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Mord in den Chianti-Hügeln

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Sandra Wolff hat ihren Beruf als Kriminalkommissarin in Hamburg St. Pauli aufgegeben, um sich in der Toskana mit einem eigenen Yogastudio niederzulassen. Nun genießt sie das Leben in Poggibonsi zwischen den Chianti-Hügeln. Aber nur so lange, bis sie auf ihrer abendlichen Joggingrunde eine Leiche findet. Eine Winzerin, die an ihren Yoga-Kursen teilgenommen hat. Auch für Commissario Figallo ist die Tote keine Unbekannte. Deshalb fällt es ihm schwer, einen kühlen Kopf zu bewahren. Zusammen mit Sandra Wolff verbeißt sich Daniele Figallo in den verzwickten Fall, und das ungleiche Ermittlerpaar blickt tief in die menschlichen Abgründe hinter der Hochglanzfassade einer traditionsreichen Winzerfamilie.


  • Erscheinungstag: 25.03.2025
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365010068

Leseprobe

GIANNI BORSA

MORD
IN DEN
CHIANTI-HÜGELN

Toskana-Krimi

HarperCollins

Prolog

Für einen Moment kam die Sonne zwischen den Wolken hervor und blendete sie. Sie schob die Sonnenbrille auf die Nase und überblickte den Hof der Produktionshalle, den sie von ihrem Standort aus perfekt einsehen konnte. Der Maschinenlärm, der so laut war, dass die Arbeiter einen Gehörschutz tragen mussten, drang gedämpft zu ihr herüber. Immer wieder traten einzelne Personen vor die Halle, rauchten eine Zigarette, checkten ihr Smartphone oder taten beides gleichzeitig. Es waren ausnahmslos Männer, die meisten schienen aus Afrika zu stammen, einige aus Asien.

Wenn einer von ihnen länger als fünf Minuten Pause machte, kam sofort ein bulliger Kerl und zerrte ihn zurück in die Halle.

Während der drei Stunden, die sie hier bereits ausharrte, war wenig passiert. Nur einmal war sie zusammengezuckt, weil ein Rabe sie entdeckt und sich zeternd darüber beschwert hatte.

Das überwucherte Nachbargrundstück mit der verfallenen Hütte, das durch einen Maschendrahtzaun vom Firmengrundstück getrennt war, war für ihren Auftrag perfekt geeignet. Sie kauerte hinter dem Schuppen, die Büsche waren so hoch gewachsen, dass man sie von der Straße aus nicht entdecken konnte. Nur gab es hier keinerlei Sitzgelegenheit. Aber aus leidvoller Erfahrung und den vielen Stunden, die sie bei Observationen zugebracht hatte, wusste sie, dass es ein großer Fehler wäre, die Körperspannung auch nur für einen Augenblick aufzugeben. Eine Minute der Unaufmerksamkeit, und schon könnte sie den entscheidenden Moment verpassen.

Trotzdem zweifelte sie am Sinn ihres Vorhabens. Sie richtete sich auf, streckte den rechten Arm in die Höhe, ließ den linken Arm sinken und beugte den Oberkörper nach links. Sie genoss das befreiende Gefühl der Streckung, ohne dabei den Hof aus den Augen zu lassen.

In diesem Moment sah sie ihn kommen.

Sie griff nach dem Fernglas, das sie neben sich ins vertrocknete Gras gelegt hatte. Als sie ihn aus dem Auto aussteigen sah, verflog jeder Zweifel. Schnellen Schrittes ging er in die Produktionshalle und verschwand aus ihrem Blickfeld. Eilig ließ sie den Feldstecher im Rucksack verschwinden. Duckte sich, rannte auf den Zaun zu in Richtung der Stelle, die sie sich vorher ausgeguckt hatte. Jetzt hatte sie keinerlei Deckung mehr und konnte vom Hof aus gesehen werden. Sie zwängte sich durch das Loch, das der Drahtzaun in Bodennähe aufwies und durch das sie gerade so hindurchpasste. Ihr Puls raste. Sie lief auf die terrakottafarbene Wand der Fabrikhalle zu, drückte sich dagegen und schlich sich, eng gegen die Mauer gepresst, in Richtung des Hofs. Vorbei an einer einst blau lackierten Tür, deren Farbe verblichen und abgeblättert war. Nur noch wenige Meter, dann hatte sie das Bürofenster erreicht, von dem sie bemerkt hatte, dass es stets offen stand. Sie war sich sicher, dass er in diesen Raum verschwunden war.

Sie verharrte unter dem Fenster, sog den Geruch aus Maschinenöl und Zigarettenrauch ein, versuchte, ruhiger zu atmen, und lauschte angestrengt. Der Lärm aus der Halle produzierte ein monotones Stampfen und Ächzen, das sich wie ein Teppich über alle anderen Geräusche legte. Trotzdem hörte sie ihn sprechen. »Sind uns auf den Fersen, haben mich schon zweimal verhört«, verstand sie. Die Antwort war für sie unverständlich. Beide Stimmen wurden jetzt leiser, entfernten sich von ihr. Sie rückte weiter vor, bis sie das zweite Bürofenster erreicht hatte, und lauschte angespannt.

Sie hörte schnelle Tritte auf dem vertrockneten Gras. Erschrocken fuhr sie herum. Ein massiger Mann rannte auf sie zu. Sie blickte in ein hasserfülltes Gesicht mit platt gedrückter Nase, kahl rasiertem Schädel und dunklen Tattoos. »Du schnüffelst hier nicht rum, dumme Schlampe!«, schrie er sie an. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, ob sie weglaufen oder etwas erwidern sollte, und spannte den Körper an. Doch er holte bereits aus und schlug ihr die Faust ins Gesicht.

Ihr wurde schwarz vor Augen.

1. Kapitel

»Alla prossima«, bis zum nächsten Mal, sagte Sandra Wolff und verabschiedete die rothaarige Frau in den mintgrünen Yogapants. Sie verließ den Raum als die letzte der Kurs-Teilnehmerinnen. Sandra rollte die dünnen schwarzen Matten ein, legte sie in das Regal zurück und ging zum Computer, um ihn herunterzufahren. Sie nahm das Headset ab und platzierte es neben dem Laptop. Während der Corona-Pandemie hatte es sich eingebürgert, dass sämtliche Kurse per Zoom übertragen wurden. Einige hatten sich so sehr an das Online-Training gewöhnt, dass sie sich immer noch regelmäßig aus ihren Wohnungen zuschalteten. Die Teilnehmer ihrer Kurse waren ausnahmslos weiblich. Bis heute hatte sich kein einziger Mann in das Studio in der Altstadt von Poggibonsi verirrt. Vielleicht war die Zeit noch nicht reif dafür.

Sie schloss die Fenster, die sie mit bunter Folie beklebt hatte, um neugierige Blicke in das kleine Studio draußen zu halten. Sie trat auf den Gehsteig, zog die Tür zu und drehte den Schlüssel dreimal im Schloss.

Jetzt kam auch Angelo aus seinem Geschäft nebenan. Er war Mitte sechzig und hatte seine dünnen gefärbten Haare kunstvoll so um den Kopf drapiert, dass sie auf den ersten Blick voll erschienen. Sein mächtiger Bauch verriet, dass er mit Leib und Seele Pasticciere war. Er schlug das Eisengitter seines Ladens zu und schloss ab. Bei ihm war schon mehrfach eingebrochen worden. Als Sandra anhob, ihn zu grüßen, drehte er den Kopf weg, brummte etwas Unverständliches und entfernte sich so schnell, wie es sein Gewicht ihm erlaubte.

Sandra schaute ihm kopfschüttelnd hinterher. Wann würde dieser Mann, der Kunden gegenüber so liebenswürdig sein konnte, sich endlich wieder normal verhalten? Natürlich wusste sie, warum er sie so behandelte. Als sie vor zwei Jahren mit Giulio von Hamburg nach Poggibonsi gezogen war, waren beide von dem Standort begeistert gewesen. Giulios Tante, die Sandra sofort ins Herz geschlossen hatte, musste den Gemüseladen aus Altersgründen schließen. Und einen Nachfolger gab es nicht. Nur einen Interessenten, der seine Pasticceria vergrößern wollte. Nämlich Angelo. Aber der Pasticciere ging leer aus, und Sandra und Giulio bauten den Negozio in ein Yogastudio um. Viele hatten sie damals belächelt, hinter vorgehaltener Hand hatte man Wetten darüber abgeschlossen, wie lange das Studio sich halten würde und wann Angelo übernehmen könnte.

Aber dann war alles anders gekommen.

Wenige Tage nachdem sie das Studio eröffnet hatten, war Giulios Tante gestorben. In ihrem Testament hatte sie verfügt, dass ihr Neffe und Sandra die Immobilie zu gleichen Teilen erben würden. Sie überwanden ihre Trauer über den schmerzhaften Verlust, richteten sich in ihrem neuen Leben ein. Aber Giulio trat das zarte Pflänzchen ihres Glücks mit den Füßen. Als Sandra ihn eines Abends mit einer seiner Freundinnen in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer überraschte, zahlte sie ihn aus und jagte ihn zum Teufel.

Jetzt lebte Giulio in Lucca, weit genug weg von ihr. Aber das Studio, das florierte. Immer mehr Frauen zeigten Interesse an ihren Yogakursen, und die meisten von ihnen wurden Stammkundinnen. Wenn der Preis für diesen Erfolg war, dass Angelo Sandra nicht grüßte, dann konnte sie damit leben. Es hielt sie nicht davon ab, dann und wann eine Tüte Ricciarelli di Siena bei ihm zu kaufen. Er reagierte jedes Mal völlig überrascht und war unfähig, mit ihr zu sprechen. Aber seine Mandelkekse waren einfach zu köstlich. Und Sandra genoss es, ihren Nachbarn sprachlos zu machen. Ein weiteres Schmunzeln huschte über ihr Gesicht. Es gab doch diese Standardfrage nach der Schwäche, die in Vorstellungsgesprächen so gern gestellt wurde. Würde sie jemals wieder in eine solche Situation kommen, würde sie Angelos Ricciarelli nennen. Das war erstens harmlos und zweitens ehrlich.

Sie entriegelte den rot lackierten Fiat Ducato Camper, den sie aus Hamburg mitgebracht hatte und stets neben dem Studio parkte. Giulio und sie hatten den Kastenwagen kurz nach ihrem Kennenlernen gebraucht gekauft und ein paar Umbauarbeiten daran vorgenommen. Dann waren sie durch ganz Europa damit herumgetourt. Bei ihrer ersten Reise in die Toskana hatte es sofort gefunkt, und beiden war klar gewesen, dass sie hier hinziehen würden. Nach dem Ende ihrer Beziehung hatte Sandra ihm seine Hälfte des Autos abgekauft. Das Auto. Ein weiteres Mal musste sie grinsen. So ein Camper war manchmal praktisch. Meist aber war er ein Hindernis, wenn sie etwa durch die schmalen Straßen der Chianti-Hügel fuhr. Oder wenn sie sich in das Zentrum eines der winzigen Dörfer zwängte, die ohnehin nicht für den modernen Autoverkehr gemacht waren.

Bevor sie einstieg, schrieb sie auf ihrem Handy eine kurze Nachricht an Giovanna, damit diese wusste, dass sie sich auf den Weg gemacht hatte. Dann stieg sie auf den Fahrersitz und ließ den Dieselmotor an.

Wenig später hatte Sandra das Fußballstadion von Poggibonsi erreicht, von wo ihre Joggingrunde beginnen würde. Erfreut registrierte sie, dass direkt vor dem Zaun ein geräumiger Parkplatz frei war. Einparken war keine ihrer Stärken. Noch etwas, was sie in einem fiktiven Vorstellungsgespräch erwähnen könnte. Oder besser nicht? Ein potentieller Arbeitgeber könnte womöglich daraus den Schluss ziehen, dass ihr räumliches Vorstellungsvermögen begrenzt war. Es gelang ihr, den Camper rückwärts einzuparken und vor dem Maschendrahtzaun zum Stehen zu bringen. Sie stellte den Motor ab und sprang vom Fahrersitz. Ein kurzer Blick auf ihre Smartwatch zeigte ihr, dass Giovanna ihre Nachricht noch nicht gelesen hatte.

Sie nahm ihre Laufschuhe aus dem Camper und tauschte die Birkenstocksandalen damit aus. Vom vorherigen Yogakurs fühlte sie sich noch aufgewärmt und gut durchblutet. Deshalb reichten ein paar einfache Stretching-Übungen, um Verletzungen und dem morgigen Muskelkater vorzubeugen.

Dann lief sie los.

Ihr Weg führte sie auf dem Radweg, der Pista Ciclabile, um Poggibonsi herum. Sie kam in einen ruhigen und gleichmäßigen Trab, der sie nur wenig anstrengte. Sandra kannte die zwölf Kilometer lange Strecke in- und auswendig. Das Laufen machte ihren Kopf frei. Sie verfiel in einen gedankenlosen Automatismus, in dem sie weder die wärmenden Strahlen der Abendsonne in ihrem Nacken noch die entgegenkommenden Radfahrer und Jogger bewusst wahrnahm. Als sie das rot geklinkerte Sportzentrum der Unione Polisportiva erreicht hatte, bog sie auf eine schattige Allee ab, die sie heraus aus Poggibonsi in die Hügel führen würde. Sie lief über eine Brücke, die den Autobahnzubringer überquerte, dann ein Stück parallel zur Straße. Von nun an würde es kontinuierlich bergan gehen, bis sie das Castello di Strozzavolpe, malerisch auf einem Hügel gelegen, erreichte. Am Straßenrand standen die Zypressen schlank, aufrecht und wohlgeformt in Reih und Glied. Nach einer Biegung Richtung Südosten wurde der Autoverkehr leiser, und der erste dicht belaubte Weinberg tauchte vor ihr auf. Sie lief langsamer, musterte die noch grünen Trauben und schaute auf ihre Uhr. Sie lag gut in der Zeit. Mit Giovanna hatte sie verabredet, dass sie sich kurz hinter Cedda treffen würden. Die Winzerin würde ihr entgegenkommen, und gemeinsam würden sie dann zurück nach Poggibonsi laufen. So konnte Giovanna von ihrem Weingut aus loslaufen, das nahe der Strecke lag. Und außerdem musste sie, die weniger trainiert als Sandra war, nur die Hälfte des Weges zurücklegen.

Sie würden dann im Yogastudio duschen und anschließend in der Antica Osteria etwas essen gehen. Sandra freute sich auf den Abend. Giovanna kam bereits seit einem Jahr in ihr Studio. Bis auf ein, zwei freundliche Sätze hatten sie sich bislang nicht unterhalten. Vor einer Woche aber waren sie sich abends zufällig auf der Joggingrunde begegnet. Entgegen ihrer Gewohnheit war Sandra stehen geblieben und hatte sich auf ein Gespräch mit ihrer Schülerin eingelassen. Die Winzerin schien bedrückt. Und weil Sandra überhaupt nichts dagegen hatte, ihren Freundeskreis zu erweitern, der in Poggibonsi immer noch sehr übersichtlich war, hatte sie vorgeschlagen, gemeinsam zu joggen.

Sandra hatte mittlerweile den höchsten Punkt der Strecke erreicht, der bei Cedda lag, an dem sie jedoch auf einem staubtrockenen Feldweg vorbeigerannt war. Sie bog auf die Strada Regionale ein. Nun schien ihr die untergehende Sonne ins Gesicht, sie spürte die Wärme vom Asphalt aufsteigen und begann, während sie bergab lief, nach Giovanna Ausschau zu halten. Der Abhang rechts neben ihr war steil, ein Schild warnte vor Steinschlag, die Kurve vor ihr war nur schwer einzusehen.

In diesem Moment erschreckte sie ein aufheulender Motor. Kurz darauf schoss ein dunkler Kastenwagen mit hoher Geschwindigkeit um die Ecke. Sandra erhaschte den Blick auf einen Mann mit tief ins Gesicht geschobener schwarzer Basecap und Sonnenbrille am Steuer. Um den Mund hatte er ein Tuch geschlungen. Sie hielt sich eng an der Mauer, die den Abhang sicherte, lief langsamer, spürte die Druckwelle des vorbeifahrenden Autos und drehte sich um. Jetzt war es zu spät, das Kennzeichen zu erkennen. Das wäre ihr in ihrer Hamburger Zeit nicht passiert.

Verärgert beschleunigte sie ihren Lauf. Anfängerfehler, dachte sie. Aber warum eigentlich? Sollte sie den vermummten Fahrer wegen Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit anzeigen? Ein absurder Gedanke. Die Mühe, deswegen zur Carabinieri-Station zu fahren, würde sie sich kaum machen.

Hinter der Kurve wurde sie allmählich nervös, weil von Giovanna immer noch jede Spur fehlte. Sie passierte die Stelle, an der die beiden sich in der vergangenen Woche begegnet waren. Nicht mehr weit, dann kam der Punkt, an dem die Strada Regionale sich in Serpentinen die Hügel herunterwand, während Sandra eine schmale Schotterstraße nehmen würde. Sobald sie auf dieser Straße wäre, würde sie Giovanna nicht mehr treffen können, weil der Weg zu ihrem Weingut von der Strada Regionale abzweigte. Während sie langsamer lief, um der Winzerin eine Chance zu geben, sah sie einen weißen Fiat Cinquecento, der am linken Straßenrand parkte. Daneben stand eine Frau, die telefonierte und dabei aufgeregt gestikulierte. Keine ungewöhnliche Szene in Italien. Hatte sie eine Panne oder Streit mit ihrem Ehemann? Oder ging es darum, das Abendessen zu organisieren? Mit aller ihr zur Verfügung stehenden Theatralik?

Als Sandra näher kam, beendete die Frau das Telefonat. Sandra registrierte, dass sie ihre grauen Haare offen trug und in ein rot-weiß geblümtes Sommerkleid gekleidet war. Nun ging sie in die Hocke, schüttelte den Kopf und begann zu weinen. Sandra überlegte gerade, ob sie halten und ihre Hilfe anbieten sollte, als sie ein eiskalter Schock durchfuhr.

Am Straßenrand lag jemand in Turnschuhen, Leggins und gelbem Shirt.

Sie stoppte, stützte die Arme in die Hüften und wartete, bis ihr Atem etwas ruhiger wurde. »Was ist passiert?«, fragte sie immer noch keuchend.

»Ich … Ich habe damit nichts zu tun«, stammelte die Frau und richtete sich auf. Sie war einen Kopf kleiner als Sandra. »Der schwarze Lieferwagen, der ist doch wie ein Bescheuerter gefahren. Und dann kam ich hier vorbei und sah sie dort liegen.«

»Bitte beruhigen Sie sich«, sagte Sandra, die unbewusst in fast vergessene Routinen verfiel. »Haben Sie den Rettungswagen und die Polizei alarmiert?«

»Die kommen gleich. Aber ich glaube, sie ist tot. Schrecklich zugerichtet … Deshalb habe ich auch gar keine Erste Hilfe geleistet, war das richtig von mir? Was meinen Sie?« Sie fuhr sich mit zitternden Fingern durch die grauen Haare und blickte Sandra hilfesuchend an.

Sandra fasste sie beruhigend an der Schulter, dann ging sie auf die am Straßenrand liegende Frau zu. Obwohl sie mit dem Gesicht auf dem Asphalt lag, erkannte sie ihre Yogaschülerin Giovanna sofort. Sandra schnellte vor, ging in die Hocke, berührte sie am Hals und fühlte den Puls.

Nichts.

Die Autofahrerin hatte recht. Hier kam jede Hilfe zu spät, die Winzerin war tot. Sandra stieg das Wasser in die Augen. Sie hielt sich das linke Nasenloch zu, atmete tief ein. Hielt sich das rechte Nasenloch zu und ließ die Luft in einem langen Atemzug entweichen. Nach fünf Wiederholungen dieser Atemübung, die im Yoga Nadi Shodana genannt wurde, hatte sie sich ein wenig beruhigt.

Routiniert musterte sie den Fundort der Leiche. Sofort wich ihre Beklommenheit professioneller Aufmerksamkeit. Giovanna war mit dem Kopf auf der Fahrbahn aufgeschlagen, eine Blutlache hatte sich unter ihr ausgebreitet. Das Blut war noch nicht getrocknet, so wenig Zeit war seit ihrem Sturz vergangen. Sandra musterte die Reifenspuren, die sich einen schmalen Feldweg herunterzogen, der schräg auf die Straße einmündete. War die Arme hier vorbeigejoggt und dann von dem Auto erfasst worden, das viel zu schnell auf die Strada Regionale aufgefahren war?

Sie richtete sich auf und folgte dem Feldweg für ein paar Schritte. Dann blieb sie abrupt stehen, weil ihr bewusst wurde, dass sie die Spuren auf keinen Fall verwischen durfte. Der schwarze Lieferwagen kam ihr wieder in den Sinn. Der Fahrer war eindeutig vermummt gewesen. Hatte er die Winzerin mit Vorsatz angefahren? Vorher auf dem Feldweg auf sie gewartet? Und ich habe mir das Kennzeichen nicht gemerkt, dachte sie bitter. Schon wieder ein Fehler, den ich mir nicht verzeihen kann.

Plötzlich war sie zurück auf St. Pauli. Die schrecklichen Bilder drängten sich mit Macht in ihr Bewusstsein. Wenn sie damals die richtige Entscheidung getroffen hätte, wäre alles anders gekommen.

In dem Moment hörte sie eine Sirene auf der Strada Regionale, die schnell lauter wurde.

2. Kapitel

»Leonarda, das Essen ist fertig«, rief Daniele Figallo ins Haus hinein und stellte zwei Teller auf den Terrassentisch. Anstelle der fünfzehnjährigen Tochter kam Geronimo herangetrabt, sein treuer, muskelbepackter Cane Corso mit dunkelbraunem Fell, bernsteinfarbenen Augen und hängenden Lefzen. Trotz seines vorgerückten Alters bewegte er sich immer noch so geschmeidig, als sei er sich seiner Kraft vollauf bewusst.

Die Dogge war bei der Polizia di Stato in Siena jahrelang zum Aufspüren von Drogen eingesetzt worden. Irgendwann jedoch funktionierte ihr Geruchssinn immer schlechter, es folgten ein paar falsche Alarme, und sie musste ausgemustert werden. Agente Celto Diana Fontana war es gewesen, die Daniele erzählt hatte, dass Geronimos Dienst bald enden würde. Sie hatte mitbekommen, dass er sich einen Hund anschaffen wollte. Im Kommissariat von Poggibonsi war Diana die Kollegin, die am wenigsten Zeit mit ihrer eigentlichen Arbeit verbrachte. Meistens hatte sie das Telefon am Ohr, doch selten ging es dabei um dienstliche Belange. Genau deshalb war sie hervorragend vernetzt, was manchmal nützlich war, wenn man sich für den aktuellen Klatsch und Tratsch interessierte. Oder wenn man einen Hund suchte, der zu einem passte.

Geronimo ließ sich neben Danieles Stuhl auf die warmen Fliesen fallen und schloss die Augen.

Als Daniele bereits Platz genommen und sich ein Glas Chianti eingegossen hatte, kam endlich seine Tochter auf die Terrasse geschlurft. »Schon wieder Fleisch«, maulte sie, setzte sich und legte ihr Handy neben ihren Teller. Mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln beförderte sie die blauen Haare aus dem Gesicht, die im merkwürdigen Kontrast zu dem Kleid standen, dessen Schottenmuster aus grünen und roten Quadraten zusammengesetzt war.

»Ein bisschen mehr Enthusiasmus hätte ich schon erwartet, meine Liebe. Das Landbrot habe ich heute Morgen noch vor der Arbeit aus dem Ofen genommen. Das Rinderfilet ist von Sergio, unten in der Altstadt. Er hat das beste Fleisch in ganz Poggibonsi, deshalb kaufen deine Großeltern auch bei ihm für die Osteria ein. Und der Rucola kommt natürlich aus unserem Garten. Weißt du übrigens, wo der Pecorino herkommt, den ich darübergehobelt habe?«

»Lass gut sein, babbo. Ich ess ja schon.« Lustlos schnitt sie sich ein Stück Rinderfilet ab, spießte ein Salatblatt auf und beförderte es in den Mund.

Daniele tat es ihr gleich und genoss die Röstaromen, die Weichheit des zartrosa gegrillten Steaks und die herbe Note des Salats. Nach dem ersten Bissen nahm er einen Schluck Rotwein und lehnte sich zurück. Er ließ den Blick über die Olivenbäume schweifen, zwischen denen das Gras hüfthoch wucherte. Den Großteil des Grundstücks hatte er damals unangetastet gelassen. Nur direkt vor der Terrasse hatte er Lavendel, Rosen und Buchs gepflanzt sowie einen kleinen Kräuter- und Gemüsegarten angelegt, dessen Erzeugnisse er liebend gerne in der Küche verarbeitete.

Wieder blieb sein Blick hängen. Diesmal an der mit einer grünen Patinaschicht überzogenen Skulptur eines jungen Mannes. Mit locker über das Knie geschlagenem Bein saß er auf dem Stumpf eines Olivenbaums und schaute ihn an. Jedes Mal, wenn Daniele das Kunstwerk ansah, irritierte es ihn aufs Neue, dass das Gesicht des Jungen weder Augen, Nase noch Mund hatte. Bevor er Anna hatte fragen können, warum sie dem Jüngling kein Gesicht gegeben habe, hatte sie den Kampf gegen den Krebs verloren. Das war morgen genau drei Jahre her.

»Ich soll was essen, aber du sitzt nur rum und starrst in den Garten«, riss ihn Leonarda aus seinen Gedanken.

Er nickte, schnitt sich ein Stück vom Brot ab, zerkaute es, schluckte runter und spülte mit Wasser nach. Dann wandte er sich wieder seinem Steak zu.

Leonarda tippte derweil etwas in ihr Handy, während sie mit der anderen Hand ein Stück Fleisch zum Mund führte.

Daniele schüttelte den Kopf. »Kannst du das Ding nicht mal für ein paar Minuten beiseitelegen? Es ist ein wunderbarer Abend, wir essen diese superleckeren Steaks, und dir fällt nichts Besseres ein als rumzudaddeln. Ich hab dir das schon so oft gesagt.«

Leonarda knallte das Handy auf den Tisch. »Dann geh ich morgen nach der Schule in die Osteria und hänge den ganzen Tag bei Nonna und Nonno ab. Die mäkeln nicht ständig an mir rum.«

»Die müssen dich auch nicht erziehen«, entfuhr es Daniele, und gleich darauf tat ihm seine Aussage leid. Früher hatten er und seine Tochter sich prächtig verstanden, hatten stets gespürt, wie ähnlich sie charakterlich einander waren. Aber seit Annas Tod reichte der kleinste Anlass, dass sie sich stritten. Daniele fühlte sich deshalb oft ungenügend und in seiner Rolle als alleinerziehender Vater überfordert.

Zu allem Überfluss klingelte in diesem Augenblick sein dienstliches Telefonino. Als er es aus der Hosentasche zog und sich meldete, warf Leonarda ihm einen spöttischen Blick zu. Geronimo hingegen knurrte kurz auf. Auch er schien sich gestört zu fühlen.

»Gut, dass ich Sie erreiche, Commissario Figallo«, sagte eine raue und sonore Männerstimme.

Er erkannte den Assistente der Polizia Stradale sofort.

»Wir haben ein Todesopfer auf der SR 429 vor Cedda. Eine Joggerin wurde überfahren.« Er räusperte sich und hustete, bevor er mit noch rauerer Stimme als zuvor weitersprach. »Zwei unserer Kollegen sind bereits vor Ort und möchten, dass Sie einen Blick darauf werfen. Nur, um ganz sicherzugehen, dass kein Gewaltverbrechen vorliegt.«

»Das ist ja gleich um die Ecke. Schicken Sie mir den genauen Standort auf mein Handy, ich fahre sofort los.« Er steckte das Telefon wieder in die Tasche und stieß dabei einen vernehmlichen Seufzer aus. Seit sechzehn Jahren arbeitete er schon im Kommissariat von Poggibonsi. In dieser Zeit hatte er viele kleinere und größere Drogendealer verhaftet, einige Fälle von illegaler Prostitution aufgeklärt, Betrug und Erpressung jedweder Art verfolgt. Aber an eine Verkehrstote konnte er sich beim besten Willen nicht erinnern. Er machte sich über sein Steak her, um es schnell noch aufzuessen.

»Was ist passiert?«, fragte Leonarda mit einem Anflug von Interesse in der Stimme.

»Mein Abend ist jedenfalls gründlich ruiniert«, sagte er und kraulte Geronimo zum Abschied zwischen den Ohren.

Eine Viertelstunde später lenkte er seinen in die Jahre gekommenen Ford Ranger an Cedda vorbei. Kurz hinter der Kurve sah er bereits das Fahrzeug der Polizia Stradale, die die Unfallstelle mit Flatterband abgesperrt hatte. So blieb für die vorbeifahrenden Autos nur eine schmale Spur übrig. Er brachte den Pick-up zum Stehen, sprang vom Fahrersitz und ließ die Tür scheppernd ins Schloss fallen. Der rundliche Kollege mit dem grauen Schnauzbart, dessen Uniform am Bauch deutlich spannte, schien ihn zunächst für einen Schaulustigen zu halten, bis er ihn erkannte. »Commissario Figallo, das ging aber schnell!«, begrüßte er ihn mit Handschlag.

»Wer ist die blonde Frau im Polizeiwagen? Hat sie die Tote gefunden?«

»Nicht als Erste. Sie ist eine Joggerin, die mit dem Opfer verabredet war. Die Personalien der Autofahrerin, die das Opfer gefunden hat, haben wir aufgenommen. Dann haben wir sie auf Anraten des Arztes nach Hause geschickt.« Er zwirbelte sich den Schnurrbart. »Der Mediziner hat auch ihren Tod bescheinigt«, fügte er hinzu und deutete auf die golden glänzende Rettungsdecke, mit der die am Straßenrand liegende Tote abgedeckt war.

»Verstehe«, sagte Daniele. Er warf der Frau, die im Auto neben einer jungen Polizistin saß, einen Seitenblick zu. Sie kam ihm bekannt vor, aber woher, fiel ihm in diesem Moment nicht ein. Sie schaute ihn aus blauen Augen interessiert an.

Daniele ließ sich von dem Kollegen ein Paar Einmalhandschuhe geben und streifte sie über. Dann schritt er auf die Leiche zu, ging in die Hocke und schlug die Decke vorsichtig beiseite. Als er das blutverschmierte und teils zertrümmerte Gesicht freigelegt hatte, erstarrte er. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, sein Atem beschleunigte sich. Unwillkürlich stand er auf, schüttelte den Kopf und brauchte einen Augenblick, bis er sie wieder anschauen konnte. Kein Zweifel. Es war Giovanna Mancini.

Er musterte die glatten dunklen Haare, die in einer Blutlache lagen, die verschlossenen blutüberströmten Augenlider, die kräftigen Augenbrauen und die dezent rosa geschminkten Lippen. Diese Lippen waren es, die ihm damals einen vorsichtigen, zärtlichen Kuss gegeben hatten. Seit Jahren hatte er Giovanna nicht mehr gesehen. Er wusste gar nicht, dass sie noch in seiner Nähe wohnte. Und jetzt das.

»Ist alles in Ordnung, Commissario?«, fragte der Schnauzbärtige, dem Danieles Reaktion nicht entgangen war. »Wir haben die Leiche umgedreht, sie lag mit dem Gesicht auf der Straße. Vorher haben wir natürlich Fotos angefertigt. Die Position der Toten haben wir nicht verändert.«

Er richtete sich auf und kickte einen weißen Kieselstein vom Asphalt, der irgendwo unter den Brombeerranken neben dem Feldweg zum Liegen kam. »Ich kenne sie aus meiner Jugend. Ist lange her. Aber den Schock muss ich erst mal verdauen.«

»Kann ich nachvollziehen.«

Daniele gab sich einen Ruck. Er beugte sich herunter und schob die Rettungsdecke ganz beiseite, sodass er die Tote vollständig in den Blick bekam. Er bemerkte die Reifenspuren, die auf den Feldweg führten. »Von dort ist das Fahrzeug gekommen?«, wandte er sich an den Agente Scelto.

Der Polizist beugte sich so weit zu ihm herunter, wie es dessen Bauch zuließ. »Sowohl die Frau, die die Leiche gefunden hat, als auch die Joggerin, die in unserem Auto sitzt, haben einen schwarzen Lieferwagen gesehen, der mit hoher Geschwindigkeit vom Tatort wegfuhr. Kennzeichen haben wir leider nicht.«

»Warum haben Sie mich gerufen? Wie kommen Sie darauf, dass es kein Unfall war?« Daniele atmete tief durch. Noch immer konnte er es nicht fassen, dass Giovanna tot vor ihm auf der Straße lag. Sie war damals stets ein wenig ernst und in sich gekehrt gewesen. Hatte keiner Clique angehört und nur wenige Freundinnen gehabt, während er mit seiner Gang auf dem Schulhof abgehangen hatte. Er hatte sie auf Anhieb gemocht, aber dann hatte ihre kurze Beziehung im Desaster geendet. Daniele war nicht stolz auf das, was damals passiert war.

»Fragen Sie am besten die Zeugin. Die kam zuerst mit dieser Theorie, und deshalb haben wir Sie rufen lassen.«

Daniele weitete erstaunt die Augen. »Na dann fragen wir sie mal«, sagte er und ging auf das Auto zu, wobei er der Zeugin das Zeichen gab, auszusteigen.

Sofort öffnete die schlanke Frau die Tür. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem Zopf hochgebunden. Mit geschmeidigen Bewegungen stieg sie aus.

Daniele nickte der Polizistin zu, dann begrüßte er die Frau und stellte sich vor.

»Mein Name ist Sandra Wolff. Ich war mit dem Opfer zum Joggen verabredet. Wir wollten uns hier auf der Strecke treffen und dann gemeinsam weiter nach Poggibonsi laufen. Sie heißt Giovanna Mancini und wohnt nicht weit von hier auf einem Weingut. Podere Boschetto.«

»Warten Sie, ich muss mir das aufschreiben«, murmelte Daniele, ging zu seinem Pick-up, öffnete die Beifahrertür und nahm ein Notizbuch vom Sitz. Er schlug die Tür wieder zu, lehnte sich an den Wagen und schrieb Wolffs Aussage auf.

Sie war ihm gefolgt und beobachtete ihn aufmerksam.

»Der Agente Scelto meinte, dass Sie glauben, das Opfer wäre vorsätzlich angefahren worden? Wie kommen Sie darauf?«

»Warten Sie, ich zeige es Ihnen.« Wolff drehte sich auf ihren pinkfarbenen Turnschuhen um und ging auf die Leiche zu.

Daniele hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Als er sie gerade stoppen wollte, um zu verhindern, dass sie Spuren verwischen würde, hielt sie inne und ging ein paar Schritte nach links.

Genauso hätte ich es auch gemacht, dachte er.

»Sehen Sie«, raunte Sandra Wolff und deutete auf die Reifenspuren. »Hier ist er rausgeschossen, als hätte er Giovanna abgepasst und von hinten überfahren. Wir müssen davon ausgehen, dass es das Fahrzeug war, das an mir vorbeigerast ist. Leider war der Fahrer vermummt, und ich war zu blöd, mir das Kennzeichen zu merken.«

Daniele war beeindruckt von der Präzision, mit der Wolff ihre Beobachtungen schilderte. Noch immer dachte er darüber nach, woher er sie kannte. »Ist doch normal, man merkt sich ja nicht jedes Autokennzeichen. Sie sind ja nicht die Polizei«, beschwichtigte er. »Sind Sie schon länger in der Toskana? Sie kommen aus Deutschland, wenn ich das richtig höre? Ihr Italienisch ist ganz hervorragend, nicht dass Sie mich da falsch verstehen.«

Sandra Wolff lachte kurz auf, dann wurde ihre Miene mit einem Seitenblick auf die Leiche wieder ernst. »Länger, das kann man wohl sagen. Ich komme ursprünglich aus Hamburg, aber seit zwei Jahren betreibe ich ein Yogastudio im Centro Storico. Spazio Yoga Poggibonsi, sind Sie vielleicht schon mal dran vorbeigelaufen.« Sie löste ihre Haare und wuschelte sie durch, sodass sie auf ihre Schultern herabfielen. »Sagen Sie, helfen Sie nicht manchmal in der Antica Osteria di Figallo aus? Oder verwechsle ich Sie?«

»Nein, Sie haben recht. Die Osteria gehört meinen Eltern.« Jetzt wusste er, woher sie sich kannten. Er schaute auf die Leiche herab und klappte sein Notizbuch wieder auf. »Woher kennen Sie die Tote? Der Agente Scelto meinte, Sie vermuten, dass Giovanna Mancini vorsätzlich überfahren wurde. Wie kommen Sie darauf?«

»Es war Mord, das sagt mir mein Bauchgefühl, und das hat mich bislang nur ganz selten … Ach, was rede ich denn da. Schauen Sie dort hinten auf den Feldweg, wo das Auto gestanden haben muss. Man kann es von hier aus nicht richtig erkennen, und ich wollte nicht näher herangehen, um keine Spuren zu verwischen. Aber Ihre Leute werden feststellen, dass der Fahrer mit durchdrehenden Reifen losgefahren ist, da bin ich mir sicher.«

Daniele hob überrascht die Augenbrauen. »Sie reden ja wie eine von uns. In Deutschland laufen ständig Krimis im Fernsehen, habe ich gehört. Kommt das daher?«

Sandra Wolff biss sich auf die Lippen und deutete ein Nicken an. »Jetzt zu Ihrer ersten Frage«, sagte sie schnell. »Giovanna ist seit etwa einem Jahr meine Schülerin. Ich wollte heute zum ersten Mal mit ihr zusammen joggen. Unfassbar, dass dann so was passiert.« Ihre Augen wurden feucht, sie wischte darüber und fuhr nach einer Pause fort. »Ich weiß sehr wenig über sie, wir kannten uns nur flüchtig. Ich hoffe, dass Sie den Täter möglichst schnell finden.« Ihre Stimme erstarb, und sie musste sich sichtlich beherrschen, um nicht in einen Weinkrampf auszubrechen.

Daniele schaute nachdenklich in Wolffs hellblaue Augen, die feucht schimmerten. Wut auf den Täter stieg in ihm auf, der Giovanna kaltblütig umgefahren hatte. Es kann alles auch nur ein schrecklicher Zufall gewesen sein, rief er sich selbst zur Ordnung. Aber ich werde den Typen finden.

Das Leben hatte ihn gelehrt, dass der Tod sich seine Opfer rücksichtslos aussuchte. So war es bei Anna gewesen. Und bei seiner Schwester, deren Mörder Fahrerflucht begangen hatte und nie gestellt werden konnte.

»Ich verständige die Questura in Siena, rufe die Rechtsmedizin und die Spurensicherung. Wir werden alles tun, um den Fall aufzuklären, Signora. Und wenn Sie möchten, bringe ich Sie jetzt nach Hause.«

Sandra Wolff nickte dankbar.

3. Kapitel

Weniger als zehn Minuten hatte die Fahrt vom Unfallort zum Fußballstadion gedauert, und sie war äußerst schweigsam verlaufen. Sandra Wolff und der Commissario hatten ihren Gedanken an Giovanna nachgehangen. Erst als er auf die Straße einbog, die zum Stadion führte, meldete sie sich zu Wort.

»Da drüben, der Camper, das ist meiner«, sagte sie und deutete auf das rot lackierte Wohnmobil.

Diese Frau steckt voller Überraschungen, dachte Daniele und brachte seinen Pick-up zum Stehen. »Soll ich Sie noch nach Hause… «, begann er, als sie bereits ausgestiegen war. Er sprang ebenfalls aus dem Auto, sie verharrte auf der Stelle und taxierte ihn.

Auf dem Sportplatz wurde das Flutlicht angeschaltet und überstrahlte sofort den Himmel, der sich langsam rötlich färbte. Die Silhouette ihrer Haare zeichnete sich flirrend vor dem Sonnenuntergang ab. »Das ist sehr nett von Ihnen, Commissario, aber ich komme zurecht. Bin ja schon ein großes Mädchen.« Sie wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie einen Moment. Bitte kommen Sie morgen ins Präsidium. Wir müssen Ihre Aussage protokollieren. Und wenn Sie psychologische Unterstützung benötigen, melden Sie sich bitte bei mir. Es passiert ja nicht jeden Tag, dass man eine Tote findet, die man persönlich kannte und mit der man zum Joggen verabredet war.« Er suchte ihre Augen, die trotz der Hintergrundbeleuchtung nichts von ihrer Strahlkraft verloren hatten.

Sandra Wolff schien etwas sagen zu wollen, besah sich dann aber eines Besseren. Sie trat einen Schritt zurück, weil ein Trupp junger Männer in Sportkleidung und mit Taschen in den Vereinsfarben der Unione Sportiva Poggibonsi herankam. Einige der Männer grüßten den Commissario, ein untersetzter Fußballer mit kurz geschorenen Haaren und dunklem Vollbart blieb stehen und gab ihm die Ghettofaust. »Ciao Daniele, was führt dich am Donnerstagabend zur US? Willst du nur zuschauen, oder übernimmst du unser Training?«

Daniele seufzte. »Die Zeiten sind vorbei. Ich habe genug damit zu tun, meine alten Knochen jede Woche aufs Neue zu sortieren, und freu mich, wenn ich ab und zu noch mal ein Tor schieße, damit wir nicht wieder absteigen. Komm du erst mal in mein Alter.«

»Ein Messi wird nie alt, Daniele. Ich hab von dir jedenfalls ne Menge gelernt. Vielleicht schaffen wir es ja noch mal, dich zu überreden, uns für eine Saison zu trainieren. Wir könnten einen Tritt in den Arsch gut gebrauchen. Sind Vorletzter in der Tabelle, und du weißt, wie weichherzig Gianni ist. Der hat uns alle lieb, das ist ja auch sehr schön mit ihm, aber so wird das nichts mit unserem Team.« Er schaute sich nach allen Seiten um.

»Nennt ihr mich immer noch Messi? Schmeichelhaft ist das ja nicht gerade.« Den Spitznamen hatte Daniele in seiner Jugend bekommen, weil er als Stürmer bereits früh die Fähigkeit besessen hatte, an der richtigen Stelle zu stehen. Und dann per Fuß oder Kopf abzustauben. Da das bedeutete, dass er während des Spiels nur kürzere Strecken zurücklegen musste, sich häufig im gegnerischen Strafraum aufhielt und dort auf Zuspiele seiner Mitspieler wartete, hatte er den Namen des argentinischen Superstars bekommen. In seinem Fall war es ein Euphemismus. Und ein Synonym für Faulheit.

»Ich hätte nichts dagegen, wenn man meine Spielweise mit der eines achtmaligen Weltfußballers vergleichen würde«, sagte der Sportler und schaute auf seine Uhr. »Aber ich muss jetzt mal in die Kabine, sonst komm ich noch zu spät und bekomme eine drakonische Strafe von Gianni.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Und ihr beiden habt bestimmt noch was Nettes mit dem Abend vor«, sagte er mit einem Seitenblick auf Sandra Wolff. Dann hob er seine Sporttasche vom Boden auf, gab Daniele zum Abschied nochmals die Ghettofaust und verschwand in Richtung Vereinsheim.

»Wenn der wüsste, was wir gerade erlebt haben … Die Arbeit mit den Jungs hat mir immer viel Spaß gemacht. Aber irgendwann musste ich kürzertreten, die Familie braucht mich schließlich auch«, wandte sich Daniele wieder an Sandra.

»Zum Beispiel in der Osteria.«

»Wem sagen Sie das.« Es fiel ihm schwer, sich von der blonden Deutschen mit den blauen Augen zu lösen. Auch sie hätte längst gehen und in ihr Wohnmobil steigen können. »Wohnen Sie in dem Camper, oder haben Sie einen festen Wohnsitz?«, fragte er mit einem scherzhaften Unterton in der Stimme.

»Wenn Sie mich stalken wollen, müssen Sie nur Ihre Kollegen von der Polizia Stradale fragen, die haben meine Personalien aufgenommen«, antwortete sie keck und strich sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. »Ich habe also keinerlei Geheimnisse vor Ihnen, Commissario. Ansonsten wohne ich über dem Studio, das ist ja nicht weit vom Kommissariat entfernt. Aber ich muss jetzt wirklich losfahren. Ich bin hundemüde, der Schreck sitzt mir in den Knochen, Giovannas lebloses und blutiges Gesicht will mir nicht aus dem Kopf gehen. Was haben Sie noch vor?«

»Ich fahre zu Giovannas Familie. Sie müssen es so schnell wie möglich erfahren, und da sie mich persönlich kennen … Ich war zwar noch Schüler, als ich zum ersten und letzten Mal auf dem Weingut war, aber es wäre feige, wenn ich das Überbringen der schlechten Nachricht delegieren würde.« Sofort sah er das Weingut wieder vor sich, den Weg, der den Hügel hinaufführte, die Tafel, an der die Familie speiste. Beim Gedanken an das, was danach zwischen Giovanna und ihm passiert war, regte sich sein schlechtes Gewissen. Die heutigen Ereignisse machten es unmöglich, die Vergangenheit länger zu verdrängen.

»Ich wünsche Ihnen viel Kraft für diesen Besuch. Ich weiß, wie schwer das ist. Ciao, Commissario, wir sehen uns.« Sandra winkte fast unmerklich mit der Hand, machte auf dem Absatz kehrt und entriegelte den Camper. Die Vorderlichter leuchteten auf, und die Seitenspiegel fuhren aus.

Daniele schaute ihr mit einem Blick hinterher, in dem genauso viel Bewunderung wie Verblüffung lag. Er stieg in seinen Ford Ranger und startete den Motor.

4. Kapitel

Im Rückspiegel sah Daniele die Sonne, die wie ein orangefarbener Medizinball hinter den Häusern von Poggibonsi den Horizont berührte. Kurz hatte er darüber nachgedacht, jemanden aus seinem Team mit zum Weingut der Familie Mancini zu nehmen. Schließlich sahen vier Augen mehr als zwei, und vier Ohren hörten auch mehr. In Gedanken war er sie durchgegangen: den erfahrenen, aber stets übel gelaunten Massimo, die Agente Scelto Diana, die ihn mit Sicherheit darauf hingewiesen hätte, dass morgen auch noch ein Tag sei. Und die stets hochmotivierte Antonia. Er hatte versucht, Antonia auf dem Handy zu erreichen, aber sie hatte das Gespräch nicht angenommen. Das war untypisch für sie, aber er konnte bei ihrem Dienstgrad nicht erwarten, dass sie vierundzwanzig Stunden verfügbar war. Zudem war es lange her, dass sie einen solch brisanten Fall zu bearbeiten hatten. Bei dem Gedanken daran, was in den nächsten Tagen auf ihn und sein Team zukommen würde, schwante ihm nichts Gutes.

Während die Straße sich höher hinaufschraubte, erhaschte Daniele einen Blick auf die sanfte Hügellandschaft, die sich rechts neben ihm ausbreitete. Der Himmel verdunkelte sich allmählich, das rote Glühen im Rückspiegel wurde intensiver, und die hellsten Sterne zeigten ein erstes zögerliches Leuchten. Er lenkte den Ford Ranger durch den winzigen Ort Gravignano. Die Häuser auf beiden Seiten der Straße waren aus erdfarbenen Ziegelsteinen gemauert.

Er sah Sandra Wolffs strahlende Augen vor sich. Wie umsichtig sie sich am Tatort bewegt hatte. Sie und nicht die Kollegen der Polizia Stradale war es gewesen, die vermutet hatte, dass Giovanna vorsätzlich überfahren wurde. Nur darum hatte man ihn so schnell verständigt. Und vor dem Stadion hatte so vieles unausgesprochen zwischen ihnen vibriert, bis sie erwähnt hatte, dass sie wisse, wie schwer es sei, einer Familie eine Todesnachricht zu überbringen. Sie betrieb das Yogastudio in der Altstadt, das er vom Vorbeigehen flüchtig kannte. Aber was hatte sie zuvor in Deutschland gemacht? Das herauszufinden würde Teil der Ermittlungsarbeit werden. Aber nicht nur das.

Sein Handy riss ihn aus seinen Gedanken, als es ihn aufforderte, abzubiegen. Zwischen uralten knorrigen Olivenbäumen ging es hoch zum Weingut. Die geteerte Straße mündete in einen Kiesweg, dem Olivenhain folgte ein dichter Kiefernwald, bis er schließlich den Hof des Weinguts erreichte. Er parkte neben einem alten Geländewagen und stieg aus. Ein Bewegungsmelder klickte, worauf ein Strahler den Hof in grelles Licht tauchte, das ihn an das Stadion-Flutlicht erinnerte. Als er den Blick über die beige gekalkte Fassade, die Fenster mit den grünen Läden und den quadratischen Turm mit den Bogenfenstern schweifen ließ, kam die Erinnerung an damals wieder hoch. Er war noch ein Schüler gewesen, als er das Weingut zum ersten Mal betreten hatte. Jetzt besuchte er es als Commissario mit der schlimmsten Nachricht, die er der Familie überbringen konnte.

Er stieg die Stufe zur imposanten Tür empor und drückte auf den Messingknopf. Der Klingelton wurde mehrfach verstärkt, pflanzte sich in Wellen durch alle Winkel des Weinguts fort. Schließlich wurde ihm geöffnet.

»Kannst du nicht einmal daran denken, den Schlüssel mitzunehmen?«, hörte er eine dunkle Männerstimme. Das sonnengebräunte Gesicht eines hochgewachsenen Mannes mit dunklen, zurückgegelten Haaren und modischem, kurz geschnittenen Vollbart kam zum Vorschein. »Oh, Scusi«, sagte er erstaunt. »Ich hatte mit meiner Schwester gerechnet.«

Daniele schluckte. Er erinnerte sich daran, dass Giovanna einen jüngeren und einen älteren Bruder gehabt hatte. Das musste der jüngere sein, aber an ihn hatte er nur eine schwache Erinnerung. Auch dessen Name war ihm längst entfallen. Er stellte sich als Commissario der Polizia di Stato vor, der eine persönliche Nachricht zu überbringen habe.

Der Mann schlug die Hand vor den Mund. »Was ist los? Ist Giovanna etwas passiert?«

»Würden Sie mich bitte hereinlassen? Ich möchte das nur ungern zwischen Tür und Angel besprechen.«

»Aber sicher doch … Bitte folgen Sie mir.« Er führte den Commissario über dunkles knarzendes Holzparkett durch einen langen Gang in ein großzügiges Wohnzimmer mit dezent orangefarben getünchten Wänden, Mahagonimöbeln und antiquiert wirkenden Teppichen. Danieles Blick streifte die Ölgemälde, die Jagdszenen darstellten, und wanderte hoch zu dem eindrucksvollen Kronleuchter, bevor sie auf die Terrasse traten. Unter einer von Weinreben überwachsenen Pergola stand ein langer Tisch, an dessen Kopfende ein Mann mit faltigem Gesicht und schlohweißem Haar saß. Er war in ein kariertes Jackett gekleidet. Neben ihm eine Frau, die Daniele auf Anfang siebzig schätzte. Sie hatte blond gefärbtes hochgestecktes Haar und trug einen dunklen Blazer. Um den Hals hing eine auffällige Goldkette, die großen Ohrringe funkelten golden. Er erinnerte sich daran, dass sie ihn schon bei seinem ersten Besuch an die Schauspielerin Catherine Deneuve erinnert hatte. Nur im Rollstuhl hatte sie damals nicht gesessen. Sie musterte Daniele mit aufmerksamem Blick.

»Der Commissario hat schlechte Nachrichten. Bitte nehmen Sie doch Platz.« Giovannas Bruder deutete auf den Stuhl neben seiner Mutter. Er selbst nahm ihr gegenüber rechts neben seinem Vater Platz.

Daniele verharrte unschlüssig für einen Moment, bis er sich neben die Frau setzte. Mit leiser, aber fester Stimme erklärte er, dass Giovanna Mancini tödlich verunglückt sei. Passanten hätten sie an der Strada Regionale vor Cedda gefunden, sie sei offenbar überfahren worden. Der Fahrer sei unentdeckt entkommen. Es täte ihm sehr leid, der Familie, der er sein tief empfundenes Beileid ausspreche, eine solch schmerzhafte Nachricht überbringen zu müssen.

Die Mutter brach sofort in ein heftiges Schluchzen aus, worauf der Sohn aufstand und sie zu trösten versuchte. Die Hand des Vaters zitterte, als er sein Weinglas abstellte. Er warf dem Commissario einen feindseligen Blick zu. Daniele erinnerte sich daran, dass Giovanna ihren Vater in einem Gemisch aus Ehrfurcht und Abscheu »il padrone« genannt hatte.

»Ich habe immer gesagt, dass das Schwachsinn ist, aber sie wollte nicht auf mich hören«, wetterte der Padrone mit einer Stimme, die wie ein alter Dieselmotor stotterte. »Es gehört sich nicht für eine Winzerin, sich in so eine Wurstpelle zu zwängen und abends völlig allein an der Straße entlangzulaufen. Nuttig sah sie aus in dieser Kleidung, jede Falte ihres Körpers konnte man erkennen.«

»Giuseppe!«, rief die Mutter mit vor Tränen erstickter Stimme. »Hör gefälligst auf damit, das hat unsere Giovanna nicht verdient, und das macht sie nicht wieder lebendig.«

Der Sohn strich ihr sanft über das Haar und setzte sich wieder an den Tisch.

Aber der alte Winzer wollte sich nicht beruhigen. »Ich habe doch recht. Wir sind hier in Italien und nicht in Amerika, wo alle so rumrennen. Unser Weingut besteht seit zwanzig Generationen. Aber damit ist ja sowieso bald Schluss.« Er warf seinem Sohn einen vorwurfsvollen Blick zu. »Jedenfalls haben wir eine Verantwortung, solange unser Traditionsunternehmen besteht. Auch dafür, wie wir uns nach außen präsentieren.«

»Jetzt beruhige dich doch, Vater. Wir müssen als Familie zusammenhalten«, versuchte der Sohn, ihn zu beschwichtigen. Er legte seine Hand auf die des Padrone, die dieser auf dem Tisch gefaltet hatte.

Unwillig schüttelte der Alte ihn ab. »Ich will mich aber nicht beruhigen!«, ätzte er. »Was ist mit der Deutschen? Hat die meine Tochter überfahren? Mit der fing doch alles an. Yoga hat Giovanna plötzlich gemacht, dann kam das Joggen. Und jetzt ist sie tot.«

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