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Nach oben sinken

hier erhältlich:

»Es ist kein Unglück, hier geboren zu sein. Ein besonderes Glück ist es aber auch nicht.«

Dieser Roman erzählt von einem fantasievollen Jugendlichen, der an der rohen Enge der katholischen Dorfwelt der 1970er und 1980er Jahre leidet und gegen eine unnahbare Erwachsenenwelt ankämpft, die vor lauter Schweigen die Worte vergessen hat. Immer mehr zieht sich der Junge, der nach Nähe und Zuneigung sucht, in die Welt seiner Fantasie zurück und wird zum Außenseiter im Dorf. Als er zufällig entdeckt, dass er einen Onkel hat, der vor Jahrzehnten spurlos verschwunden ist, ist er überzeugt, in diesem seinen einzig wahren Verwandten gefunden zu haben. Bei seinen Nachforschungen allerdings rennt er erneut gegen eine Mauer des Schweigens an.


  • Erscheinungstag: 22.08.2023
  • Seitenanzahl: 220
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312012886
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

für Meret und Ruben

»Es ging mir wie denen, die sich auf die Reise begeben, um mit eignen Augen eine Stadt ihrer Sehnsucht zu schauen, und sich einbilden, man könne der Wirklichkeit den Zauber abgewinnen, den die Phantasie uns gewährt.«

Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Eins

Es ist kein Unglück, im Wallis geboren zu sein.

Ein besonderes Glück ist es aber auch nicht.

Vor allem dann nicht, wenn man in einem Weiler gezeugt wurde, der Hexenplatz heisst und an den Galgenwald grenzt. In einem schummrigen kleinen Zimmer mit knarrendem Parkett, in welchem ein altes Eisenbett stand, unter dem der alte Lederkoffer mit dem Familien- und Bankbüchlein, der Bibel und ein paar Kleidern zur Flucht bereitlag.

»Nach dem Sirenensignal haben wir fünf Minuten Zeit«, schärfte Vater uns ein. »Dann wird die Schlammlawine alles unter sich begraben.«

Als Kind hatte Vater mit eigenen Augen gesehen, wie der tosende Illbach die Pfynwaldbrücke genau in jenem Augenblick aus ihrer Verankerung gerissen und zerschmettert hatte, als das Maultier von Roman Vonschallen auf der Brücke bockte. In wenigen Sekunden seien der arme Roman, das dumme Maultier und der voll beladene Heuwagen vom breiigen Schlamm, der gewaltige Steinblöcke und Baumstämme mit sich führte, verschluckt worden.

Grossmutter wusste, weshalb der Illbach immer wieder zu einer ungeheuren Schlammlawine aufschwoll. Die Ursache führe zurück in die Tage der Erschaffung der Welt. Damals habe Gott eine ganze Legion ungehorsamer Engel in Teufel verwandelt und sie auf ewige Zeiten ins dunkle Fanoischi, an die Quelle des Illbachs, verbannt. In diesem kraterähnlichen, von schroffen Bergflanken und losen Geröllhalden umrahmten Felsenkessel, wo alle Wege endeten, treibe die Höllenbande seither ihr Unwesen. In ihrer Wut auf den Allmächtigen bringe sie das Erdreich zum Erzittern, löse Felsabbrüche und Steinschläge aus und pflüge die Landschaft um. Wenn die Ill vor Raserei koche, schwelle ihr Wasser zu einer monströsen Flutwelle an, die schreckliche Verwüstungen anrichte.

Ohne Zweifel befand sich der Eingang zur Hölle im wilden Fanoischi. Fast täglich betete ich ein Vaterunser, dass die Ill nicht über die Ufer trete und meine Familie unter sich begrabe. Die Murgang-Barrieren, die den Geisterbach sicherten, konnten mich nicht beruhigen. Wer die Wucht der Schlammlawine einmal gesehen hat, der wird keinem menschlichen Damm und keinem Alarmsystem mehr vertrauen. Auch mein Vater konnte das nicht und bestand auf einem jährlichen Probealarm, bei dem die ganze Familie mitmachen musste.

»Die Ill! Sie kommt!«, schrie Vater, wenn er, meistens mitten in der Nacht, ins Kinderzimmer stürmte. Schlaftrunken rollten meine zwei älteren Brüder und ich aus unseren Betten, stürzten uns in die Kleider und rannten kurz darauf aus unserer kleinen Mietwohnung hinunter auf die Strasse, wo Vater, mit dem alten Lederkoffer in der einen und der Stoppuhr in der anderen Hand, uns bereits erwartete.

»Zur Rottenbrücke«, feuerte er uns an, »hopp!«

So schnell wir konnten, rannten wir zu der knapp dreihundert Meter entfernten Brücke, wo sich die Strasse serpentinenartig durch steinige Rebhänge in das alte Städtchen Leuk hinaufschlängelte. An der Spitze meine zwei älteren Brüder, die zu den Sportkanonen der Schule zählten. Philipp mit dem Lederfussball unter dem Arm, Daniel mit zwei Paar abgetragenen Stollenschuhen in der Hand. Ein paar Schritte dahinter ich, den kleinen Stoffrucksack auf dem Rücken, in dem der erste Winnetou-Band von Karl May steckte. Dicht neben mir mein Vater, der mich, den Sportmuffel der Familie, so lautstark anfeuerte, dass entlang unseres Fluchtweges in zahlreichen Häusern die Lichter angingen. Knapp hinter uns folgte meine Mutter, die mit der einen Hand meine kleine Schwester Gabriela hinter sich herzog und mit der anderen fest den Griff jenes kleinen Koffers umklammerte, in dem das Silberbesteck aus der zusammengeschmolzenen Donazzolo-Erbschaft steckte.

Auf dem nur schwach beleuchteten Trottoir zischten wir am Einrahmungsatelier des ewigen Junggesellen Hermann Seewer vorbei, der, so hatte ich in einem Erwachsenengespräch aufgeschnappt, nur deshalb noch lebte, weil der Föhrenast, an dem er sich vor Liebeskummer hatte aufhängen wollen, unter seinem Gewicht abgebrochen war. Ein häufiger Augenzeuge unserer Trockenübungen war der Tüftler Leo Schiffmann, der öfters die Nächte durcharbeitete und jedes Mal in verächtliches Lachen ausbrach, wenn er uns an seiner Peugeot-Werkstatt vorbeirennen sah. Andere Anwohner unseres Fluchtweges öffneten wütend ihre Fenster und schleuderten meinem Vater Fluchworte entgegen.

»Was fär äs hüöru Nooluvolch!« 1 , schrie der alte Jules Andenmatten, als er uns einen Blumentopf nachschleuderte, der meine Mutter nur knapp verfehlte. Obwohl wir jenseits der Rottenbrücke kaum mehr in Gefahr waren, bestand Vater darauf, unsere Flucht über den steilen Kirzleten-Fussweg fortzusetzen bis zu der auf halber Hanghöhe zwischen Susten und Leuk gelegenen Ringackerkapelle.

»Dort sind wir in Sicherheit«, erklärte er, »von dort aus haben wir nicht nur den Illgraben, sondern im Falle einer grösseren Katastrophe den ganzen Leukergrund im Visier.«

Der Blick vom Ringacker auf die von gewaltigen Bergkolossen eingerahmte Talebene, deren Lebensader aus dem schiefergrauen Wasser des Rottens bestand, war der Blick auf meine Kindheitswelt. Im Osten reichte sie bis weit ins Oberwallis hinein, im Westen jedoch nur bis an den steilen Abgrund des Illgrabens, an dessen jenseitigem Ufer der verrufene Pfynwald begann. Dieser dehnte sich über den ganzen Talgrund bis nach Salgesch und Siders aus und war – so sagten die Erwachsenen – unser Schutzwall vor dem französischsprachigen Unterwallis, wo die arbeitsscheuen und angeberischen Welschen lebten.

»Gut gemacht!«, keuchte Vater und rang nach Luft, wenn er nach unserer Ankunft auf dem Ringacker seine Stoppuhr kontrollierte und das Ergebnis mit dem kleinen Bleistift in das rote Büchlein eintrug, das seinen festen Platz in unserem Fluchtkoffer hatte. Meine Geschwister und ich strahlten um die Wette, wenn er seinen Kopf erhob und mit leuchtenden Augen verkündete: »Neue Bestzeit!«

Neue Bestzeit bedeutete eine grosse Portion Meringue mit Rahm, die uns Mutter am darauffolgenden Sonntag zum Dessert servierte.

Als Bub fand ich unseren jährlichen Probealarm abenteuerlich. Als Jugendlicher war er mir peinlich. Unzählige Male versuchten meine Geschwister und ich, unseren Vater zu überzeugen, dass der mit mehreren Talsperren gesicherte Illgraben keine Gefahr mehr darstelle. Doch Vater blieb stur und bestand auf dem Probealarm, selbst dann noch, als wir in der Schule ausgelacht wurden und als Karikatur auf der Titelseite der Leuker Fasnachtszeitung landeten. Sie zeigte, wie wir mit dümmlichen Gesichtern und einem Nachttopf in der Hand über die Rottenbrücke rannten. Meine Mutter war entsetzt und liess sich zwei Wochen lang nicht mehr im Dorf blicken. Vater jedoch lächelte und meinte, was einen nicht umbringe, mache einen nur stärker.

Es war ein berührender Moment, als ich über vierzig Jahre später im Nachlass meines Vaters die alte Fasnachtszeitung und das Büchlein mit den gestoppten Zeiten wiederfand. Dabei entdeckte ich, dass uns Vater nicht immer die Wahrheit gesagt hatte. Mir war, so sagte meine Erinnerung, dass wir viel öfter Meringue mit Rahm gegessen, als dass wir eine neue Bestzeit aufgestellt hätten. Meine zweite, sehr viel aufwühlendere Entdeckung war das Wort, das im Titelfeld des kleinen roten Büchleins stand.

Flüchten

Plötzlich und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich in unserer jährlichen Flucht auf den Ringacker ein Sinnbild für mein Leben.

Zwei

Onkel Karl brach den neugeborenen Kätzchen das Genick. Tante Marlene löffelte kranken Kühen Schnapskaffee ein. Pfarrer Borter verbot uns die »nackten Heftchen« vom Bahnhofskiosk. Und der betrunkene Tschingeru-Vitus torkelte mindestens zweimal in der Woche durch das Dorf und krakeelte: »Hunde, wollt ihr ewig leben?«

Die Erwachsenen waren mir ein Rätsel. Sie machten ernste Gesichter und sprachen wenig. Wenn sie miteinander redeten, sprachen sie von den Rabattaktionen im Konsum, vom Fernsehprogramm oder den Fussballresultaten. Sie zählten auf, wer an welcher Krankheit gestorben war und wer eine gute Partie gemacht hatte. Wer ein uneheliches Kind geboren oder wer ein zweites Auto gekauft hatte. Wenn alle Themen erschöpft waren, kam das Wetter dran, und dann begann alles wieder von vorn.

Irgendetwas stimmte nicht mit den Grossen. Waren sie immer so? Spielten sie Theater? Oder verbargen ein Geheimnis vor uns Kindern? Ich wurde nicht schlau aus ihnen. Auch aus meinen Eltern nicht.

Mein Vater stammte aus Erschmatt, einem ebenso ärmlichen wie rauen Dorf in den Leuker Bergen, von dem die Nachbardörfer sagten, dass es nur rabiate Geistliche oder hinterhältige Schurken hervorbringe. Von meinen Vorfahren wusste ich nur wenig. Die Hauptbeschäftigung meines Urgrossvaters Moritz, hiess es in Erschmatt, sei »trichu und z’Grund gah« 2 gewesen. Im Jahr 1908 war er auf der Suche nach Arbeit vom Bergdorf in den Talgrund gezogen und hatte im Weiler Gampinen, unweit von Leuk-Susten, eine kärgliche Existenz als Kleinbauer und Fuhrmann geführt. Alles, was ich über ihn wusste, waren die Umstände seines Todes. Dieser ereilte ihn beim Mörderstein, mitten im Pfynwald. Auf einem Gütertransport nach Siders beendete ein Herzschlag sein Leben. Mein Urgrossvater lag tot auf dem Kutschbock, und sein Gaul stand reglos auf der Schotterstrasse, als der Geisshirt Kamil Imseng des Weges kam.

Von seinem Sohn Alois, meinem ebenfalls früh verstorbenen Grossvater, wusste ich kaum mehr. Als Strassenwischer habe er im Dienst des Kantons Wallis gestanden, sagte Vater knapp, was mir grossen Eindruck machte. Allerdings nur so lange, bis ich im Hotel Susten Josef Brunner und seine Stammtischkumpanen belauschte. Diese erzählten, dass Grossvater einer Operation wegen ins Spital musste und trotz mehrerer Spritzen nicht in den Narkoseschlaf versetzt werden konnte. Also riefen die Ärzte seine Frau Frieda an und schilderten ihr die Situation. Grossmutter habe erst nur gelacht und den Ärzten dann gesagt, es gebe eine absolut sichere Methode, ihren Mann in Tiefschlaf zu versetzen. »Gebt ihm einen Besen oder eine Schaufel in die Hand, dann schläft er unverzüglich ein, und ihr könnt operieren.«

Auch Vater redete nicht viel. Er war ein bescheidener und sanftmütiger Mensch, der kaum je seine Stimme erhob. Ich hatte keine Ahnung, was in seinem Innern vorging, und empfand eine grosse Scheu, ihn danach zu fragen. Als Jugendlicher bedauerte ich das sehr, denn früh schon wollte ich wissen, was er in seiner Kindheit und Jugend erlebt hatte. Lange dachte ich, dass die Vergangenheit keine besondere Bedeutung für ihn haben könne. Erst als Erwachsener wurde mir klar, dass er in der Gewalt eines mächtigen Schweigens stand, das stärker war als er.

Weil auch Mutter nicht viel sagte, war ich bald einmal überzeugt davon, dass die Erwachsenen Worte sparten. Offensichtlich war es so, dass jeder Mensch ein Sprechkonto hatte, von dem jedes einzelne Wort, das ihm über die Lippen kam, abgezogen wurde. Sank der Wortkredit auf null, so war ihm das endgültige Verstummen sicher wie das Amen in der Kirche. Etwas aber irritierte mich. Warum geizte Grossmutter nicht mit ihren Worten? Wie konnte sie mit langen Geschichten und witzigen Anekdoten nur so um sich werfen? Im Alter von siebzig Jahren! Entweder hatte Maya, deren Haus nur knapp zweihundert Meter von unserer Mietwohnung entfernt lag, unzählige Nachkredite bezogen, oder aber – und davon ging ich aus – sie war eine Ausnahme.

Ich werde nie vergessen, wie mich Grossmutter, als ich in der dritten Klasse an Mumps erkrankte, mit ihren Geschichten gesund erzählte. Eine Woche lang sass sie jeden Nachmittag an meinem Krankenbett und verabreichte mir Geschichten. Ein besonderer Leckerbissen war die Geschichte der frommen Leuker Pfarrhaushälterin Anna Grand. Das zerbrechliche Fräulein, das den Abstinentenverein Leuk gegründet hatte, habe ständig ein Fläschchen Weihwasser bei sich getragen, mit dem es ungefragt all jene besprengte, die ihre Nase allzu tief ins Weinglas steckten. Twanette Beck, die grösste Trinkerin des Oberwallis, liebte Annas Segnungen, die jedes Mal von Neuem ihre blasphemische Zunge reizten. An dieser Stelle ihrer Erzählung erhob sich Grossmutter von ihrem Stuhl und zerzauste ihr Haar. Dann verdrehte sie die Augen und torkelte mit Twanettes Lied auf den Lippen um mein Bett herum:

Grad aus der Wirtschaft komme ich heraus,

Strasse, wie wunderlich siehst du mir aus.

Rechter Hand, linker Hand – alles hier wankt,

auch unsre Kirche, ei, wie sie schwankt!

Auch Twanettes Mann Stanislaus habe gern getrunken, mit seiner Frau aber nicht mithalten können, fuhr Maya fort und setzte sich wieder an mein Bett. Einmal seien die beiden heftig streitend aus dem Café Billard gekommen und über den steil ansteigenden Dorfplatz von Leuk zum Hotel Krone hochgelaufen.

»Ich weiss wirklich nicht mehr«, habe sich Stanislaus dabei bei seiner Frau beklagt, »warum ich dich geheiratet habe. Manchmal wünsch ich mir, ich wäre schon im Paradies!«

»Und ich wünschte mir, ich wäre schon in der Krone!«, entgegnete Twanette schlagfertig.

»Du willst auch immer am besseren Ort sein«, murrte Stanislaus.

Kranksein war die schönste Sache der Welt. Wie Wasser aus einer Heilquelle sprudelten Nachmittag für Nachmittag Geschichten aus Mayas Mund. Menschen, die nicht nur tot waren, sondern deren Gräber längst nicht mehr existierten, holte sie mit ihren Worten ins Leben zurück. Mit glühenden Ohren hörte ich zu, wenn Grossmutter die Geschichte der »Hasler-Tampa« 3 erzählte.

An einem heissen Sommertag im Jahr 1930 hütete die Frau auf einer Pfynwaldmatte die Schafe. Wie so oft gönnte sie sich in der Mitte des Nachmittags ein Nickerchen auf einem Heuhaufen. Kaum war sie eingeschlafen, schlich sich eine Gruppe junger Männer heran und zündete den Heuhaufen an. Aus dem geplanten Streich wurde Ernst. Innerhalb kürzester Zeit ging das Heu in Flammen auf, und die Haslerin verbrannte bei lebendigem Leib. Für die jungen Männer habe der Vorfall keinerlei Konsequenzen gehabt, entsetzte sich Grossmutter. Das Ganze wurde als unglückseliger Unfall angesehen. Es sei nur die »Hasler-Tampa« gewesen, hiess es im Dorf.

Die Lebensgeschichte unseres Sakristans Johann Schaller beflügelte meine Fantasie. Als junger Mann war dieser erst durch die Welt gezogen und schliesslich, weil er kein Geld mehr hatte, in die französische Fremdenlegion eingetreten. Im Zweiten Weltkrieg kam er als Trompeter nach Afrika und geriet in deutsche Gefangenschaft. Hundertmal habe Schallers Leben an einem seidenen Faden gehangen, und hundertmal habe er dem lieben Gott versprochen, ein frommer Katholik zu werden, wenn er ihn den Krieg überleben lasse.

Niemals hätte ich mir vorstellen können, dass der fromme Herr Schaller in seinen jungen Jahren ein derart abenteuerliches Leben geführt hatte. Wie war es möglich, dass sich der mutige Fremdenlegionär nach seiner Rückkehr ins Wallis in einen biederen Versicherungsvertreter und Sakristan verwandelt hatte, der kaum ein Wort sprach und nie lachte? Darauf konnte es nur eine Antwort geben: Wer ein spannendes Leben suchte, musste das Wallis verlassen.

An meinem Krankenbett erzählte mir Grossmutter auch zum ersten Mal die Geschichte meiner Geburt. Von Anfang an sei dabei alles schiefgegangen. Als bei Mutter die Wehen einsetzten, rannte Vater im Tempo unserer Illgraben-Fluchtübungen zum kleinen Gemischtwarenladen von Frau Lötscher, die einen Telefonapparat hatte. Weil Dorfhebamme Hermine Locher, die Mutter ins Spital fahren sollte, nicht zu erreichen war, geriet Vater in Panik. Die alte Frau Lötscher aber bewahrte Ruhe und rief Tierarzt Robert Eggo an, der als Einziger vom Hexenplatz ein Auto besass.

Knapp zehn Minuten später bettete Grossmutter meine stöhnende Mutter auf den Rücksitz von Tierarzt Eggos rotem Audi Kombi, in dem es bestialisch nach Stall und Kühen stank. Vater setzte sich auf den Beifahrersitz und war verwundert, wie gemächlich der Tierarzt die Sache anging. Ob sie sich denn nicht beeilen müssten, fragte Vater scheu.

»Es ist noch kein Kalb dringeblieben«, kommentierte der Tierarzt trocken.

Kurz darauf setzte sich der rote Audi in Bewegung. Über die Illgrabenbrücke und die alte Pfynwaldstrasse ging es in Richtung Geburtsklinik nach Siders. Beim Mörderstein gab Mutter erste Schmerzensschreie von sich.

»Ist sie leicht- oder schwerkalbig?«, fragte Tierarzt Eggo.

»Beide Geburten sind sehr anstrengend gewesen«, antwortete Vater besorgt.

»Falls es im Auto schon losgeht«, brummte der Tierarzt, »bin ich gut ausgerüstet. Die Geburtszange für Kälber ist im Kofferraum.«

Grossmutter war die Königin der Geschichten. Sie war ein wortspeiender Vulkan, der der Langeweile des Lebens den Krieg erklärt hatte. Sie kam beim Erzählen vom Hundertsten ins Tausendste, strotzte vor Wortwitz und Schalk und hatte sich eine kindliche Lust am schrulligen Blödsinn bewahrt. Allein schon, wenn ich sie sah, musste ich lächeln. In meiner Kindheit gab es kein Abendgebet, in dem ich den lieben Gott nicht darum bat, Grossmutter nie sterben zu lassen. Auch die Menschen im Dorf liebten Maya. Stets hatte sie Zeit für einen Schwatz und für jede Lebenslage den passenden Scherz.

»Maya, erzähl einen Witz«, riefen ihr die Leute entgegen, wenn sie den kleinen Konsum, die Bäckerei Mathieu oder die Metzgerei Aebi betrat. Grossmutter konnte nie widerstehen und hörte nicht auf zu erzählen, bis den Leuten das Zwerchfell zitterte und Tränen in die Augen schossen. Wenn es im Dorfzentrum hiess »Maya ist in der Bäckerei und erzählt Witze«, liess so manch einer alles stehen und liegen.

Unvergesslich ist mir Grossmutters Auftritt im Konsum von Susten. Weil immer mehr Leute in den Laden drängten, schloss Leiterin Hilda Mathieu die Kasse.

»Heute erzähle ich euch einen ganz neuen Witz«, verkündete Maya und stieg auf eine eiligst herbeigeschaffte Holzkiste.

»Pfarrer Borter darf kein Sterbenswörtchen davon erfahren«, fügte sie mit erhobenem Zeigefinger an.

Im Konsum knisterte es vor Spannung. Ich stand unmittelbar neben Grossmutter, hielt ihre Einkaufstasche in der Hand und beobachtete, wie die dicht gedrängten Zuhörer gebannt auf Maya blickten. Sie wollten keines ihrer Worte, keine ihrer Gesten und auch nicht den geringsten Zug ihres Mienenspiels verpassen.

»Dorfcasanova Jules Matter musste wieder einmal zur Beichte«, fing Maya an. »›Herr Pfarrer‹, stotterte er los, ›ich … ähm … ich habe … meine Frau betrogen und bitte um Absolution.‹

Pfarrer Borter räusperte sich missbilligend. ›Mit wem?‹, wollte er wissen.

›Ich möchte das lieber nicht sagen‹, antwortete Matter.

›Vor einem Beichtvater hat man keine Geheimnisse!‹

›Jawohl, Herr Pfarrer.‹

›War es die Louise von Pletschen?‹, begann Pfarrer Borter sein Verhör.

›Nein.‹

›Die Barbara von der Färbi?‹

›Nein.‹

›Klothilde von der Varengasse?‹

›Auch nicht‹, antwortete Jules Matter und verliess den Beichtstuhl fluchtartig.

Kurz darauf traf er im Restaurant Du Pont seinen Freund Marcel Zumstein.

›Und‹, fragte ihn dieser, ›hast du die Absolution bekommen?‹

›Nein, das nicht.‹ Der Dorfcasanova grinste übers ganze Gesicht. ›Dafür aber drei neue Adressen.‹«

Bei zwei Themen allerdings verstummte auch Grossmutter schnell. Wann immer ich sie nach ihrem Vater Felix Donazzolo fragte oder wissen wollte, wie es gekommen war, dass er all sein Geld verloren hatte, antwortete sie stets mit dem ewig gleichen Satz, den ich nicht verstand. »Mein Vater hat den Louis XIV. gespielt, bis er den Boden seiner Schatulle gesehen hat.«

Das zweite Minenfeld betraf ihren Mann Viktor, meinen früh verstorbenen Grossvater, den ich nicht gekannt hatte. Seltsamerweise tauchte er in ihren Geschichten nie auf, und wenn ich mich nach ihm erkundigte, kam stets derselbe Spruch aus ihrem Mund: »Ist der Mann aus dem Haus, sieht der Tag schnell besser aus!«

So war es immer. Wenn ihr die Fragen zu persönlich wurden, wich Maya aus und liess die Pointen knallen. Die Familie und die ganze Region dankten es ihr und liebten sie dafür.

Da war aber noch etwas anderes, das mich verwunderte und neugierig machte. Offenbar gab es gewisse Geschichten, die Grossmutter nur den Erwachsenen erzählte. Ich kam darauf, weil wir Kinder immer dann, wenn sich die Erwachsenen mit erwartungsvollen Blicken um ihren Küchentisch versammelten, zum Spielen in das kleine Wäldchen vor dem Haus geschickt wurden. Mehr als einmal horchte ich unter dem geöffneten Küchenfenster, wenn Maya den Erwachsenen von ihren neuesten Liebesabenteuern mit Adolf Inderkummen und Leo Matter berichtete, die sie beide heimlich besuchten. Der wortkarge Adolf sei ein feuriger Panther, der immer sogleich ins Bett springen wolle, führte Maya vergnügt aus. Leo Matter hingegen liebe die zärtliche Romantik und sei ein anhänglicher Schmusekater, der ganz genau wisse, wie man Frauen verwöhne. Ich begriff nicht, was Maya damit meinte, und konnte auch nicht nachvollziehen, warum die Erwachsenen hemmungslos johlten und kreischten, als Maya die – wie sie verschmitzt bemerkte – gespitzten Bleistifte der beiden Herren miteinander verglich. Das Einzige, das ich klar verstand, war Mayas Plan, mit Leo Matter bald schon in die »Reitferien« zu fahren – mit dem Adolf gehe das ja nicht, der sei mittlerweile so geizig, dass er, um das Opfergeld zu sparen, die Messe nur noch im Fernsehen schaue.

Leo Matter hätte ich gern zum Grossvater gehabt. Unzählige Male sassen meine Brüder und ich auf dem Kutschbock neben dem weisshaarigen Fuhrmann, der mit dem klapprigen Holzanhänger den Abfall und mit dem vornehmen schwarzen Leichenwagen die Verstorbenen des Dorfes abholte. Als ich Leo Matter auf einer dieser Abfallfahrten »schöne Reitferien« mit Grossmutter wünschte, blickte er mich erst fragend an und lächelte dann amüsiert vor sich hin. Bei der nächsten Gelegenheit soll er sich bei Maya erkundigt haben, ob sie die Reithosen schon eingepackt habe. Grossmutter sei hochrot angelaufen und vielleicht zum ersten Mal überhaupt sprachlos gewesen. Erst als meine Mutter mir sagte, ich dürfe doch nicht alles glauben, was Grossmutter erzählte, begann ich zu begreifen, dass Maya die Geschichte erfunden hatte.

Von diesem Tag an war mir klar, dass es Grossmutter mit der Wahrheit nicht so genau nahm. Ihre Geschichten, so wurde mir zunehmend klar, hatten öfters verschiedene Enden. Keine wurde zweimal auf die gleiche Weise erzählt. Ein gespannter Erzählfaden und die geglückte Pointe waren ihr wichtiger als die Wahrheit. Mark Twains Satz, dass die Wahrheit unser kostbarster Besitz ist und wir deshalb sparsam mit ihr umgehen sollten, wäre ganz in ihrem Sinn gewesen.

Drei

Als Kind stand ich oft allein am Fenster und fragte mich: Wo ist das Leben? Sehnsuchtsvoll starrte ich auf den ungestüm dahinfliessenden Rotten. Als Sturzbach erblickte er am Rhonegletscher das Licht der Welt und wuchs im Oberwallis zu einem reissenden Bergfluss an. Im Pfynwald passierte er die Sprachgrenze ins Unterwallis und erreichte in Le Bouveret unter seinem französischen Namen Rhone den Genfersee. Diesen verliess er in Genf wieder, durchquerte den französischen Süden und mündete als kräftiger Strom ins Mittelmeer. Ein Fluss müsste man sein, dachte ich mir. Als übermütige Quelle einem Gletscher entspringen, und als reifer Strom nach einer langen Reise in das grosse Meer münden.

Von Fernweh gepackt, sass ich stundenlang auf der steinernen Aussentreppe des Mietshauses am Hexenplatz und zählte die Autos, die direkt vor unserem Haus über die Kantonsstrasse rasten. Dabei stellte ich mir vor, wie aufregend es wäre, zu fremden Leuten ins Auto zu steigen und in einem Peugeot, einem Citroën oder gar einem Mercedes in die weite Welt zu fahren. In Rom, Paris oder London musste das Leben interessanter sein und die Erwachsenen viel gesprächiger. Wie ereignislos war es hingegen in diesem Wallis, in dem Bergkolosse jedem Blick in die Weite den Riegel vorschoben.

In der dritten Klasse war ich überzeugt davon, dass ich etwas gegen das Schweigen und die kaum erträgliche Langeweile der Erwachsenen unternehmen musste. Vielleicht, so sagte ich mir, war es ja meine Bestimmung, sie zum Sprechen zu bringen. Beginnen wollte ich mit Tante Marlene. Obwohl jeder wusste, dass sie sehr darunter litt, keinen Mann gefunden zu haben, sprach sie keiner auf ihren Kummer an. Also fragte ich sie bei einem unserer Verwandtschaftsessen, ob ich ihr helfen solle, einen Mann zu finden. Tante Marlene, die den Autorennfahrer Jo Siffert und den Boxer Muhammad Ali verehrte, zuckte zusammen und liess ihre Gabel auf den Tellerrand fallen. Halb neugierig und halb besorgt schaute die gesamte Tischrunde auf Marlene. Die starrte in den Kartoffelstock auf ihrem Teller, bevor sie in Tränen ausbrach. Ich hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, und verstand auch den Blick nicht, den Mutter mir plötzlich zuwarf.

»Du musst zum heiligen Antonius beten«, versuchte ich meiner Tante Hoffnung zu machen. »Er hilft immer!«

Wieder sagte niemand ein Wort. Onkel Kurt und Onkel Beat pressten die Lippen zusammen, während Mutter besorgt zu ihrer Schwester schaute. Marlene schluchzte und wimmerte, erhob sich dann von ihrem Platz und verliess die Stube. Kurz darauf stand auch Mutter auf und kam mit einem Gesichtsausdruck, der nichts Gutes verhiess, auf mich zu.

»Wie kannst du so was fragen?«, schimpfte sie und führte mich in mein Zimmer. Hier brach auch ich in Tränen aus und fragte mich, was das für eine seltsame Familie war, in der man nicht einmal eine Frage stellen durfte.

Wäre Grossmutter nicht gewesen, hätte ich bestimmt früher schon an Flucht gedacht. Am allerliebsten wäre ich in die Vergangenheit abgehauen. Aus Mayas Geschichten wusste ich, dass das Leben früher viel spannender und lustiger gewesen war. Im Vergleich dazu war mein Alltag, der aus langweiligen Schulstunden, Bergen von Aufgaben und endlos langen Messen bestand, eine Galeerenstrafe.

»Froh erfülle Deine Pflicht« war mit rotem Faden in die weisse Spitzendecke gestickt, die unter dem Kruzifix auf der Kommode unserer Stube lag. Und meine Pflicht bestand darin, recht zu tun, nicht aufzufallen, dem Pfarrer und den Lehrern zu gehorchen.

Von grösster Wichtigkeit war unsere Frömmigkeit. Kam Pfarrer Borter zum Sonntagsbraten, breitete Mutter das weisse Tischtuch über den Esstisch aus und holte das Donazzolo-Silberbesteck aus dem Wohnzimmerbuffet. Weil sie mit anderen Frauen im Dorf im ewigen Wettstreit um die Anerkennung des Herrn Pfarrer lag, schickte sie uns in alle möglichen Andachten und Prozessionen. Zum Kreuzweg und in die Maiandacht, in die Herz-Jesu-Messe und zum Rosenkranz. Selbst aber besuchten sie, Vater und auch viele Verwandte die Messe am liebsten im Nachbardorf Agarn. Der Grund war offensichtlich: Pfarrer Clavien war der Oberwalliser Rekordhalter in Sachen Messdauer. Für einen Sonntagsgottesdienst inklusive Predigt brauchte er nur fünfunddreissig Minuten.

»So schnell war noch keiner«, schwärmte Vater.

»Doppelt so schnell wie unser Pfarrer«, jubelte Tante Irma.

Zum ersten Mal an Flucht dachte ich in der vierten Klasse. Der Auslöser war eine Bemerkung von Vater. Als ich auf Onkel Kurts Frage, was ich einmal werden wolle, begeistert anführte, »ein berühmter Archäologe, der grosse Entdeckungen macht«, bemerkte Vater, ich hätte den Kopf allzu hoch in den Wolken.

»Das Leben wird ihn schon noch erden«, fügte Onkel Kurt spöttisch an.

In diesem Augenblick hasste ich die Erwachsenen. Wie konnten sie so abfällig über meine Träume reden? Hatten sie keine oder sie längst schon aufgegeben? Wohl kaum, denn öfter schon hatte ich beobachtet, wie die Sehnsucht nach einem anderen Leben auch in ihren Gesichtern schlummerte. Nie leuchteten die Augen meiner Eltern mehr als bei den Unterhaltungsshows im Fernsehen. Genauso gewohnheitsmässig, wie sie in die Kirche pilgerten, sassen sie am Samstagabend vor dem Fernseher, um mitzuerleben, wie Kurt Felix, Hans-Joachim Kuhlenkampff oder Rudi Carrell die Träume von einfachen Menschen erfüllten, die unsere Nachbarn hätten sein können. Als ich meine Eltern fragte, ob sie sich nicht für einen Auftritt bei »Einer wird gewinnen« oder »Teleboy« bewerben wollten, starrten sie mich verstört an.

»Wir doch nicht!«, entsetzte sich Mutter, während Vater mich seltsam fremdartig anschaute. Selbst in ihren Träumen waren die Eltern genügsam und bescheiden. Vater setzte all seine Hoffnungen aufs Zahlenlotto, und Mutter entfloh in die Welt ihrer Schlagermelodien. Wenn sie beim Konfitüremachen, Bügeln oder Kartoffelschälen eine ihrer Kassetten in den kleinen Rekorder einlegte, dauerte es nie lange, bis sie mitzusingen und alles um sich herum zu vergessen begann.

Wie alle Mädchen in Piräus

So stehe ich Abend für Abend hier am Kai

Und warte auf die fremden Schiffe

Aus Hongkong, aus Java, aus Chile und Schanghai.

Ein Schiff wird kommen und meinen Traum erfüllen

Und meine Sehnsucht stillen, die Sehnsucht mancher Nacht.

»Ein Schiff wird kommen« war nur einer von vielen Schlagertexten, mit denen Mutter sich vor meinen Augen in einen anderen Menschen verwandelte. Wenn dies geschah, unterbrach ich meine Hausaufgaben, schielte vom Küchentisch hoch und bewunderte sie, die in melodischen Reimen von Dingen sang, die in ihrem wirklichen Leben nie über ihre Zunge kamen.

Vier

Lisür war der schlimmste aller Pfynwaldräuber. Er hatte Muskeln aus Stahl und trug sieben scharfe Dolche im Gürtel. Sein Gesicht, erzählte Grossmutter, war eine narbenübersäte Fratze und seine Hände so gross wie Bratpfannen. In einem schwarzen Mantel und hoch zu Ross tauchte der Hüne urplötzlich aus dem Dickicht auf, überfiel Kutschen und Fuhrwerke und brachte seine Gefangenen brutal um. Seine Beute versteckte er in verborgenen Höhlen im Fanoischi und am Fusse des Corwetsch. Edelsteine, Gold- und Silbermünzen, wertvolle Stoffe aus aller Welt und Waffen jeglicher Art häufte der Brigant an.

Sein Schicksal ereilte Lisür, als er sich in eine junge Frau aus Salgesch verliebte und ihm deshalb, so lachte Maya vergnügt, das Hirn in die Hose rutschte. Er wurde unvorsichtig und tappte in einen Hinterhalt. Fünfundzwanzig Soldaten waren nötig, den Räuber in Ketten zu legen. Seine Enthauptung war ein nie gesehenes Massenspektakel, zu dem das halbe Oberwallis zusammenströmte. Eine Frage aber, schloss Maya ihre Erzählung, sei bis heute offen: Weil Lisür die genauen Standorte der erbeuteten Schätze selbst unter der Folter nicht preisgegeben habe, seien seine Beutelager unauffindbar geblieben. Bis zum heutigen Tag sei es niemandem gelungen, die Räuberhöhlen zu finden.

Grossmutters letzter Satz hallte lange in mir nach. Erst war es nur ein kühner Traum, dann aber, als ich im Walliser Boten einen Artikel über Heinrich Schliemanns Entdeckung der sagenumwobenen antiken Stadt Troja las, wollte ich Schatzsucher werden und nach Lisürs unentdeckten Höhlen suchen. Gute Vorbereitung, so lernte ich von Schliemann, war der wichtigste Schlüssel zum Erfolg. Deshalb fertigte ich in der Schule insgeheim eine Skizze des Pfynwalds an, zeichnete den Weg zur Corwetschflanke ein und überschrieb meinen Plan mit »Lisürs Schatz«.

An einem schulfreien Mittwochnachmittag schritt ich zur Tat. Heimlich packte ich eine Trinkflasche, zwei Äpfel und mein Taschenmesser in den Rucksack, stibitzte aus Vaters Werkstatt die alte Armeetaschenlampe und machte mich auf den Weg. Ich hatte niemandem etwas gesagt, auch meinen Geschwistern nicht. Knapp unterhalb vom Sportplatz betrat ich den Galgenwald und stand nach etwa dreihundert Metern bereits am Rand des Illgrabens, den ich noch nie allein überquert hatte. Obwohl die Ill nur als harmloses Rinnsal in Richtung Rotten rieselte, war mir beklommen zumute. Auf der anderen Seite des Wildbachs lag der finstere Pfynwald, den wir Kinder nicht betreten durften. Eine gefährliche Wildnis breite sich dort aus, warnte Maya, und es wimmle von Geistern, Ungeheuern und Schlangen. Wer als Kind allein über den Illgraben gehe, drohe in die Fänge der Fanoischi-Güsler, blutrünstige Dämonen mit silbernen Schwertern und goldenen Sporen, zu geraten. Wo immer ihre schwarzen Hengste die Erde berührten, glühte der Boden unter ihren Hufen.

Ich zögerte und blickte in die Tiefe des Illgrabens. Sollte ich es wagen? Ja! Immerhin war ich jetzt schon zehn Jahre alt und hatte mir fest vorgenommen, nicht nur von grossen Abenteuern zu träumen, sondern sie auch zu erleben.

Vorsichtig rutschte ich über die steile Flanke aus Löss in das Bachbett hinunter und überwand den Illbach mit einem einzigen Sprung. Mit hastigen Bewegungen kraxelte ich die Steilwand zum gegenüberliegenden Ufer hoch. Ich stand am Eingang zum verrufenen Wald. Jetzt musste ich besonders mutig sein! Mit schnellen Schritten folgte ich dem erstbesten Pfad, der in Richtung der steilen Corwetschflanke führte, die ich durch die Föhrenkronen hindurch immer wieder zu Gesicht bekam. Ein Geruch von Harz, Fichtennadeln und Moos stieg mir in die Nase. Wie aus dem Nichts tauchten die Bilder der Kinderleiche in mir auf. Grossmutter war ein Mädchen gewesen, als Louis Bovier beim Holzsammeln im Pfynwald eine Kinderleiche fand, derart entstellt, dass die Polizei auf ein Gewaltverbrechen schloss. Bald schon kursierten Gerüchte von Mördern und wilden Ungeheuern im Dorf, die dazu führten, dass der Pfarrer den Wald mit einer Prozession vom Bösen exorzierte.

Je tiefer ich in den Wald vordrang, umso unheimlicher wurde mir seine Stille. Das kleinste Geraschel schreckte mich auf. Plötzlich sah ich die bucklige alte Fanoischi-Hexe vor mir, die ihre Opfer, meistens Kinder, erst willenlos machte und dann in ihr geheimes Versteck verschleppte. Bald darauf gewahrte ich in knapper Entfernung den Gratzug, die Totenprozession der armen Seelen, die im Büssergewand und Gebete murmelnd in Einerkolonne in Richtung Illgraben zogen. Dann stand plötzlich jener arme Hirtenjunge vor mir, der im Wald einem seltsamen grünen Männchen begegnet und tags darauf tot zusammengebrochen war.

Die Angst beschleunigte meine Schritte, bis ich von Panik ergriffen immer tiefer in den Wald hineinrannte. Erst als ich an einer Wurzel hängen blieb und hart auf den Waldboden aufschlug, kam ich wieder zu mir. Keuchend lag ich da, schmeckte das Reisig auf meiner Zunge und war mir sicher, dass ich, wenn ich mich umdrehen würde, in die hässlichen Fratzen von Hexen, Räubern und Untieren blicken würde. Doch es blieb alles ruhig. Nach einer Weile fasste ich neuen Mut, setzte mich vorsichtig auf und liess meinen Blick durch das Dickicht der Föhrenstämme schweifen. Da war niemand ausser mir. Wie konnte ich immer noch an Geister und Dämonen glauben? Ich trank einen Schluck Tee, untersuchte mein aufgeschlagenes Knie und setzte meinen Weg in Richtung Corwetschflanke fort.

Statt in dummen Ängsten zu versinken, wollte ich mich an Heinrich Schliemann halten. Mithilfe der griechischen Sagen hatte er nicht nur Troja ausgegraben, sondern auch den Schatz von König Priamos entdeckt. Unbeirrbar hatte er an seinen Traum geglaubt, selbst dann noch, als ihn berühmte Archäologen verspotteten, weil er die uralten Geschichten von Odysseus und dem Trojanischen Pferd wörtlich nahm. Meine Eltern hätten mich bestimmt auch ausgelacht, wenn ich ihnen anvertraut hätte, dass ich den uralten Pfynwaldsagen Glauben schenkte. Deshalb wollte ich sie und Grossmutter mit Lisürs verborgenen Schätzen überraschen und ihnen damit den verlorenen Reichtum wiederbeschaffen. Dann würden, so hoffte ich, auch meine Eltern zu erzählen beginnen.

Es dauerte nicht lange, bis der Wald aufhörte und ich am Fuss einer Geröllhalde stand, die an die senkrecht emporragende Bergwand des Corwetsch führte. Hastig kraxelte ich über das lose Gestein hoch und suchte an der Bergflanke hinter wild wuchernden Haselsträuchern nach Lisürs Höhle. »Schüler entdeckt sagenhaften Schatz«, sah ich bereits die fett gedruckte Schlagzeile vor mir. Mein strahlendes Konterfei prangte auf der ersten Seite des Walliser Boten. Ich hatte keinerlei Zweifel, dass ich kurz vor der grössten Entdeckung meines Lebens stand.

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