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Nur die Küsse zählen

hier erhältlich:

Mit allen Mitteln wird er verhindern, dass seine Brüder sich im Fernsehen zum Affen machen! Wutentbrannt reist Finn Andersson von Alaska nach Fool’s Gold, wo die Aufnahmen für eine Dating-Show schon in vollem Gange sind. Als seine Standpauke auf taube Ohren stößt, schleicht sich Finn in der Film-Crew ein, um ein Auge auf die Zwillinge zu haben. Dabei wird sein Blick allerdings immer wieder von der hübschen Producerin Dakota Hendrix abgelenkt …

"Mallerys Schreibstil ist einfach lustig und bissig."

Publishers Weekly

"Die beliebte und erfolgreiche Autorin Susan Mallery ist ein Garant für mitreißende Liebesgeschichten."

Booklist


  • Erscheinungstag: 11.09.2017
  • Aus der Serie: Fool's Gold
  • Bandnummer: 5
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955766665
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Marilyn, meine Herzensschwester.
Du bist so süß und großzügig und lustig wie Dakota.
Dieser Roman ist für dich.

1. Kapitel

„Was muss passieren, damit Sie kooperieren? Nützt Geld? Drohungen? Mir egal, ich kann beides.“

Dakota Hendrix schaute von ihrem Laptop auf und sah einen sehr großen, ernst aussehenden Mann vor sich stehen. „Entschuldigung?“

„Sie haben mich gehört. Was wollen Sie?“

Sie war davor gewarnt worden, dass es in der Umgebung viele Verrückte gab, aber sie hatte es nicht geglaubt. Offensichtlich war das ein Fehler gewesen.

„Für jemanden, der ein kariertes Flanellhemd trägt, benehmen Sie sich ganz schön fordernd.“ Sie stand auf, damit sie mit dem Mann wenigstens halbwegs auf Augenhöhe war. Wenn er nicht so offensichtlich genervt gewesen wäre, würde er ganz gut aussehen mit seinen dunklen Haaren und den durchdringenden blauen Augen.

Langsam schaute er an sich hinunter, dann sah er sie wieder an. „Was hat mein Hemd denn damit zu tun?“

„Es ist kariert.“

„Und?“

„Ich meine ja nur. Es ist schwer, sich von einem Mann einschüchtern zu lassen, der ein kariertes Hemd trägt. Und Flanell ist ein freundlicher Stoff. Für die meisten Menschen aber etwas zu bodenständig. Wenn Sie ganz in Schwarz gekleidet wären und eine Lederjacke trügen, wäre ich weitaus nervöser.“

Ein kleiner Muskel in seinem Kiefer zuckte. Seine Pupillen verengten sich, sodass Dakota den Eindruck bekam, er würde jetzt mit etwas werfen, wäre er ein kleines bisschen weniger zivilisiert.

„Haben Sie heute einen schlechten Tag?“, fragte sie fröhlich.

„Ja, so in der Art“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen aus.

„Wollen Sie darüber reden?“

„Ich glaube, damit habe ich dieses Gespräch angefangen.“

„Nein. Sie haben mit einer Drohung gegen mich angefangen.“ Sie lächelte. „Auf die Gefahr hin, Ihre Verärgerung noch zu steigern, verrate ich Ihnen, dass Nettsein weitaus effektiver ist. Zumindest bei mir.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Dakota Hendrix.“

Der Mann sah aus, als würde er ihr lieber den Kopf abreißen, als höflich zu sein. Nach ein paar tiefen Atemzügen schüttelte er ihr jedoch die Hand und murmelte: „Finn Andersson.“

„Schön, Sie kennenzulernen, Mr. Andersson.“

„Finn.“

„Finn“, wiederholte sie kecker als üblich, einfach nur, weil sie dachte, es würde ihn ärgern. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Ich will, dass meine Brüder aus der Show aussteigen.“

„Folglich die Drohungen.“

Er runzelte die Stirn. „Folglich? Wer sagt denn folglich?“

„Das ist ein ausgezeichnetes Wort.“

„Nicht da, wo ich herkomme.“

Sie warf einen Blick auf seine abgetragenen Arbeitsstiefel, dann auf sein Hemd. „Ich fürchte mich beinah, zu fragen, wo das ist.“

„South Salmon, Alaska.“

„Dann sind Sie aber ganz schön weit von Ihrem Zuhause entfernt.“

„Schlimmer, ich bin in Kalifornien.“

„Hey, Sie sind in meiner Heimatstadt. Ich würde etwas mehr Höflichkeit sehr zu schätzen wissen.“

Er rieb sich die Nasenwurzel. „Meinetwegen. Was immer Sie sagen. Sie haben gewonnen. Können Sie mir nun mit meinen Brüdern helfen oder nicht?“

„Das kommt ganz darauf an. Worin besteht denn das Problem?“

Sie zeigte auf den Stuhl gegenüber ihrem kleinen Tisch. Finn zögerte nur eine Sekunde, bevor er seinen langen Körper in eine sitzende Haltung brachte. Lächelnd nahm Dakota wieder auf ihrem Stuhl Platz und wartete.

„Sie sind hier“, sagte er schließlich, als würde das alles erklären.

„Hier – statt in South Salmon?“

„Hier – statt das letzte Semester auf dem College zu beenden. Sie sind Zwillinge und gehen auf die UA. Die University of Alaska“, fügte er hinzu.

„Wenn sie in der Show mitmachen, sind sie über achtzehn“, erwiderte sie sanft. Sie merkte, wie schmerzerfüllt er war, wusste aber, dass sie nur wenig dagegen tun konnte.

„Was bedeuten soll, ich habe keinerlei rechtliche Befugnisse?“ Er klang gleichzeitig resigniert und verbittert. „Was Sie nicht sagen.“ Er beugte sich vor und schaute sie eindringlich an. „Ich brauche Ihre Hilfe. Wie schon gesagt, sie haben nur noch ein Semester bis zum Collegeabschluss und sind einfach auf und davon, um hier zu landen.“

Dakota war in Fool’s Gold aufgewachsen und hatte sich nach Beendigung des Studiums dazu entschieden, hierher zurückzukehren. Deshalb verstand sie nicht, warum irgendjemand nicht in dieser Stadt leben wollte. Allerdings ging sie davon aus, dass Finn sich mehr Gedanken über die Zukunft seiner Brüder machte als über den Ort, an dem sie sich befanden.

Er stand auf. „Warum rede ich überhaupt mit Ihnen? Sie sind eine dieser Hollywoodtypen. Vermutlich freuen Sie sich darüber, dass die beiden alles aufgegeben haben, um in Ihrer blöden Show mitzumachen.“

Sie erhob sich ebenfalls und schüttelte den Kopf. „Zuerst einmal ist es nicht meine blöde Show. Ich arbeite für die Stadt, nicht für die Produktionsfirma. Zweitens, wenn Sie mir einen Moment Zeit lassen, um nachzudenken, anstatt gleich wütend zu werden, fällt mir vielleicht etwas ein, mit dem ich Ihnen helfen kann. Wenn Sie mit Ihren Brüdern genauso umgehen, bin ich nicht überrascht, dass sie lieber ein paar Tausend Meilen zwischen Sie und sich gelegt haben.“

Nach dem wenigen, das sie durch ihre dreißigsekündige Beziehung über Finn wusste, erwartete sie, dass er jetzt die Zähne fletschen und verschwinden würde. Stattdessen überraschte er sie mit einem Grinsen.

Das Verziehen seiner Lippen, das Blitzen von Zähnen, das war nichts Besonderes. Dennoch löste es ein seltsames Flattern in ihrem Magen aus. Sie fühlte sich, als wäre ihr alle Luft aus den Lungen gewichen und als könnte sie nicht mehr atmen. Sekunden später riss sie sich aber zusammen. Sie sagte sich, dass es sich nur um eine kleine Störung auf ihrem normalerweise ruhigen emotionalen Radar gehandelt hatte. Nicht mehr als eine kleine Anomalie. Wie eine Sonneneruption.

„Genau das haben die beiden auch gesagt“, gab er zu und setzte sich seufzend wieder hin. „Dass sie hofften, das College wäre weit genug weg, doch das war es nicht.“ Das Grinsen verblasste. „Verdammt, das ist nicht leicht.“

Sie setzte sich und legte die Hände flach auf den Tisch. „Was sagen Ihre Eltern zu all dem?“

„Ich bin ihre Eltern.“

„Oh.“ Sie schluckte, nicht sicher, welche Tragödie dahintersteckte. Sie schätzte Finn auf dreißig, vielleicht zweiunddreißig. „Wie lange …“

„Acht Jahre.“

„Sie ziehen Ihre Brüder also allein auf, seit die beiden … was, zwölf Jahre alt sind?“

„Sie waren dreizehn, aber ja.“

„Herzlichen Glückwunsch. Das haben Sie super hinbekommen.“

Das Lächeln verschwand endgültig, als er sie nun stirnrunzelnd anschaute. „Woher wollen Sie das denn wissen?“

„Sie haben es aufs College geschafft, waren so gut, dass sie das letzte Semester erreicht haben, und jetzt haben sie die emotionale Stärke, sich gegen Sie aufzulehnen.“

Das Stirnrunzeln wich einem spöttischen Lächeln. „Lassen Sie mich raten. Sie sind einer dieser Menschen, die Regen ‚flüssigen Sonnenschein‘ nennen. Wenn ich bei meinen Brüdern alles richtig gemacht hätte, wären sie jetzt noch auf dem College, anstatt hier zu versuchen, in so einer idiotischen Realityshow mitzumachen.“

Ah, das erklärt einiges, dachte Dakota. Aus Finns Perspektive war nichts von dem hier gut.

Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß einfach nicht, wo es schiefgelaufen ist. Ich wollte sie doch nur durchs College bringen. Drei Monate. Sie hätten nur noch drei kurze Monate weitermachen müssen. Aber haben sie das? Nein. Per E-Mail haben sie mir mitgeteilt, wo sie sind – als müsste ich mich für sie freuen.“

Dakota griff nach den Akten auf ihrem Tisch. „Wie heißen die beiden?“

„Sasha und Stephen.“ Seine Miene klarte sich auf. „Können Sie mir irgendwie helfen?“

„Ich weiß nicht. Wie ich schon sagte, ich bin die Repräsentantin der Stadt. Die Produzenten sind mit der Idee einer Realityshow auf uns zugekommen. Glauben Sie mir, Fool’s Gold hat nicht gerade um diese Art der Aufmerksamkeit gebettelt. Wir wollten erst ablehnen, aber dann hatten wir Angst, dass sie es auch ohne unsere Zustimmung durchziehen würden. Darum haben wir zugesagt. So sind wir wenigstens beteiligt und haben ein gewisses Maß an Kontrolle.“

Sie lächelte ihn an. „Oder zumindest die Illusion von Kontrolle.“

„Vertrauen Sie mir, Kontrolle ist auch nicht mehr das, was sie mal war.“

„Ich weiß. Die Hintergründe von allen potenziellen Kandidaten sind ausführlich geprüft worden. Darauf haben wir bestanden.“

„Um die wirklich Irren auszusortieren?“

„Ja, und die Kriminellen. Realityfernsehen setzt die Teilnehmer stark unter Druck.“

„Wie sind die Fernsehleute auf Fool’s Gold gekommen, wenn die Stadt sie nicht umworben hat?“, fragte er.

„Das war einfach Pech. Vor einem Jahr hat eine Studentin für ihre Abschlussarbeit in Humangeografie recherchiert und entdeckt, dass in dieser Stadt chronischer Männermangel herrscht. Das Wieso und Warum hatte in ihrer Dissertation ein eigenes Kapitel. Um Aufmerksamkeit für ihre Arbeit zu wecken, hat sie sie an mehrere Medienunternehmen verschickt. Der Teil über Fool’s Gold hat schnell allgemeines Interesse hervorgerufen.“

Er wirkte nachdenklich. „Ich glaube, ich habe mal davon gehört. Ganze Busladungen von Männern aus allen Ecken des Landes sind in die Stadt eingefallen, oder?“

„Leider ja. Die meisten Reporter haben uns wie einen Haufen verzweifelter alter Jungfern dargestellt, was nicht im Geringsten der Wahrheit entspricht. Ein paar Wochen später hat Hollywood mit dieser Realityshow angeklopft.“

Sie blätterte die Mappen der Bewerber durch, die es bis in die Endrunde geschafft hatten. Als sie Sasha Anderssons Bild sah, zuckte Dakota zusammen. „Eineiige Zwillinge?“, fragte sie.

„Ja, wieso?“

Sie zog Sashas Bewerbung heraus und reichte sie Finn. „Er ist zum Anbeten.“ Die Porträtaufnahme zeigte eine glückliche, lächelnde, jüngere Version von Finn. „Wenn seine Persönlichkeit nur einen Tick interessanter ist als die eines Schuhs, wird er in der Show dabei sein. Ich meine, ihn muss man doch einfach mögen. Und wenn es dann noch zwei davon gibt …“ Sie legte die Mappe zurück. „Lassen Sie es mich anders ausdrücken: Wenn Sie der Produzent wären, würden Sie die beiden in der Show haben wollen?“

Finn ließ das Foto auf den Schreibtisch sinken. An dem, was die Frau – Dakota – sagte, war was dran. Seine Brüder waren charmant, lustig und jung genug, um sich für unsterblich zu halten. Für jemanden, der auf Einschaltquoten zu achten hatte, waren sie unwiderstehlich.

„Ich werde nicht zulassen, dass die beiden sich ihr Leben ruinieren“, sagte er ausdruckslos.

„Die Dreharbeiten für die Show dauern zehn Wochen. Danach ist das College immer noch da.“ Ihre Stimme klang sanft und hatte einen mitfühlenden Unterton. Sein Blick blieb ruhig. Sie war ganz hübsch. Wäre er auf der Suche … Doch alles, was ihn im Moment interessierte, war, seine Brüder zurück ins College zu bringen.

„Sie glauben, die wollen nach der Erfahrung hier weiterstudieren?“, wollte er wissen.

„Ich weiß nicht. Haben Sie sie mal gefragt?“

„Nein.“ Bis heute hatte er nur doziert und Anweisungen erteilt – was seine Brüder beides ignoriert hatten.

„Haben sie gesagt, warum sie in dieser Show mitmachen wollen?“

„Nicht wirklich“, gab er zu. Aber er hatte eine Theorie: Seine Brüder wollten aus Alaska weg – und weg von ihm. Außerdem träumte Sasha schon lange davon, berühmt zu sein.

„Haben sie so etwas schon einmal gemacht? Also gegen Ihren Willen wegzulaufen und die Schule zu schmeißen?“

„Nein. Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Sie stehen so kurz davor, den Abschluss in der Tasche zu haben. Warum reißen sie sich nicht noch ein Semester lang zusammen?“ Das wäre vernünftig gewesen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Sasha und Stephen ihm nicht viel Ärger bereitet. Es hatte bisher nur die üblichen Strafzettel für zu schnelles Fahren, ein paar Partys mit Freunden und vielen Mädchen gegeben. Er hatte jeden Tag auf einen Anruf gewartet, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass einer der beiden ein Mädchen geschwängert hatte. Bisher war nichts dergleichen geschehen. Er war fast sicher, dass seine Vorträge über Empfängnisverhütung tatsächlich zu ihnen durchgedrungen waren. Umso mehr hatte ihn ihr Wunsch erstaunt, das College für eine Realityshow zu verlassen. Er hatte immer gedacht, sie würden wenigstens ihren Abschluss machen.

„Es klingt, als wären die beiden großartige Jungs“, sagte Dakota. „Vielleicht sollten Sie ihnen einfach vertrauen.“

„Vielleicht sollte ich sie auch einfach zusammenschnüren und in das nächstbeste Flugzeug nach Alaska werfen.“

„Im Gefängnis würde es Ihnen nicht gefallen.“

„Um mich einzusperren, müsste man mich erst einmal kriegen.“ Er stand wieder auf. „Vielen Dank für Ihre Zeit.“

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.“

„Mir auch.“

Sie stand auf und ging um den Tisch herum, sodass sie direkt vor ihm stand. „Um es mit einem Kalenderspruch zu sagen: ‚Wenn Sie lieben, lassen Sie los.‘“

Er starrte in ihre dunklen Augen. Sie bildeten einen interessanten Kontrast zu ihrem welligen blonden Haar. „Und wenn man loslässt, wird das Schicksal es einrichten, dass das Gewünschte zu einem kommt, ja?“ Er zwang sich zu lächeln. „Nein danke. Ich falle eher in die Kategorie ‚Wenn es nicht zurückkommt, spür es auf und erschieße es‘.“

„Sollte ich Ihre Brüder warnen?“

„Die wissen das schon.“

„Manchmal muss man Menschen eigene Fehler machen lassen.“

„Das hier ist zu wichtig“, erklärte er. „Immerhin geht es um ihre Zukunft.“

„Das Schlüsselwort ist ihre mit einem kleinen I. Was immer passiert, es ist nicht unwiederbringlich.“

„Das wissen Sie doch gar nicht.“

Sie sah aus, als wollte sie die Diskussion fortführen. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die schnell zu schreien anfingen, was er sehr zu schätzen wusste. Ihre Argumente waren wohldurchdacht. Aber was auch immer sie sagte, er würde seine Meinung zu diesem Thema nicht ändern. Weder Tod noch Teufel konnten ihn davon abhalten, seine Brüder aus Fool’s Gold und zurück aufs College zu schaffen, wo sie hingehörten.

„Danke, dass Sie sich die Zeit für mich genommen haben.“

„Gern geschehen. Ich hoffe, sie drei können sich einigen.“ Um ihren Mundwinkel zuckte es. „Bitte denken Sie daran, dass wir eine sehr effiziente Polizei im Ort haben. Chief Barns ist nicht zimperlich, wenn jemand das Gesetz bricht.“

„Danke für die Warnung.“

Finn verließ den kleinen Wohnwagen. Die Aufnahmen würden in zwei Tagen beginnen. Was ihm weniger als achtundvierzig Stunden ließ, um einen Plan zu entwickeln. Entweder gelang es ihm, seine Brüder zu überreden, freiwillig nach Alaska zurückzukehren, oder er musste sie mit körperlicher Gewalt dazu zwingen.

„Ich schulde dir was“, sagte Marsha Tilson beim Lunch.

Dakota bediente sich an den Pommes frites. „Ja, das tust du. Ich bin nämlich eine hervorragend ausgebildete Spezialistin.“

„Etwas, das Geoff nicht zu schätzen weiß?“ Die Augen der über sechzigjährigen Bürgermeisterin funkelten amüsiert.

„Richtig. Ich habe immerhin einen Doktortitel“, murmelte Dakota. „Ich habe schon darüber nachgedacht, mich von ihm mit Doktor ansprechen zu lassen.“

„Nach allem, was ich über Geoff weiß, bin ich mir nicht sicher, ob das helfen würde“, entgegnete Marsha.

Dakota steckte sich weitere Pommes frites in den Mund. Sie gab es nur ungern zu, aber Bürgermeisterin Marsha hatte vermutlich recht. Geoff war der Produzent der Realityshow, die wie eine Heuschreckenplage über die Stadt hereingebrochen war. Wahre Liebe für Fool’s Gold. Nachdem sie wahllos zwanzig Leute zu Paaren zusammengestellt hatten, sollten diese Paare auf romantische Dates geschickt werden, was natürlich gefilmt, geschnitten und mit einer Woche Verzögerung im Fernsehen ausgestrahlt würde. Jede Woche sollten die Zuschauer dann ein Pärchen rauswählen. Das letzte Paar bekam eine Siegprämie in Höhe von 250.000 Dollar, die es sich teilen musste, und eine Hochzeitsfeier, wenn sie sich wirklich ineinander verliebt hatten.

Nach allem, was Dakota so mitbekam, interessierte Geoff allein eine gute Quote. Er hatte sich nicht einmal davon aufhalten lassen, dass niemand im Ort die Show hatte haben wollen. Schließlich hatte die Bürgermeisterin der Zusammenarbeit aber unter der Bedingung zugestimmt, dass er jemanden in seinen Mitarbeiterstab aufnahm, der die Interessen der Bürger von Fool’s Gold im Blick hatte.

In Dakotas Augen war das durchaus sinnvoll. Was sie nur nicht verstand, war, wieso ausgerechnet sie diesen Job bekommen hatte. Sie war weder PR-Expertin noch Stadtangestellte. Sie war eine Psychologin, die sich auf die Entwicklung im Kindesalter spezialisiert hatte. Unglücklicherweise hatte ihr Chef ihre Arbeitskraft ungefragt angeboten und sogar zugestimmt, ihr Gehalt während der Zeit weiterzuzahlen. Dakota sprach bis heute nicht mit ihm.

Und sie hätte das Angebot ausgeschlagen, hätte Bürgermeisterin Marsha sie nicht gebeten. Dakota war hier aufgewachsen. Wenn die Bürgermeisterin um einen Gefallen bat, gewährten die braven Bürger von Fool’s Gold ihn ihr. Bis die Produktionsgesellschaft aufgetaucht war, hätte Dakota auch tatsächlich geschworen, mit einem Lächeln auf den Lippen alles für ihren Ort zu tun. Und wie sie Finn vor ein paar Stunden erklärt hatte, war es ja nur für zehn Wochen. So lange würde sie fast alles überleben.

„Sind die Kandidaten schon ausgewählt worden?“, wollte Marsha wissen.

„Ja, aber das wird bis zur großen Verkündung geheim gehalten.“

„Ist irgendjemand dabei, dessentwegen wir uns Sorgen machen müssen?“

„Ich glaube nicht. Ich habe mir die Akten angesehen, und mir kommen alle ziemlich normal vor.“ Sie dachte an Finn. „Wir haben allerdings ein Familienmitglied, das nicht sonderlich glücklich ist.“ Sie erklärte die Situation mit den beiden einundzwanzig Jahre alten Zwillingen. „Wenn sie in natura nur halb so gut aussehen wie auf den Fotos, werden sie definitiv in der Show sein.“

„Glaubst du, ihr Bruder wird Ärger machen?“

„Nein. Wenn die beiden noch minderjährig wären, würde ich mir Sorgen machen, dass er ihnen Hausarrest erteilt. Aber so kann er nicht mehr tun als sich aufregen.“

Marsha nickte mitfühlend. Dakota wusste, die einzige Tochter der Bürgermeisterin war ein relativ wildes Kind gewesen, als Teenager schwanger geworden und dann weggelaufen. Obwohl sie keinerlei Erfahrungen als Mutter hatte, glaubte Dakota, dass es bestimmt nicht leicht war, ein Kind aufzuziehen. Oder wie in Finns Fall zwei Brüder.

„Wir können ihm helfen“, sagte Marsha. „Hab ein Auge auf die Jungs. Sag mir Bescheid, ob oder wann sie für die Show ausgewählt werden. Es muss uns nicht gefallen, dass Geoff uns in die Sache hineingezogen hat, aber wir können wenigstens dafür sorgen, dass alles in geregelten Bahnen läuft.“

„Ich bin sicher, der Bruder der Zwillinge wird das zu schätzen wissen“, murmelte sie.

„Du tust etwas Gutes, indem du ein Auge auf die Show hast“, erklärte Marsha ihr.

„Du hast mir ja keine große Wahl gelassen.“

Die Bürgermeisterin lächelte. „Das ist das Geheimnis meines Erfolgs. Ich dränge Leute in eine Ecke und zwinge sie dazu, zu tun, was ich will.“

„Und darin bist du erschreckend gut.“ Dakota nippte an ihrer Fanta light. „Das Schlimmste ist, ich mochte Realityfernsehen bisher eigentlich ganz gerne. Bis ich Geoff kennengelernt habe. Ich wünschte, er würde etwas Illegales tun, damit Chief Barns ihn verhaften kann.“

„Man soll die Hoffnung niemals aufgeben.“ Marsha seufzte. „Du hast eine Menge aufgegeben, Dakota. Ich muss dir dafür danken, dass du dich zum Wohl der Stadt der Show angenommen hast.“

Dakota rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Ich hab doch gar nichts gemacht. Ich bin nur am Set und sorge dafür, dass sie nichts total Verrücktes tun.“

„Ich fühle mich einfach besser, seit ich weiß, dass du dabei bist.“

Sie ist gut, dachte Dakota und beäugte die ältere Frau. Jahrelange Erfahrung. Marsha war die am längsten regierende Bürgermeisterin des Staates. Seit über dreißig Jahren hatte sie den Posten inne. Dakota dachte an all das Geld, das die Stadt allein dadurch gespart hatte, dass nicht alle naslang neues Briefpapier gedruckt werden musste.

Während das nicht im Entferntesten mit Dakotas Traumjob zu tun hatte, konnte ihre Arbeit für Geoff durchaus interessant werden. Bis jetzt wusste Dakota nichts darüber, wie man eine Fernsehsendung produzierte, und sagte sich, dass sie die Gelegenheit nutzen würde, um mehr über das Geschäft zu erfahren. Es war eine willkommene Abwechslung – ihr war alles recht, um sich nicht so … gebrochen zu fühlen.

Sie ermahnte sich, nicht weiter in dieses Thema zu tauchen. Nicht alles konnte geheilt werden, und je eher sie das akzeptierte, desto besser. Sie konnte sich immer noch ein gutes Leben machen. Akzeptanz war der erste Schritt in die richtige Richtung. Immerhin hatte sie eine gute Ausbildung genossen. Als Psychologin verstand sie, wie das menschliche Gehirn funktionierte.

Aber etwas zu wissen und etwas zu glauben waren zwei unterschiedliche Dinge. Im Moment kam es ihr so vor, als könnte sie sich nie wieder ganz fühlen.

„Das wird großartig“, sagte Sasha Andersson und lehnte sich gegen das etwas ramponiert aussehende Kopfteil des Bettes. Er warf einen Blick auf die Ausgabe der Variety, die er in dem Buchladen des alten Mannes gekauft hatte. Irgendwann würde er Tausende, sogar Millionen verdienen. Dann würde er ein Abo abschließen und es sich auf sein Handy schicken lassen, wie die richtigen Stars es machten. Bis dahin kaufte er alle paar Tage eine Ausgabe, um die Kosten niedrig zu halten.

Stephen, sein Zwillingsbruder, lag quer auf dem anderen Bett in dem kleinen Motelzimmer, das sie sich teilten. Eine abgegriffene Ausgabe von Car and Driver lag aufgeschlagen auf dem Boden. Stephen ließ Kopf und Schultern über den Bettrand hängen und blätterte die Zeitschrift zum vermutlich fünfzigsten Mal durch.

„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“, fragte Sasha ungeduldig.

Stephen schaute auf, eine dunkle Strähne fiel ihm in die Augen. „Was?“

„Die Show. Das wird großartig.“

Stephen zuckte mit den Schultern. „Wenn sie uns nehmen.“

Grinsend warf Sasha die Zeitschrift ans Fußende des Bettes. „Hey. Wir sind’s. Wie könnten sie da widerstehen?“

„Ich habe gehört, es hat über fünfhundert Bewerber gegeben.“

„Davon sind nur sechzig übrig geblieben, und die letzte Runde werden wir auch noch schaffen. Komm schon. Wir sind Zwillinge. So etwas lieben die Zuschauer. Wir sollten so tun, als könnten wir uns nicht leiden. Viel streiten und so. Dann kriegen wir mehr Sendezeit.“

Stephen drehte sich auf den Rücken. „Ich will nicht mehr Sendezeit.“

Eine Tatsache, die so irritierend wie wahr ist, dachte Sasha düster. Stephen hatte keinerlei Interesse am Film- und Fernsehgeschäft.

„Warum bist du dann hier?“

Stephen atmete tief ein. „Es ist besser, als zu Hause zu sein.“

Darin waren sie sich einig. Ihr Zuhause war ein winziges Dorf mit achtzig Einwohnern. South Salmon, Alaska. Im Sommer war es überflutet mit Touristen, die das „echte” Alaska erleben wollten. Beinah fünf Monate lang verbrachten sie jeden wachen Augenblick damit, zu arbeiten und mit dem Ansturm mitzuhalten, einen Job zu erledigen und dafür bezahlt zu werden, bevor sie den nächsten Job antraten. Im Winter hingegen gab es nur Dunkelheit, Schnee und gähnende Langeweile.

Die anderen Einwohner von South Salmon behaupteten, alles an ihrem Leben zu lieben. Obwohl sie direkte Nachfahren der russischen, schwedischen und irischen Immigranten waren, die sich vor beinah einhundert Jahren in Alaska niedergelassen hatten, ersehnten Sasha und Stephen nichts mehr, als den Ort endlich hinter sich zu lassen. Ein Wunsch, den ihr älterer Bruder Finn nie verstanden hatte.

„Das hier ist meine Chance“, sagte Sasha entschlossen. „Ich werde alles tun, was nötig ist, um gesehen zu werden.“

Ohne die Augen zu schließen, sah er schon vor sich, wie er von Entertainment Tonight interviewt wurde und über den neusten Blockbuster sprach, in dem er die Hauptrolle spielte. In seiner Vorstellung war er schon über Millionen roter Teppiche gegangen, hatte auf Hollywoodpartys gefeiert, hatte unzählige Frauen nackt in seinem Hotelbett vorgefunden, die ihn anbettelten, mit ihnen zu schlafen. Ein Wunsch, den ich ihnen gnädigerweise erfülle, dachte er grinsend, tja, so bin ich eben.

Seit acht Jahren träumte er nun davon, im Fernsehen und im Kino zu spielen. Aber die Filmindustrie hatte es nie nach South Salmon verschlagen. Und Finn hatte diese Träume immer als etwas abgetan, dem man früher oder später entwachsen müsse.

Seit er endlich alt genug war, selber Entscheidungen zu treffen, ohne seinen Bruder vorher um Erlaubnis zu fragen, hatte er auf die richtige Gelegenheit gewartet. Die war mit dem Castingaufruf für Wahre Liebe für Fool’s Gold gekommen. Die einzige Überraschung war Stephens Ankündigung gewesen, ihn zum Vorstellungstermin zu begleiten.

„Wenn ich nach Hollywood ziehe“, begann er, sein Lieblingsspiel zu spielen, „kaufe ich mir ein Haus in den Bergen. Oder am Strand.“

„Malibu“, sagte Stephen. „Mädchen in Bikinis.“

„Stimmt. Malibu. Und ich verabrede mich mit Produzenten und gehe auf Partys und verdiene Millionen.“ Er schaute seinen Bruder an. „Und was machst du?“

Stephen schwieg lange. „Ich weiß nicht“, sagte er schließlich. „Nicht nach Hollywood gehen.“

„Es würde dir dort gefallen.“

Stephen schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will etwas anderes. Ich will …“

Er beendete den Satz nicht, aber das musste er auch gar nicht. Sasha wusste es bereits. Er und sein Zwilling mochten nicht die gleichen Träume haben, dennoch wussten sie alles übereinander. Stephen wollte einen Platz finden, an den er gehörte, was auch immer das bedeutete.

„Es ist Finns Schuld, dass du wegen der Show nicht so begeistert bist“, grummelte Sasha.

Stephen sah ihn an und grinste. „Du meinst, weil er so darauf aus ist, dass wir das College beenden und uns ein gutes Leben machen? Was für ein Idiot.“

Sasha lachte unterdrückt. „Ja. Woher nimmt er die Frechheit, zu verlangen, dass wir im Leben erfolgreich sein sollen?“ Seine gute Laune schwand. „Außerdem geht es ihm nicht um uns, sondern um ihn. Er will sagen können, dass er seine Aufgabe gut gemacht hat.“ Sasha wusste, dass das nicht alles war. Das konnte er jedoch nicht zugeben. Zumindest nicht laut.

„Mach dir über ihn keine Gedanken“, sagte Stephen und griff nach seiner Zeitschrift. „Er ist ein paar Tausend Meilen weit weg.“

„Stimmt.“ Sasha nickte. „Warum sollten wir uns von ihm die Laune verderben lassen? Wir kommen schließlich ins Fernsehen.“

„Finn wird sich die Show niemals ansehen.“

Das stimmte vermutlich. Finn tat nichts nur so aus Spaß. Oder besser gesagt, nicht mehr. Früher war er ziemlich wild gewesen, aber das war, bevor …

Bevor ihre Eltern gestorben waren. So maßen die Andersson-Jungen die Zeit. Ereignisse hatten entweder vor oder nach dem Tod ihrer Eltern stattgefunden. Nach dem Unfall hatte sich ihr Bruder verändert. Heute würde Finn nicht mal merken, dass er sich amüsierte, wenn der Spaß ihn in den Hintern bisse.

„Nur weil Finn weiß, wo wir sind, heißt das nicht, dass er uns hinterherkommt“, meinte Sasha. „Er weiß, wann er verloren hat.“

In diesem Moment klopfte es an der Tür.

Da Sasha näher dran war, streckte er sich so weit, bis er mit der Hand den Türknauf berührte. Sofort schwang die Tür auf, und Finn stand da. Er sah so wütend aus wie damals, als sie ein Stinktier gefangen und in seinem Schlafzimmer eingesperrt hatten.

„Hallo, Jungs“, sagte er und trat ein. „Wir müssen reden.“

2. Kapitel

Finn sagte sich, dass er mit Schreien nichts ausrichten würde. Eigentlich waren seine Brüder Erwachsene. Aber volljährig oder nicht, sie blieben trotzdem Dummköpfe.

Er betrat das kleine Motelzimmer, in dem zwei Betten, eine Kommode und ein alter Fernseher standen. Eine weitere Tür führte zu einem noch kleineren Badezimmer.

„Nett“, sagte er und schaute sich um. „Mir gefällt, was ihr aus dem Zimmer gemacht habt.“

Sasha verdrehte die Augen und ließ sich in die Kissen zurückfallen. „Was machst du hier?“

„Ich bin euch gefolgt.“

Die Zwillinge wechselten einen überraschten Blick.

Finn schüttelte den Kopf. „Glaubt ihr wirklich, eine E-Mail, in der ihr mir mitteilt, dass ihr das College verlassen habt, würde reichen? Dass ich einfach sage: ‚Hey, kein Problem, habt Spaß. Wen interessiert’s schon, ob ihr euer Studium im letzten Semester hinschmeißt‘?“

„Wir haben dir doch geschrieben, dass es uns gut geht“, warf Sasha ein.

„Ja, das habt ihr, und das weiß ich zu schätzen.“

Da es in Fool’s Gold nicht allzu viele Motels gab, war es relativ leicht gewesen, die Zwillinge aufzuspüren. Finn wusste, dass es finanziell bei ihnen eng sein musste, weshalb er in den halbwegs netten Häusern gar nicht erst nachgeschaut hatte. Der Manager dieses Motels hatte die beiden sofort wiedererkannt und Finn ohne Umstände die Zimmernummer genannt.

Stephen beobachtete ihn misstrauisch, sagte aber nichts. Er war schon immer der Ruhigere der beiden gewesen. Obwohl sie sich zum Verwechseln ähnlich sahen, hatten sie völlig unterschiedliche Persönlichkeiten. Sasha war kontaktfreudig, impulsiv und leicht abzulenken. Stephen war ruhiger und überlegte normalerweise gut, was er tat. Deshalb verstand Finn ja, wieso Sasha nach Kalifornien abgehauen war, aber Stephen?

Reg dich nicht auf, ermahnte er sich. Ein ruhiges Gespräch würde ihn weiterbringen als wildes Herumschreien. Als er seinen Mund öffnete, merkte er jedoch, dass er vom ersten Wort an brüllte.

„Was, zum Teufel, habt ihr euch dabei gedacht?“ Er knallte die Tür hinter sich zu und stemmte die Hände in die Hüften. „Ihr habt nur noch ein Semester vor euch. Ein einziges Semester! Ihr hättet eure Seminare beenden und euren Abschluss machen können. Dann hättet ihr etwas in der Tasche. Etwas, das euch niemand mehr wegnehmen kann. Aber habt ihr daran gedacht? Natürlich nicht. Stattdessen seid ihr einfach abgehauen. Und wofür? Für die Chance, in einer lächerlichen Sendung mitzumachen!“

Die Zwillinge schauten einander an. Sasha setzte sich auf und atmete tief durch. „Die Show ist nicht lächerlich. Zumindest nicht für uns.“

„Weil ihr beide Profis seid? Und wisst, was ihr tut?“ Er funkelte seine Brüder wütend an. „Ich würde euch am liebsten in diesem verdammten Zimmer einsperren, bis ihr merkt, wie dumm ihr seid.“

Langsam nickte Stephen. „Das ist der Grund, warum wir dir erst davon erzählt haben, als wir hier waren, Finn. Wir wollten dir weder Angst machen noch dich verletzen, aber du hältst uns an einer viel zu kurzen Leine.“

Das waren Worte, die Finn nicht hören wollte. „Warum konntet ihr nicht das College beenden? Mehr habe ich doch gar nicht verlangt. Ich wollte euch einfach nur durchs College bringen.“

„Hätte es dann wirklich aufgehört?“ Sasha stand vom Bett auf. „Du hast das schon so oft gesagt. Wir müssten nur die Highschool beenden, dann würdest du uns in Ruhe lassen. Aber das hast du nicht. Du hast uns weiter gedrängt, hast uns aufs College geschickt, unsere Noten überwacht und unsere Kurswahl kommentiert.“

Finn spürte, dass er immer gereizter wurde. „Und was genau ist falsch daran? Ist es so schlimm, dass ich mir für euch ein gutes Leben wünsche?“

„Du wünschst dir, dass wir dein Leben führen“, sagte Sasha und wirkte jetzt genauso wütend. „Wir wissen alles, was du für uns getan hast, zu schätzen. Du liegst uns am Herzen, aber wir können nicht ständig nur tun, was du willst.“

„Ihr seid einundzwanzig. Ihr seid noch Kinder.“

„Sind wir nicht.“ Stephen setzte sich auf. „Du sagst das immer nur.“

„Vielleicht hat meine Art, euch zu behandeln, etwas damit zu tun, wie ihr euch benehmt.“

„Vielleicht hat das auch einfach nur was mit dir zu tun“, erwiderte Stephen. „Du hast uns nie vertraut. Hast uns nie die Chance gegeben, uns zu beweisen.“

Finn war so wütend, dass er am liebsten mit der Faust ein Loch in die Wand geschlagen hätte. „Vielleicht weil ich gewusst habe, dass ihr dann so eine Dummheit wie diese hier begehen würdet. Was habt ihr euch nur dabei gedacht?“

„Wir müssen unsere eigenen Entscheidungen treffen“, sagte Stephen stur.

„Nicht wenn sie so mies ausfallen.“

Finn spürte, wie ihm die Kontrolle über die Auseinandersetzung entglitt. Das Gefühl wurde schlimmer, als er sah, was für Blicke die Zwillinge wechselten. Er erkannte, dass sie schweigend miteinander kommunizierten – etwas, das er nie verstanden hatte.

„Du kannst uns nicht zwingen zurückzugehen“, erklärte Stephen ruhig. „Wir bleiben hier. Wir werden bei der Sendung mitmachen.“

„Und was dann?“ Finn ließ die Hände sinken.

„Ich werde nach Hollywood gehen und dort als Fernseh- und Kinoschauspieler arbeiten“, sagte Sasha.

Das ist nichts Neues, dachte Finn. Sasha war schon seit Jahren verrückt nach Ruhm.

„Und was ist mit dir?“, fragte er Stephen. „Willst du Werbestar werden?“

„Nein.“

„Dann komm nach Hause.“

„Wir gehen nicht zurück.“ Stephen klang seltsam entschlossen und erwachsen. „Lass es gut sein, Finn. Du hast alles getan, was du tun musstest. Wir sind so weit, auf eigenen Füßen zu stehen.“

Genau das waren sie eben nicht. Und das brachte Finn förmlich um. Sie waren zu jung, zu entschlossen, Fehler zu begehen. Wenn er nicht in der Nähe war, wer würde dann auf sie aufpassen? Er würde alles tun, um sie zu beschützen.

Kurz fragte er sich, ob er sie körperlich zum Aufgeben zwingen könnte. Aber was dann? Er könnte sie nicht den ganzen Rückflug über gefesselt lassen. Außerdem war ihm die Vorstellung, sie zu entführen, nicht gerade angenehm – er hatte das dumpfe Gefühl, einer schweren Straftat angeklagt zu werden, sobald er die Landesgrenze überschritten haben würde.

Die Rückkehr nach Alaska würde gar nichts bringen, wenn die beiden nicht bereit waren, dort zu bleiben und den Collegeabschluss zu machen.

„Könnt ihr das nicht im Juni machen?“, fragte er. „Nach dem Abschluss?“

Die Zwillinge schüttelten den Kopf.

„Wir wollen dir nicht wehtun“, sagte Stephen. „Wir sind dir wirklich dankbar für alles, was du für uns getan hast. Aber jetzt ist es an der Zeit loszulassen. Wir kommen schon klar.“

Einen Teufel kamen sie klar. Sie waren Kinder, die taten, als wären sie Erwachsene. Sie dachten, sie wüssten alles. Sie glaubten, die Welt wäre fair und das Leben einfach. Er wollte sie doch nur vor der eigenen Dummheit beschützen. Warum musste das so schwer sein?

Es muss einen anderen Weg geben, dachte er, als er mit steifen Schritten das kleine Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuwarf. Er brauchte irgendjemanden, mit dem er vernünftig reden konnte. Oder den er wenigstens einschüchtern konnte.

„Geoff Spielberg, nicht verwandt und nicht verschwägert“, sagte der langhaarige, ungepflegt aussehende Mann, als Finn sich näherte. „Sie sind von der Stadt, ja? Wegen der zusätzlichen Stromleitungen. Scheinwerfer sind wie Exfrauen. Wenn man nicht aufpasst, saugen sie einen aus. Wir brauchen den Strom.“

Finn musterte den dünnen Kerl vor sich. Geoff „mit G“ war kaum dreißig, trug ein T-Shirt, das vor zwei Jahren hätte weggeworfen werden sollen, und eine Jeans mit ausreichend Rissen, um einen Stripper nervös zu machen. Kurz, er entsprach nicht gerade Finns Vorstellung eines Fernsehproduzenten.

Sie standen mitten auf dem Marktplatz, umgeben von Kabeln und Leitungen. Scheinwerfer standen auf Stativen und hingen in den Bäumen. Kleine Wohnwagen säumten die Straße. Zwei Lastwagen hatten ausreichend mobile Toiletten geladen, um ein ganzes Dorf zu versorgen, und vor dem Verpflegungszelt waren Tische und Stühle aufgebaut.

„Sie sind der Produzent der Show?“, fragte Finn.

„Ja. Aber was hat das mit dem Strom zu tun? Kriegen wir ihn noch heute? Ich brauche ihn dringend.“

„Ich bin nicht von der Stadt.“

Geoff stöhnte. „Dann gehen Sie, und hören Sie auf, mich zu nerven.“ Noch während er sprach, machte er sich auf den Weg zum Wohnwagenpark, den Blick fest auf sein Smartphone gerichtet.

Finn hielt mit ihm Schritt. „Ich möchte mit Ihnen über meine Brüder reden. Sie versuchen, in die Show zu kommen.“

„Unsere Castingentscheidung ist bereits gefallen und wird morgen verkündet. Ich bin sicher, Ihre Brüder sind fabelhaft. Und wenn sie es nicht in diese Show schaffen, finden sie bestimmt ein anderes Team, das sie nimmt.“ Er klang gelangweilt, als hätte er die Worte schon tausend Mal gesagt.

„Ich will nicht, dass sie an der Sendung teilnehmen.“

Geoff schaute von seinem Telefon auf. „Was? Jeder will ins Fernsehen.“

„Ich nicht. Und die beiden auch nicht.“

„Warum sind sie dann zum Vorsprechen gekommen?“

„Die beiden wollen schon mitmachen“, erklärte Finn. „Ich bin aber dagegen.“

Geoffs Miene drückte wieder vollkommenes Desinteresse aus. „Sind die beiden über achtzehn?“

„Ja.“

„Dann ist das nicht mein Problem. Tut mir leid.“ Er griff nach der Klinke der Wohnwagentür.

Finn war jedoch schneller und versperrte ihm den Weg. „Ich will nicht, dass sie bei der Show mitmachen“, wiederholte er.

Geoff seufzte hörbar. „Wie heißen die beiden?“

Finn sagte es ihm.

Geoff blätterte in seinem Smartphone die Dateien durch und schüttelte dann den Kopf. „Sie machen Witze, oder? Die Zwillinge? Die werden es auf jeden Fall schaffen. Höhere Einschaltquoten bekämen wir nur, wenn die beiden Mädels mit dicken Titten wären. Die Zuschauer werden sie lieben.“

Das überrascht mich nicht, dachte Finn. Es enttäuschte ihn, ja, aber es war keine Überraschung. „Was kann ich tun, damit Sie Ihre Meinung ändern? Ich bezahle Sie auch dafür.“

Geoff lachte. „So viel Geld haben Sie gar nicht. Schauen Sie, es tut mir leid, dass Sie damit nicht glücklich sind, aber Sie kommen darüber hinweg. Außerdem könnten die beiden berühmt werden. Wäre das nicht toll?“

„Sie sollten jetzt auf dem College sein.“

Geoffs Telefon verlangte wieder nach seiner Aufmerksamkeit. „Hm-mh“, murmelte er, während er die E-Mail las. „Okay. Machen Sie einen Termin mit meiner Sekretärin aus.“

„Oder ich könnte Sie gleich hier vor Ort überzeugen. Sie laufen gerne herum, Geoff? Wollen Sie das auch in Zukunft weiter tun?“

Geoff schaute ihn kaum an. „Ich bin sicher, Sie könnten mir wehtun. Aber meine Anwälte sind wesentlich zäher als Ihre Muskeln. Im Gefängnis würde es Ihnen gar nicht gefallen.“

„Und Ihnen nicht im Krankenhaus.“

Endlich schaute Geoff ihn an. „Meinen Sie das ernst?“

„Wie sehe ich denn aus? Wir reden hier über meine Brüder. Ich werde nicht zulassen, dass sich die beiden nur wegen Ihrer Show das Leben versauen.“

Finn drohte nicht gern. Im Moment war ihm jedoch nur wichtig, dafür zu sorgen, dass Sasha und Stephen ihren Abschluss machten. Dafür würde er alles tun, was nötig war. Wenn das bedeutete, Geoff zu zerquetschen, dann auch das.

Geoff steckte sein Smartphone in die Hosentasche. „Sehen Sie, ich verstehe Ihren Standpunkt, aber Sie müssen auch meinen verstehen. Die beiden sind bereits in der Sendung. Ich habe hier vierzig Leute, die für mich arbeiten, und ich habe mit jedem von ihnen einen Vertrag geschlossen. Ich bin ihnen und meinem Boss Rechenschaft schuldig. Hier steckt eine Menge Geld drin.“

„Geld ist mir egal.“

„Das sollte es aber nicht, Mann aus den Bergen“, sagte Geoff. „Ihre Brüder sind volljährig. Sie können tun, was sie wollen. Und Sie können sie nicht daran hindern. Angenommen, ich würde sie aus der Show werfen, was dann? Dann ziehen sie weiter nach L. A. Solange sie bei unserer Show mitmachen, wissen Sie wenigstens, wo sie sind und was sie tun, stimmt’s?“

Der Einwand gefiel Finn gar nicht. Er musste trotzdem zugeben, dass der Mann recht hatte.

Geoff nickte ein paar Mal. „Wir verstehen uns. Es ist besser, die beiden sind hier, wo Sie ein Auge auf sie haben können.“

„Ich wohne nicht hier.“

„Wo dann?“

„In Alaska.“

Geoff krauste die Nase, als hätte er gerade Hundescheiße gerochen. „Sind Sie Fischer oder so?“

„Ich fliege Flugzeuge.“

Sofort hellte sich die Miene des Produzenten auf. „Flugzeuge mit Menschen? Richtige Flugzeuge?“

„Im Gegensatz zu Modellflugzeugen, meinen Sie? Ja.“

„Super. Ich brauche einen Piloten. Wir haben bereits einen Trip nach Las Vegas geplant und müssen einen Linienflug nehmen, um die Kosten niedrig zu halten. Aber es gibt noch andere Orte, vielleicht Tahoe oder Frisco. Wenn ich ein Flugzeug mieten würde, könnten Sie es fliegen, ja?“

„Vielleicht.“

„Es gäbe Ihnen einen Grund, hierzubleiben und auf Ihre Kids aufzupassen.“

„Meine Brüder.“

„Was auch immer. Sie würden zum Team gehören.“ Geoff legte sich die Hand auf die Brust. „Ich habe auch Familie. Ich weiß, wie es ist, sich um jemanden zu sorgen.“

Finn bezweifelte stark, dass Geoff sich über irgendjemanden oder irgendetwas außer sich selbst Sorgen machte. „Ich wäre dabei, wenn Sie filmen.“

„Solange Sie uns nicht im Weg stehen oder Ärger machen, kein Problem. Wir haben schon irgend so eine Tussi von der Stadt, die hier andauernd herumhängt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Denny, Darlene. Irgendwie so.“

„Dakota“, sagte Finn trocken.

„Richtig. Die meine ich. Halten Sie sich an sie. Sie passt auf, dass wir ihrer wertvollen Stadt keinen Schaden zufügen.“ Geoff verdrehte die Augen. „Ich schwöre, meine nächste Sendung wird irgendwo in der Wildnis gedreht. Bären stellen keine Forderungen, wissen Sie? Das ist wesentlich einfacher als das hier. Also, was sagen Sie, sind Sie dabei?“

Was Finn sagen wollte, war Nein. Er wollte nicht dabei sein, wenn sie die Realityshow drehten. Er wollte seine Brüder zum College zurückbringen und nach South Salmon zurückkehren, um sein Leben fortzusetzen.

Doch zwischen ihm und seinem Wunsch stand die Tatsache, dass seine Brüder nicht eher nach Hause zurückkehren würden, bis das hier vorbei sein würde. Er hatte die Wahl: Er konnte auf Geoffs Angebot eingehen oder allein nach Hause fahren. Wenn er das aber täte … Wie sollte er dann sicher sein, dass Geoff und die anderen nicht alles vermasselten?

„Ich bleibe“, erklärte er. „Und ich fliege Sie hin, wo immer Sie hinwollen.“

„Gut. Sprechen Sie mit dieser Dakota. Sie wird sich um Sie kümmern.“

Finn fragte sich, was sie wohl davon hielt, ihn jetzt ständig um sich zu haben.

„Vielleicht werden die Zwillinge ja früh rausgewählt“, sagte Geoff und öffnete die Tür zum Wohnwagen.

„So viel Glück hab ich wohl nicht.“

Dakota ging zum Haus ihrer Mutter. Die Morgenluft war noch kühl, der Himmel strahlte hellblau und ließ die Berge im Osten greifbar nah erscheinen. Der Frühling war gerade rechtzeitig gekommen. Das Laub an den Bäumen war kräftig und grün, Narzissen, Krokusse und Tulpen säumten die Fußwege. Obwohl es noch nicht einmal zehn Uhr war, herrschte auf den Bürgersteigen schon das rege Treiben von Touristen und Einheimischen. Fool’s Gold war ein Ort, an dem Zufußgehen einfacher war als Autofahren. Denn die Gehsteige waren breit, und Fußgänger hatten in der ganzen Stadt Vorrang.

Sie bog in die Straße, in der sie aufgewachsen war. Ihre Eltern hatten das Haus kurz nach der Hochzeit gekauft. Alle sechs Kinder waren hier aufgewachsen. Dakota hatte sich mit ihren beiden Schwestern ein Zimmer geteilt. Selbst während der Highschool, als die drei älteren Brüder schon ausgezogen waren, hatten sie noch lieber zusammen in einem Zimmer gewohnt.

Vor ein paar Jahren waren die Fenster ausgetauscht worden, noch ein paar Jahre vorher war das Dach erneuert worden. Die Außenfassade erstrahlte jetzt in Beige statt in Grün, die Bäume waren größer, aber ansonsten hatte sich wenig geändert. Obwohl alle sechs Kinder inzwischen aus dem Haus waren, hatte Denise es behalten.

Dakota ging um das Haus herum und gleich in den Garten. Denn ihre Mutter hatte angekündigt, diese Woche hier ordentlich zu tun zu haben.

Und richtig, als sie die Pforte öffnete, sah sie ihre Mutter auf einer dicken gelben Matte in den Beeten knien und rigoros umgraben. Auf dem Rasen lagen zerfetzte Überreste von unwürdigen Pflanzen. Denise trug eine Jeans, eine Tinkerbell-Sweatshirtjacke über einem pinkfarbenen T-Shirt und einen großen Strohhut.

„Hi, Mom!“

Denise schaute auf und lächelte. „Hi, Honey. Wusste ich, dass du kommst?“

„Nein. Ich schaue einfach so vorbei.“

„Gut.“ Ihre Mutter stand auf und streckte sich. „Ich verstehe das nicht. Ich habe hier doch erst im letzten Herbst Klarschiff gemacht. Wieso muss ich es jetzt im Frühling schon wieder tun? Was genau tun meine Pflanzen den Winter über? Wie kann alles so schnell wieder so unordentlich werden?“

Dakota ging zu ihrer Mutter und umarmte sie. Dann gab sie ihr einen Kuss auf die Wange. „Da fragst du die Falsche. Ich habe vom Gärtnern keine Ahnung.“

„Wie deine Schwestern. Da habe ich als Mutter offensichtlich versagt.“ Sie seufzte theatralisch.

Denise hatte sehr jung geheiratet. Bei ihr und Ralph Hendrix war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. In den ersten fünf Jahren ihrer Ehe hatte sie die drei Jungen bekommen, dann waren die Drillingsschwestern gefolgt.

Dakota erinnerte sich an eine Kindheit in einem Haus voller Lachen und Liebe. Sie hatten sich immer nahegestanden und waren nach dem Tod ihres Vaters vor bald elf Jahren noch näher zusammengerückt.

Der unerwartete Tod ihres Dads hatte ihre Mutter zutiefst getroffen, aber sie nicht zerstört. Sie hatte sich zusammengerissen – hauptsächlich zum Wohl ihrer Kinder – und ihr Leben fortgesetzt. Sie war hübsch, lebhaft und ging noch locker für Anfang vierzig durch.

Jetzt bedeutete sie ihrer Tochter, ihr durch die Hintertür in die Küche zu folgen. Die war auch vor ein paar Jahren renoviert worden, aber egal, wie es jetzt aussah, der helle, offene Raum würde immer das Zentrum des Hauses bleiben. Da war Denise absolut traditionell.

„Vielleicht solltest du einen Gärtner engagieren“, schlug Dakota vor und nahm zwei Gläser vom Regal.

Während ihre Mutter einen Krug Eistee aus dem Kühlschrank holte, gab Dakota Eiswürfel in die Gläser und warf dann einen Blick in die Keksdose. Der Geruch von frischen Chocolate-Chip-Cookies wehte ihr in die Nase. Sie nahm die Dose in beide Hände und trug sie zum Küchentisch.

„Ich hätte kein Vertrauen in einen Gärtner“, erwiderte Denise, während sie sich ihrer Tochter gegenübersetzte. „Ich sollte einfach alles umgraben und betonieren. Das würde die Sache vereinfachen.“

„Du stehst aber nicht auf einfach. Und du liebst deine Blumen.“

„An den meisten Tagen schon.“ Sie schenkte Eistee ein. „Wie geht’s mit der Sendung voran?“

„Morgen werden die Teilnehmer verkündet.“

Humor funkelte in Denises Augen. „Und, stehst du auch auf der Liste?“

„Wohl kaum. Ich hätte mit all dem nichts zu tun, wenn Marsha mich nicht überredet hätte.“

„Wir haben alle unsere Bürgerpflichten zu erfüllen.“

„Ich weiß. Darum mache ich das ja auch. Hättest du uns nicht beibringen können, dass uns andere Leute egal sind? Das wäre für mich besser gewesen.“

„Es sind doch nur zehn Wochen, Dakota. Du wirst es überleben.“

„Vielleicht, aber das heißt nicht, dass es mir gefallen muss.“

Um die Mundwinkel ihrer Mutter zuckte es. „Ah, das ist dieses erwachsene Verhalten, das mich so stolz auf dich macht.“

Ich bin froh, dass sie zu Scherzen aufgelegt ist, dachte Dakota. Denn gleich würde es wesentlich ernster werden.

Sie schob das anstehende Gespräch seit Monaten vor sich her, doch jetzt war es an der Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen. Es ging nicht darum, dass sie etwas vor ihrer Mutter geheim halten wollte – sie wusste nur, die Wahrheit würde ihr wehtun. Und Denise hatte bereits genug durchgemacht.

Dakota nahm sich einen Keks, legte ihn auf die Serviette vor sich, biss aber nicht ab. „Mom, ich muss dir was sagen.“

Auch wenn ihre Miene ungerührt blieb, spürte Dakota, wie ihre Mutter sich anspannte. „Was denn?“

„Ich bin weder krank, noch sterbe ich, noch werde ich bald verhaftet.“

Dakota atmete tief ein. Sie musterte den Schokokeks. Seine rauen Ecken. Das war leichter, als den Menschen anzusehen, der sie am meisten liebte.

„Weißt du noch, dass ich zu Weihnachten darüber gesprochen habe, ein Kind zu adoptieren?“

Ihre Mutter seufzte. „Ja. Und obwohl ich die Idee toll finde, halte ich es immer noch für verfrüht. Woher willst du wissen, dass du nicht einen wundervollen Mann findest und heiratest und dann auf die altmodische Art mit ihm Kinder haben möchtest?“

Das haben wir doch schon tausend Mal durchgekaut, dachte Dakota. Und trotz der Ermahnungen ihrer Mutter hatte sie die entsprechenden Formulare ausgefüllt und war bereits von der Adoptionsvermittlungsagentur überprüft worden.

„Du weißt ja, dass meine Periode schon immer sehr schwer für mich auszuhalten war“, fuhr sie fort. Während ihre Schwestern diese Zeit im Monat ohne sonderliche Probleme hinter sich brachten, litt Dakota immer unter großen Schmerzen.

„Ja. Wir sind deswegen ein paar Mal zusammen beim Arzt gewesen.“

Ihr Hausarzt hatte immer gesagt, alles wäre in bester Ordnung. Er hatte sich geirrt.

„Letzten Herbst ist es schlimmer geworden. Ich bin zu meiner Frauenärztin gegangen, und sie hat ein paar Untersuchungen gemacht.“ Schließlich hob Dakota den Kopf und schaute ihre Mutter an. „Ich habe eine Form des polyzystischen Ovarialsyndroms und eine Beckenendometriose.“

„Was? Ich weiß, was eine Endometriose ist, aber das andere?“ Ihre Mutter klang besorgt.

Dakota lächelte. „Keine Panik. Es ist weder gefährlich noch ansteckend. PCOS ist ein hormonelles Ungleichgewicht. Ich bekomme es dadurch in den Griff, dass ich auf mein Gewicht achte und Sport treibe. Ich nehme außerdem ein paar Hormone. Für sich allein kann PCOS eine Schwangerschaft schon ziemlich schwierig machen.“

Denise runzelte die Stirn. „Okay“, sagte sie langsam. „Und die Endometriose? Was ist mit der? Wächst oder streut sie?“

„So in der Art. Dr. Galloway war überrascht, weil ich beides habe, aber sie sagt, das kann vorkommen. Sie hat alles aufgeräumt sozusagen, damit ich keine Schmerzen mehr habe.“

Ihre Mutter beugte sich vor. „Was sagst du da? Du bist operiert worden? Warst du im Krankenhaus?“

„Nein, es war eine ambulante Operation. Alles gut.“

„Warum hast du mir das nicht erzählt?“

„Weil das mein geringstes Problem gewesen ist.“

Dakota schluckte. Sie war so darauf bedacht gewesen, es niemandem zu verraten. Sie hatte kein Mitleid gewollt, hatte nicht hören wollen, dass alles gut würde, wenn sie doch wusste, dass es nicht stimmte. Sie hatte sich in einem Zustand befunden, in dem Worte alles nur noch schlimmer gemacht hätten.

Aber erst waren Wochen, dann Monate vergangen, und das alte Klischee, dass Zeit alle Wunden heilt, stimmte beinah. Dakota war noch nicht geheilt, aber sie konnte endlich die Wahrheit aussprechen. Das wusste sie, weil sie es seit Tagen in ihrem kleinen Haus geübt hatte.

Sie zwang sich, in die besorgten Augen ihrer Mutter zu blicken. „Das PCOS ist unter Kontrolle. Ich werde ein langes, gesundes Leben führen. Jede Diagnose für sich erschwert eine Schwangerschaft. Beide zusammen bedeuten, es ist höchst unwahrscheinlich, dass ich jemals auf altmodische Art schwanger werde, wie du es genannt hast. Dr. Galloway meint, die Chancen stehen ungefähr eins zu einhundert.“

Denise zitterten die Lippen. Tränen traten ihr in die Augen. „Nein“, flüsterte sie. „Oh, Honey, nein.“

Dakota hatte eher mit Vorwürfen gerechnet. Ein „Warum hast du es mir nicht früher erzählt“ oder Ähnliches. Stattdessen stand ihre Mutter auf, zog sie in ihre Arme und hielt sie fest, als wollte sie sie nie wieder gehen lassen.

Die Wärme der vertrauten Umarmung berührte die kalten, dunklen Stellen in Dakota. Sie hatte diese Teile von sich so tief vergraben, dass sie sich selbst kaum noch daran erinnerte.

„Es tut mir leid“, flüsterte Denise und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Du hast gesagt, du hättest es letzten Herbst erfahren?“

Dakota nickte.

„Deine Schwestern haben erwähnt, dass dich etwas beschäftigt hat. Wir dachten, es ginge um einen Mann, aber das stimmte nicht, oder?“

Dakota nickte wieder. Nachdem sie die Diagnose erhalten hatte, war sie zur Arbeit gegangen und vor ihrem Boss in Tränen ausgebrochen. Obwohl sie ihm den Anlass nicht verraten hatte, war ihre Trauer an sich doch nicht zu übersehen gewesen.

„Ich sollte nicht überrascht sein, dass du es für dich behalten hast“, sagte ihre Mutter jetzt. „Du warst immer schon diejenige, die alles erst für sich durchdenkt, bevor sie mit jemandem darüber spricht.“

Sie setzten sich wieder an den Tisch.

„Ich wünschte, ich könnte dir helfen“, gab Denise zu. „Ich wünschte, ich hätte mehr für dich getan, als du als Teenager diese Probleme bekommen hast. Ich fühle mich schuldig.“

„Das musst du nicht“, erwiderte Dakota. „Solche Sachen passieren einfach.“

„Egal“, sagte sie mit fester Stimme. „Du bist gesund und stark und wirst darüber hinwegkommen. Wie du schon sagtest, gegen Kinderlosigkeit kann man etwas unternehmen. Wenn du heiratest, könnten dein Mann und du gemeinsam entscheiden, was ihr tun wollt.“ Sie hielt inne. „Deshalb willst du adoptieren. Du willst sichergehen, dass du ein Kind hast.“

„Ja. Als ich es erfahren habe, fühlte ich mich gebrochen.“

„Du bist nicht gebrochen.“

„Vom Verstand her weiß ich das, aber in meinem Herzen bin ich mir nicht so sicher. Was, wenn ich niemals heirate?“

„Das wirst du.“

„Mom, ich bin achtundzwanzig. Ich war noch nie verliebt. Ist das nicht komisch?“

„Du hattest zu tun. Du hast deinen Doktor gemacht, bevor du fünfundzwanzig geworden bist. Das hat viel Zeit und Energie in Anspruch genommen.“

„Ich weiß, aber …“ Sie hatte ihr Leben immer mit einem Mann teilen wollen, aber nie einen gefunden. Inzwischen suchte sie schon gar nicht mehr nach Mr. Right. Ein einigermaßen vernünftiger Kerl, der bei ihrem Anblick nicht schreiend in die Nacht hinauslief, würde schon reichen.

„Ich will nicht mehr warten. Ich bin absolut in der Lage, ein Kind allein zu erziehen. Außerdem wäre ich ja gar nicht wirklich allein – nicht in dieser Stadt und nicht mit meiner Familie.“

„Nein, du wärst nicht allein. Aber Kinder zu haben macht es schwerer, den richtigen Mann zu finden.“

„Wenn jemand mich nicht so akzeptiert, wie ich bin, inklusive adoptiertem Kind, dann ist er sowieso nicht der Richtige für mich.“

Denise lächelte. „Ich habe so wundervolle Kinder großgezogen.“

Dakota lachte. „Genau, es geht hier nur um dich.“

„Manchmal schon.“ Denise beugte sich vor. „Okay, dann also eine Adoption. Hast du schon angefangen, dich umzusehen? Kann ich dir irgendwie helfen?“

In Dakota wallten die unterschiedlichsten Gefühle auf. Das Mächtigste war Dankbarkeit. Egal, was passierte, auf ihre Mutter konnte sie sich immer verlassen. „Ohne dich würde ich das gar nicht schaffen. Als einzelnes Elternteil zu adoptieren ist nicht so einfach. Ich habe bei internationalen Agenturen recherchiert und mich bei einer angemeldet, die exklusiv in Kasachstan arbeitet.“

„Ich weiß nicht mal, wo das ist.“

„Kasachstan ist der neuntgrößte Staat der Welt und das größte Land ohne ausreichende Wasserversorgung.“ Dakota zuckte mit den Schultern. „Ich habe mich ein wenig schlaugemacht.“

„Das merke ich.“

„Im Norden liegt Russland, im Südosten China. Die Agentur war bezüglich der Adoption sehr offen und ermutigend. Ich habe die Unterlagen ausgefüllt und mich darauf eingerichtet, jetzt zu warten.“

Ihrer Mutter blieb der Mund offen stehen. „Du bekommst ein Kind.“

Dakota zuckte zusammen. „Nein. Ende Januar, nachdem ich die Papiere ausgefüllt und den Hintergrundcheck überstanden hatte, haben sie mich angerufen und gesagt, sie hätten einen kleinen Jungen für mich. Aber am nächsten Tag haben sie sich wieder gemeldet und gemeint, es hätte sich um ein Missverständnis gehandelt. Der Junge würde zu einer anderen Familie gehen. Zu einem Pärchen.“

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