×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Nordweststurm«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Nordweststurm« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Nordweststurm

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Der fünfte Fall für die SoKo St. Peter-Ording

Als in St. Peter-Ording der schwedische Investigativ-Journalist Petter Jansson verschwindet, wendet sich Lennart Norberg an seinen Sohn, der mittlerweile in die Bezirkskriminalinspektion Itzehoe zurückgekehrt ist. Hendrik Norberg untersucht zu diesem Zeitpunkt in Zusammenarbeit mit der Mordkommission ein Tötungsdelikt. In Itzehoe ist ein Stricher ums Leben gekommen. Im Verlauf der Ermittlungen ergeben sich Überschneidungen zum Fall des verschwundenen Journalisten. Als Norberg und seine Kollegin Anna Wagner erfahren, dass dieser an einer explosiven Story über einen Korruptionsskandal innerhalb der schwedischen Polizei arbeitet, befürchten sie, dass er in St. Peter-Ording aufgespürt wurde und in Lebensgefahr schwebt. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit.


  • Erscheinungstag: 25.03.2025
  • Aus der Serie: Ein Fall Für Die Soko St. Peter Ording
  • Bandnummer: 5
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908325
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Zum Buch:

»Als er seinen Fuß vor die Tür setzen wollte, prallte er mit einem Ausruf des Schreckens zurück. Ein Fuchs lag auf der Fußmatte, der Kopf halb abgetrennt, das Fell blutverschmiert.

Er atmete schwer und brauchte einen Augenblick, um den Schock zu überwinden. Aber jetzt wusste er wenigstens, woran er war, denn eine deutlichere Warnung konnte es nicht geben. Er stand auf der Abschussliste, sie spielten nur noch ein bisschen mit ihm.

Offensichtlich war er zu sorglos gewesen, da in den letzten Wochen alles gut gelaufen war. Aber das, was hier heute passiert war, ließ nur den Rückschluss zu, dass er bei seinen Recherchen in Stockholm zu unvorsichtig vorgegangen war und nicht bemerkt hatte, dass sie sich bereits an seine Fersen geheftet hatten.

Oder …

… war es möglich, dass ihn seine Kontaktperson ans Messer geliefert hatte?«

Zur Autorin:

Svea Jensen ist das Pseudonym einer erfolgreichen Krimiautorin. Sie ist in Hamburg aufgewachsen und dem Norden stets treu geblieben: Nach vielen Jahren beim Norddeutschen Rundfunk lebt sie heute in Schleswig-Holstein, wo sie sich mittlerweile ganz dem Schreiben widmet. Während sie Verbrechen für ihre nächsten Bücher plottet, lässt sie sich am liebsten eine Nordseebrise um die Nase wehen.

Lieferbare Titel:

Du stirbst nicht nur zur Sommerzeit

Mörderisches Watt

Tatort Nord

Ein Fall für die Soko St. Peter-Ording:

Nordweststurm (Band 5)

Nordwestschuld (Band 4)

Nordwestnacht (Band 3)

Nordwestzorn (Band 2)

Nordwesttod (Band 1)

Svea Jensen

NORDWESTSTURM

Ein Fall für die Soko St. Peter-Ording

HarperCollins

Prolog

Die Schüsse peitschten durch den schwülen Augustabend und pulverisierten die Fensterscheiben des Wohnraums. Er warf sich zu Boden, und nur Sekunden später wurde der Stuhl, auf dem er gesessen hatte, von Kugeln durchsiebt. Sein Herz schien stehen bleiben zu wollen, als er hörte, wie auch die Fenster der Küche und des Schlafzimmers in einem Kugelhagel zu Bruch gingen.

Wie konnte es sein, dass sie ihn hier, in der schwedischen Einöde, gefunden hatten? Bei seiner Anreise war ihm niemand gefolgt, darauf hatte er ganz genau geachtet. Er hatte Lebensmittel und Getränke mitgebracht und seit seiner Ankunft keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt. Und trotzdem hatten sie ihn aufgespürt, obwohl er sein Handy bereits vor seiner Abfahrt aus Stockholm ausgeschaltet hatte.

Er atmete mehrere Male tief durch, um sein jetzt wild schlagendes Herz zu beruhigen, und robbte dann über den Boden, unter dem Tisch hindurch, in der Hoffnung, an der Seitenwand des Schranks Schutz zu finden. Ein Splitter ragte aus dem Holzboden, er sah ihn zu spät und konnte gerade noch einen Schmerzensschrei unterdrücken, als er sich in seinen rechten Unterarm bohrte.

Er musste an die Pistole gelangen, die in der Schublade des Nachtschränkchens im Schlafzimmer lag, aber wie sollte er dorthin kommen? Er hatte die Waffe vor einigen Wochen im Darknet erworben, vorsichtshalber. Weil er plötzlich zu zweifeln begonnen und sich gefragt hatte, ob das Projekt nicht zu groß für ihn war und er damit nicht nur sein Leben, sondern womöglich auch das seiner Familie aufs Spiel setzte. Aber nach endlosen Tagen des Abwägens hatte seine Berufsethik schließlich die Oberhand gewonnen, das Wissen, dass er an einer Story dran war, die in die Öffentlichkeit gehörte.

Angestrengt lauschte er nach draußen in Erwartung von Stimmen, von Schritten und Geräuschen, die ihm signalisierten, dass dort Männer standen, die im nächsten Augenblick durch die zerstörten Fenster ins Haus eindringen würden. Aber bis auf die Geräusche des Waldes und den Klageruf eines Vogels war alles still.

Nach einer gefühlten Ewigkeit traute er sich endlich aus der Deckung und schlich in geduckter Haltung zum Fenster, wo er sich vorsichtig aufrichtete und einen schnellen Blick nach draußen riskierte.

Niemand zu sehen, aber was war mit den anderen Seiten des Hauses, wo die Fenster ebenfalls zerschossen worden waren? Das Haus war ebenerdig, vielleicht waren sie schon in den anderen Zimmern und warteten darauf, dass er sich blicken ließ.

Nein, das ist unwahrscheinlich, versuchte er sich zu beruhigen. Wenn ein Killer oder mehrere auf ihn angesetzt worden waren, wären sie doch schon längst ins Haus eingedrungen und hätten ihn getötet.

Es sei denn, die Schüsse wären eine Warnung gewesen …

Er zuckte zusammen, als draußen der Motor eines Wagens gestartet wurde. Reifen knirschten auf dem Kies, als sich der Wagen in Bewegung setzte, der Motor heulte auf, während der Fahrer beschleunigte. Dann war es wieder still …

Als sich endlich die Dunkelheit über das Land gesenkt hatte, wagte er es, die Haustür aufzuschließen. Sein Wagen stand an der rechten Seitenfront des Hauses, er musste in Erfahrung bringen, ob er ebenfalls zerstört worden war, denn dann käme er nicht mehr von hier weg.

Als er seinen Fuß vor die Tür setzen wollte, prallte er mit einem Ausruf des Schreckens zurück. Ein Fuchs lag auf der Fußmatte, der Kopf halb abgetrennt, das Fell blutverschmiert.

Er atmete schwer und brauchte einen Augenblick, um den Schock zu überwinden. Aber jetzt wusste er wenigstens, woran er war, denn eine deutlichere Warnung konnte es nicht geben. Er stand auf der Abschussliste, sie spielten nur noch ein bisschen mit ihm.

Offensichtlich war er zu sorglos gewesen, da in den letzten Wochen alles gut gelaufen war. Aber das, was hier heute passiert war, ließ nur den Rückschluss zu, dass er bei seinen Recherchen in Stockholm zu unvorsichtig vorgegangen war und nicht bemerkt hatte, dass sie sich bereits an seine Fersen geheftet hatten.

Oder …

… war es möglich, dass ihn seine Kontaktperson ans Messer geliefert hatte?

Er schüttelte den Kopf, nein, das konnte nicht sein. Dem Mann war ebenso wie ihm daran gelegen, die Sache endlich öffentlich zu machen. Außerdem wusste er nichts von diesem Ferienhaus, und ein Kontakt hatte schon länger nicht mehr stattgefunden.

Der Volvo schien zum Glück intakt geblieben zu sein, aber bevor er einen Startversuch wagte, unterzog er zunächst das Innere des Wagens, den Motorraum und dann den Unterboden und die Reifen einer genauen Untersuchung. Er fand nichts.

Also riss er sich zusammen. Er musste hier weg. Eilends lief er ins Haus zurück, packte seine Sachen und verstaute sie im Volvo. Dann überlegte er, wie er jetzt weiter vorgehen sollte. Er musste sich eine neue Unterkunft suchen, am besten außer Landes. Sein Herz zog ihn mit Macht an den kleinen Ort an der deutschen Nordseeküste, der ihm in den letzten Jahren zu einer zweiten Heimat geworden war, aber sein Verstand sagte ihm, dass er mit seiner dortigen Anwesenheit unter Umständen einen weiteren Menschen gefährden würde.

Der Motor sprang sofort an, aber erst als er nach einer halben Stunde die Landstraße erreichte, atmete er wieder etwas freier. Bei jedem Schalten in einen neuen Gang, jeder Kurve, jedem Schlagloch hatte er mit einer Fernzündung gerechnet. Er aktivierte die Freisprechanlage und suchte eine Nummer heraus, um an der Nordsee alles in die Wege zu leiten …

1

Zwei Wochen später

Dienstag, 24. August

Der junge Mann war vor vier Tagen im Nebengebäude einer stillgelegten Fabrikhalle am Stadtrand von Itzehoe aufgefunden worden. Nackt unter einer Plane, der Körper mit fünfzehn Stichwunden übersät, von denen laut Rechtsmedizin mindestens vier tödlich waren. Ein typisches Übertöten. Aufgrund der Temperaturen, die jetzt seit Wochen die Dreißig-Grad-Marke knackten, war der Verwesungsprozess beim Auffinden der Leiche bereits weit fortgeschritten gewesen, und ein nicht unerheblicher Tierfraß, vermutlich Ratten und Krähen, hatte ebenfalls dazu beigetragen, dass es zuerst so aussah, als bestünde keine Möglichkeit, den Toten zu identifizieren. Über den Zahnstatus war nichts herauszubekommen gewesen, obwohl eine deutschlandweite Abfrage gestartet worden war, aber bei einer weiteren Untersuchung hatten dann doch zwei Fingerabdrücke der rechten Hand gesichert werden können, die ein Match im System ergeben hatten. Der Todeszeitpunkt konnte aufgrund der Umstände allerdings nicht mit Sicherheit festgestellt werden, die Rechtsmedizin ging von circa sieben Tagen vor dem Auffinden aus.

Hendrik Norberg blickte auf, als Mattes Hellmer sein Büro betrat. Der Leiter der Itzehoer Mordkommission, mit dem er schon vor seiner Versetzung nach St. Peter-Ording erfolgreich zusammengearbeitet hatte und der über die Jahre ein guter Freund geworden war, hatte im vergangenen Jahr einen nicht zu verachtenden Anteil an Norbergs Rückkehr nach Itzehoe gehabt. Allerdings hatte Norberg nicht seinen alten Arbeitsplatz im K1, der Mordkommission, eingenommen, sondern den Posten des stellvertretenden Kommissariatsleiters im Bereich der Organisierten Kriminalität angeboten bekommen, wo im K4, dem Dezernat für Komplexermittlungen, jede Form der Kriminalität bearbeitet wurde, seien es Raubserien, Entführungen, Sexualdelikte, BtM-Handel oder Ähnliches.

Der Wechsel von Itzehoe nach St. Peter-Ording war seinerzeit zwar auf Norbergs eigenen Wunsch geschehen, weil er seinen beiden minderjährigen Söhnen nach dem Tod ihrer Mutter keinen Umzug hatte zumuten wollen, aber glücklich war er damit nicht geworden. Er war mit Leib und Seele Kripobeamter, der sich in dem neuen Job als Schutzpolizist und Dienststellenleiter nur dann wohlgefühlt hatte, wenn er die Möglichkeit gehabt hatte, seine Kollegin Anna Wagner bei ihren Vermisstenfällen zu unterstützen.

Seine Jungs hatten von dieser beruflichen Unzufriedenheit mehr mitbekommen, als ihm lieb gewesen war. Vor allem bei Lasse, seinem Ältesten, hatte er die Sorge gehabt, dass es Probleme geben würde, wenn er ihnen seine Entscheidung mitteilte, wieder in der Bezirkskriminalinspektion und damit in einem weitaus gefährlicheren Umfeld als St. Peter-Ording arbeiten zu wollen. Nach dem Tod seiner Mutter und Monaten voller Stress hatte Lasse irgendwann eingestanden, dass er den Beruf seines Vaters ablehnte, weil er Angst hatte, dass diesem etwas zustoßen und er auch noch ihn verlieren könnte. Aber seitdem war einige Zeit ins Land gegangen, Lasse war jetzt fünfzehn und hatte begriffen, dass sein Vater einen Job brauchte, der ihn erfüllte. Und so hatten beide Jungs seinen Wechsel ohne Murren akzeptiert und ihm damit eine große Sorge genommen. Ihr gemeinsamer Wohnort würde St. Peter bleiben, darüber hatte Einigkeit geherrscht.

Hellmer strich über seinen schweißglänzenden Glatzkopf und ließ sich auf den Stuhl vor Norbergs Schreibtisch fallen.

»So langsam nervt mich dieses Wetter.« Eine Klimaanlage gab es im Polizeihochhaus nicht, und so wurde das Arbeiten in den aufgeheizten Räumen trotz zahlreicher in Betrieb befindlicher Ventilatoren langsam zur Qual. Im Freien war es allerdings noch unerträglicher, weil die Sonne dort gnadenlos vom Himmel brannte.

Norberg war zum Glück nicht so hitzeempfindlich und im Moment sowieso ausgesprochen positiv eingestellt.

»Vergiss das Wetter, freu dich lieber, dass die Kollegen den Toten identifiziert haben und wir jetzt endlich richtig loslegen können.«

Bis zur Identifizierung des Leichnams vor zwei Tagen waren die Kollegen des K1 einer Vielzahl von Ermittlungsansätzen nachgegangen, allerdings waren bisher alle Spuren ins Leere gelaufen. Die Spurensicherung hatte die Halle samt Nebengebäuden sowie deren Umgebung auf den Kopf gestellt und eine Menge Müll eingesammelt, weil der Komplex ein beliebter Treffpunkt für Junkies und darüber hinaus ein häufig aufgesuchter Aufenthaltsort für Obdachlose war. Nach Freigabe des Leichenfundorts – dass es der Tatort war, hatte man von Anfang an ausgeschlossen – hatten Mitarbeiter der Mordkommission das Areal in regelmäßigen Abständen aufgesucht und die dort Angetroffenen befragt. Die Ergebnisse dieser Bemühungen waren allerdings erwartungsgemäß schlecht ausgefallen, da diese Klientel keine große Aufgeschlossenheit gegenüber der Polizei zeigte. Auch der anonyme Anrufer, der den Leichenfund vor vier Tagen gemeldet hatte, war bisher nicht ermittelt worden. Die Telefongesellschaft weigerte sich standhaft, die Personalien herauszugeben – ein Hoch auf den Datenschutz!

Mit der Identifizierung des Toten waren sie dann einen großen Schritt weitergekommen. Der Mann hieß Oleg Radloff, war fünfundzwanzig Jahre alt und vor anderthalb Jahren das erste Mal auf dem Radar der Polizei aufgetaucht, nachdem er einen Freier beraubt hatte, der auf dem Parkplatz Forst Rantzau seine Dienste in Anspruch genommen hatte. Der Parkplatz lag an der A23 zwischen den Anschlussstellen Pinneberg-Nord und Tornesch und war als sogenannte Gay-Cruising-Area bekannt. Also als ein Bereich, in dem die aktive und mobile Suche nach einem Sexualpartner stattfand. Mit dem sogenannten Cruising versuchten homosexuelle Männer gesellschaftliche Konventionen zu umgehen, hier fand in den meisten Fällen spontaner und anonymer Sex mit einander zumeist unbekannten Partnern statt. Gelegentlich trieben sich dort auch Stricher herum. Der Freier hatte den Raub einer Polizeistreife gemeldet, die bei ihrer täglichen Kontrollfahrt just in dem Moment aufgetaucht war, als sich Radloff mit der erbeuteten Brieftasche in einem Wagen hatte davonmachen wollen. In der nachfolgenden Zeit hatte sich Radloff mehrerer Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig gemacht, eine mehrmonatige Haftstrafe abgesessen und sich auch danach nicht gebessert, sondern weiterhin als Stricher sowie als Drogendealer verdingt und war daraufhin in den Fokus des K4 gerückt.

Aus diesem Grund saß Hellmer jetzt hier in Norbergs Büro.

»Was gibt es Neues von den Untersuchungen des Parkplatzes und der Wohnung des Toten? Sind die Kollegen bei den Befragungen von Radloffs Umfeld weitergekommen?«, wollte Norberg wissen.

»Nicht wirklich. Der Parkplatz kann als Tatort ausgeschlossen werden. Dasselbe gilt für die Wohnung. Ein heruntergekommenes Rattenloch in einem Hochhaus in der Brunnenstraße, in der zwar das reinste Chaos herrscht, Spuren auf einen Kampf oder den Mord jedoch keine zu finden waren. Die Nachbarschaftsbefragungen haben ebenfalls nicht das Geringste ergeben. Man war sich einig, dass man Radloff nie zu Gesicht bekommen hätte. Wir haben uns außerdem in den Ecken umgehört, in denen er sich größtenteils rumgetrieben hat, aber von Stammkunden sowohl der einen als auch der anderen Art will keiner etwas wissen. Ebenso wenig von eventuellen Freunden. Radloff stammt ja aus Polen, seine Mutter lebt in Warschau und wurde von den dortigen Kollegen über den Tod ihres Sohnes informiert und befragt. Seitdem er nach Deutschland gezogen ist, hat sie fast nichts mehr von ihm gehört, er hat ihr allerdings ab und an Geld geschickt.« Hellmer erhob sich und schaltete den Standventilator an, der in einer Ecke stand. »Wenn du den nicht benutzt, nehme ich ihn mit in mein Büro.« Er stellte das Gerät auf die höchste Stufe und blieb einen Augenblick mit verklärtem Blick davor stehen.

Norberg machte eine zustimmende Geste. »Nur zu.«

Hellmer packte den Ventilator und kam mit ihm zum Stuhl zurück, wo er wieder Platz nahm und sein Gesicht in die Windrichtung hielt.

»Und was ist mit den Bordellen in unserer schönen Stadt?«, wollte Norberg wissen und konnte sich ein Grinsen angesichts seiner Frage nicht verkneifen. Man konnte ja so einiges über Itzehoe sagen, aber für sein Empfinden sah eine schöne Stadt nun wirklich anders aus.

»Haben wir überprüft, aber auch dort Fehlanzeige. Wir lassen doch keinen Stricher für uns arbeiten, der zwischendurch auf der Straße anschafft, der kann uns ja sonst was reinschleppen, war die einhellige Auskunft.«

Norberg legte die Arme auf dem Schreibtisch ab und verschränkte die Hände. »Wir haben zwei Stellen, an die wir andocken können. Radloffs Vergangenheit als Stricher und die als Dealer. Ich schlage vor, dass ihr euch weiter im Prostituiertenmilieu umhört und wir den Drogenbereich übernehmen. Wir sind da sowieso schon seit einiger Zeit an ein paar Personen dran, vielleicht gibt es Verbindungen zwischen Radloff und denen. Er muss ja von irgendwoher seinen Stoff bezogen haben.«

Das Klingeln von Norbergs Handy unterbrach seine Ausführungen. Lennart. Norberg stutzte. Sein Vater hatte ihn noch nie im Dienst angerufen, also musste es etwas Wichtiges sein. Hoffentlich war nichts mit den Jungs.

Der Anruf war kurz, und nachdem er beendet war, warf Norberg seinem Kollegen einen irritierten Blick zu.

»Was ist?«

»Ein ehemaliger Kollege meines Vaters hält sich seit Kurzem in St. Peter auf. Lennart hat jetzt ein paar Tage nichts von ihm gehört und ihn auch nicht in dem Ferienhaus angetroffen, das er für ihn angemietet hatte. Jetzt macht er sich Sorgen und denkt, dass der Mann verschwunden ist.« Norberg runzelte die Stirn. »Das klang alles etwas nebulös, und Lennart schien mir ziemlich durch den Wind zu sein. Das kenne ich nicht von ihm.«

»Du wolltest heute Nachmittag doch sowieso zur Geburtstagsfeier deines Kollegen in St. Peter. Fahr doch jetzt schon los, dann kannst du dich auch gleich um deinen Vater kümmern und versuchen, mehr herauszubekommen«, schlug Hellmer vor. »Wir sind für den Moment ja durch.« Er erhob sich und stellte den Ventilator aus, bevor er den Stecker zog und sich das Gerät unter den Arm klemmte. »Ich drück die Daumen, dass es nur falscher Alarm ist. Wenn sich im Fall Radloff etwas Neues ergibt, ruf ich dich an.«

Norberg stand ebenfalls auf. »Aber vorher werde ich noch ein paar Aufgaben verteilen.« Er vertrat mittlerweile seit Wochen den langzeiterkrankten Dezernatsleiter, also lag das Delegieren jetzt an ihm, was keine ganz einfache Aufgabe war, da er bei einigen seiner neuen Kollegen berechtigte Zweifel hegte, was deren Arbeitseifer betraf. Zwei der Jüngeren hatte er nämlich in der Kantine ein Gespräch über die Thematik der Life-Work-Balance führen hören, in dem sie ihren Frust darüber ausdrückten, dass sie diese bei einem Polizeijob wohl vergessen könnten. Norberg war kurz davor gewesen, zu ihnen hinüberzugehen und sie zu fragen, warum sie sich dann um einen Job bei der Kripo beworben hatten. Wer hier arbeitete, wusste, dass es immer wieder Phasen gab, in denen Überstunden notwendig waren. Aber er hatte es geschafft, sich zurückzuhalten, jedoch beschlossen, die beiden im Auge zu behalten und ihnen vorerst keine verantwortungsvollen Aufgaben zu übertragen.

Leider gab es auch einen älteren Kollegen im Team, der ein knappes Jahr vor der Pensionierung stand und schon jetzt den Außendienst wegen seiner Arthrose verweigerte, die ihn zwei- bis dreimal in der Woche schon nach der Mittagspause zu dringenden Arzt- oder Physioterminen zwang. Vor einigen Wochen hatte Norberg durch Zufall gesehen, wie der Mann, kaum der BKI entronnen, den Fußweg entlangeilte wie ein junger Mann. Am kommenden Tag darauf angesprochen, hatte der Kollege ihn wütend angeschaut und noch am Nachmittag eine Krankschreibung eingereicht, der bis jetzt drei weitere gefolgt waren. Rückkehr an seinen Arbeitsplatz: ungewiss. Da er eh einen faulen Lenz geschoben hatte, war seine Abwesenheit zu verkraften, und Norberg hegte die Hoffnung, dass man ihm einen Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand schmackhaft machen konnte, damit sie endlich die Möglichkeit hatten, die Stelle neu zu besetzen.

All das waren administrative Dinge, die er lieber dem Dezernatsleiter überlassen hätte, aber wann der zurückkommen würde, stand im Augenblick in den Sternen.

Trotzdem war Norberg glücklich, wieder in Itzehoe arbeiten zu können. Die Jungs waren während der Arbeitszeit bei seinen Schwiegereltern in St. Peter gut aufgehoben, außerdem lebte seit Kurzem ja auch sein Vater Lennart hier an der Nordsee, den die Jungs heiß und innig liebten.

Norberg gestand sich ein, dass der Anruf seines Vaters ihn nervös gemacht hatte. Er musste die anstehenden Aufgaben so schnell wie möglich hinter sich bringen, dann konnte er sich darum kümmern.

2

Sören Rohde hatte sich nicht lumpen lassen. Zur Feier seines fünfzigsten Geburtstages hatte er nicht nur ein opulentes Frühstück in der Dienststelle aufgetischt, sondern auch schon die drei Torten in Stellung gebracht, die seine Frau am Vortag gebacken hatte.

Anna Wagner überlegte, ob sie ihrem Kollegen etwas von Norbergs geplantem Überraschungsbesuch erzählen sollte, damit für ihn wenigstens noch ein Stück Torte übrig blieb, wenn er, wie ihr gegenüber angekündigt, am späten Nachmittag eintreffen würde. Da er aber gemeinsam mit den Kollegen des K1 in den Ermittlungen zu einem Tötungsdelikt steckte, bestand die Möglichkeit, dass er sein Vorhaben nicht in die Tat umsetzen konnte, und dann wäre Sören mit Sicherheit enttäuscht.

Er hatte sich nach Norbergs Rückkehr nach Itzehoe zwar gefreut, dass ihm die Leitung der Dienststelle in St. Peter-Ording übertragen wurde, aber Anna wusste, dass er dessen Weggang ebenso wie sie und die anderen Kollegen noch immer sehr bedauerte.

Anna freute sich für Norberg, dass ihm der neue Job wieder eine solche Erfüllung verschaffte, aber sie gestand sich auch ein, dass sie ihre Zusammenarbeit vermisste. Nein, falsch, nicht nur die Zusammenarbeit, sie vermisste auch die privaten Zusammenkünfte, die kaum noch stattfanden. In den acht Monaten, die er jetzt wieder an seiner alten Wirkungsstätte arbeitete, war er stark eingespannt gewesen. Zwar war er trotzdem jeden Abend nach Hause gekommen, um bei seinen Söhnen Finn und Lasse zu sein, wie sie von seinen Schwiegereltern erfahren hatte, trotzdem oder gerade deswegen war die Zeit für anderweitige Unternehmungen zu knapp gewesen.

Anna wohnte in deren Nachbarhaus, und sie genoss die von Jahr zu Jahr tiefergehende Freundschaft, die sie inzwischen mit Corinna und Peter Heckler verband. Doch sie hatte mittlerweile auch weitere Freunde in St. Peter gefunden, sich im Surfen ausprobiert, allerdings schnell feststellen müssen, dass das nichts für sie war, und war schließlich dem Reiten verfallen. Sie nahm jetzt regelmäßig Unterricht und liebäugelte mit einer Reitbeteiligung. Nichts war besser, um den Kopf freizubekommen, als körperliche Betätigung, und genau das brauchte sie in ihrem Job hin und wieder.

So war es in der zurückliegenden Zeit nur zu wenigen Begegnungen mit Norberg am Wochenende gekommen, in denen sie sich aber häufig nur beruflich ausgetauscht hatten. Anna hatte bei zwei Vermisstenfällen Hilfestellung geleistet, die andere schleswig-holsteinische Dienststellen an sie herangetragen hatten, und Norberg hatte zusammen mit seinen Kollegen zwei Sexualdelikte und einen Entführungsfall bearbeitet, die mittlerweile aufgeklärt werden konnten.

Das Geburtstagsfrühstück war bereits nach zwei Stunden Geschichte gewesen, und wenn nicht ein Einsatz hereingekommen wäre, hätten die Kollegen wohl nur eine Stunde für dessen Vernichtung gebraucht. Belegte Brötchen in allen Variationen, Wurst- und Käsesalat, eine Mettplatte mit Zwiebeln, verschiedene Räucherfische, Butter und knuspriges Baguette. Zum Anstoßen hatte es alkoholfreien Sekt gegeben. Hier waren wirklich keine Wünsche offengeblieben.

Anna hatte sich zurückgehalten, weil sie ein begehrliches Auge auf die Torten geworfen hatte, denen es schon ab dem Mittag an den Kragen gegangen war. Als sie sich ein Stück der von allen geliebten Stachelbeer-Schmand-Torte holte, legte sie vorsichtshalber auch eines für Norberg zur Seite. Sie wusste, wie sehr auch er diese Köstlichkeit mochte. Falls er es heute nicht schaffte, dann vielleicht morgen, notfalls würde sie es vertilgen.

»Bunkerst du?«

Anna grinste Lars Klüver an, der neben sie getreten war. »Ja, aber nicht für mich.«

»Ach«, sagte Rohdes Stellvertreter mit einem breiten Grinsen. »Hat sich Hendrik etwa angekündigt?«

Da hatte sie aber einer durchschaut. »Er wollte kommen, sag aber bloß Sören nichts. Nachher klappt es nicht, dann ist er enttäuscht.«

»Nö, ich schweige wie ein Grab.« Klüver strich über seinen Bauch, der in der letzten Zeit an Volumen gewonnen hatte. »Ich komme dann später noch mal vorbei. Lass aber bitte noch was übrig.«

Anna lachte und ging mit den beiden Tellern in ihr Büro zurück, wo sie im Eingang ihres Mail-Postfachs eine Nachricht von Nils Scheffler vorfand, der am kommenden Tag aus einem Kurzurlaub in Dänemark zurückkommen würde.

Nix los hier. Bin froh, wenn ich morgen wieder bei euch bin.

Nun ja, dass Urlaub nicht unbedingt Nils’ Ding war, hatte sie schon mitbekommen. Erst recht nicht, nachdem er einer Suspendierung nur durch ihre und Norbergs Fürsprache entgangen war und seitdem alles daransetzte, das Geschehene vergessen zu machen, in der Hoffnung, auf der Karriereleiter voranzukommen. Nachdem er außerdem aufs Tiefste von einer Frau enttäuscht worden war, schien er kein nennenswertes Privatleben mehr zu haben. Da war Urlaub das Letzte, was ihn in Begeisterung versetzen konnte.

Als sie Motorengeräusch vernahm, stand sie auf, warf einen Blick aus dem Fenster und schaute anschließend erstaunt auf die Uhr. Es war kurz vor 15 Uhr, da hatte sich Norberg heute ja wirklich früh loseisen können.

Vom Flur war einen Augenblick später Sörens erfreute Stimme zu vernehmen. »Mensch, Hendrik, das ist ja toll, dass du vorbeikommst.« Es folgten weitere Begrüßungsworte, und als Anna ebenfalls aus ihrem Büro trat, erblickte sie Norberg inmitten der Kollegen. Er nickte ihr nur kurz zu, da Sören ihn mit Beschlag belegt hatte und in den Aufenthaltsraum führte, wo jetzt nur noch einige verloren aussehende Tortenstücke herumstanden, wie Anna feststellen musste, als sie den Kollegen folgte. Sie schmunzelte, als Sören mit bedauernder Miene darauf hinwies, dass von der Stachelbeertorte leider nichts mehr übrig geblieben war.

»Doch, Anna hat ein Stück für Hendrik gebunkert«, tönte Klüver.

»Ich komm gleich zu dir«, wandte sich Norberg an Anna. »Wir müssen reden.«

»Oh, sie müssen reden«, echote Klüver und grinste über das ganze Gesicht. »Das klingt ja interessant, da wäre ich gerne mal Mäuschen.«

Anna schüttelte den Kopf über ihren albernen Kollegen und ging zurück in ihr Büro. Eine Viertelstunde später betrat Norberg den Raum und schloss die Tür hinter sich, woraufhin Anna ihn verwundert anblickte. »Das wirkt aber ernst. Was ist denn los?«

Norberg nahm auf dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz. »Ich brauche deine Hilfe. Also vielleicht … ich bin mir da noch nicht so sicher.«

»Möchtest du etwas trinken oder hast du drüben schon?«

»Wenn es noch irgendwo ein kaltes Wasser gibt, gerne.« Er griff nach dem Teller mit der Stachelbeertorte, stach ein großes Stück mit der Gabel ab und schob es sich in den Mund.

»Müsste eigentlich noch was in der Küche sein.« Sie erhob sich und kam kurze Zeit später mit einer Wasserflasche und einem Glas zurück, das sie vor Norberg abstellte und füllte.

Er trank einen großen Schluck. »Das tut gut.«

Anna musterte ihn, während er weitere Schlucke zu sich nahm und das Tortenstück verputzte. Bei ihren letzten Begegnungen war auch an seinem Gesicht abzulesen gewesen, wie gut ihm die Rückkehr nach Itzehoe getan hatte. Er hatte trotz der vielen Arbeit ausgeglichen gewirkt, und Anna hatte einige Male gedacht, wie ungerecht das Alter doch mit den Geschlechtern umging und ob es eine Laune der Natur war, dass Männer häufig so viel attraktiver alterten als Frauen. Auf Norberg traf das definitiv zu. Sie erschrak bei dem Gefühl, das sein Anblick plötzlich in ihr auslöste, und versuchte, es ganz schnell beiseitezuschieben.

»Was liegt denn an?«, hakte sie endlich nach.

Norberg stellte das Glas auf dem Schreibtisch ab und lehnte sich im Stuhl zurück. »Es geht um einen ehemaligen Kollegen meines Vaters, den er hier vor acht Tagen in einem Ferienhaus untergebracht hat. Petter Jansson.«

Lennart Norberg war im vergangenen Jahr nach St. Peter-Ording zurückgekehrt und hatte mittlerweile eine Wohnung in der Nähe seines Sohnes und seiner beiden Enkel gemietet. Nach dem Tod seiner Frau vor mehr als zwanzig Jahren war Lennart ohne seinen Sohn nach Stockholm zurückgezogen; wie es inzwischen um das zerrüttete Verhältnis zwischen Vater und Sohn stand, war Anna nicht bekannt.

»Und was ist mit diesem ehemaligen Kollegen?«, wollte sie wissen, als Norberg schwieg.

»Wie es aussieht, ist der Mann verschwunden, und jetzt denkt Lennart, dass ihm etwas zugestoßen ist.«

»Wieso das? Gibt es einen Grund für die Vermutung deines Vaters?«

Norberg zuckte mit den Schultern. »Frag mich nicht. Ich konnte meinen Vater noch nicht richtig befragen, er hat mich vorhin im Büro angerufen, da hatte ich wenig Zeit. Er wirkte aber ziemlich beunruhigt, also bin ich früher hergekommen, weil ich wissen will, was los ist. Deshalb kann ich auch nur kurz bleiben.«

»Und seit wann ist der Mann verschwunden?«

»Seit drei Tagen. Allerdings hat Lennart mir erst heute Morgen Bescheid gegeben.« Norberg seufzte und blickte sie an. »Ich hätte dich bei dem Gespräch mit Lennart gerne dabei, falls wir es wirklich mit einem Vermisstenfall zu tun haben sollten.«

»Kennst du diesen Petter Jansson?«

Norberg schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe in dem Telefonat mit Lennart vorhin zum ersten Mal von ihm gehört.«

Komisch, dachte Anna, dass Norbergs Vater ihm erst jetzt von dem Besuch erzählt hatte. Über so etwas sprach man doch eigentlich miteinander, herrschte denn immer noch Eiszeit zwischen den beiden?

Anna hatte Lennart Norberg im Vorjahr einige Tage nach dessen Rückkehr kennengelernt, aber das war es dann auch schon gewesen. Sie hatte keine Ahnung, welchem Beruf er nachgegangen war, das Einzige, was sie von Corinna erfahren hatte, war, dass Lennart Norberg der schlimmste Schürzenjäger sei, den sie jemals kennengelernt hätte. Laut Corinna hatte er auch während seiner Ehe mit Norbergs Mutter Beziehungen mit anderen Frauen gehabt. Als diese dann an Krebs erkrankt war, hatte Lennart sich nicht seiner Verantwortung gestellt, sondern es noch toller getrieben und sich jede gegriffen, die nicht bei drei auf dem Baum gewesen war – jedenfalls hatte Corinna es so ausgedrückt und angefügt, dass Hendrik seinem Vater das nie verziehen hätte.

»Der Mann ist also ein ehemaliger Kollege deines Vaters«, sagte Anna gedehnt, während sie auf weitere Informationen wartete. Manchmal musste man Norberg aber auch alles aus der Nase ziehen.

Norberg blickte entschuldigend, als er ihren Gesichtsausdruck gewahrte. »Du weißt nichts über Lennart, das ist mir klar. Er war Journalist, ein ziemlich bekannter sogar, und hat für diverse schwedische Tageszeitungen gearbeitet, bevor er meine Mutter kennenlernte, als sie auf einem Schwedentrip auch in Stockholm haltmachte. Es war Liebe auf den ersten Blick, hat meine Mutter einmal gesagt, die beiden haben dann sehr schnell geheiratet und sind schließlich, als das Heimweh meiner Mutter nach St. Peter zu stark wurde, hierhergezogen. Das war zehn Jahre nach meiner Geburt. Lennart arbeitete weiter in seinem Job und pendelte häufig zwischen St. Peter und Stockholm. Acht Jahre nach der Rückkehr nach St. Peter starb meine Mutter, und als ich zwanzig war, ging mein Vater zurück nach Stockholm, wo er eine Festanstellung bei Aftonbladet fand, einer der auflagenstärksten schwedischen Tageszeitungen. Dort hat er Petter Jansson kennengelernt, wie ich vorhin erfahren habe.« Norberg sah sie fragend an. »Wie ist es? Hast du Zeit mitzukommen?«

Anna nickte und erhob sich. »Natürlich.«

Sie überlegte, während sie Norberg zum Parkplatz folgte. Wenn der Mann wirklich verschwunden war, würden sie die schwedische Polizei informieren und sich auch mit seiner Familie in Verbindung setzen müssen. Aber erst mal mussten sie alles über diesen Journalisten in Erfahrung bringen.

3

Malin Jansson hatte bereits am Vormittag eine Touristengruppe durch Stockholm geführt sowie eine Stadtrundfahrt moderiert und stand nach einem hastig verspeisten Mittagessen jetzt zum zweiten Mal am Stadsgardsterminalen, einer der drei Anlegestellen in Stockholm, die von internationalen Kreuzfahrtschiffen angelaufen wurden.

Heute hatte nur ein Schiff am Terminal angelegt, ein eindrucksvoller Koloss einer deutschen Reederei, mit blauem Rumpf und weißen Aufbauten, der um 19 Uhr wieder auslaufen sollte. Bis dahin würden wieder zahlreiche Besuchergruppen die Stadt fluten.

Malin liebte ihren Beruf als Fremdenführerin, der sie in der wärmeren Jahreszeit hauptsächlich mit Kreuzfahrttouristen zusammenführte. Inzwischen war sie es gewohnt, dass viele von ihnen immer ein wenig gehetzt wirkten, weil ihr Schiff in der Regel nur einen Tag in Stockholm lag und sie bei den Landausflügen so viel wie möglich zu sehen bekommen wollten.

Gamla Stan vor allem, die Stockholmer Altstadt, die mit ihren bunten Häusern aus dem 16. bis 19. Jahrhundert und den Kopfsteinpflasterstraßen einen mittelalterlichen Charme versprühte und auf einer der vierzehn Inseln des Stockholmer Stadtbezirks lag. Hier befand sich auch das imposante königliche Schloss, das nicht mehr bewohnt wurde, sondern dem König nur noch zu zeremoniellen oder repräsentativen Zwecken diente. Im Schloss waren mehrere Museen beheimatet, und einige Räumlichkeiten konnten ebenfalls besichtigt werden. Ein weiterer Anziehungspunkt im Venedig des Nordens war das Nobel-Museum, das im ehemaligen Gebäude der Stockholmer Börse untergebracht war. Doch aus den Museen hielt Malin sich raus. Dort durften andere mit ihrem Wissen glänzen. Ihre Liebe galt der Stadt und ihren zahlreichen verwinkelten Gässchen.

Die Aufenthalte in Gamla Stan waren meistens auf eine bis anderthalb Stunden beschränkt. In dieser Zeit konnte man die wichtigsten Punkte auf der Sightseeing-Liste abhaken. Danach ging es weiter mit dem Bus zu den nächsten Sehenswürdigkeiten. Malin bot aber darüber hinaus auch drei- bis vierstündige Spaziergänge durch die Altstadt an, während derer sie sich auf die vielen besonderen Kleinigkeiten konzentrierte, statt nur die üblichen Orte anzusteuern. Immer mehr Besucher – auch von den Kreuzfahrtschiffen – legten Wert auf Individualität und Charme bei der Wahl ihrer Touren, verzichteten deshalb auf die Angebote der Reedereien und suchten sich selbst einen Anbieter.

Jetzt erwartete Malin eine ihrer Lieblingstouren: die Bootsfahrt durch den Stockholmer Schärengarten, der etwa vierundzwanzigtausend Inseln umfasste.

Als sie wieder an dem ihr zugeteilten Bus stand und mit dem Crewmitglied sprach, das die Teilnehmer der Tour erfasste, wurde sie langsam ungeduldig. Der Bus hätte bereits vor zehn Minuten abfahren sollen, aber es fehlten noch immer zwei Teilnehmer des Ausflugs. Verspätungen waren häufig ein Ärgernis, weil es immer wieder Passagiere gab, die es nicht für nötig hielten, sich pünktlich zur Abfahrt der Busse einzufinden oder sich bei der Leitung der Landausflüge abzumelden, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, doch nicht an den Ausflügen teilnehmen wollten. Das führte dann zu unnötigen Wartezeiten und notfalls sogar zur Streichung eines Ausflugsziels, da das Schiff schließlich zu einer festgelegten Zeit wieder ablegte und nicht endlos warten konnte. Sie würde das noch einmal bei ihrem Arbeitgeber ansprechen und auch mit den jeweiligen Reedereien thematisieren müssen, ob man auf diesen Personenkreis weiterhin Rücksicht nehmen oder nicht einfach ohne ihn aufbrechen sollte.

Malin stellte sich etwas abseits und zog ihr Handy aus der Tasche. Keine Nachricht von Petter, aber wenn sie ehrlich war, hatte sie auch noch keine erwartet, da die letzte erst vor einer Woche gekommen war. Wenn ihr Mann sich zum Arbeiten in ihr Ferienhaus am Mälaren, dem drittgrößten See Schwedens westlich von Stockholm, zurückzog, meldete er sich häufig wochenlang nicht. Weil ihn jede Unterbrechung und Konfrontation mit Alltagskram aus seinem Flow riss, wie er ihr am Anfang ihrer bald zwanzigjährigen Ehe klargemacht hatte. Eine Einstellung, die ihr in den ersten Jahren große Probleme bereitet hatte, mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt.

Es war gut, dass Petter endlich wieder an einer großen Story arbeitete, auch wenn diese nicht ganz ungefährlich war. Der Krebs hatte ihn in den vergangenen anderthalb Jahren komplett aus der Bahn geworfen, die endlosen Chemo- und Bestrahlungstherapien hatten seinem Körper so zugesetzt, dass er nicht mehr in der Lage gewesen war, seinen geliebten Beruf als Investigativjournalist auszuüben. Das wiederum hatte ihn in eine schwere Depression gestürzt, die erst jetzt zu weichen begann, nachdem er wieder mit der Arbeit begonnen hatte.

Sie war glücklich, dass Aftonbladet Petter wieder beschäftigte, obwohl er so lange ausgefallen war. Das war nicht selbstverständlich, da junge, ehrgeizige Journalisten nachdrängten und alles daransetzten, den etablierten Kollegen den Rang abzulaufen und sie aufs Abstellgleis zu schieben. Aber zum Glück wussten Petters Vorgesetzte, was sie an ihm hatten und wie gut seine Arbeit war.

Es war eine harte Zeit für sie beide gewesen, aber ebenso für Lucas, ihren achtzehnjährigen Sohn. Die Angst um seinen Vater hatte sich häufig in aggressiven Ausbrüchen gegen seine Eltern geäußert, doch auch da hatten sich mittlerweile die Wogen geglättet.

»Frau Jansson?«

Malin drehte sich um, als sie die Stimme in ihrem Rücken vernahm. Die Dame von der Schiffscrew stand hinter ihr und lächelte sie an.

»Wir sind jetzt vollzählig.«

»Prima«, entgegnete Malin und verstaute ihr Handy in der Jackentasche. »Wie viele Passagiere sind im Bus?«

Die junge Frau blickte in ihre Unterlagen. »Einundvierzig.«

Die Anzahl war wichtig, da sie nach Beendigung des Ausflugs natürlich keinen Passagier zurücklassen durften.

Malin nickte der jungen Frau zu. »Dann kann es ja losgehen.« Bei ihren Touren mussten keine Crewmitglieder dabei sein, da sie mittlerweile sehr gut Deutsch sprach. Sie stieg in den Bus, wo sie sich und den Fahrer den Gästen vorstellte und in erwartungsfrohe Gesichter blickte. Mittlerweile war auch die Sonne wieder herausgekommen, es würde ein schöner Ausflug werden.

4

Norberg hatte seinem Vater ihr Kommen mit einer WhatsApp-Nachricht angekündigt, verbunden mit dem Hinweis, dass er Anna nicht wieder duzen sollte, wie er es bei ihrer ersten und bisher einzigen Begegnung getan hatte. Lennart kleidete sich seit seiner Rückkehr zwar nicht mehr allzu häufig wie ein Twen, ließ allerdings weder von dem in Schweden üblichen Duzen noch vom Hej bei der Begrüßung und Verabschiedung ab. Mit dem Duzen hatten viele Menschen ihre Probleme, das Hej fanden die meisten allerdings durch die Bank charmant, wie Norberg schon häufiger gehört hatte.

Er hatte den Eindruck gewonnen, dass sich sein Vater in St. Peter zunehmend wohler fühlte. Alte Bekanntschaften waren laut Lennarts Aussage aufgeblüht, und er verstand sich gut mit den Nachbarn. Nur zu Norbergs Schwiegereltern war das Verhältnis nach wie vor angespannt, was sich wohl auch nicht ändern würde, wenn keine Seite über ihren Schatten sprang und lang zurückliegende unerfreuliche Dinge endlich aufarbeitete. Aber da mischte Norberg sich nicht mehr ein, nachdem ihm beide Seiten unmissverständlich klargemacht hatten, dass diese Angelegenheit nicht seine Sache war.

Lennarts Zweizimmerwohnung befand sich im zweiten Stock einer ansprechenden Appartementanlage im Ketelskoog, wo vor einigen Jahren fünfundsiebzig Wohnungen in insgesamt vier Gebäuden entstanden waren. Norberg besaß zwar einen Schlüssel für den Notfall, klingelte aber trotzdem an der Eingangstür. Als sie die Treppe emporstiegen, nahmen sie den Duft frisch gebrühten Kaffees wahr.

Autor