×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Nordseefunkeln«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Nordseefunkeln« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Nordseefunkeln

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Lesen, genießen, abschalten – dieser Roman ist ein Kurzurlaub für die Seele

Die Berliner Journalistin Lucia braucht eine Auszeit. Über ein Wohnungstauschportal lernt sie Felke Truels aus St. Peter-Ording kennen und tauscht mit ihr das Zuhause. Sie erhofft sich, in dem Küstenort ein nordfriesisches Paradies der Ruhe und Erholung zu finden. Dass sie es hier aber nicht nur den Macken von Oma Truels, sondern auch mit dem attraktiven Nachbarn Wilko und seinen zwei abenteuerlustigen Rotbunten Husumer Schweinen zu tun bekommt, hat Lucia nicht im Traum erwartet. Und trotzdem weiß sie nach vier turbulenten Wochen an der Küste, dass sie genau hier bleiben will. Denn nirgends kann es schöner sein als am nordfriesischen Sandstrand, wo der Meerwind braust und die Nordsee funkelt.


  • Erscheinungstag: 25.03.2025
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908332
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Tanja Janz

Nordseefunkeln

Ein St.-Peter-Ording-Roman

HarperCollins

Für Hanna.
Dank dir bin ich immer ein bisschen am schönsten Strand der Welt.

Nordseefunkeln

Am weiten Strand, wo Wellen singen,

Die Möwen tanzen, die Herzen springen,

In St. Peter-Ording, wo der Sommer erwacht.

Die Dünen leuchten in gold’nen Tönen,

Ein Meer aus Farben, die Seele krönen,

Der Wind, er flüstert, trägt Geschichten,

Von Freiheit, Freude und unendlichen Sichten.

Das Nordseefunkeln, ein glitzerndes Spiel,

Verzaubert die Sinne, erfüllt das Gefühl,

Die Strandkörbe stehen, einladend an Land,

Hier findet ein jeder seinen Platz, die Zehen im Sand.

Barfuß am Strand den Sorgen entgehen,

Im Spiel der Gezeiten, im Wellenverwehen.

Die Abendsonne küsst den Horizont,

Ein gold’ner Glanz liegt auf der See.

Die Luft erfüllt von salziger Pracht,

In St. Peter-Ording, wo der Sommer lacht.

So lass uns träumen, hier noch verweilen,

In diesem Paradies, wo Seelen heilen.

Die Schönheit des Moments, sie bleibt bestehen,

In St. Peter-Ording, wo wir uns wiedersehen.

Prolog

Die Sonne stand bereits tief am Himmel und tauchte den weiten Strand von St. Peter-Ording in ein warmes, goldenes Licht. Möwen schaukelten auf seichten Nordseewellen, wie kleine Papierschiffchen wirkten sie von Weitem, während zwei Stand-up-Paddler mit roten Schwimmwesten auf ihren Boards sanft über die Meeresoberfläche glitten.

Felke überblickte die Szenerie von der Veranda des Pfahlbaus der DLRG, das Fernglas fest in ihren Händen. Den rechten Fuß bequem auf einer Holzlatte des Geländers, stand sie mit dem anderen fest auf dem Boden. Der Wind spielte mit ihren blonden Haaren, strich über ihre gebräunte Haut und trug den Duft von Meer und Sommer zu ihr.

Vor ihren Augen erstreckte sich der scheinbar endlose Ordinger Strand. Die Sandbank war hier so breit und weit, dass fast der Eindruck entstand, man befände sich in der Wüste. Fröhliches Lachen und Rufen der Badegäste schallte Felke immer wieder entgegen, untermalt von der rauschenden Brandung der Wellen, die an den Hitzsand rollten. Felke blinzelte gegen die Helligkeit des Sonnenlichts und ließ den Blick weiter über bunte Strandkörbe und spielende Kinder gleiten. Ein etwa neunjähriger Junge mit leuchtend weizenblondem Schopf baute mit vollem Eifer eine Sandburg. Mit einer großen Schaufel türmte er ohne Unterlass Sand auf einen Haufen, der bereits eine beachtliche Höhe angenommen hatte, während ein ungefähr gleichaltriges Mädchen mit langen braunen Zöpfen und einem bunten Ball in Händen zwischen den zahlreichen bunten Strandmuscheln umherrannte. Felke lächelte.

Es war ein herrlich idyllischer Strandtag, der ihr Herz weit öffnete und sie mit einem unvergleichlichen Wohlgefühl erfüllte. Dieses Gefühl hatte sie erst vor Kurzem wiedergefunden. Und auch heute weckte dieser Ort noch andere Erinnerungen in ihr. Erinnerungen an jenen anfangs ebenso herrlichen Badetag, dessen weiteren Verlauf sie lange in dunkle Schatten gedrängt hatte.

Vor noch gar nicht allzu langer Zeit war dieser Strand für sie ein anderer gewesen. Ein Ort, der sie mit Schrecken erfüllt und für eine unermesslich schmerzhafte Erfahrung und unerträgliche Trauer gestanden hatte.

Der Sommer, der alles in ihrem Leben verändert hatte, kam ihr schlagartig wieder in den Sinn. Niemand hatte damals das entsetzliche Unglück voraussagen können. Die Erinnerung daran, wie sie die kleine Paula aus den Wellen gezogen hatte, leblos und mit blauen Lippen, beschwerten ihr trotz der sommerlichen Temperaturen auch heute noch eine Gänsehaut. Ihre verzweifelten Versuche, das Mädchen am Strand wiederzubeleben, das Gefühl von völliger Hilflosigkeit, das sie überkommen hatte, nachdem die Reanimation gescheitert war. Die herzzerreißenden Schreie der Eltern, die wenig später am Strand eingetroffen waren und nicht hatten glauben können, dass ihr Kind nicht mehr lebte, hatten sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Seitdem hatten sie sie verfolgt, wie Schatten, die sie nicht mehr losließen. Aus Tagen waren Monate geworden und schließlich Jahre. Für Felke war jeder einzelne Moment ein Kampf geworden. Panikattacken hatten sie in die Enge ihrer eigenen vier Wände getrieben und letztendlich eingeschlossen. Die Welt vor ihren Fensterscheiben schien damals für sie in unerreichbarer Ferne zu liegen. Agoraphobie mit Panikstörung hatte die Diagnose gelautet, die sie schließlich erhalten hatte. Damit hatte ihr Zustand zwar einen Namen bekommen, jedoch war eine Besserung lange Zeit nicht in Sicht gewesen.

Tiefe Dankbarkeit durchströmte sie, als sie an die unermüdliche Unterstützung ihrer Eltern, ihrer Oma Ilsegret und ihres Bruders Ayk zurückdachte, die in jener schweren Zeit zu jeder Tages- und Nachtzeit für sie da gewesen waren und ohne die sie wahrscheinlich irgendwann aufgegeben hätte. Und jetzt, nach Jahren des Kämpfens und einer erfolgreichen Therapie, war sie endlich genesen, war sie endlich wieder hier. Zurück an dem Ort, den sie, seit sie denken konnte, so sehr liebte und der sie sich lebendig fühlen ließ. Auch wenn sie hier nicht mehr genauso unbeschwert und glücklich sein konnte wie vor dem Unglück, blieb es doch der besondere Ort, an dem sie sie selbst sein konnte.

Felke atmete geräuschvoll ein und wieder aus. Dabei spürte sie ein leichtes Kitzeln in den Lungen, das die frische Meeresbrise verursachte. Das Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit, das sie so lange vermisst hatte, es war endlich wieder da. Sie war wieder da!

Als Rettungsschwimmerin war sie wieder bereit, Leben zu retten und zu schützen, und wenn es sein musste, dabei auch ihr eigenes zu riskieren. Sie hatte keine Angst vor dem eigenen Tod, umso mehr fürchtete sie den von anderen. Felke hatte akzeptieren gelernt, dass Paulas Tod ein schreckliches Unglück gewesen war, an dem sie keine Schuld traf. Es hatte lange gedauert, bis sie sich von ihren Schuldgefühlen befreit hatte und endlich an den Ordinger Strand hatte zurückkehren können. Aber ihre Arbeit bei der DLRG war für sie viel mehr als bloß ein Arbeitsplatz. Es war ihre Berufung und ihr Zuhause, ihre Heimat und auch ein Ort der Heilung.

Konzentriert blickte sie durch ihr Fernglas auf das Meer hinaus. Ein paar bunte Surfsegel kreuzten ihr Blickfeld, und dahinter zog ein Kutter Richtung Büsum. Sie drehte ihren Kopf nach links, schon tauchten in der Ferne die Pfahlbauten und einige Hotelkomplexe des Ortsteils Bad vor ihr auf. Die Seebrücke führte über die mit Prielen durchzogenen Salzwiesen und mündete auf dem weiten Strand. Im Gegensatz zum quirligen Zentrum des Küstenortes ging es in Ording beschaulicher zu.

Felke war so in Gedanken versunken, dass sie die Schritte auf der Treppe hinter sich nicht wahrnahm. Erst als die Stimme ihres Kollegen Krischan sie zusammenzucken ließ, senkte sie das Fernglas.

»Moin!« Er lehnte sich lässig neben sie ans Geländer. Ein gestreiftes Handtuch lag über seiner rechten Schulter, die Sonnenbrille hatte er sich ins Haar geschoben.

»Moin!« Sie nahm den Fuß von der Holzlatte.

»Und? Bist du schon in Urlaubsstimmung?«, fragte er sie mit einem breiten Grinsen.

Felke erwiderte sein Grinsen. »Ein bisschen vielleicht.«

»Ich kann immer noch kaum glauben, dass du mitten in der Hochsaison verduften darfst. Was hast du denn Schönes geplant?«

»Och!« Felke lächelte. »Ehrlich gesagt habe ich noch nichts Konkretes im Kopf. Ich denke, ich werde es einfach auf mich zukommen lassen. Vielleicht setze ich mich ins Auto, fahre einfach drauflos und schaue, wohin es mich verschlägt. Mal eine Weile raus aus St. Peter-Ording und was anderes sehen, das würde mir für den Anfang schon reichen.«

Krischan nickte verständnisvoll. »Das klingt nach einer guten Idee. Du hast dir natürlich Urlaub verdient. Nach allem, was du durchgemacht hast, ist es an der Zeit, dass du dir die Welt zurückeroberst.«

»Ja, genauso empfinde ich es auch«, antwortete Felke und schaute dann wieder Richtung Meer, wo ein Kitesurfer einen waghalsigen Sprung riskierte. »Ich brauche einfach Abstand.« Sie zuckte mit den Schultern. »Eine Art Tapetenwechsel. Es ist zwar wunderschön hier, aber ich habe das Gefühl, dass ich mal etwas anderes sehen muss. Irgendwo sein, wo ich nicht ständig an die Vergangenheit erinnert werde.«

»Verstehe ich vollkommen«, sagte Krischan und lehnte sich nun seitlich ans Geländer. »Manchmal ist es wichtig, die gewohnten Pfade zu verlassen. Wo würdest du denn am liebsten hin, wenn du frei wählen könntest?«

»Gute Frage, nächste Frage.« Felke legte das Fernglas auf den einzig verfügbaren Stuhl auf dem Hochstand. »Vielleicht zur Abwechslung in die Berge oder zumindest an einen anderen Strand. Bis zur Ostsee ist es von hier aus ja keine Weltreise. Aber mich würde auch eine Großstadt reizen, das wäre ja mal was ganz anderes. Berlin zum Beispiel. Dort war ich noch nie, und es wäre wohl das größte Kontrastprogramm zu St. Peter-Ording. Es ist bestimmt spannend, sich von der Energie der Hauptstadt einfach mitziehen zu lassen.« Sie lehnte sich seitlich an das Holzgeländer. »Hauptsache, ich kann mich dort frei bewegen und mal durchatmen. Ich möchte gerne wieder das Gefühl haben, dass ich alles tun kann, was ich will – ohne von einer Panikattacke überrascht zu werden. Das wäre vielleicht der endgültige Befreiungsschlag, der mir noch fehlt, um neu in die Zukunft zu blicken.«

Krischan nickte ihr aufmunternd zu und klopfte ihr dann auf die Schulter. »Das wird dir sicherlich guttun, Felke.«

»Bestimmt.« Sie nickte und sah ihn dann ernst an. »Allerdings habe ich auch ein bisschen ein schlechtes Gewissen.«

Skeptisch zog er die Augenbrauen zusammen. »Wegen unseres Teams etwa? Mach dir darüber mal keine Gedanken. Wir werden auch ohne dich zurechtkommen. Das mussten wir schließlich auch, als du krank warst. Außerdem bekommen wir doch ab morgen Verstärkung von den beiden Saisonkräften. Und so wie ich von der DLRG-Leitung gehört habe, stehen noch weitere Bewerber auf der Warteliste.«

»Das weiß ich doch. Ein Glück, dass es jedes Jahr genügend Sportstudenten gibt, die uns in den Semesterferien unterstützen.« Wieder lächelte Felke.

»Na, siehst du. Um uns brauchst du dir keine Gedanken zu machen.«

»Ich weiß. Mein schlechtes Gewissen hat eher was mit meiner Oma und ihrer Hündin Tiffi zu tun. Wir teilen uns doch das kleine Häuschen am Deich. Oma wohnt unten und ich oben.« Sie seufzte schwer. »Die Jüngste ist sie schon lange nicht mehr und insgeheim wohl auch froh, dass ich sie im Haushalt oder auch beim Gassigehen unterstütze. Natürlich würde sie nie zu mir sagen, dass ich nicht in den Urlaub fahren soll – dafür ist sie viel zu stolz. Mir wäre allerdings wohler, wenn ich wüsste, dass mich jemand in meiner Abwesenheit vertritt.« Sie hob den Blick und schaute in Krischans blaue Augen. »Meine Eltern haben sich zwar schon angeboten, aber es ist natürlich ein himmelweiter Unterschied, ob jemand bloß nach dem Rechten sieht oder im selben Haus wohnt. Mein Bruder kann auch nicht für mich einspringen, er hat genug mit seiner Buchhandlung zu tun.«

»Sagst du nicht immer, dass deine Oma für ihr Alter noch sehr rüstig ist?«, fragte Krischan.

»Das schon. Manchmal ist sie sogar etwas hyperaktiv, und gleichzeitig vergisst sie einiges. Erst kürzlich hat sie ihren Wohnungsschlüssel gesucht. Letztendlich habe ich ihn in der Mülltonne zwischen Plastikbeuteln gefunden … Sie hat nicht nur ihren Abfall entsorgt, sondern den Schlüssel gleich mit. Es hängt vieles von ihrer Tagesform ab.«

Krischan musste lachen. »Ich muss gestehen, das ist mir auch schon passiert – obwohl ich längst kein Rentner oder irgendwie vergesslich bin. Ich hatte damals den Müllbeutel und den Schlüssel in derselben Hand und war mit meinen Gedanken ganz woanders … und schwups habe ich beides weggeworfen.« Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Nur war es bei mir keine Mülltonne, sondern ein Container.«

Amüsiert hob Felke die Augenbrauen. »Oje! Musstest du da etwa reinklettern?«

»Oh ja.« Krischan verzog leidend den Mund. »Und es hat eine gute Weile gedauert, bis ich den kleinen silbernen Schlüssel zwischen den ganzen Abfalltüten wiedergefunden hatte. Er ist natürlich bis ganz nach unten durchgeflutscht. Danach habe ich mich eine halbe Stunde unter der Dusche abgeschrubbt, um nicht mehr nach Müllhalde zu stinken. Seitdem bin ich vorsichtiger.«

Felke rümpfte die Nase, musste aber grinsen. »Du Armer! Auf so ein Erlebnis kann man ja getrost verzichten.«

»Allerdings.« Krischan rollte mit den Augen und berührte sie mit einer Hand dann am Oberarm. »Mach dir nicht so viele Gedanken, Felke. Deine Eltern werden sich schon um Oma Ilsegret und ihre Hündin kümmern. Es ist höchste Zeit, dass du auch mal an dich denkst.«

»Wahrscheinlich hast du recht«, stimmte sie ihm nachdenklich zu. »Vielleicht habe ich bloß Angst vor meiner eigenen Courage.«

Krischan lächelte wieder. »Eine Auszeit von St. Peter-Ording wird dir guttun. Und wenn du zurückkommst, sind wir alle hier, um dich wieder herzlich willkommen zu heißen. St. Peter-Ording wird nicht weg sein – und deine Oma auch nicht.«

Felke nickte, dankbar für seine Unterstützung. »Lieb, dass du das sagst, Krischan. Ich werde mir deine Worte zu Herzen nehmen.«

»Mach das!« Er hob mahnend den Zeigefinger. »Und vergiss nicht, Fotos zu machen. Ich will doch schließlich mitverfolgen, wohin es dich verschlägt.«

Felke lachte und fühlte sich ein wenig leichter. »Zuerst verschlägt es mich jetzt wohl an den Verbandskasten.« Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung eines Mannes, der ein Mädchen trug und sich dem Pfahlbau näherte. Neben ihm lief eine Frau, die rötlich verfärbte Taschentücher gegen den Fuß des Kindes drückte. »Sieht ganz danach aus, als wäre da jemand in was Scharfkantiges getreten.«

Am frühen Abend ließ Felke die Haustür des kleinen Friesenhauses hinter sich zufallen und stellte ihre große Strandtasche auf der ersten Treppenstufe ab. Sofort stürmte Tiffi, die kleine Havaneser-Hündin ihrer Großmutter, in den Flur, um sie zu begrüßen.

Wie immer hatte Oma Ilsegret ihre Wohnungstür einen Spalt offen gelassen. Felke konnte das Radio aus der Küche hören. Während Tiffi sich Streicheleinheiten von ihr abholte, nahm Felke den vertrauten Duft von frisch gebackenem Brot wahr. Oma Ilsegret schien in ihrer Abwesenheit fleißig gewesen zu sein. Sie genoss es, Felke nach allen Regeln der Kunst zu verwöhnen. Frisches Brot, selbst gemachte Marmelade und einmal in der Woche Krabbenfrikadellen, das gehörte alles zu Oma Ilsegrets festem Repertoire.

Vielleicht hatte Krischan wirklich recht, und sie traute ihrer Großmutter viel zu wenig zu. Wahrscheinlich übertrug sie die eigene Unsicherheit bloß auf sie.

Als Tiffi genug von den Streicheleinheiten hatte und wieder zurück in die Wohnung trottete, zog Felke sich die Sandalen aus und stellte sie auf die graue Gummimatte neben der Treppe.

Sie liebte dieses Haus, das sie schon von Kindesbeinen an kannte. Es war ihr Rückzugsort und gleichzeitig ein Platz voller schöner Erinnerungen, an dem sie eine unvergleichliche Geborgenheit verspürte. Dabei war sie hier nicht aufgewachsen, es war das Elternhaus ihrer Mutter. Als kleines Mädchen hatte sie an den Wochenenden oft bei ihren Großeltern übernachtet. Ihr einige Jahre älterer Bruder Ayk war damals schon aus dem Alter raus gewesen, in dem er ein Wochenende bei den Großeltern interessant gefunden hätte.

Manchmal war die Wohnung im ersten Stock an Feriengäste vermietet gewesen. Felke hatte sich dann jedes Mal gefreut, denn oft wohnte dann eine Familie mit Kindern Tür an Tür mit ihren Großeltern. Mit mehreren Mädchen hatte sie sich so gut angefreundet, dass sie eine Brieffreundschaft begonnen hatten. Mit einer stand sie sogar heute noch in Kontakt.

Saskia aus Limburg und sie waren gleich alt und hatten sich im damaligen Sommer als Zehnjährige kennengelernt. Zunächst hatten sie einander kurze Briefe auf buntem Papier mit Pferdemotiven geschickt und sich dann ab und an in den Ferien wiedergesehen, wenn ihre Eltern die Wohnung in der ersten Etage für den Urlaub gebucht hatten. Später hatten sie Nummern ausgetauscht und begonnen, in regelmäßigen Abständen miteinander zu telefonieren. Inzwischen hielten sie über ihre Handys Kontakt.

Saskia war mit einem Amerikaner verheiratet und Mutter von zwei Söhnen. Sie lebte mit ihrer Familie in einem kleinen Ort in Maine. Irgendwann, das hatte Felke sich fest vorgenommen, wollte sie ihre Freundin in den USA besuchen. Diese weite Reise würde sie jetzt allerdings noch nicht antreten.

Nachdem sie ihre Tasche wieder geschultert hatte, ging sie die Treppe hoch in den ersten Stock. Dort öffnete sie ihre Wohnungstür, dann das Küchenfenster, das zum Garten wies, und ließ die warme Abendluft herein. Das Haus befand sich in unmittelbarer Nähe zum Deich, umgeben von der sanften Weite der norddeutschen Landschaft. Ihr Blick glitt über grüne Wiesen und ruhte dann auf dem Nachbargrundstück. Dort grunzten die zwei rotbunten Husumer Schweine, Rosalinde und Ebbo, glücklich vor sich hin. Sie hatten eine eigene kleine Weide, die an den Gehweg angrenzte. Felke konnte nicht anders, als zu lächeln. Die beiden Hausschweine waren nicht nur ausgesprochen niedlich, sondern hatten es auch faustdick hinter den Ohren und trieben gerne Schabernack.

Ihre Aufmerksamkeit schweifte zu Wilko, ihrem Nachbarn, der über den Weidezaun mit einer Frau sprach, die offenbar gerade von ihrem Fahrrad abgestiegen war. Er gestikulierte beim Sprechen mit beiden Händen und blickte immer wieder zu Rosalinde und Ebbo.

Belustigt schüttelte Felke den Kopf. »Na, das sieht ja nach einer neuen Bekanntschaft aus«, murmelte sie vor sich hin. Sie kannte Wilkos Masche nur zu gut – die Schweine boten immer Anlass, um mit arglosen Touristinnen ins Gespräch zu kommen. Die Frau wirkte freundlich und vor allem ahnungslos. Trotz der Distanz erkannte Felke das Funkeln in Wilkos Augen. Er schien sich seiner Sache sicher zu sein, garantiert glaubte er, einen neuen Fisch am Haken zu haben.

Als die Frau schließlich auf ihr Fahrrad stieg und sich verabschiedete, konnte Felke nicht widerstehen. Sie nahm den vollen Müllbeutel aus der Küche und ging die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Dabei achtete sie darauf, den Hausschlüssel in einer der Vordertaschen ihrer kurzen Jeans zu verstauen, damit ihr nicht das Gleiche wie Krischan oder ihrer Oma passierte. Die Mülltonnen standen in der Nähe des Weidezauns.

Als ihr Nachbar sie sah, hob er die Hand zum Gruß. »Moin, Felke!«

»Moin!« Sie entsorgte den Müll in der Tonne und ging amüsiert auf ihn zu. »Na, hast du schon wieder eine ahnungslose Touristin mit deinen Schweinen bezirzt?« Sie blieb vor ihm stehen.

Wilko grinste sie frech an. »Ach, Felke! Das ist doch nur ein nettes Gespräch gewesen. Was du immer gleich denkst … Dabei müsstest du mich doch besser kennen!«

»Eben drum!«, erwiderte sie mit belustigtem Blick. »Ich sehe schon, du hast deine Strategie inzwischen perfektioniert. Ganz schön clever, über die Schweinchen Frauenbekanntschaften zu schließen, also das muss man dir lassen«, neckte sie ihn.

»Du übertreibst wirklich maßlos.« Lachend schüttelte er den Kopf. »Was kann ich denn dafür, wenn alle, die hier vorbeikommen, die zwei so süß finden? Soll ich die Leute etwa ignorieren, wenn sie mich ansprechen? Das wäre doch hochgradig unhöflich.«

»Wie dem auch sei.« Felke schüttelte ebenfalls den Kopf und trat etwas näher an den Zaun heran. »Ich verdufte übrigens demnächst für eine Weile und mache Urlaub.«

»Wirklich?« Wilko hob eine Augenbraue. »Das wusste ich ja noch gar nicht.«

»Jetzt weißt du es.« Sie steckte beide Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans. »Könntest du vielleicht während meiner Abwesenheit ein Auge auf meine Oma haben? Sie ist doch manchmal ein wenig vergesslich.« Felke warf ihm einen ernsten Blick zu.

Wilko sah ihr in die Augen und nickte. »Natürlich, Felke.«

»Das würde mich wirklich sehr beruhigen.«

»Mach dir keine Sorgen, Felke. Ich werde ein Auge darauf haben, dass es ihr gut geht. Du kannst dich ganz auf mich verlassen.«

Erleichtert lächelte sie. »Danke, Wilko. Das bedeutet mir echt viel.«

»Da nicht für.« Er machte eine wegwischende Handbewegung. »Mit Senioren kenne ich mich ja ein bisschen aus«, spielte er auf seine bereits verstorbene Großmutter an, um die er sich wirklich rührend gekümmert hatte. Vor zwei Jahren war sie verstorben und hatte ihm in ihrem Testament als einzigem Enkel das Haus vererbt.

»Hoffentlich ein bisschen besser als mit unbekannten Frauen«, entgegnete Felke scherzhaft. Sie kannte ihn seit Kindertagen und wusste, dass sie sich im Ernstfall immer auf ihn verlassen konnte. Das machte seine Schwäche fürs Plaudern mit Touristinnen glatt wieder wett.

»Gleich gut, würde ich sagen«, gab er augenzwinkernd zurück. »Wann willst du dich denn aus dem Staub machen?«

Felke zuckte die Achseln. »In ein paar Tagen wahrscheinlich.«

Er zwinkerte ihr abermals zu und meinte mit einem schelmischen Grinsen: »Endlich sturmfreie Bude! Es wurde auch mal Zeit, dass du die Biege machst.«

Felke lachte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Damit du unbeobachtet Frauen aufreißen kannst? So ist das also!« In Wirklichkeit war sie erleichtert und genoss das scherzhafte Geplänkel mit ihm auch immer wieder.

Er hob eine Schulter. »Ich sage nur, was ich denke.«

»Das weiß ich«, antwortete Felke amüsiert. »Ich werde dann mal wieder zurückgehen. Meine Oma scheint Brot gebacken zu haben.«

»Frisches Brot, toll!« In seinen Augen blitzte es auf. »Falls sie zu viel gebacken hat, ich würde mich bereit erklären, ein Stück zu nehmen«, sagte er eifrig.

»Wie selbstlos von dir!«, meinte sie, während sie sich wieder in Richtung Haus wandte.

»Rosalinde und Ebbo würden sich auch freuen!«, rief er ihr hinterher.

Sie drehte sich noch einmal zu ihm um und lachte. »Na gut, ich bringe euch nachher was rüber«, versprach sie.

Als sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte, wurde Felke erst so richtig bewusst, dass es nun kein Zurück mehr gab. Krischan und der Rest des Teams wussten Bescheid über ihre Urlaubspläne, und nun auch Wilko. Einen Rückzieher konnte sie jetzt nicht mehr machen.

Wahrscheinlich war dies nun der richtige Moment, um in Panik zu verfallen. Felke lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und schloss die Augen. Konzentriert spürte sie in sich hinein, darauf vorbereitet, das aufkommende Gefühl von Angst niederzukämpfen. Doch es kam nichts.

Befreit öffnete sie wieder die Augen und lächelte.

In diesem Moment schwang die Tür zur Wohnung ihrer Großmutter auf. »Da bist du ja! Ich meinte doch, dass ich was gehört habe.« Oma Ilsegret trug eine Küchenschürze, auf der deutliche Spuren von Mehl sichtbar waren. Tiffi stand neben ihr und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. »Ich habe frisches Brot gebacken.«

»Das habe ich sofort gerochen, Oma.« Sie lächelte ihre Großmutter liebevoll an. »Ich komme sofort, nachdem ich mich etwas frisch gemacht habe. Heute war es ja richtig heiß.«

Oma Ilsegret nickte. »Ich decke schon mal den Tisch.«

Damit verschwand sie von Tiffi gefolgt wieder in der Wohnung.

Als Felke die Treppenstufen hochstieg, hatte sie ein glückliches Lächeln auf den Lippen. Hoffnung glomm in ihr auf, denn womöglich stand sie tatsächlich am Anfang eines neuen Lebensabschnitts. Der Gedanke erfüllte sie mit einer gewissen Vorfreude und Zuversicht.

Sie fühlte sich bereit, sich eine zweite Chance zu geben und die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen.

Kapitel 1

Die Scheinwerfer des Studios, das einem Privatsender gehörte, strahlten hell und heiß. Lucia spürte, wie sie unter dem Make-up anfing zu schwitzen. An diesem Tag hatte ihr Wecker wieder einmal viel zu früh geklingelt. Vielleicht hatte es auch daran gelegen, dass sie in der vorherigen Nacht erst im Morgengrauen von der Party einer großen Filmgesellschaft gekommen war – wie häufig in den vergangenen Monaten.

Sich gelegentlich die Nächte um die Ohren zu schlagen, das gehörte für sie als Journalistin seit fast zehn Jahren zum beruflichen Alltag. So lange arbeitete sie nun schon für den Berliner Fernsehsender und hatte sich von einem Einstieg als Sidekick nun schon längst zur festen Moderatorin im Bereich Boulevard etabliert. Eigentlich war es ein Privileg, dieses Leben zu führen, aber in letzter Zeit ertappte sie sich immer häufiger dabei, dass sie sich müder und abgeschlagen fühlte. Es kam ihr vor, als würden sich ihre Energie-Akkus nicht mehr richtig aufladen.

Der Produktionsassistent gab ihr ein Zeichen, woraufhin Lucia sich mit einem professionellen, charmanten Lächeln der Kamera zuwandte. »Hallo, liebe Zuschauer! Ich bin Lucia Schröder und melde mich mit einer Ankündigung für Sie. Heute Abend werde ich von der glamourösen Filmpreisverleihung berichten und Sie hinterher mit auf die Aftershowparty nehmen. Ich freue mich darauf, die angesagtesten Stars für Sie zu interviewen und Ihnen einen exklusiven Einblick in die aufregendsten und bewegendsten Momente des Abends zu geben.«

Man sagte ihr nach, dass sie als Journalistin und Moderatorin ein Vollprofi war, was das Spiel mit der Fernsehkamera betraf. Sie trug ein elegantes, schulterfreies schwarzes Kleid, das ihrer Figur schmeichelte und ihre schlanken Beine betonte. Ihr brünettes Haar fiel in sanften Wellen über ihre Schultern, und um den Hals trug sie eine Kette mit funkelnden Steinen. Sehr bewusst lag ein Hauch von Hollywood in der Luft, der die Zuschauer auf das kommende Ereignis einstimmen sollte.

»In wenigen Stunden werden wir die besten nationalen und internationalen Filme des Jahres feiern und nebenbei auch für Sie die neuesten Gerüchte und Geschichten aus der Welt des Films präsentieren«, fuhr sie routiniert fort. »Wer wird die begehrten Preise mit nach Hause nehmen? Und welche Überraschungen werden uns auf dem roten Teppich erwarten? Sind Sie neugierig? Ich bin’s!«

Die Regie gab ihr Zeichen, dass sie gleich in die Werbung gehen würden. Lucia beendete ihre Moderation mit einem strahlenden Lächeln. »Bleiben Sie dran, denn nach der Werbung sehen Sie ein ganz besonderes Interview mit einem der gefragtesten Nachwuchsschauspieler des Jahres, das ich gestern führen durfte.«

Als das rote Licht der Kamera erlosch, das die Beendigung des Live-Formats anzeigte, atmete Lucia kurz auf. Doch die Müdigkeit und auch die leichten Magenschmerzen, die sie seit ein paar Tagen plagten, drängten sich nun wieder in ihr Bewusstsein. Die ständige Hektik, die endlosen Partys und die ewige Jagd nach dem nächsten großen Scoop verlangten ihren Preis. Immerzu war sie umgeben von Glanz, Schönheit und Perfektion, aber in ihrem eigenen Leben fühlte sie sich schon länger verloren.

Die letzten Monate waren ein ständiges Aufeinandertreffen mit den Schönen und Reichen gewesen. Dafür war sie rund um den Globus gereist und hatte die Berühmtheiten in ihren exklusiven Refugien mit einem Kamerateam besucht und war nicht selten in Hotels abgestiegen, die diese Bezeichnung nicht verdient hatten. Ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche hatte sie immer weiter nach hinten geschoben. Selbst als ihre langjährige Partnerschaft mit Matteo auseinandergebrochen war, hatte sie eigentlich keine Zeit für Liebeskummer gehabt.

Lucia saß vor dem großen Spiegel in der Maske des TV-Senders. Das schwarze Kleid, das sie zuvor bei der Live-Sendung getragen hatte, hing auf einem Bügel. Nun trug sie eine schlichte weiße Bluse, eine ausgewaschene Jeans und bequeme Sneakers. Die Visagistin befreite sie gerade von der dicken Schicht Make-up und bürstete ihr dann das Haarspray aus. »Du wirkst total verspannt«, sagte sie mit besorgter Stimme.

»Was soll ich dir sagen, Susi? Ich bin heute früh um halb sechs nach Hause gekommen und saß um neun wieder in der Redaktion.« Lucia musste gähnen. »Ausreichend Zeit zum Abschalten hatte ich letzte Nacht nicht.«

»Du musst mehr auf dich achten, sonst wirst du krank«, merkte Susi fürsorglich an.

Lucia lächelte. »Dafür habe ich mir wohl den falschen Job ausgesucht.«

Kaum hatte Susi den letzten Bürstenstrich getan, vibrierte Lucias Handy, das vor ihr auf dem Frisiertisch lag. Die Nachricht kam von Lisa, ihrer Redaktionsleiterin.

Lucia, du musst unbedingt vor der Filmpreisverleihung noch ein Interview mit Bastian Siegel im Adlon führen. Er wartet auf dich! Boris ist mit seiner Kamera schon unterwegs. Ihr trefft euch dann dort.

Sie seufzte. »Natürlich, wie immer kommt so was in letzter Minute.«

Susi blickte in den Spiegel und runzelte fragend die Stirn. »Möchtest du jetzt etwa doch nicht dein leichtes Tages-Make-up?«

»Nein, heute nicht. Tut mir leid!« Sie sprang auf. »Ich muss sofort zum Adlon. Zeit zum Umziehen habe ich auch keine mehr.« Eilig schnappte sie sich ihre Tasche vom Stuhl und warf sich ihren Trenchcoat über. »Danke für alles, liebe Susi«, sagte sie und hastete aus dem Studio.

Der Verkehr in Berlin war unberechenbar, sie wusste, dass sie sich beeilen musste, um rechtzeitig zum Hotel zu kommen.

Nachdem Lucia ihr Auto in der Tiefgarage geparkt hatte und in der Hotellobby angekommen war, atmete sie tief durch, um ihre innere Anspannung zu vertreiben. Das Adlon war ein geschichtsträchtiger Ort, der wie kein anderer für Luxus und Eleganz stand.

Lucia fühlte sich in ihrem schlichten Outfit fast fehl am Platz. Sie war es gewohnt, bei jeder Veranstaltung in der ersten Reihe zu sitzen, die neuesten Modetrends zu tragen und mit den bekanntesten Gesichtern der Branche zu sprechen. Für sie war es eigentlich auch eine Selbstverständlichkeit, sich den Anlässen entsprechend zu kleiden und immer gut vorbereitet zu sein.

Zum ersten Mal erfüllte sie keines ihrer eigenen Prinzipien. In diesem Moment war sie bloß eine Journalistin, die sich beeilen musste, um einen der gefragtesten Schauspieler des Landes zu interviewen. Mit einem schnellen Blick auf ihr Handy stellte sie fest, dass die Zeit tatsächlich sehr drängte. Und Boris war nirgends zu entdecken. Na toll. Sie entschied sich, ihm eine Nachricht zu schicken.

Hey Boris!

Ich bin schon im Adlon, aber du scheinst noch nicht angekommen zu sein. Ich warte auf dich in Bastian Siegels Suite.

Lucia

Hastig schickte sie die Nachricht ab und eilte zur Rezeption, um sich nach der Zimmernummer des Schauspielers zu erkundigen und sich bei ihm anzumelden.

Keine fünf Minuten später stand sie vor der Suite. Bevor sie anklopfte, richtete Lucia ihre Bluse und fuhr sich einmal durchs Haar. Sie musste nicht lange warten, bis Bastian Siegel öffnete. Er war in einen eleganten Anzug gekleidet, trug aber kein Hemd darunter. Lucias Blick blieb für einen Moment an seiner leichten Brustbehaarung hängen.

»Bonjour, Lucia«, begrüßte er sie überaus gut gelaunt und ließ sie eintreten. Dann gab er ihr links und rechts einen beherzten Kuss auf die Wange.

»Hi, Bastian! Wie immer sehr charmant.« Sie lächelte ihn an. »Das wievielte Interview ist das eigentlich, das ich mit dir führe?«

»Keine Ahnung!« Er blickte noch einmal auf den Hotelflur. »Kommt niemand mit einer Kamera?«

»Doch, doch! Boris ist unterwegs. Vermutlich steht er im Stau.«

Er führte sie in den Wohnraum der Suite und bat sie, auf der bequemen Couch Platz zu nehmen.

Lucia legte ihre Tasche dort ab und schlug die Beine übereinander. »Darf ich mir etwas darauf einbilden, dass du explizit mich als Interviewpartnerin angefragt hast?«

»Dafür habe ich einen triftigen Grund.« Sein Lächeln war liebenswürdig, aber auch schelmisch, als er langsam die Knöpfe an seiner Jacke öffnete und sie auszog.

Mit nacktem Oberkörper stand er nun vor ihr. Seine Schultern waren muskulös, die Brustmuskeln voll und straff. Unter der Haut zeichnete sich ein Sixpack ab. »Ich wollte unbedingt, dass du mich so siehst, damit du nicht wieder im Fernsehen erwähnst, ich wäre fett geworden.«

»Bist du deswegen etwa ins Fitnessstudio gerannt?« Lucia konnte nicht anders, als zu lachen. »Das war doch bloß ein einmaliger Kommentar. Wahrscheinlich sogar ein sehr dummer. Aber du hast recht, ich habe es tatsächlich letztes Jahr einmal erwähnt«, gestand sie und schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Und schau dich nur an! Du bist ja in Topform!«

»Dann wäre die Sache ja geklärt«, grinste er und griff nach dem Jackett. »Ich gehe mir schnell ein Hemd anziehen, bevor Boris kommt.«

»Ist gut.« Lucia lehnte sich auf dem Sofa zurück. Als Bastian Siegel im Schlafzimmer verschwunden war, schüttelte sie den Kopf. Dass er sich ihre Kritik so sehr zu Herzen nehmen würde, hätte sie nie geglaubt. Vielleicht sollte sie zukünftig mehr darauf achten, was sie von sich gab. Sie durfte nicht vergessen, dass Stars auch nur Menschen mit Gefühlen waren, die unbedachte Äußerungen schwernahmen – selbst wenn diese bloß von Journalisten kamen. Oder gerade deswegen?

Die Aftershowparty nach der Filmpreisverleihung war ein schillerndes Spektakel, das im Palais am Funkturm stattfand. Der große Saal war mit funkelnden Lichtern geschmückt, die von der Decke hingen. Ein DJ kümmerte sich um die passende musikalische Untermalung, während die Gäste in schimmernden Kleidern und maßgeschneiderten Anzügen sich und die Branche feierten.

Lucia fühlte sich in ihrem eleganten, tiefblauen Abendkleid fast wie eine Königin. Die schmalen Träger und der tiefe Rückenausschnitt verliehen ihr selbst die Aura einer Schauspielerin – obwohl sie keineswegs eine war. Mit dem Mikrofon in der Hand kämpfte sie sich durch die Menge, bereit, die neuesten Begebenheiten und schönsten Eindrücke für die Zuschauer zu Hause einzufangen.

Ihr Herz schlug schnell, nicht nur wegen der allgemeinen Aufregung, sondern auch wegen des anhaltenden Stresses, so viel war ihr klar. Der lange Tag war nicht spurlos an ihr vorbeigegangen – sie hatte kaum etwas gegessen, nur ein paar Häppchen zwischen den Interviews und einen Kaffee im Vorbeigehen.

Doch auch wenn sie spürte, wie ihre Energie nachließ, jetzt war dafür nicht der richtige Zeitpunkt. »Ich melde mich live von der Aftershowparty des Filmpreises. Neben mir steht die wunderbare Anna Müller, die gerade für ihre beeindruckende Leistung in dem Film Ungenannt ausgezeichnet wurde.«

Sie lächelte die junge Schauspielerin an, die in ihrem atemberaubend schönen Kleid regelrecht strahlte. Lucia stellte ihr einige Fragen über das Besondere ihrer Rolle und die Bedeutung des Preises für ihre Karriere. Die Antworten der Schauspielerin waren eloquent und voller Leidenschaft. Lucia genoss es, die anscheinend grenzenlose Begeisterung der Schauspielerin einzufangen.

Als nächsten Interviewpartner schnappte sie sich einen aufstrebenden Schauspieler, der gerade in einem amerikanischen Blockbuster zu sehen war. »Wie fühlt es sich an, in der ersten Reihe der Filmindustrie angekommen zu sein?«, fragte sie, während die Kamera auf ihn gerichtet war.

Der junge Mann sprach voller Enthusiasmus über seine Erfahrungen. Lucia nickte immer wieder zustimmend und bemühte sich, die Fäden des Interviews zusammenzuhalten. Doch die Lichter, die Musik und das Stimmengewirr um sie herum begannen sich zunehmend zu vermischen. Nach dem Interview nahm sie einen tiefen Atemzug und versuchte, sich zu konzentrieren.

Drei Stunden musste sie noch durchhalten. Mindestens!

»Ein Glas Sekt wird mich sicher wieder munter machen«, sagte sie mehr zu sich gewandt als zu den anderen und ging zur Bar, als die Kameraleute ebenfalls eine Pause einlegten.

Kurz darauf servierte ihr der Barkeeper das gewünschte Getränk. Der Sekt schäumte verlockend im Glas. Lucia nahm einen großen Schluck. Der süßliche Geschmack prickelte auf ihrer Zunge, und sie verspürte einen kurzen Moment der Erleichterung. Schnell trank sie den Rest aus.

Doch kaum hatte sie das Glas abgesetzt, überkam sie ein Schwindelgefühl. Sie berührte ihren Kopf und schüttelte ihn einmal kurz. Aber es half nicht. Die Musik erschien ihr unerträglich laut, die Stimmen der Gäste schrill, und das Licht der Lampen schmerzte in ihren Augen.

Jemand fasste sie an den Oberarm und gab ihr für einen Moment Halt. »Lucia? Geht es dir gut?«, hörte sie eine Stimme, die durch die Geräuschkulisse zu ihr drang.

Es war Bastian, der Schauspieler, den sie im Hotel interviewt hatte – der ihr hoffentlich nicht allzu übel nahm, dass sie über sein Gewicht gesprochen hatte. Er stand vor ihr, eine Sektflöte in der Hand, und schaute sie mit besorgtem Blick an.

»Ich … ich glaube, ich brauche nur einen Moment«, stammelte sie, während ihr Blick unscharf wurde. Sie versuchte, sich mit aller Macht auf Bastian zu konzentrieren. Doch die Welt um sie herum begann sich zu drehen.

»Setz dich erst mal, komm«, sagte Bastian und führte sie vorsichtig zu einem nahegelegenen Tisch.

Lucia fühlte sich, als würde der Boden unter ihr schwanken. Sie ließ sich auf den Stuhl sinken, suchte mit den Händen Halt an der Tischkante. 

Für einen Moment schloss sie die Augen, in der Hoffnung, dass dann das Drehen aufhören würde. Doch es wurde noch schlimmer.

Als sie die Augen öffnete, blitzte es. Und dann war alles mit einem Mal schwarz. Ein tiefes Nichts umhüllte sie. Die Stimmen waren verklungen und das Licht erloschen. Es herrschte endlich Ruhe.

Kapitel 2

Lucia saß auf der Bettkante, den Blick starr geradeaus gerichtet. Durch das Krankenhausfenster fiel helles Tageslicht. Draußen war der Himmel strahlend blau, und die Sonne ließ mit sommerlichen Temperaturen vermutlich die Kassen der Freibäder klingeln.

Lucia empfand den Anblick des Sommerhimmels als einen drastischen Kontrast zu ihrer direkten Umgebung und ihrem Befinden, seit sie hier war. Der Raum war spärlich möbliert, die Wände erstarkten in einem kalten Weiß, das Bett hatte ebenfalls weiße Laken, daneben war ein kleiner Nachttisch mit einer Lampe und einem Glas Wasser.

An der Wand hing ein Bild einer malerischen Frühlingslandschaft, das dem Raum vermutlich etwas Behaglichkeit verleihen sollte. Aber es war viel zu klein und wirkte an der großen Wand verloren. Und genau so fühlte sich auch Lucia, obwohl sie bereits seit zwei Tagen hier war – oder vielleicht auch gerade deswegen.

Sie erinnerte sich an die Aftershowparty, an ihre Interviews, die glitzernden Abendkleider der Schauspielerinnen, an den Geruch der verschiedenen Parfums der Männer, an grelle Scheinwerfer und laute Stimmen, kurz bevor bei ihr im wörtlichen Sinn die Lichter ausgegangen waren.

Ihr Blick fiel auf die beiden wunderschönen Blumensträuße, die eine Krankenschwester ihr gebracht hatte und die seit gestern auf dem Tisch neben dem Fenster standen. Den ersten hatte der Sender geschickt, es war ein prächtiger Strauß aus verschiedenen Rosen, Sonnenblumen und Lilien, dazu etwas Bindegrün und natürlich eine Karte, zweifellos mit den besten Genesungswünschen. Die strahlenden Farben der Blüten brachten bloß wenig Licht in ihre trüben Gedanken.

Der zweite Strauß kam von Bastian Siegel, und er war nicht weniger beeindruckend: Geschmackvolle weiße Orchideen mischten sich mit zarten Pfingstrosen, dazwischen Schleierkraut. Die Blumen waren in einem modernen Glasgefäß geliefert worden, das den Strauß geradezu elegant wirken ließ. Seine Geste berührte sie, sie hätte niemals damit gerechnet. Zum wiederholten Mal fragte sie sich, ob Bastian Siegel sich tatsächlich Sorgen um sie machte oder einfach nur höflich sein wollte. Wie dem auch sei, er hatte etwas gut bei ihr, das stand fest.

Die Tür öffnete sich und Dr. Flüger, der leitende Oberarzt, kam ins Zimmer. »Guten Morgen, Frau Schröder! Wie fühlen Sie sich?« Hinter ihm folgte eine Krankenschwester und räumte das benutzte Frühstücksgeschirr ab.

»Guten Morgen.« Lucia wandte sich ihm zu und setzte aus Gewohnheit ein strahlendes Lächeln auf. »Ganz gut. Eigentlich wie immer«, antwortete sie automatisch, ohne darüber nachzudenken.

Dr. Flüger blieb vor ihrem Bett stehen und studierte mit konzentriertem Blick ihre Patientenakte. Er war ein mittelgroßer Mann von schlanker Statur, fast schon drahtig, und etwa zehn Jahre älter als sie, schätzte Lucia. Auf seinem Nasenrücken saß eine runde Brille, die ihm ein intellektuelles Aussehen verlieh. »So, nachdem wir Sie gründlich untersucht haben, sind nun die Befunde da. Alles deutet auf einen Schwächeanfall hin.«

»Ein Schwächeanfall?« Lucia schüttelte den Kopf. »Ich dachte, so was bekommen nur sehr alte Menschen.«

»Leider nicht. Haben Sie sich vielleicht in letzter Zeit abgekämpft gefühlt?«

Lucia nickte. »Ich … Ich habe mich vor allem überarbeitet gefühlt«, antwortete sie. »Die letzten Wochen und Monate waren extrem stressig im Job. Lange Arbeitstage und wenig Schlaf. Ich dachte, ich könnte das alles trotzdem bewältigen.«

»Das ist genau das Problem. Ihr Körper ist keine Maschine«, sagte Dr. Flüger in verständnisvollem Ton. »Sie haben sich über Ihre Grenzen hinaus belastet und dabei die deutlichen Signale Ihres Körpers ignoriert.«

Wieder nickte Lucia. »Da kann ich Ihnen nicht widersprechen. Haben Sie einen Rat für mich, was ich nun tun soll? Ich habe mit dem Gedanken gespielt, mich in einem Fitnessstudio anzumelden, um einen sportlichen Ausgleich zur Arbeit zu haben.«

Dr. Flüger trat näher und sah sie ernst an. »Sport ist sicherlich wichtig und kann vor vielen Krankheiten schützen, aber körperliche Belastung ist manchmal auch ein Stressfaktor. In Ihrem Fall jedoch rate ich dringend zu einer Auszeit mit leichter Bewegung. Fernab von Ihrem beruflichen Trubel. Gehen Sie an der frischen Luft spazieren, ohne sich weiter zu strapazieren.«

Die Worte des Arztes hallten in ihr wider. »Eine Auszeit …« Sie hatte bisher nie wirklich darüber nachgedacht, sich eine längere Pause zu gönnen. Andauernd war der Druck da gewesen, immer weiterzumachen, immer die nächste Promi-Geschichte zu verfolgen und vor allem immer die Erste zu sein, die die Nachrichten exklusiv brachte. Aber es stimmte. Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich erschöpft und ausgebrannt. »Wo soll ich denn hin?«, fragte sie tonlos.

»Gehen Sie irgendwohin, wo die Welt noch in Ordnung für Sie ist und Sie einfach mal abschalten können.«

»Da fallen mir nur meine Eltern ein.«

Dr. Flüger lächelte. »Das klingt doch gut. Ihre Eltern könnten Sie dabei unterstützen, sich zu erholen und wieder zu Kräften zu kommen«, meinte er. »Es wäre auch von großer Wichtigkeit, dass Sie sich in der Zeit nicht allein fühlen und es Ansprechpartner gibt.«

Lucia dachte an ihr Elternhaus, das am nordwestlichen Rand Berlins lag, an die ruhige und beschauliche Umgebung, die einer heilen Welt recht nahe kam. Die Vorstellung, für eine Weile bei ihren Eltern unterzuschlüpfen, fühlte sich sowohl beruhigend als auch beängstigend an. »Ja, vielleicht wäre das eine gute Idee. Meine Eltern wollten mich eh gleich besuchen«, stimmte sie zu, obwohl ein Teil in ihr sich gegen diese Idee sträubte.

Der Gedanke daran, sich aus der Welt der Promis und des Glamours zurückzuziehen, behagte ihr nicht. Es fühlte sich wie ein Rückschritt an. Sie wusste, wie schnelllebig die Branche war, wie schnell Moderatorinnen von hübscheren und jüngeren Frauen ersetzt wurden.

Bevor sie noch etwas sagen konnte, nickte Dr. Flüger ihr zu. »Gut, ich lasse Ihre Entlassungspapiere vorbereiten. Die weitere Behandlung übernimmt dann Ihr Hausarzt.« Er lächelte sie ermutigend an. »Denken Sie daran, dass es in Ordnung ist, sich etwas Ruhe zu gönnen. Es ist wichtig, auf sich selbst zu achten.«

Nachdem der Arzt den Raum verlassen hatte, sank Lucia zurück ins Bett und schloss die Augen. Was würde dieser Schritt für ihre Karriere bedeuten? Es war schon schlimm genug, dass der Sender von ihrem Zusammenbruch wusste. War dies der Anfang vom Ende? Würde sie dadurch den Anschluss in der Medienwelt verlieren?

Autor