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Nordstern - Die Nacht der freien Pferde

hier erhältlich:

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Das Prequel zum Pferderoman-Bestseller „Nordlicht“

Erla wähnt sich ganz dicht vor der ersehnten Rückkehr zu ihrer Familie, als sie beim Schafabtrieb im isländischen Hochland mit ihrer Stute Drifa einen mysteriösen Unfall erleidet. Sie erwacht aus der Bewusstlosigkeit und erfährt, dass Flóki und Kadlin ihr das Leben gerettet haben. Doch der Preis, den sie alle dafür zahlen müssen, ist hoch. Erlas Vertrauen in ihre Freunde wankt. Denn beim Elfenvolk der Húldu gehen die Uhren anders als bei den Menschen. Und das ist nicht das Schlimmste: Es steht schlimm um Drifa. Um ihr geliebtes Pferd zu retten, muss sie die gefährlichste Entscheidung ihres Lebens treffen, und die würde sie erneut von ihrer Familie trennen. Sie fühlt sich so zerrissen wie noch nie, aber jemand beschützt sie und steht ihr bei.

Ein mitreißender Pferderoman vor der traumhaften Kulisse Islands!


  • Erscheinungstag: 25.05.2021
  • Aus der Serie: Nordstern
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 240
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: Klappenbroschur
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505144172

Leseprobe

Prolog

Ich stehe in der Dunkelheit. Um mich ist das Wiehern von Pferden. Ich spüre ihre Leiber, die Wärme ihrer Körper. Ich höre ihr Trappeln. Sie flehen mich um Hilfe an. Zu Hunderten.

Aber wer bin ich, dass ich ihnen helfen könnte? Ich kann sie nicht sehen.

Es ist Nacht.

Finstere Nordnacht.

Nicht einmal mein Stern leuchtet mir den Weg.

Es riecht nach Schwefel, nach Feuer und Lava, nach versengtem Fell und Angst. Ich wusste nicht, dass Lava einen Geruch hat. Verbrannte Erde. Nichts wächst mehr.

Alles fließt. Doch hier ist es nicht Wasser, sondern ein träger Strom aus Feuer und Glut. In seinem Schatten erkenne ich rötliche Umrisse, Schemen. Zusammengedrängte Körper, wispernde Stimmen. Und in der Tiefe rot glühendes Lachen. So als hätte ich keine Chance. Es macht mich wütend.

Ich werde fortgerissen in einem tosenden Strudel. Dann ist da Stille. Kälte. Ich friere. Ich bin allein. Eine dunkle Zeit liegt vor uns.

Von irgendwoher habe ich ein Streichholz. Ich zünde es an und sehe funkelndes Eisglitzern.

Gletscherlicht. Ganz kurz nur. Und schaue in mein eigenes Gesicht. Dann ist wieder Nacht.

Die Berge atmen. Feuer und Eis.

Wo die Haut der Erde so dünn ist wie hier, da sind viele Grenzen fließend. Der Wind trägt ihre Lieder mit sich fort.

Die Huldu haben mich gelehrt, ihnen zu lauschen, sie zu verstehen. Aber was nutzt uns das jetzt? Nun bin ich die Einzige, die diese Melodien noch spürt. Die Dunkelheit umhüllt mich. Ich zittere, friere. Ich fürchte mich. Weil alles doppelt ist und auch wieder nicht. Mein Köper schmerzt. Aber ich darf nicht aufgeben. Sonst ist alles verloren. Sonst sind die Pferde verloren. Nicht nur Drifa. Ich muss meiner Bestimmung folgen.

Es ist längst geschehen.

Und es gibt Hoffnung.

Ich brauche den Stein. Er wird mich führen.

Durch Zeit und Raum.

Durch die Nordnacht.

Ein Funken Hoffnung.

Ein Nordstern.

Sie rufen mich Weltenwanderin. Weltenwandlerin.

Aber ich trage noch einen anderen Namen. Ich kann mich erinnern.

Erla. Meine Mutter rief mich Erla.

Dies ist meine Geschichte.

1. Zwischenwesen

Flóki starrte das bewusstlose Mädchen an. Er fragte sich immer noch, wie sie es aus dem Schneesturm bis hierher geschafft hatten. Nur bruchstückhaft und viel zu langsam kehrte seine Erinnerung zurück.

Die letzten Tage hatten sein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf gestellt. Erla hatte einen Unfall gehabt, beim Schafabtrieb im Hochland. Kadlin und er hatten sie gefunden – und offensichtlich hierhergebracht. Aber wie waren sie alle hergekommen? Sie hätten Erla gar nicht transportieren können – oder die schwer verletzte Drifa, ganz ohne Ausrüstung. Es war ein Marsch von vielen Stunden. Und doch, die beiden waren hier. Sie waren ganz sicher nicht auf eigenen Füßen hergelaufen. Jórunn schien zu glauben, er hätte etwas damit zu tun. Aber was?

Wie konnte das sein? Er konnte die Erinnerungslücken nicht füllen, sosehr er auch sein müdes Hirn zermarterte. Als würde er an einer rätselhaften Krankheit leiden.

Und was war das überhaupt für eine Kreatur gewesen, die Erla und Drifa dort oben in den Bergen angefallen hatte?

Er seufzte. Von dem Moment an, als er sie im Schnee entdeckt hatte, bis zu ihrer Ankunft hier auf dem Hof war alles so undurchsichtig wie Gletschereis.

Sein Kopf dröhnte immer wieder, als ob eine Herde Islandpferde mitten hindurchgaloppierte. Zwischendurch wusste er nicht, wo er sich befand, wann er sich befand, was Traum war und was Wirklichkeit. Mal meinte er zu schlafen, doch dann fand er sich plötzlich beim Holzhacken, Ausmisten, Heuumschichten oder etwas ähnlich Schweißtreibendem wieder, bis er erneut das Gefühl hatte, dass ihm der Schädel platzte oder er sich hinlegen musste, weil ihm die Beine versagten. In einem Moment war ihm so speiübel, dass er nicht einmal kühles Wasser trinken mochte, dann wieder schaufelte er Essen in sich hinein, als hätte er den Sprengisandur, den Weg durch die gefährliche Sandwüste im Hochland, zu Fuß bewältigt. (Was obendrein völlig absurd war. Niemand hielt sich freiwillig in dieser Einöde auf, sie war das Reich von Geistern und Geächteten.)

Nachts driftete er in unruhigen, seltsamen Träumen davon, in denen er in der ewigen Dunkelheit einer eiskalten Höhle fror. Oder er wachte schweißgebadet auf, weil ihn rot glühende Augen anstarrten.

Flóki versuchte zunehmend verzweifelt, sich zu sortieren. Seine Gefühle und Gedanken waren das reinste Chaos.

Verlor er langsam den Verstand? Die Tiere schnupperten an ihm, als ob sie sich nicht sicher waren, ob er noch derselbe war. Sogar Brúna, seine braune Stute, war im ersten Moment vor ihm zurückgewichen, bis sie ihn an der Stimme und den vertrauten Handbewegungen wiedererkannte. Was war mit ihm geschehen, das solche Dinge auslösen konnte?

Seine Aufmerksamkeit sprang kurz zu Kadlin, die konzentriert am Tisch Kräuter zu einem Brei zerstampfte. Er hätte sie gern danach gefragt. Aber er fürchtete sich vor ihrer Reaktion. Oder der Antwort, falls sie sie kannte.

Sein Blick glitt wieder zurück zu Erla. Ihre Zöpfe hatten sich gelöst. Die rotblonden Haarsträhnen auf dem weißen Kissen sahen in seinen Augen aus wie Honig über frischem Skyr. Sie war so wunderschön, trotz der vielen Kratzer und blauen Flecken und dem verkrusteten Riss an ihrer Stirn. Aber sie stöhnte im Schlaf, sie hatte Schmerzen, und darum war alles andere zweitrangig. Es würde ihm schon wieder einfallen. Im Moment war es nicht wichtig.

Behutsam streichelte er Erlas Hand, die schlaff neben ihrem Körper lag. Ihr Bein war gebrochen, aber der Rücken war noch schlimmer verletzt. Jórunn meinte, es sei nicht einmal sicher, ob Erla je wieder beschwerdefrei laufen könne. Die nächsten Tage würden das entscheiden. Darum musste sie ganz gerade liegen und durfte sich nicht bewegen.

Kadlin und er hatten die Patientin nach Jórunns Anweisung mit Kissen und Stroh so im Bett geschient, eingekeilt und gestützt, dass Erla darin wie in einer Wanne lag und sich weder drehen noch aufrichten konnte – wenn sie denn wach gewesen wäre.

Der mehrtägige Schafabtrieb hätte Erlas letzter großer Arbeitseinsatz sein sollen, bevor sie Ingvars Hof verlassen hätte und zu ihrer Mutter nach Hvolsvöllur umgezogen wäre. Hinüber auf die andere Seite des breiten Gletscherflusses, auf den Hof von Hrafn, der im Frühling ein ganzes Schiff voller deutscher Frauen als Arbeitskräfte für isländische Bauernhöfe hergeholt hatte. Viele von ihnen hatten ihr Glück in Island gefunden. Hrafn und Erlas Mutter hatten sich verlobt, und sie hatte sogar einen isländischen Namen angenommen. Aus Berta war Björk geworden, und Erla würde somit den Nachnamen Björksdóttir tragen.

Flóki biss sich auf die Zunge, weil ein kleiner Teil von ihm sich insgeheim darüber freute, dass sie nun noch ein wenig länger in seiner Nähe bleiben würde. Aber um welchen schrecklichen Preis? Er schämte sich sofort für diesen eigennützigen Gedanken und verbannte ihn aus seinem schmerzenden Kopf.

Keine Frage, Erla hatte ganz dringend von Ingvar, Hrafnhildur und Andri weggemusst. Es waren rechtschaffene Leute, aber sie waren hart und ungerecht zu ihr gewesen. Erla war ihnen zu jung und unerfahren, und dass sie ganz selbstverständlich mit den Huldu umging, war ihnen unheimlich. Es war selten geworden, dass jemand von der Menschenseite aus durch den Nebel der Dimensionen gehen konnte – und dann noch eine Fremde! Der Großvater, Thorbjörn, war in Ordnung gewesen, er war ein Sehender wie Erla, aber der Rest der Familie hatte ihr nicht gutgetan.

Wegen Thorbjörn war ihr der bevorstehende Abschied schwergefallen – aber noch viel mehr seinetwegen. Flókis Magen hüpfte und kribbelte, als ob ein Schwarm Mücken darin herumflöge, wenn er daran dachte, wie sie sich beim Tanzabend vor einer Woche zum ersten Mal geküsst hatten. Er wusste, dass Erla ihn ebenso gern hatte wie er sie.

Aber wie lange konnte sie noch gefahrlos bei ihnen bleiben?

»Trink«, sagte Kadlin knapp und riss ihn aus seinen Gedanken. Sie reichte Flóki eine dampfende Tasse Kräutertee.

»Was ist das?«, fragte er und ließ widerstrebend Erlas Hand los.

»Mädesüß, Quendel und Moos gegen den Kopfschmerz und Leimkraut für den Stoffwechsel. Jórunn hat die Kräuter für dich dagelassen.«

Die alte Kräuterfrau und Heilerin sah jeden Tag nach dem Mädchen und dem Pferd.

Er nickte, dankbar und immer noch nachdenklich, und pustete in das herbsüß duftende Gebräu.

Jórunn …

Von ihr hatte er auch geträumt. Damit hatte alles angefangen.

In der Nacht vor dem Schafabtrieb hatte sie an seinem Bett gestanden. Sie hatte ihm aufgetragen, dass er auf Erla achtgeben und in den Bergen in ihrer Nähe sein sollte: »Ein Sturm zieht auf, und er meint es nicht gut mit euch, Flóki. Sei wachsam!«

Die Runen hatten Jórunn gesagt, dass Erla ihn brauchen würde. Es war das erste Mal gewesen, dass er einen so intensiven Wachtraum hatte, noch dazu mit einem Auftrag. Und ganz offensichtlich hatte er versagt.

Unbedacht nahm er einen Schluck von dem Tee.

»Heiß«, keuchte er auf und hustete. Seine Zunge brannte, und seine Augen tränten vor Schmerz.

Kadlin gluckste leise. »Das hat Tee so an sich.«

Erla stöhnte, und sie drehten beide den Kopf.

»War sie schon einmal wach?«

Kadlin schüttelte den Kopf. »Und wie geht es Drifa?«

Flóki drehte sich weg von Erla und sprach so leise er konnte. Er wusste nicht, wie tief der heilsame Kräuterschlaf war, in den Jórunn sie gelegt hatte, und ob seine Stimme nicht doch zu ihr durchdrang. Sie sollte das nicht hören müssen. »Vater sagt, es müsste schon längst besser sein. Sie ist noch nicht über den Berg.«

Kadlin nickte stumm.

Flóki dachte schaudernd an die klaffende Verletzung an der Schulter von Erlas Schimmelstute. Tiefe Risse, wie von einer klauenbewehrten Pranke, und dazu kam der Sturz, mehrere Meter tief. Sie waren zu weit entfernt gewesen, es war alles so schnell gegangen. Er hatte mit ansehen müssen, wie es passierte – so gut man eben sehen konnte durch einen Schneesturm –, unfähig, etwas dagegen zu tun.

Er hatte den Fall an seinem eigenen Körper gespürt, den Schock, den dieser in dem tapferen kleinen Pferd ausgelöst hatte. Immerhin hatte der Schnee den Fall offenbar abgemildert.

Sie waren gleich bei ihnen gewesen. Das Bild des weißen Pferdes im Schnee, das stöhnend versuchte aufzustehen, hatte sich ihm eingebrannt. Erla hatte danebengelegen wie eine weggeworfene Puppe. Das Nächste, was er wusste, war, dass sie unten auf dem Hof gewesen waren, alle zusammen, mit Jórunn. Die hatte auf ihn eingeredet. Dann fehlte ihm wieder ein Stück.

Von den Schaftreibern in Erlas Gruppe hatte auch Stunden später noch niemand bemerkt, dass sie überhaupt fehlte.

Flóki war in den Stall gegangen, hatte sich nach Jórunns Anweisungen um Erlas Schimmelstute gekümmert und später dort sein Nachtlager aufgeschlagen, nicht nur wegen Drifa. Erla lag in Ulvis Bett, in der Kammer über dem Stall, die sich die Geschwister sonst teilten. Aber mit Erla und Kadlin, die bei ihr wachte, in einem Raum zu schlafen schickte sich nicht. Im Stall bekam er außerdem sofort mit, wenn es Drifa schlechter ging.

Erla hing unglaublich an dem Tier. Die beiden hatten eine so tiefe Verbindung, wie er sie zwischen einem Menschen und einem Pferd noch nie erlebt hatte. Sie hatte die Stute Ingvar, dem Bauern, für den sie den Sommer über so hart geschuftet hatte, abgekauft. Auch die beiden Waisenlämmchen hatte sie beinahe vollständig abbezahlt, bevor der Unfall geschah.

Flóki erinnerte sich, wie sie Boogie und Woogie zusammen auf die Welt geholt hatten. Er hatte sie hierhergebracht, nachdem er dem alten Thorbjörn die Nachricht übermittelt hatte, dass Erla lebte und bei seiner Familie in Sicherheit war.

Er schluckte. Zumindest hoffte er, dass sie hier wirklich in Sicherheit war und dass es ihr Kraft und Mut geben würde, dass immerhin die Tiere bei ihr waren, wenn sie erfuhr … Er stöhnte. Diese endlosen Grübeleien führten zu nichts, aber er wusste nicht, wie er das Kreisen in seinem Kopf beenden konnte.

»Vielleicht war es ein Eisbär?«, murmelte er zusammenhanglos und sah zu Kadlin hinüber. »Sie treiben manchmal auf Schollen an Land. Ich habe die Spuren im Schnee gesehen. Sie waren riesig. Das wäre vielleicht eine Erklärung.«

Außer Polarfüchsen gab es keine Raubtiere auf Island. Doch die waren scheu und sehr klein. Sie wurden allenfalls Hühnern gefährlich. Trolle hielten sich erst recht fern von Menschen. Einer von denen würde es niemals wagen, sich an einem Menschen oder seinem Pferd zu vergreifen. Niemals.

Kadlin sah nicht auf, sie zerdrückte weiter erdig riechende Wurzeln und duftende Arnika in ihrem Mörser. »Das hätte sich herumgesprochen. Du bist der Einzige, der diese Pfotenabdrücke überhaupt gesehen hat. Da war zu viel Schnee.«

Flóki schüttelte den Kopf. »Keine Pfotenabdrücke, Kadlin. Das waren wirklich große … Tatzen. Mit Klauen! Du musst sie doch auch bemerkt haben.«

Sie zog unwirsch die Augenbrauen zusammen und brabbelte etwas Unverständliches vor sich hin. Warum war sie so abweisend zu ihm?

»Glaubst du mir nicht?«

Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß nicht … doch, natürlich, aber … Wir sollten nicht darüber reden. Hast du nicht gehört, was Jórunn sagte? Es zieht das Dunkle nur noch mehr an. Also lass es gut sein. Bitte, Flóki. Setz mir lieber einen neuen Topf mit heißem Wasser auf, sobald du deinen Tee getrunken hast. Ich möchte Erla mit dem Beinwellauszug, den ich gestern angesetzt habe, neue Umschläge machen. Den Rest kannst du danach für Drifa mit in den Stall hinübernehmen. Ihren Prellungen wird es auch guttun. Aber bring es ja nicht an die offenen Stellen, hörst du? Da musst du aufpassen.«

Er nickte. »Erinnerst du dich wenigstens, wie wir hierhergekommen sind? In mir ist alles verschwommen.«

»Ich habe dir doch schon gesagt: Ich weiß nicht mehr als du. Frag Jórunn. Jetzt trink, und dann geh.«

Energisch riss sie Leintücher in Streifen, Gespräch beendet. Aber an der Art, wie sie dabei die Schultern straffte und die Lippen zusammenkniff, sah er, dass sie ihm etwas verschwieg. Sie schickte ihn fort, damit er nicht weiterbohrte. Er war ja nicht blöd.

Sie war wie ausgewechselt, seit sie vor zwei Tagen – oder waren es bereits drei? – unten vor seinem Elternhaus wieder zu sich gekommen waren, aus dem Nichts des Schneefeldes. Was für eine Reisegesellschaft: ein bewusstloses Mädchen, eine schwer verletzte Stute, eine schockiert dreinblickende Kadlin und ihre eigenen beiden Pferde. Sie hatten kein Wort darüber gewechselt, was geschehen war. Kadlin wich dem Thema sofort aus. Seine Freundin aus Kindertagen wich ihm aus – und wie zum Hohn piepte und schmerzte sein Kopf noch immer und ließ ihn Farben sehen, die nicht da waren.

Flókis Mutter war nicht zu Hause gewesen, als es passierte. Sie war mit seinen kleinen Geschwistern Ulvi und Jarle zu Verwandten in die Ostfjorde gereist. Die Frauen wollten gemeinsam von der über den Sommer gewonnenen und bereits gewaschenen und gekämmten Wolle walken, was nicht versponnen werden sollte, bevor der Winter die Pässe unüberwindbar machte. Inzwischen musste die Nachricht von den Ereignissen sie erreicht haben. So etwas verbreitete sich normalerweise mit dem Wind bis in die entlegensten Höfe, er rechnete daher jede Stunde mit ihrer Rückkehr.

Flókis Vater hatte ebenfalls nichts dazu gesagt, kein Wort zu all dem, als hätte es eine stille Übereinkunft mit Jórunn darüber gegeben.

Er hatte seinen Sohn in stummer Erleichterung darüber, dass es ihm einigermaßen gut ging, umarmt und fest an sich gedrückt. Dann hatte er ihm geholfen, im Stall eine Ecke für Drifa einzurichten, und eine Vorrichtung mit einem Flaschenzug gezimmert, die dem Pferd in den ersten Tagen das Stehen erleichtern sollte. Jetzt schwebte die Stute mehr, als dass sie stand, in diesem Halteapparat. Denn sie fürchteten, dass sie sich fest legen und nie wieder aufstehen könnte. Drifa war schwer verwundet und wirkte genauso verwirrt und panisch, wie er sich fühlte.

Flóki wusste, für die eigenen Pferde hätte sein Vater niemals solchen Aufwand betrieben. Wenn ein Tier sich so schwer verletzte oder krank wurde, war das furchtbar, aber Teil der Natur. Sie gab, und sie nahm. Das Leben war hart so nah am Polarkreis.

Aber kein Angehöriger des Hulduvolkes würde es wagen, die alterslose Heilerin oder eine ihrer Entscheidungen infrage zu stellen. Man begegnete ihr mit Ehrfurcht und Respekt, aber auch mit einer gewissen Scheu, und hinter ihrem Rücken drohte man ungehorsamen Kindern nur halb im Scherz damit, dass die Einsiedlerin sie in ihre Höhle in den Bergen holen würde, wenn sie nicht folgten.

Schon Flókis Vater war mit diesen Sprüchen aufgewachsen, und dessen Vater sicher genauso. Jórunn war so alt wie die Vulkane, meinten viele. Für Flóki war sie immer wie eine Großmutter gewesen, aber in den letzten Monaten hatte sie sich mehr und mehr zurückgezogen. Vorgeblich wegen Kadlins Ausbildung. Aber Flóki spürte, dass es etwas mit Erlas Ankunft zu tun hatte, er konnte es nur genauso wenig einordnen wie die jüngsten Ereignisse.

Die alte Kräuterfrau sprach nur noch in Rätseln. Und sie wirkte besorgt. Zutiefst beunruhigt. So hatte er sie nie zuvor erlebt. Auch darum hatte er sich bisher zurückgehalten mit all dem, was ihm so durcheinander im Kopf herumschwirrte. Und doch war Jórunn die Einzige, an die er sich mit seinen Fragen wenden konnte.

Es waren so viele Dinge, die er nicht verstand, kein Wunder, dass ihm der Schädel immer noch heftig brummte.

Was hatte es mit all diesen Lücken in seinem Gedächtnis auf sich? Viele Stunden waren wie ausradiert, ein gähnend weißes Blatt Papier. Hatte er gegessen? Geschlafen? Die Schafe und die Pferde versorgt? Es musste so sein, zumindest hatte ihm niemand Gegenteiliges vorgeworfen.

Flóki nippte vorsichtig an dem immer noch heißen Tee. Ein paar andere Erinnerungsfetzen drängten an die Oberfläche seines Bewusstseins. Verwackelte Bilder, das Rascheln von Stroh, weitere Puzzleteile, aber immer noch zu wenige, als dass sie Licht auf das gesamte Geschehen werfen und einen Sinn ergeben würden. Er war neben Drifa im Stall aufgewacht. Immer noch, oder wieder, mit diesen fürchterlichen Kopfschmerzen. Er war nach draußen gestürzt und hatte sich mehrfach hinter dem Abort übergeben müssen, bevor er wieder einigermaßen klar sehen konnte.

»Wo ist Erla?«, hatte er gefragt, als er sich zurückgekämpft hatte, und sich mühsam am Türpfosten des Stalles festgehalten.

Kadlin hatte zusammen mit seinem Vater das verletzte Pferd verbunden – und schon da war sie seinem Blick ausgewichen. Ihre Nase hatte geblutet. Das tat sie immer, wenn Kadlin die Zeit gebeugt hatte, es war anstrengend für ihren Körper.

Als er jetzt, einer Eingebung folgend, verstohlen sein eigenes Taschentuch aus der Hosentasche zog, stellte er fest, dass daran ebenfalls geronnenes Blut war. Das warf neue Fragen auf und brachte keine Antworten.

Sein Vater hatte ihn hilflos angesehen und war daraufhin regelrecht ins Haus gestürmt, wo Jórunn für sie kochte, wie sie es auch früher manchmal getan hatte, als Flóki noch klein und Jarle ein Säugling gewesen war. Durch die Wände hatten Kadlin und er gehört, wie er heftig auf die Heilerin einredete. Er hatte wütend geklungen, aber Worte hatte Flóki durch die dicken Torfwände nicht verstehen können.

»Oben«, hatte Kadlins einsilbige Antwort gelautet, mitten hinein in den Streit, der sie nicht zu interessieren hatte, und hier waren sie nun.

Nachdenklich betrachtete Flóki das braunfleckige Taschentuch. Dann steckte er es zurück in seine Hose, schüttelte unwillig die sonderbaren Erinnerungen aus seinem Kopf, leerte die Teetasse und stand auf.

Kadlin tat, als forderten die Leintücher immer noch ihre volle Aufmerksamkeit. Er brauchte sie gar nicht zu fragen, er kannte ihre Antwort auch so: Frag Jórunn.

Vorsichtig, Schritt für Schritt, mit einer Hand am Geländer, hangelte er sich die steile, schmale Treppe hinunter. Er war wackelig auf den Beinen, wenn er aufstand. Auch das war seit ihrer Rückkehr aus den Bergen so. Aber er funktionierte. Die Tiere mussten versorgt werden und die Menschen auch, es würde sich schon legen.

Während er auf dem Herd Wasser heiß machte, wie Kadlin ihn gebeten hatte, tauchte eine weitere Szene aus seinem verschütteten Gedächtnis auf. Ein Gesicht zuerst, das von Jórunn, die ihn vor dem Haus an der Hand packte und ihm streng in die Augen sah. Dieser Moment musste noch vor dem Gespräch mit Kadlin im Stall stattgefunden haben. Denn in dieser Erinnerung lag Erla noch auf dem Hof, eingewickelt in seinen Reitumhang. Wie nur hing das alles zusammen?

Flóki seufzte schwer. Vielleicht musste er sich einfach damit abfinden, die Ereignisse nie ganz verstehen zu können.

»Nein!«, hörte er wieder Jórunns befehlende Stimme.

Er hatte Erla aus dem nassen und kalten Schneematsch heben wollen, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er das bewerkstelligen sollte. Sie war zwar dünn, aber ein Mensch wog trotzdem bestimmt um die achtzig Pfund.

Jórunn war ihm in den Arm gefallen. Sie hatte ihn an der Hand gepackt und ihm intensiv in die Augen gesehen, bis er das Gefühl hatte, dass sich alles drehte und verschwamm. Wässriges Blau webte sich um ihn herum.

»Nicht so. Tu es noch einmal«, hallte Jórunns Stimme in ihm nach.

»Aber was denn?« Wie damals blinzelte er und versuchte seinen Blick scharf zu stellen. Er hatte keine Ahnung gehabt, was sie von ihm wollte. Doch sie hatte ihn einfach nicht losgelassen und ihn dabei weiter fixiert, als sei er schwer von Begriff. »Bring sie nach oben. Bewege nicht ihren Körper. Bewege den Raum.«

»Den Raum?«

Verständnislos hatte er sie angestarrt, aber Jórunn war dabei geblieben.

»Schließ deine Augen. Tu es jetzt«, hatte sie in diesem Ton gesagt, der keinen Widerspruch duldete, und ihn mit ihrem himmelblauen Blick noch fester gebannt als mit dem Klammergriff ihres Armes.

Da hatte er losgelassen. Widerstandslos war er in die kreisenden Strudel eingetaucht, bis er seinen Körper nicht mehr spürte und auch nicht den Boden, auf dem er zu stehen glaubte.

»Gut so. Jetzt konzentriere dich auf Ulvis Bett. Oben in der Kammer. Lass es aus dir strömen, so wie du es unbewusst im Schneefeld getan hast. Denk nicht nach. Denk nur an Erla. Erinnere dich, wie sie deine kleine Schwester oben in der Kammer versorgte. Bring sie … dorthin … jetzt. Halte dich nicht mit dem Weg auf. Stell es dir vor, wie du es haben willst, wie es sein soll! Beobachte das Ergebnis, das Resultat.« Sie redete unablässig auf ihn ein, und er spürte an einem leisen Luftzug, wie sie zu Kadlin herumfuhr. »Und du, halt die Zeit an. Genau jetzt!«

Danach fehlte ihm wieder ein Stück. Ein großes. Aber das war … Das konnte nicht sein!

Flóki keuchte. Schweiß brach ihm aus.

Er sollte das getan haben? Aber warum konnte er sich dann nicht an das Wie erinnern? Wie er es angestellt hatte? Und doch war da das Blut an seinem Taschentuch, Kadlins furchtsamer Blick … und Erla oben in Ulvis Bett.

Gereizt nahm Flóki den Schürhaken und fachte das Feuer hinter der Ofentür an. Dann schob er den großen Topf auf die gusseiserne Fläche darüber.

Nein. Er hatte keine Begabung. Nicht so wie Kadlin, die die Zeit beugen konnte. Oder Ulvi, die das Zweite Gesicht hatte.

Missmutig starrte er in den Topf. Niemand konnte so etwas. Den Raum beugen. Er hatte Überlieferungen davon gehört, die so alt waren, dass niemand mehr wusste, was daran wahrhaftig und was Legende war. Sie hatten kein gutes Ende. Das war keine Gabe, die in Menschenhand gehörte. Es war ein Fluch.

Das Wasser kochte.

Flóki füllte es in eine Kanne. Dann fiel ihm ein, dass Kadlin damit ja Umschläge machen wollte, also brauchte sie ein anderes Gefäß. Fahrig angelte er eine Emailleschüssel aus dem Regal unter dem Spülstein und nahm sie ebenfalls mit nach oben, und sein Gedankenkarussell drehte und drehte sich unablässig weiter.

Als er am Ende der Treppe angelangt war, kam er auf die einzig logische Erklärung für das alles: Es war ein Wunder! Die alten Götter hatten gewirkt, und deswegen sprach auch niemand darüber. Damit konnte er leben. Er hatte nichts damit zu tun. Keine Gabe. Keine Schuld.

Erleichtert atmete er aus und wagte ein kleines Lächeln.

Kadlin sah ihm stirnrunzelnd entgegen, und Flókis Euphorie fiel sofort wieder in sich zusammen. Er brachte all seinen Mut auf.

»Wird sie wieder gesund werden?«, sprach er die wichtigste aller Fragen aus.

»Natürlich. Darum ist sie hier.« Kadlin nahm ihm das heiße Wasser und die Schüssel ab und sah ihn besorgt an. »Alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als hätte dich ein Troll zum Essen eingeladen.«

»Ja. Ja, sicher. Mir geht es gut.« Er nickte bekräftigend. Aber es war dennoch eine Lüge. Nichts war in Ordnung. Alles war aus den Fugen geraten. Alles. Er konnte nicht einmal sich selbst anlügen.

»Ich habe den Raum gebeugt, nicht wahr? Das war ich.«

Kadlin presste die Lippen aufeinander. »Frag Jó…«

»Frag Jórunn, ja, ich weiß. Aber du warst dabei!« Er wühlte in seiner Hosentasche nach dem blutigen Taschentuch und streckte es ihr entgegen. »Ich werde noch wahnsinnig, Kadlin. Erklär es mir. Sag mir, was du weißt.«

Kadlin schüttelte den Kopf. Sie sah sich nervös nach Erla um. Dann lauschte sie nach unten. Aber da war niemand. Dort kam er ja gerade her. Jórunn war zu einer anderen Patientin gerufen worden, und sein Vater kontrollierte die Zäune an den Winterweiden, es gab genug zu tun, bevor das Wetter schlecht wurde, auch ohne die unvorhergesehenen Ereignisse.

»Rede mit mir! Bitte.«

Ohne ein Wort stellte sie den Topf ab und zog ihn zu sich auf Jarles Bettkante herunter. »Sei leise!«

»Hast du mir geholfen? Fehlen dir auch Teile deiner Erinnerung? Kannst du –?«

»Schh! Sei endlich still«, fuhr sie ihm über den Mund und seufzte. »Niemand darf davon wissen! Wir dürfen nicht darüber sprechen. Fast zweihundert Jahre ist niemand mit dieser Gabe geboren worden, Flóki. Wenn du sie hast, dann … Es ist gefährlich, verstehst du? Der Gode wird wissen, was zu tun ist. Aber bis dahin –«

»Der Gode?« Flóki riss die Augen auf.

»Dein Vater hat dir nichts gesagt?«

»Nein. Was sollte er denn –?«

»Gut«, behauptete Kadlin und ließ ihn schon wieder nicht ausreden. Sie sah zu Erla. »Er ist auf dem Weg hierher. Er kommt wegen ihr. Aber er wird auch mit dir reden wollen. Sag ihm nichts, bevor du mit Jórunn gesprochen hast, hörst du? Und erst recht nicht über dieses … Ding.«

Flóki schnitt eine Grimasse. »Also hast du es doch gesehen. Ich wusste es.«

Kadlin grinste schelmisch. »Wie lange kennen wir uns? Blind war ich noch nie. Aber ich kann die Klappe halten, wenn es drauf ankommt. Und das solltest du auch lernen.«

Sie stand auf und ging zurück an den Tisch, um die Umschläge vorzubereiten.

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