice verboten, für den Fall, dass Brad und Felicity dort unerwartet auftauchten und voller Leidenschaft ihren Leinwandclinch vollführten. Somit blieb ihr nur die Wahl zwischen einer Dokumentation über Igel und der x-ten Wiederholung der Sitcom „The Good Life“ aus den Siebzigern. Sie entschied sich für Letzteres und musste mitansehen, wie liebevoll Tom Good und seine Frau Barbara trotz ihres bescheidenen Lebensstils miteinander umgingen. Wehmütig erinnerte sie sich, wie glücklich sie mit Brad gewesen war, bevor er berühmt geworden war und seine Gummistiefel gegen schicke Armani-Schuhe getauscht hatte.

Sie schob ihren Teller beiseite, griff zum Weinglas und legte ihren Kopf auf den Tisch. Dann genehmigte sie sich den Luxus, ein, zwei Tränen zu vergießen. Sie schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein und vergoss noch mehr Tränen. Immer größere Tropfen, mit Schnodder und Schniefen und noch größeren Schlucken Wein dazwischen, sodass sie ihr Glas viel zu schnell ein drittes Mal auffüllte. Die nächste Stunde badete sie in Selbstmitleid, eine noch glorreichere Inszenierung als ihr Dinner for One davor, nur getoppt von der darauffolgenden halben Stunde, in der sie das Radio aufdrehte und aus voller Kehle alle traurigen Liebeslieder mitsang, die sie auf den Sendern finden konnte.

Als sie die Flasche Wein schließlich geleert hatte, sank Alice auf ihren Stuhl zurück. Die Wange auf der Tischplatte, die Augen geschlossen. Denn was sie sah, wenn sie die Augen öffnete, war der riesige, furchteinflößende Stapel Briefe. Wenn ich die Augen zumache, verschwinden die Mahnungen vielleicht, dachte sie. Hazel, ihre Nachbarin, hatte ihr viel von positivem Denken erzählt. Wenn sie es sich nur doll genug wünschte, würden die Briefe verschwinden. Alice versuchte es. Sie gab wirklich ihr Bestes, was es nur umso schlimmer machte, die Augen zu öffnen und den Stapel Briefe immer noch daliegen zu sehen, der nun sogar noch größer aussah als vorher.

Die letzten Funken ihrer weinseligen Hochstimmung zerstoben in just diesem Moment in ihrer Küche, genauso wie die Hoffnung, ihr geliebtes Borne Manor halten zu können.

Den Kopf auf dem Tisch, sank Alice in einen schweren und unruhigen Schlaf. Wieder spukte der Wohnwagen in ihrem Garten durch ihre Gedanken. In ihrem Traum befand sie sich diesmal auf einem zertrampelten Campingplatz wie in einer Szene aus der Doku „My Big Fat Gypsy Wedding“ über Roma und Sinti. Ihre neuen Zigeunerfreunde beschützten sie mit Stöcken und Kampfhunden vor Brad, der in seinem Range Rover und seinen schnieken Armani-Schlappen vorfuhr.

„Ich ziehe in den Wohnwagen.“

Niamh sah Alice an, als hätte diese gesagt, sie fliege zum Mond und sei rechtzeitig zum Mittag wieder da. Alice nickte nur und ließ ihren Blick zum Wald gleiten.

„Die Idee kam mir gestern, nachdem du gegangen warst.“

Niamh runzelte die Stirn. „Ich habe lediglich deine Zeitschriftenabos gekündigt, nicht dein ganzes Leben. Hast du dir den Kopf angestoßen?“

„Ich meine es ernst, Niamh. Ich habe gestern den ganzen Tag lang darüber nachgedacht. Es könnte funktionieren.“

Eine Lüge war das nicht, eher ein sparsamer Umgang mit der Wahrheit. Sie hatte nicht den ganzen Tag lang darüber nachgedacht, denn die Idee war ihr erst um vier Uhr morgens gekommen, als sie ihre Wange von der Tischplatte gelöst hatte und ins Bett gewankt war. Im Traum hatte sie den Wohnwagen gesehen, verschmutzt und unordentlich. Aber die Saat für eine durchaus praktikable Idee war gesetzt, und als sie an diesem Morgen aufgewacht war, hatte sie sie vollends gepackt.

Pluto ließ seinen Ball zu Niamhs Füßen plumpsen. Sie hob ihn auf und warf ihn über den Rasen. „Das musst du mir erklären. Mir ist schleierhaft, was ein Umzug in den Wohnwagen bringen soll.“

„Wenn ich im Wohnwagen wohne, kann ich das Haus untervermieten und mit der Miete den Kredit abzahlen.“

Niamh stutzte. „Darfst du das denn?“

Alice legte die Stirn in Falten. „Warum sollte ich das nicht dürfen?“

„Keine Ahnung … Da gibt es doch sicher … Bestimmungen und Regeln.“

Alice nagte auf ihrer Lippe. „Darum kümmere ich mich dann. Echt jetzt, Niamh. Das ist die einzige Lösung, um Borne Manor nicht zu verlieren. Wenigstens nicht, bis ich bereit bin, es selbst aufzugeben, und erst recht nicht wegen dieser verflixten Felicity Shaw.“

Einen Augenblick lang schwieg Niamh. Dann griff sie hinter sich unter die Gartenbank. Als sie sich wieder aufsetzte, hatte sie eine halb leere Flasche Rum in der Hand, den Nottrunk, wie sie ihn nannten, für besonders kalte Wintermorgen oder besonders schwere Notfälle. Der Umzug aus dem stattlichen Herrenhaus in den womöglich nicht einmal wetterfesten Wohnwagen fiel eindeutig in die zweite Kategorie. Niamh goss je einen großzügigen Schluck in ihre Kaffeebecher und stieß mit Alice an.

„Dann lass uns austrinken und gleich dein neues Zuhause ansehen.“

„Das ist … Das ist …“ Niamh unterbrach sich, als sie hinter Alice den Wohnwagen betrat. Es hatte ein wenig gedauert, bis sie die Tür aufbekommen hatten. Nachdem sie das Schloss aufgebrochen und mit aller Kraft gezogen hatten, schlug ihnen als Erstes ein moderiger Geruch entgegen.

„… irgendwie kuschelig?“, beendete Alice den Satz beim Anblick der schäbigen Holzmöbel, die auch Niamh in dem Moment sah, nur nicht durch eine rosarote Brille. „Lass uns die Fenster öffnen und den muffigen Geruch rauslassen. Wenn wir erst gelüftet haben, wird’s schon gehen.“

„Glaubst du?“ Niamhs Blick wanderte von dem wuchtigen Doppelbett an dem einen Ende des Wohnwagens über die schäbige Kochnische und den löchrigen Linoleumboden zu der abgenutzten Sitzecke am anderen Ende. „Und das Bad?“

Alice machte einen Schritt in den Wohnraum hinein, wodurch sich alles etwas zur Seite neigte, sodass sich beide Frauen an der Wand festhalten mussten.

„Huch! Ich muss die Standbeine festmachen.“ Alice lachte nervös. „Das Bad ist hier“, sagte sie und deutete mit einer ausladenden Bewegung auf eine schmale Tür neben dem Bett. „Da drin ist ein Klo … und so.“

Aus dem Augenwinkel sah sie ihre Freundin und deren skeptischen Blick. „Mach nicht so ein Gesicht. Du musst mir mit deiner Fantasie beistehen. Du bist Künstlerin. Kannst du dir das hier nicht als weiße Leinwand vorstellen, die nur darauf wartet, bemalt zu werden?“ Sie strich mit den Fingern über den alten Küchenschrank aus Holz. „Ein bisschen schmirgeln hier, ein Pinselstrich dort … und dazu schöne Vorhänge?“

Alice sah, wie Niamh die Einrichtung betrachtete, und hoffte inständig, sie würde hinter die heruntergekommene Fassade sehen. Niamh nickte langsam.

„Ja? Siehst du es?“ Niamhs bedächtiges Nicken gab Alice Aufwind. „Ich habe vorhin im Internet nachgesehen. Guck dir das mal an, die Retro-Wagen und wie sie aufgemöbelt wurden. Jetzt sieht der Wagen vielleicht noch wie ein hässliches Entlein aus. Aber man kann was draus machen. Das ist doch das Wichtigste, stimmt’s?“ Alice wollte unbedingt, dass Niamh ihre Vision teilte. Nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst kaum einen Knopf annähen konnte, während Niamh imstande war, ihre Hightech-Nähmaschine mit links zu bedienen.

„Die Karre ist ganz schön alt. Aber solide gebaut. Vielleicht lässt sich wirklich etwas daraus machen“, erwiderte Niamh mit der ihr üblichen Zurückhaltung.

Alice nickte aufgeregt ihrer Freundin zu. „Super! Lass uns was im Greta-Garbo-Stil machen!“

„Gemach, gemach. Wir fangen im Mutter-Beimer-Stil an und können uns dann immer noch hocharbeiten.“

Angemessen ernüchtert ging Alice die Angaben des Verkäufers auf eBay durch, bei dem sie den Wagen ersteigert hatte. „Es funktioniert alles. Wasser, Gas, Strom. Wir müssen die Karre nur auf Vordermann bringen.“

„Und eine Heizung?“ Niamh krempelte die Ärmel ihres Pullis auf.

Alice nickte, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, dass beim Kauf von einer Heizung die Rede gewesen wäre. „Ach, es wird hier richtig gemütlich werden.“

„Willst du dich wirklich in diesem Bett einmummeln?“, fragte Niamh mit Blick auf die durchgelegene Matratze. Alice sah ebenfalls hin und atmete tief durch.

„Ich hole einfach meinen Matratzenschoner aus dem Haupthaus. Das geht schon.“

Sie drehten sich um, als Pluto schnaufend in der Tür erschien und polternd seinen nassen Ball auf den Boden fallen ließ. Erwartungsvoll sah er sie mit seinem guten Auge an.

„Doch nicht auf Alice’ guten Teppich, Pluto!“, schalt Niamh ihren Hund und erntete für ihre sarkastische Bemerkung einen Stoß in die Rippen, als die Frauen nach draußen, zurück in die normale Welt, traten. Alice entging nicht, dass es draußen ein, zwei Grad wärmer war als im Wohnwagen, trotz der frostigen Morgentemperatur. Sie nahm sich vor, später eine extradicke Wolldecke aus echter Wolle zu bestellen. Gab es nicht auch Schlafsäcke für Arktisurlauber? Mit Frostschutz? Auf dem Weg zurück zum Haus knirschte der steif gefrorene Rasen unter ihren Füßen. Ja, hoffentlich gab es Frostschutzwolldecken.

2. Kapitel

„Sind Sie sicher, dass es hier ist?“ Robinson Duff sah stirnrunzelnd aus dem Beifahrerfenster des Taxis, das vor Borne Manor zum Stehen gekommen war. Das Haus war von der Straße aus weit nach hinten gesetzt, am Ende einer großzügigen Auffahrt, und ganz anders, als seine Schwester ihm erzählt hatte. Sie hatte was von „modern“ und „letzter Schrei“ gesagt. Robinson erinnerte sich deutlich an das Telefongespräch, in dem sie von dem perfekten Haus geschwärmt hatte, das sie für ihn im Internet gefunden habe.

Modern war das Haus schon mal nicht. Sobald er ausgepackt hatte, würde er seine Schwester anrufen und ein paar ernste Worte mit ihr wechseln: „Was hast du dir dabei gedacht, mich für ein halbes Jahr in Mittelerde einzuquartieren? Für wen hältst du mich? Für einen verdammten Hobbit?!“

Wie sich das Haus im gleißenden Licht der tief stehenden Sonne in die Landschaft schmiegte, sah es ganz reizend aus. Reizend mit großem R. Solche Häuser sah man sonst nur auf der Webseite der Tourismusbehörde neben Landschaftsaufnahmen mit sanften Hügeln und Werbung für Shakespeare.

Schön und gut – aber „reizend“ war absolut nicht sein Ding. Himmelherrgott, das helle Gemäuer schimmerte geradezu rosa! Und war das Blauregen, der sich da um die alte Holztür herumrankte? Unwillkürlich musste Robinson an Märchen und die englische Tea Time denken. Keine üblichen oder auch nur ansatzweise willkommenen Gedanken für jemanden, der an rappelvolle Konzerthallen und Aufnahmestudios voller Technik gewöhnt war. Wer zum Geier mochte hier leben? Goldlöckchen vielleicht, aus dem Märchen mit den drei Bären?

„Ja, hier ist es“, bestätigte der Taxifahrer mit einem Blick auf das Navi seines iPhones, das am Armaturenbrett klemmte. „Soll ich Ihr Gepäck aus dem Kofferraum holen?“

Seufzend öffnete Robinson den Sicherheitsgurt. „Da hilft wohl nichts.“

Barfuß eilte Alice über die kalten Steinfliesen in dem großzügig geschnittenen Hausflur. Schon als sie zum ersten Mal einen Fuß auf diese Fliesen gesetzt hatte, hatte sie sich in Borne Manor verliebt. Im Geiste hatte sie im Winter das Feuer im alten Steinkamin lodern sehen und im Frühjahr den Strauß bunter Blumen auf der Anrichte. Die zufallenden Autotüren draußen ließen ihr Herz jetzt heftig gegen ihre Rippen schlagen. Das musste der neue Mieter sein. Sie wusste nicht, ob sie aus Freude oder vor lauter Panik so aufgeregt war.

Einer der Vorteile an der Ehe mit Brad war die exzellente Rechtsberatung, die ihr zuteilwurde. Die war ihr in der letzten Woche bei der Vermietung von Borne Manor zugutegekommen. Brad war es egal. Solange er nicht den Kredit bedienen musste, war er mit allem, was Alice mit dem Haus machte, einverstanden. So zumindest verstand sie seinen Anwalt, der ihr geholfen hatte, die Vermietung des Hauses in die Wege zu leiten. So hatte sie sich nicht mit den rechtlichen Einzelheiten befassen müssen, sondern ihre Habseligkeiten ausräumen und das Haus für den neuen Bewohner vorbereiten können.

Alles war erstaunlich schnell vonstattengegangen, nachdem der Ball erst mal ins Rollen gekommen war. Innerhalb weniger Tage hieß es bei dem Makler erst „zu vermieten“, dann „für sechs Monate vermietet“.

Alice wunderte sich ein wenig darüber, dass die neuen Bewohner das Haus nicht hatten besichtigen wollen, bevor sie den Mietvertrag unterschrieben. Aber letztlich war sie einfach nur erleichtert, Borne Manor de facto immer noch zu besitzen, auch wenn sie selber leider nicht mehr in dem Haus würde wohnen können, zumindest nicht in den kommenden Monaten.

Der Klopfer fiel dreimal gegen die Tür. Es war Zeit, den neuen glücklichen Bewohnern Hallo zu sagen. Glücklich, weil sie Borne Manor nun ihr Zuhause nennen durften. Und es wurde auch Zeit für Alice, ihr neues Zuhause zu beziehen. Sie atmete tief ein und aus, setzte ein Lächeln auf und griff nach der Türklinke.

Robinson blickte dem davonfahrenden Taxi hinterher, pochte dann mit dem schweren, schwarzen Klopfer dreimal gegen die Tür und wartete. Es war merkwürdig, dass die Besitzer ihn unbedingt persönlich hier treffen wollten, statt eine unpersönliche Schlüsselübergabe zu vereinbaren.

Um ehrlich zu sein, konnte er gut auf den Tee und die Kekse und die gemeinsame Besichtigung des Hauses verzichten. Allerdings war er jetzt in England – der Heimat des Tees, der Kekse und der Besichtigungstouren. Also stählte er sich innerlich und nahm sich vor, das alles so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

Seine Vorstellung eines märchenhaften Goldlöckchens schob er beiseite und wettete insgeheim, dass ihm ein älterer Mann in Tweedhosen oder eine genauso alte Frau in wollenem Zweiteiler und mit Perlenohrsteckern die Tür öffnen würde. Oder ein Butler. Er hatte zig Filme gesehen, in denen große englische Häuser wie dieses vorkamen. Es war durchaus möglich, dass es in diesem Haus Bedienstete gab.

Und vielleicht wäre das gar nicht mal so schlecht. Wenn er hier schon eine Weile wohnen musste, dann gäbe es wenigstens jemanden, der für ausreichend kaltes Bier im Kühlschrank sorgte. Und vielleicht hätte er sogar richtig Glück und der Butler spielte auch noch Billard … Robinson riss sich aus seinen Tagträumen, als die Klinke von innen heruntergedrückt wurde und im nächsten Augenblick die Tür aufschwang.

Donnerwetter! Vielleicht hatte er mit dem Märchen doch nicht so falschgelegen. Dieses Haus schien tatsächlich einem wunderschön gezeichneten Kinderbuch entsprungen zu sein. Und was noch seltsamer war: Sogar Goldlöckchen höchstpersönlich lebte hier.

Gut, sie trug statt eines Trägerkleidchens zerrissene Jeans und einen weiten Pulli, der ihr über die linke Schulter rutschte. Aber ihr Haar war exakt wie aus dem Märchen. Es fiel ihr in goldenen Wellen bis über die Ellenbogen. Ihre lebhaften, intensiv blauen Augen sahen direkt in seine, und ihre Lippen verzogen sich zu einem zaghaften Lächeln.

„Mr. Duff? Ich bin Alice McBride.“

Sie reichte ihm die Hand, und Robinson ließ sein Gepäck auf die breiten Stufen fallen, damit er sie ergreifen konnte. Er warf einen Blick über ihre Schulter, um zu sehen, ob die drei Bären womöglich irgendwo hinter ihr auftauchten, dann schüttelte er ihre Hand.

Sie warf ihrerseits einen Blick über seine Schulter, wobei sie es schaffte, gleichzeitig die Stirn zu runzeln und zu lächeln.

Für eine so zierliche Frau war ihr Händedruck erstaunlich kräftig.

„Kommen Sie rein“, sagte sie und ließ seine Hand los. Dabei trat sie einen Schritt zurück, sodass er eintreten konnte. Das Märchen ging weiter: Der Flur war so geräumig, dass er als eigenes Zimmer gelten konnte. Das prasselnde Feuer im Kamin nahm der Luft die Kälte. Seine Gastgeberin warf unterdessen einen kurzen Blick auf die leere Auffahrt, schloss dann die Haustür und wandte sich ihm zu.

„Kommt Ihre Familie später nach?“

„Meine Familie?“ Entgeistert runzelte er die Stirn.

Alice stutzte.

„Entschuldigen Sie, ich nahm an … Da das Haus sehr groß ist und …“ Ihre Worte blieben in der Luft hängen, und ihre Wangen färbten sich rosenrot. Mit der Wärme des Kaminfeuers hatte das allerdings nichts zu tun.

„Vielleicht später. Im Moment bin nur ich hier.“

Robinson ging nicht weiter darauf ein. Ihre Vermutung irritierte ihn. Sein Leben mit anderen zu teilen war das Letzte, was er wollte. Er war hierhergekommen, um den Schnüfflern und neugierigen Nachbarn zu entkommen, und nicht, um schnurstracks Gegenstand von Klatsch und Tratsch zu werden.

Alice gewann die Fassung zurück und lächelte ihn wieder an.

„Soll ich Ihnen das Haus zeigen? Oder möchten Sie lieber erst eine Tasse Tee? Sie müssen erschöpft sein nach der Reise.“

Das war so typisch englisch. Offensichtlich wollte sie besonders freundlich sein. Aber Robinson wollte nur allein gelassen werden, um einen klaren Kopf zu kriegen.

„Sie haben recht. Ich bin erschöpft. Morgen bekäme ich doch sicherlich auch ein Ticket für die Museumsführung. Und einen Platz zum Schlafen finde ich selber.“

Er bemerkte, dass Alice einige Sekunden brauchte, um seine Antwort zu verstehen, so höflich er sie auch formuliert hatte.

„Selbstverständlich. Natürlich.“

Sie stockte, ihr Lächeln war noch da, erreichte aber nicht mehr ihre Augen. Sie schien einen Moment lang verloren und rieb ihre Handflächen an ihrer Jeans, als wisse sie nicht recht, wohin sie gehen sollte. Er sah auf ihre nackten Füße und hoffte, dass sie nicht barfuß nach draußen gehen wollte.

„Gut, dann lasse ich Sie mal allein“, sagte sie schließlich und fügte dann verlegen hinzu: „Hier geht’s lang.“ Sie wandte sich ab und ging durch eine der großen Türen, die vom Hausflur abgingen.

Neugierig folgte er ihr, in Richtung Küche, wie er schnell erkannte.

„Dies ist die Küche“, sagte sie überflüssigerweise. Er beobachtete, wie sie im Vorübergehen mit ihren Fingern über die Kochinsel fuhr, eine beinahe zärtliche Berührung. „Der Herd ist ein wenig eigensinnig. Aber ich zeige Ihnen, wie man ihn anstellt, wenn Sie wollen.“

„Ich bin kein großer Koch“, brummte er. Ein Understatement. Er hatte je kaum mehr als Speck und Eier in seinem Leben gebraten.

„Okay.“

Sie ging zur Hintertür und hielt dann mit der Hand auf dem Türgriff inne.

„Ich gehe dann mal“, sagte sie und ließ ihren Blick über ihn und die Küche schweifen.

Machten die Engländer das so? Dass sie das Haus durch die Hintertür verließen? Falls ja, hatte er noch nie davon gehört. Er beobachtete, wie sie hinaustrat und ein Paar knallrote Gummistiefel unter einer Gartenbank neben der Tür hervorzog. Ihr Haar fiel ihr dabei wie ein Vorhang über die Schulter. Gut, zumindest würde sie nicht barfuß gehen.

„Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie irgendetwas brauchen.“

Er nickte, doch dann wurde ihm bewusst, dass er nicht wusste, wo sie wohnte.

„Wo finde ich Sie?“

Sie blickte auf den feucht glitzernden Garten. „Ganz einfach. Dort drüben.“

Damit wandte sie sich zum Gehen.

Verwirrt beobachtete er sie einige Augenblicke lang.

„Sie wohnen in meinem Garten?“, rief er ihr hinterher. Sie hielt einen Moment inne und drehte sich dann zu ihm um.

„Das stimmt nicht ganz“, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger. „Im Mietvertrag steht, dass Sie das Haus und den oberen Garten bekommen, der Rest des Grundstücks gehört mir.“

Verdutzt runzelte er die Stirn.

„Ich wohne hinter den Bäumen dort“, sagte sie. „Ich kann einen Zaun errichten, um die Unterteilung des Gartens deutlich zu machen, wenn Sie möchten.“ Sie sah ihn leicht gereizt an. „Ich dachte, das sei nicht nötig. Vielleicht hatte ich unrecht.“

Robinson stellte fest, dass er nicht nur höflich gewesen war, als er ihr vorhin sagte, er sei müde. Er war hundemüde, erschöpft bis in die Knochen. Sosehr er sich auch anstrengte, verstand er nicht, was hier vor sich ging. Er wollte ein Bad, ein Bier und ein Bett, wo auch immer das stehen mochte.

„Ich werde darüber nachdenken“, erwiderte er. Sie winkte flüchtig und wandte sich dann endgültig zum Gehen.

Einige Stunden später hatte Alice im Wohnwagen den Kampf mit der vorsintflutlichen Heizung bereits aufgegeben. Sonderlich überrascht war sie nicht, enttäuscht ja, aber nicht überrascht. Wenn der Gasherd lief, war das ein Glücksfall. Der Wasserhahn hingegen war definitiv Schrott. Der Verkäufer auf Ebay, von dem sie den Wagen hatte, hatte das gute Stück in der Anzeige funktionaler geschildert, als es in Wirklichkeit war. Aber Alice ließ sich davon nicht ins Bockshorn jagen. Dies war jetzt ihr Zuhause. Sie konnte sich glücklich schätzen, ein Dach über dem Kopf zu haben, auch wenn es aus Aluminium und nicht zu hundert Prozent wasserdicht war.

Während Alice sich ein Sandwich machte und Wasser für ihre zwei Wärmflaschen aufsetzte, dachte sie über ihren neuen Nachbarn nach. Das Letzte, das sie erwartet hatte, als sie an diesem Nachmittag die Tür zu Borne Manor geöffnet hatte, war ein 1,90 Meter großer Cowboy. Schon gar kein Cowboy mit derart breiten Schultern, strahlend grünen Augen und dieser zurückhaltenden Art, die sie ehrfürchtig den Atem anhalten ließ. Er war … interessant.

Alice kletterte auf ihr riesiges Schlaflager und machte sich bettfertig. Sie hatte sich verflucht, als sie die schwere Memoryschaummatratze den ganzen Weg vom Haus zum Wohnwagen geschleppt hatte. Jetzt aber war sie heilfroh darüber und ebenso über die unzähligen Kissen und Wolldecken. Besonders dankbar war sie für den Fellüberwurf, eigentlich ihr Weihnachtsgeschenk für Brad, das er aber bei seinem Auszug zurückgelassen hatte. Die Ausstattung des Wagens ließ ansonsten zwar zu wünschen übrig, doch das Bett samt Laken und Bezügen aus extrafeiner Baumwolle hatte die Qualität eines Luxushotels.

Zufrieden sank Alice in ihre Kissen und zog sich die Decke übers Kinn. Durch die Bäume konnte sie schwach das Licht in der Küche ihres Hauses erkennen. Sie stellte sich vor, wie sie vor ihrem gusseisernen Herd stand und sich wärmte und wie sich die Bodenheizung unter ihren Füßen anfühlte.

Ach, wer brauchte schon derartige Annehmlichkeiten? Sie wackelte mit ihren Zehen, die unter der Wärmflasche am unteren Bettende lagen, und schaltete ihren Kindle an, der sanftes Licht in den ansonsten dunklen Wohnwagen warf. Im Internet ging sie auf der Suche nach neuem Lesestoff die Kaufempfehlungen durch. Sie schnaufte verächtlich, als sie auf einen Liebesroman mit einem Cowboy stieß. Der Klappentext versprach einen heißen, gefährlichen Texaner, der mit seinen geschickten Fingern mehr anstellen konnte, als nur Gitarre zu spielen. Sie wollte „Kaufen“ anklicken, überlegte es sich dann anders und sprang zur nächsten Empfehlung. Cowboys mochten 1a-Stoff für Liebesromane abgeben, aber von solchen Geschichten hatte sie erst einmal genug. Zuletzt hatte die Liebe ihr ein gebrochenes Herz, eine nicht funktionstüchtige Heizung und einen unfesten Wohnsitz beschert. Kurz entschlossen wählte sie eine vielversprechende Neuerscheinung, einen schön blutigen Thriller, und begann zu lesen.

Im Haupthaus nahm unterdessen Robinson den Kaffee, den er sich gerade aufgebrüht hatte, und schaltete das Licht in der Küche aus. Hinter den Fenstern herrschte Dunkelheit, er konnte kein einziges Licht, kein Lebenszeichen hinter den Bäumen ausmachen. Was für ein merkwürdiger Tag. Es schien ihm, als sei er auf bizarre Weise im Direktflug von Nashville, USA, mitten auf einem Landgut in England gelandet – einem Anwesen, dessen Gutsherr er nun war, mit einem Garten, auf dessen Grund Feen und Elfen lebten.

3. Kapitel

„In meinem Haus wohnt jetzt ein Cowboy.“ Alice schälte sich aus dem klammen Mantel und hängte ihn an den Haken neben Niamhs Haustür. Sie hatte sich im Wohnwagen den Parka übergeworfen und war frühmorgens zu den Nebenhäusern aufgebrochen. Sie konnte es kaum erwarten, Niamh von dem neuen Bewohner in Borne Manor zu erzählen.

Sie ließ sich in den Sessel neben dem Kamin fallen und nahm dankbar den Becher Kaffee, den Niamh ihr reichte. Diese hatte Alice bereits erwartet und vorausschauend eine ganze Kanne gekocht.

„Ein Cowboy?“ Niamh hockte sich auf den Sessel ihr gegenüber. „Wie Elvis und Mustang und Rothaut?“

„Elvis war doch kein Cowboy!“

Niamh zuckte mit den Schultern. „Es gibt ein Bild von ihm mit Cowboyhut, außerdem hat er wie ein Cowboy geredet. Hugh!“

Angesichts Niamhs misslungenen Versuchs, amerikanisch zu klingen, zog Alice eine Augenbraue hoch. „Elvis war weniger Cowboy als der neue Mieter. Er hat eine Gitarre, er trägt die Jeans wie ein Cowboy, und er hat diesen typischen Akzent.“

Niamh dachte kurz über Alice’ Worte nach. Dann sagte sie fragend: „Wow! Moment mal … Er trägt seine Jeans wie ein Cowboy? Was soll das heißen?“

Alice suchte nach den richtigen Worten und verzog das Gesicht. „Du weißt schon … Sie sitzen sehr eng … und irgendwie tiefergelegt. Und es sieht aus, als sei er gerade aus dem Sattel gestiegen.“

„Sag bloß, er sieht gut aus?!“

Alice überlegte einen Augenblick.

„Auf seine Art, ja. Er sieht … lässig und braun gebrannt aus, wie ein Cowboy halt.“ Sie sah wieder zu Niamh, die mit großen Augen auf eine ausführlichere Schilderung wartete. Alice wand sich. Sie wollte sich lieber nicht genau festlegen, was den zwar gut aussehenden, aber eben auch sehr schlecht gelaunten Mann anging, der jetzt in ihrem Haus wohnte.

„Ich weiß auch nicht. Er hat etwas an sich. Er ist irgendwie charismatisch.“

Niamh lachte in ihren Kaffeebecher hinein.

„Ich muss ihn mir wohl selbst ansehen. Glaubst du, er würde sich von mir malen lassen?“

Alice schüttelte den Kopf. „Vermutlich nicht. Ehrlich gesagt kam er mir wie ein Muffel vor. Obwohl …“

„Obwohl was?“

Alice warf einen Blick auf die Leinwand, die auf der Staffelei hinter dem Sessel stand. Das Aktgemälde des älteren Herren, mit dem Niamh gestern begonnen hatte, nahm nur allzu deutlich Konturen an.

„Nichts“, sagte sie hastig, und ihr Blick huschte zurück zu Niamh. „Nur seiner Jeans nach zu urteilen, reicht eine schrumpelige Feige da nicht.“

Später an dem Morgen zog Robinson die Schlafzimmervorhänge just in dem Moment auf, in dem seine Vermieterin, die Waldnymphe, über den Rasen in Richtung ihres geheimnisvollen Unterschlupfes jenseits der Bäume rannte. Wobei sie an diesem Morgen eher einem Eskimo als einer Nymphe glich. Er hätte sie nicht erkannt, wenn die blonden Zöpfe, die unter der Kapuze hervorschauten, und ihre knallroten Gummistiefel, in denen sie durch den strömenden Regen lief, sie nicht verraten hätten. „Willkommen in England“, brummte er und fuhr sich durch sein vom Schlaf zerzaustes Haar. Verdammter Jetlag!

Beim Zähneputzen wanderten seine Gedanken erneut zu seiner Vermieterin. Wo mochte sie so früh am Morgen gewesen sein? Oder war sie gerade nach Hause gekommen, nachdem sie die Nacht woanders verbracht hatte? Den unliebsamen Gedanken verdrängte er und ging nach unten. Er hätte nichts dagegen, wenn sie sich hin und wieder im Garten aufhielte. Andererseits würde es verdammt schwierig werden, hier unbemerkt zu leben, wenn das Grundstück ständig von Alice’ Freunden und Liebhabern bevölkert wäre.

Vielleicht sollte sie den Zaun, den sie gestern erwähnt hatte, besser doch errichten.

„Alice?“

Obwohl sie sich bislang noch nicht richtig mit Mr. Duff unterhalten hatte, erkannte sie seine Stimme sofort. Niemand sonst in Shropshire beziehungsweise niemand in ganz England sprach ihren Namen in diesem halb kehlig-rauen, halb seidig-weichen Ton aus. Schwungvoll öffnete sie die Tür des Wohnwagens und verzog die Augenbrauen angesichts des grau-feuchten Himmels hinter dem Vordach.

„Morgen“, sagte sie möglichst unbeteiligt. „Brauchen Sie jetzt doch eine Führung?“

„Sie wohnen in einem Wohnwagen.“

Alice sah ihm direkt in die Augen, seine Unverblümtheit brachte sie ein wenig aus der Fassung.

„Stimmt.“

Seinem Gesicht war die Verwirrung darüber anzusehen. „Sie sind aus dem großen Haus aus- und in den Wohnwagen in Ihrem Garten eingezogen?“

Es ärgerte sie, dass er seine Gedanken nicht für sich behielt. Vor allem weil sie nicht bereit war, ihm ihre Situation darzulegen. Genauso wenig wie er gestern Abend seine.

„Haben Sie damit ein Problem?“, fragte sie mit leicht spitzem Unterton.

Jetzt war er sprachlos und schüttelte nur kaum merklich den Kopf.

„Nein. Solange Sie hier nicht nächtelang Partys feiern.“

Alice überlegte, was sie sagen sollte. Wenn sie auf ihrem Recht bestand, zu tun und zu lassen, was immer sie wollte, dann musste sie sich auf eine Antwort einstellen, die meterhohe Zäune und Privatsphäre beinhaltete. Unterm Strich entschied sie sich dafür, nicht gleich mit harten Bandagen zu kämpfen. Vor allem weil es noch früh am Morgen war und ihr Gehirn dringend noch mehr Koffein benötigte.

„Sie haben Glück, ich bin nicht der Partytyp.“ Sie nickte bedächtig. „Es regnet. Kommen Sie lieber rein.“

Sie trat zurück in den Wohnwagen und zündete den Gasherd an. Zum Glück funktionierte er diesmal reibungslos.

„Einen Kaffee?“

Robinson betrat den Wagen. Alice beobachtete aus den Augenwinkeln, wie er sich umsah. Es war mehr als offensichtlich, was er dachte: Warum sollte man aus dem großen Haus ausziehen, um in diesen Wohnwagen umzusiedeln? Er betrachtete die bunte Ansammlung von Teppichen und Läufern, die sie zwecks Deko und Isolierung über den alten Linoleumboden gelegt hatte. Dann wanderte sein Blick über die zerschlissenen kirschroten Lederbezüge der Sitzbank, auf der ein Sammelsurium hübscher Kissen lag, die Niamh genäht hatte, ebenso wie die Vorhänge. Ein Palast war dies gewiss nicht, aber die Einrichtung strahlte einen gewissen weiblichen Charme aus, der vor Alice’ und Niamhs Bemühungen noch nicht da gewesen war. Besonders begeistert war Alice von dem Dach über ihrem Bett. Das hatte sie so lange poliert, dass die Balken und Bolzen aus Chrom nachts bei Kerzenschein wunderschön schimmerten. Jetzt hatte es etwas überraschend Intimes, als sich Robinson ihr Bett ansah. In dem engen Wagen stand er gleichzeitig in ihrer Küche, in ihrem Wohn- und ihrem Schlafzimmer. Seine Schultern schienen in diesem kleinen Raum noch breiter zu sein.

„Ich mag diese alten Gegenstände“, sagte er zu ihrem Erstaunen und fuhr mit der Hand über die von einem Tischler maßgefertigten Küchenschränke. Gut, vielleicht hatte sie seine Gedanken doch nicht richtig gelesen. „Als ich klein war, hatten wir auch so einen Wagen. Unsere Ferien haben wir immer an dem einen oder andern See verbracht, sind auf Bäume geklettert und liefen einfach nur frei umher.“

Alice tätschelte die Arbeitsplatte. Wider Willen freute sie sich, dass ihm ihr neues Zuhause gefiel.

„Ich bin mir zwar nicht sicher, ob ich damit draußen herumfahren könnte. Aber hier drinnen gefällt’s mir. Setzen Sie sich doch“, sagte sie und zeigte auf die Sitzbank, die längs des Wagens bis zum Bett reichte. Er zwängte sich dicht hinter ihr am Herd vorbei. Obwohl er sie nicht berührte, nahm sie seine Nähe erstaunlich bewusst wahr. Sie bekam eine Gänsehaut.

„Zucker?“, fragte sie verlegen. Warum spielte ihr Körper ihr solche Streiche? Ihr Kopf war doch mit ganz anderen Sachen beschäftigt, wieso also wollte ihr Körper ihm voreilig Avancen machen? Das erschreckte sie und jagte ihr Angst ein.

Robinson schüttelte den Kopf, nahm den Becher, den sie ihm hinhielt, und stellte ihn auf dem Tisch vor sich ab. Alice nahm ihre schon halb ausgetrunkene Tasse und setzte sich ihm in sicherer Distanz gegenüber.

„Also, Mr. Duff, wie war Ihre erste Nacht im Haus?“ Es kostete sie einige Mühe, nicht „in meinem Haus“ oder gar „in meinem Bett“ zu sagen.

„Robinson.“

Alice verzog kaum merklich das Gesicht. Sie war sich nicht sicher, ob Duzen eine gute Idee war, da doch ihr Körper gerade so überschwänglich auf ihn reagiert hatte. Robinson Duff. Hatte sie den Namen nicht schon einmal gehört? Er musste ihr die Frage von der Stirn abgelesen haben, denn er seufzte und rutschte unbehaglich ein Stück vom Tisch ab.

„Es ist nur Ihr Name“, sagte Alice. „Er kommt mir so bekannt vor.“

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