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Moorlande

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Versteckt im Great Massasauga Sumpf in Michigan, liegt eine kleine Insel, die kein Mann zu betreten wagt. Hier lebt Hermine, von den Menschen der Region ehrfürchtig „Herself“ genannt, die schon Generationen von Frauen von ihren Leiden heilte und in dieser Wildnis selbst drei Töchter und eine Enkeltochter aufzog.

Donkey, benannt nach der Eselsmilch die ihr Leben als Säugling rettete, wächst fern ihrer eigensinnigen Mutter, umgeben von Insekten, wuchernden Pflanzen und Klapperschlangen auf. Fasziniert von allem, vor dem ihre Großmutter sie warnt, versinkt die elfjährige in Mathematikbüchern und Träumen von einem Vater. Doch Donkey ahnt nicht, wie gefährlich ihre Wünsche sind. Denn die Stammbäume im Great Massasauga Sumpf sind durchzogen von Missbrauch und Gewalt.


  • Erscheinungstag: 25.03.2025
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365009932

Leseprobe

Bonnie Jo Campbell

Moorlande

Die Geschichte der Whiteheart-Frauen

Roman

Aus dem Englischen von
Cornelia Holfelder-von der Tann

HarperCollins

Für meinen geliebten Christopher

Eine Frau ohne Esel ist selbst der Esel.

Wir sind wie Schüsseln. Schüsseln hat es immer gegeben.

Sie haben ihre Form aus gutem Grund. Ja, manche haben Schnörkel oder aufgemalte Engel, aber eine Schüssel ist eine Schüssel und war immer eine, und sie war vor dir da, und sie wird dich überdauern.

-- Diane Seuss, aus dem Gedicht »Bowl«.

Prolog

Der Ort hat unruhige Träume.

Es gab einmal eine Zeit, da war M’sauga Island die Stätte, wo verzweifelte Mütter weibliche Babys aussetzten und junge Frauen Mittel und Wege suchten, gar nicht erst Babys zu bekommen. Aber so weit die Erinnerung der Lebenden zurückreicht, war das Rose Cottage auf der Insel das Haus der heilkundigen Hermine »Herself« Zook, die dort ihre drei Töchter großzog. Die Älteste, eine Anwältin namens Primrose, war die weltläufigste; die Mittlere, Maryrose genannt Molly, Krankenschwester von Beruf, war die praktischste, und die Jüngste, Rose Thorn, war faul und schön. Hermines Arzneien – ihre Tinkturen, Salben und Wässer – werden jetzt am hellen Tag geschmäht, aber bei Nacht benutzen die Bewohner von Whiteheart, Michigan, sie immer noch, wenn nicht irgendeine ordnungsbesessene Person die unbeschrifteten Gläschen und Fläschchen weggeworfen hat. Von diesen Mitteln braucht es nur winzige Mengen, und mit der Zeit sind sie noch wirksamer geworden – manchmal reicht schon das Entkorken eines Fläschchens, um eine lindernde Wolke in einen krankheitsgeplagten Haushalt zu entlassen. Die Insel und ihre Frauen spielen eine mächtige Rolle in den Träumen der Einheimischen; schweißgebadet erwachen diese zuweilen aus Traumgeschichten von schwarz gewandeten Hexen (obwohl die Frauen der Insel nie Schwarz trugen) oder wachsamen Krähen in Baumwipfeln oder von Sumpfwasser, das durch den Dielenboden ihres Hauses emporblubbert. Es heißt, die Insel, auf der heilkräftige Wasser an die Oberfläche dringen, sei ein Ort gewesen, wo Frauen ihre Träume teilten, ein Ort, wo Frauen taten, was sie wollten.

Jeder hier kann einem den Weg beschreiben. Vom alten Highway nordostwärts abfahren auf die County Road 681, dann bei Dinziks Scheune links – die Leute werden sagen, sie sei rot, aber da ist kaum noch ein Restchen rostroter Farbe auf dem Holz – und ein schlaglöchriges Sträßchen entlang, das sich Schoolhouse Road nennt, obwohl die Schule schon abbrannte, bevor irgendjemand von den jetzt noch Lebenden geboren wurde. Die Schoolhouse Road endet an der Lovers Road. Rechts ist der Schießstand, also nach links. Vor ein paar Jahren fuhr Ada McIntyres Enkel betrunken am Ende der Schoolhouse Road geradeaus weiter ins sumpfige Wasser, wo er in vollem Tempo gegen einen Baum knallte. Jetzt ist er tot, verblutet an der Bluterkrankheit, die in der Familie liegt. Also links, und dann sieht man linker Hand in einer Militärwellblechhütte eine Kneipe mit dem Namen Muck Rattler – die hierzulande übliche Bezeichnung für die Sumpfklapperschlange – in Schablonenschrift über der Tür.

Nach der Kneipe sind dann auf dieser Seite der Lovers Road über die nächsten anderthalb Meilen Felder und auf der anderen (der nördlichen, zum Sumpf hin) riesige alte Weiden. Immer weiter, bis auf der Südseite der Straße eine Scheune kommt und eine Weide, auf der zwei alte Esel stehen, ein grauer namens Triumph und eine gescheckte Eselstute namens Disaster, Spitzname Aster, wie die Blume. Dort steht, ein ganzes Stück zurückgesetzt, ein zweistöckiges Haus mit hohen Decken und einem Schild an der Einfahrt mit der Aufschrift »Boneset«. Einem Haus einen Namen zu geben, war in dieser Gegend etwas Extravagantes, und Wild Will war extravagant, aber tatsächlich entlehnte er den Namen – den der Pflanze Wasserdost, auch Fieberkraut, Knochenheil oder Indianerkraut genannt – von seiner Frau. Das verwitterte Zedernholz des Hauses und der Scheune – beides wurde nie gestrichen – glänzt bei Sonnenauf- und -untergang silbern, wenn man es aus einem bestimmten Winkel sieht.

Gegenüber an der Lovers Road, auf einer grasbewachsenen Stelle im Schatten riesiger Weidenbäume, steht der Boneset-Tisch mit einer darauf festgenieteten abgeschlossenen Einwurfkasse. Durch eine Lücke zwischen den Weidenbäumen sieht man, wenn der Nebel nicht zu dicht ist, den Rand dessen, was die Leute hier »die Waters« nennen, und etwas weiter weg eine Art Insel, zugänglich über einen drei Planken breiten Steg, getragen von Ölfässern, die auf dem wässrigen Schlamm schwimmen. Dort, unter den Ästen von Platanen, Eichen und Zürgelbäumen, ist das grün gebeizte Rose Cottage mit den beiden vorderen Ecken so eingesunken, dass es über dem Steg zu kauern scheint, bereit, sich in die schlammige Brühe zu werfen. Hinter dem Cottage weichen die Bäume einem mückenverseuchten Niemandsland von Grasbüscheln, Sumpflöchern, seichtem Wasser, Sumpfhügeln, Tümpeln, Bächen und Quellen, das eine halbe Meile breit zwischen festem Boden und dem Old Woman River liegt. Hier erntete Herself Wildreis, Rohrkolben, Hirschkolbensumach und tausend andere Pflanzen. Das Rose Cottage ist jetzt mit Brettern vernagelt, aber auf dem Finanzamt kann man feststellen, dass die Steuern für die mehreren Hundert Acres der Waters, die immer noch Hermine Zook gehören, ordnungsgemäß entrichtet werden.

Die Waters nehmen das nordöstliche Viertel des Ortsgebiets ein, sechstausend Acres, und bis auf Hermines Teil stehen sie unter Naturschutz wegen eines halben Dutzends seltener Wildblumen und der Sumpfschildkröte sowie der gefährdeten Massasauga oder »M’sauga«, einer Zwergklapperschlange. Das staatlich geschützte Feuchtgebiet wirft nichts ab, abgesehen davon, dass ein paar Vogelbeobachter an der Tankstelle haltmachen. Selbst solche Familien in Whiteheart, die hier nie Landwirtschaft betrieben haben, wissen, dass die Waters in tief liegendes Ackerland einsickern und scheinbar festen Grund unterminieren können.

Vor einem halben Jahrhundert wagte sich Wild Will Zook in die Waters und verliebte sich in Herself, nachdem sie seinen Klapperschlangenbiss behandelt und ihm die betreffende Schlange zubereitet und aufgetischt hatte. Vielleicht heiratete er sie ja, weil sie ihn irgendwie behext hatte, aber vielleicht auch nur, weil es das Skandalöseste war, was ein Mann in diesem Ort tun konnte. Und tatsächlich beeindruckte es alle, ließ ihn noch größer wirken, als er war. Nach ihrer Heirat kaufte er für sie beide bei einer Zwangsversteigerung das Boneset-Land und baute das große Zedernholzhaus, von dem er auf die Insel hinunterblickte, aber er konnte seine Frau nie dazu bringen, mit ihm darin zu wohnen. Dass dieses stattliche, zweistöckige Haus unbewohnt und mit vernagelten Fenstern dastand, zeugte von Hermine Zooks Macht und Entschlossenheit. Die Leute zogen gern über ihre Sturheit her, nicht nur, weil sie es ablehnte, dort zu wohnen, und das Haus so lange leer stehen ließ, sondern vor allem, weil sie partout nichts von ihrem Besitz verkaufen wollte, weder von den Waters noch von dem festen Grund von Boneset.

Während sie und Wild Will zusammen waren, stellte Hermine wohltuende und verlässliche Arzneien her, die angenehm nach Brombeere und Honig schmeckten. Damals ließ Hermine Leute auf die Insel, damit sie in den flachen mineralhaltigen Tümpeln baden, ihren Blutdruck durch Blutegel senken oder ihre Wunden von Maden reinigen lassen konnten und sogar Knochen gerichtet bekamen, wenn es ein einfacher Bruch war. Doch als sie nach fünfzehn Jahren Wild Will fortschickte, veränderte sich ihre Heiltätigkeit. Zwar übte sie sie immer noch aus, aber sie ließ nie mehr jemanden auf die Insel und vergab Arzneien nur noch sparsam, indem sie ihre Kundschaft an der Straße traf, am sogenannten Boneset-Tisch. Ihre Zubereitungen waren jetzt anders: Sie schmeckten scharf, und sie brannten beim Auftragen auf der Haut oder beim Schlucken in der Kehle. Auch der lange gereifte Whiskey, den sie für Wild Will aus alten Vorräten unter dem Rose Cottage hervorgeholt hatte, verschwand, und sie führte nur noch den mit Zitrussaft getarnten Schnaps, der den Männern den Zahnschmelz wegfraß, und dann gab es bei ihr gar keinen Alkohol mehr zu kaufen. Abschreckende Zeichen erschienen an den Grenzen ihres großen Sumpflandbesitzes, bedrohliche Totenköpfe, an Bäume oder auf Steine gemalt, ohne Worte, manche mit Knochenhaufen drum herum.

Die neuen bitteren Arzneien machten Angst, und so galten die Mittel jetzt als stärker und wirksamer und verschafften Herself eine neue Art von Respekt. Als die Leute in immer größerer Zahl ihre Farmen verließen und Arbeit in der Papierfabrik annahmen, wurden sie misstrauisch gegenüber jeder Behandlung, die keine Strafe beinhaltete, nicht das Leiden, das sie zu heilen versprach, zunächst verschlimmerte. Und in jüngerer Zeit kamen sie verwirrt und wütend zu Herself, mit langsam wachsenden Tumoren der Leber und der Fortpflanzungsorgane, Krankheiten, die sie nicht kurieren konnte. Manchmal standen Leute beim Boneset-Tisch und riefen ihre Forderungen nach Heilung über den Sumpfkanal, als wäre Herself eine Apotheke.

Trotz der Erderwärmung sind die Winter in Whiteheart immer noch lang und kalt, und wenn dann endlich der Frühling kommt, wenn der Boden auftaut, fühlen die Leute hier Energie durch den Humus emporsteigen und durch ihre Schuhsohlen in sich eindringen. Jetzt hungern sie mehr denn je nach Schönheit, und sie träumen von Hermines jüngster Tochter, der faulen, unbeschwerten, goldhaarigen Rose Thorn, die wiederkehrt wie ein funkelnder Fluss in einem Bett, das ausgetrocknet war, wenn sie auch manchmal in Gestalt eines verstohlenen, halb verhungerten Tiers erscheint, das über eine Wiese schleicht. Oder sie sehen sie im Traum in Garben von goldenem Weizen gekleidet oder aus dem Herz des zarten, feinen Stangensellerie hervorkommen – sehen gar ganze Selleriefelder aus dem Matsch hervorwachsen, obwohl keiner der wenigen verbliebenen Farmer noch Weizen oder Sellerie anbaut, nur Mais und Sojabohnen, wie vom Farmerverband empfohlen.

Als Kind war Rosie so empfindlich, dass sie sich schon auf dem kurzen Fußweg zur Bushaltestelle Frostbeulen und Erfrierungen zuzog – wenn ihre Schwester Molly sie überhaupt dazu brachte, in die Schule zu gehen. Meistens schwänzte sie und verbrachte die Wintertage auf der Insel im Bett, wo sie Oz-Bücher und Märchen las. Ab dem Teenageralter lief sie jedes Jahr für einen Teil des Winters von zu Hause weg, zu Primrose, die in Südkalifornien als Rechtsanwältin arbeitete. Es gibt mehr als nur ein altes Foto von Rosie, das in einem Zipp-Beutel irgendwo versteckt ist, wo die Frau oder Freundin des betreffenden Mannes nicht suchen wird. Keins der verschwommenen Fotos wird ihr gerecht, aber dem Durstigen ist jeder Trank willkommen.

Über Rose Thorns Verrücktheit herzuziehen, macht den Männern und Frauen im Ort immer noch gute Laune, und sie ziehen weidlich darüber her. Sich daran zu erinnern, wie Rose Thorn lächelnd und blinzelnd in der Sonne stand, ein Bier in der einen Hand und einen Pall-Mall-Sargnagel in der anderen, zu faul, um Mücken oder Erdbienen zu verscheuchen, inspiriert die Leute, ihre Gärten zu bepflanzen, ihre ungezogenen Kinder zu küssen und sogar Liebe zu machen. Tatsächlich ist Rose Thorn genau hier, im gemeindefreien Whiteheart, leibhaftig, obwohl sie nicht mehr auf der Insel lebt. Sie hält sich dieser Tage aus der Öffentlichkeit fern, und wenn es kalt ist, existiert sie in einem trägen Zustand, ähnlich dem der überwinternden Massasauga, einer Winterruhe, in der das betreffende Lebewesen noch trinkt, um am Leben zu bleiben, und beißt, wenn es bedroht wird. Wenn Rose Thorn etwas von einer Nachbarin oder einem Nachbarn braucht, kommt ihre Tochter und bittet darum.

Im Frühjahr fahren die Männer des Orts, wenn sie zum Schießstand am anderen Ende der Lovers Road wollen, an der Insel vorbei, bleiben manchmal im Leerlauf stehen und blicken zum Ufer hinab, um zu kontrollieren, ob das neue Tor am Steg zur Insel noch abgeschlossen ist. (Titus Clay, der nächste Nachbar, hat das Tor als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme angebracht, obwohl die wirksamste Sicherung darin besteht, dass von einem Dreimeterstück des Stegs über den Treibschlamm die Planken entfernt wurden.) Eine Kombination von Aberglauben, Schuldgefühl, Respekt und Angst lässt die Leute gar nicht erst versuchen, auf die Insel hinüberzugelangen, verhindert allerdings nicht, dass Männer gelegentlich vom Rand der Lovers Road aus auf Klapperschlangen schießen.

Manchmal, wenn eine Gruppe arbeitender Männer um zwei Uhr morgens vom unverheirateten Barmann Smiley Smith aus dem Muck Rattler geworfen wird, zieht es sie zur Insel, vor allem bei Vollmond oder wenn eine imposante Mondsichel über dem Inselhügel hängt wie ein Jagdhorn oder ein verheißungsvoller warmer Wind von Südosten weht. Nach einem alten Mysterium hungernd, fahren sie die Straße entlang zu der Stelle, wo Hermine sich der Leidenden anzunehmen pflegte. Sie stellen ihre Bierdosen auf dem – jetzt auf sechs Beinen aus tief in die Erde getriebenen Eisenrohren ruhenden – Boneset-Tisch ab, unter dem immer noch der kleine Babbykorb hängt, ausgelegt mit einer sauberen Decke. Wo Herself einst eine reiche Auswahl an Kräutern und Arzneien anbot, heilkräftige Eier, etwas, um Wunden und Krankheiten selbst im bittersten Winter zu heilen, finden sich jetzt nur ein paar versprengte Gemüsefrüchte, Beeren oder Rindenstücke, hinterlassen von Gott weiß wem.

Herself kurierte die pilzbefallenen Füße und trägen Därme von Whiteheart, und für jedes hier geborene Baby (oder Babby, wie sie sagte), hinterließ sie auf diesem Tisch einen Schluck heilkräftiger Eselsmilch, die in dem Ruf stand, Kinder klüger und braver zu machen. Außerdem, so hieß es, gehe die Eselsmilch ins Blut über und wirke als prophylaktisches Antivenom, vermindere die Reaktion auf Klapperschlangenbisse. Die Milch war für Herself eine Möglichkeit, auf jedes Babby zumindest einmal Einfluss zu nehmen. Obwohl Titus Clay schwört, dass die alte Frau noch lebt, hat sie seit Jahren keinen Finger mehr gerührt, um jemandem zu helfen, ja, war nicht mal mehr auf einer Beerdigung, um Zedernholz und Kräuter zur Reinigung und zur Wahrung der Erinnerung zu verbrennen, wie sie es früher immer getan hat. Jeder weiß, dass Titus, jetzt Eigentümer und Betreiber von Whiteheart Farms, den Ländereien am Ende der Lovers Road, die einst die größte Selleriefarm der Welt waren, ein Interesse an der Familie hat, das weit darüber hinausgeht, ein Mittel gegen seine Krankheit zu bekommen, die Hermine immer dünnes Blut nannte.

Das Rose Cottage pflegte einst vom Licht seiner Bewohnerinnen zu leuchten, aber jetzt ist es nachts dunkel und oft derart in Nebel gehüllt, dass man es gar nicht sieht. Man hört einen Frosch glucksen oder einen Uhu rufen oder manchmal einen Ziegenmelker schnurren. Solche alten leisen Geräusche nach der Sperrstunde bewirken, dass die Männer nicht nur ihre müden Glieder und ihre Schmerzen und wunden Stellen spüren, sondern auch die nagende Sorge, dass ohne Herself die Zukunft eine Verschlimmerung ihrer Symptome bedeuten könnte, einhergehend mit der Zerstörung der Natur, die sie ernährt. Der kühle, schwere Geruch von Sumpfblüten und Fäulnis kann in Männern eine komische Sehnsucht danach wecken, dass jemand sie berührt und ihnen zuhört, und da das untereinander absolut ausgeschlossen ist, nimmt der Mann einen Schluck von etwas aus seiner Tasche. Jemand erzählt dann vielleicht eine Geschichte von Wild Will, der, wie es heißt, über zwei Meter zehn groß war und Arme hatte wie John Henry, der den Wettkampf mit dem dampfgetriebenen Bohrhammer gewann, Arme, narbig von Stacheldraht und Tierbissen und beide tätowiert, der linke mit dem Namen Hermine und um die Buchstaben geschlungenen Schlangen. Wild Will war bekannt dafür, Geistergeschichten zu erzählen, die einem Schauer über den Rücken jagten und die Angst einpflanzten, dass jede mysteriöse Gestalt, die man im Sumpf sah, ein Wasserdämon oder ein Seelenräuber war. Obwohl die Leute sich nicht genau an diese Geschichten erinnern, fürchten sie sich immer noch bei jedem Licht oder Geräusch hier draußen in den Waters, dessen Ursprung sie nicht ausmachen können.

Außerhalb der Familie weiß niemand, was Hermines Mann verbrochen hatte, dass sie ihn nach fünfzehn Ehejahren verbannte. Innerhalb der Familie besteht eine gewisse Akzeptanz, dass es formal gar kein Verbrechen war – schließlich war seine Stieftochter Prim siebzehn, also einwilligungsfähig, und sie sagte, es sei keine Vergewaltigung gewesen. Dass Hermine Wild Will wegschickte, rettete seinen Ruf und machte ihn noch geheimnisumwitterter, indem es ihm erlaubte, einfach zu verschwinden, so lange er noch ein vitaler, gut aussehender Mann war. Selbst wenn er gestanden hätte, hätten ihn viele Männer entschuldigt, indem sie sich auf die Bibel beriefen und sich weigerten, Lot für das zu verurteilen, was sie als die Sünde seiner Töchter ansahen.

Wenn sie so samstagnachts im Dunkeln beim Boneset-Tisch stehen, ein paar Männer, die nicht zu Hause bei ihren Frauen sind, dann erinnern sie sich, wie früher hier Leben und Lachen herrschten, und manchmal müssen sie ihre Verwirrung oder Trauer oder Wut einfach herauslassen. Einer zieht den Revolver aus seinem Gürtelholster und schießt aus der Hüfte auf das alte grüne Cottage, dessen Fenster bereits zerschmettert und mit Sperrholz vernagelt worden sind. Zur Antwort nimmt ein anderer seine halbautomatische Pistole aus dem Schulterholster und jagt ein paar Schuss durch den Nebel, um das nächtliche Orchester zu dirigieren, sich Autorität über die surrenden, pfeifenden, murmelnden Kreaturen zu verschaffen, die jäh verstummen. Ein Mann zieht die Schrotflinte seines Vaters aus dem Gewehrhalter in der Kabine seines Pick-ups, zielt und feuert auf einen noch vorhandenen Teil des Stegs, der bereits samt den Ölfässern am Versinken ist. Doch nach ein paar Salven überkommt die Männer, die am Morgen zur Arbeit oder in die Kirche müssen, ein Übelkeitsgefühl, und sie beschließen, nicht noch mehr Munition auf das Gehäuse einer Kreatur zu vergeuden, die doch praktisch schon tot zu sein scheint.

1

Rose Thorn kommt immer wieder nach Hause.

Irgendwann einmal, im schwarzschlammigen Feuchtland des gemeindefreien Whiteheart, wo die Steuern niedrig sind, zogen Farmerfamilien den feinsten, zartesten Sellerie der Welt, den weißen Staudensellerie. Will heißen, der Ort wurde nicht nach den europäischen Siedlern benannt, die die reichhaltige Potawatomi-Kultur, die vor ihnen da war, zu zerstören suchten, sondern vielmehr nach der Feldfrucht, die die Siedler anbauten, jener Feldfrucht, die ein halbes Jahrhundert lang den Menschen hier ihren Lebensunterhalt lieferte.

Massasauga Island selbst hat eine Geschichte, die Jahrhunderte zurückreicht, aber der Teil, um den es auf diesen Seiten geht, beginnt erst am achten Mai vor vierzehn Jahren, als die Sonne hell schien, wenn auch nicht auf die Menschen hier, weil sie die dichte Wolkendecke nicht zu durchdringen vermochte. Zu dieser Zeit lebte Herself noch auf der Insel und kurierte Beschwerden, wenn auch ihre Arzneien in letzter Zeit besonders bitter schmeckten, weil ihr ihre drei Töchter fehlten. Im September war ihre Jüngste, Rosie, auf und davon gegangen, zu ihrer Schwester Primrose, die in Kalifornien lebte, so weit weg von Herself, wie sie nur konnte. Molly, die mittlere Tochter, arbeitete im nahe gelegenen Krankenhaus, war aber derzeit in Lansing wegen eines Intensivausbildungsprogramms zur eigenverantwortlich arbeitenden Pflegefachkraft. Die Geschichte der Töchter beginnt also mit deren Abwesenheit.

An diesem Tag tranken eine Handvoll Männer, darunter drei Farmerssöhne und ein Farmarbeiter, im Muck Rattler ihr Sonntagsvormittagsbier oder -softgetränk und versuchten das sehnsüchtige Ziehen zu lindern, das sie jetzt immer nach dem Gottesdienst verspürten. Nach den Predigten des vorigen Reverend hatten die Leute die Kirche fröstelnd, benommen und überwältigt verlassen wie nach einer Geistergeschichte, und jetzt verließen sie sie mit einer Liste von Anweisungen, Verboten und Urteilen. Heute hatte Reverend Roy, der Neffe des alten Reverend, gesagt, sie müssten der Versuchung widerstehen, irgendetwas von Hermine Zook zu wollen. Christus habe gelitten, sagte er, also würden sie ebenfalls leiden. »Gotteserkenntnis«, hatte er gesagt, »erwächst aus dem Schmelzofen des Elends.«

Bei diesen Worten durchzuckte ein Schmerzblitz seine Kreuzgegend – eine kürzlich erfolgte Operation hatte keine Erleichterung gebracht –, und der echte Schmerz in seiner Stimme verlieh seiner Botschaft Gewicht. Sein Leiden verschlimmerte sich, seit Molly weg war. Er erkannte zwar ihre Abwesenheit nicht als Ursache des Schmerzes an, betrachtete aber die doppelte Heimsuchung als eine weitere Prüfung, der ihn der Allmächtige unterzog.

Die Männer tranken lieber draußen am Picknicktisch des Muck Rattler zur Straße hin, weil es nach einem Unwetter letzte Nacht im fensterlosen Inneren der Kneipe dunkel sein würde, bis der Strom wieder da war. Die fünf standen unter dem Himmel, der so milchig war wie das Auge eines blinden Pferds, und brüllten, um einander beim Lärm des Dieselaggregats, das die Kühlschränke des Rattler am Laufen hielt, verstehen zu können. Wären sie drinnen gewesen, hätten sie verpasst, was da die Lovers Road entlangkam.

Nach Osten und nach Westen reihten sich, so weit die Männer blicken konnten, uralte Schwarzweiden, manche fünfundzwanzig Meter hoch – höher, als diese Baumart normalerweise wird. Der Boden war weich vom Unwetter der Nacht und das Blattwerk ein einziges üppiges Grün, noch nicht vergällt von den sirrenden Mücken, die im Sumpf und in den Straßengräben schlüpfen würden, sobald es wärmer wurde. Diese Woche halfen die Farmerssöhne, auch wenn ihre Großväter gesagt hätten, dass es für die Aussaat noch zu früh war, ihren Vätern, die Maschinen bereit zu machen. Die Farmer säten mit den Jahren immer früher, sagten es aber nicht gern. Von den Mustern ihrer Großväter und Urgroßväter abzuweichen, setzte sie unter Spannung, und manche entwickelten bereits etwas, was sich wie eine merkwürdige Form von Spielsucht anfühlte. Es konnte sein, dass ein Farmer um drei Uhr morgens aus einem Albtraum erwachte, in dem seine Seele im Bett aus seinem Körper entwich und durch einen Fensterspalt davonschwebte, und dass er dann hinaus in seine dunkle Scheune ging, seine Sämaschine anwarf und auf der leeren Straße zu seinem nächstgelegenen Feld tuckerte.

Die betreffenden Farmer wussten nicht, was sie trieb, aber die frühe Aussaat war zum Teil eine natürliche Reaktion auf die leichte Erwärmung des Planeten, die sie tief in ihrem Inneren fühlten; und wenn ein Mann sein erstes Feld angesät hatte, witterten die anderen den Aufstieg eines neuen Anführers und folgten ihm, indem sie ebenfalls früh säten. Die Männer taten dies, obwohl ihre Väter und Großväter sie gelehrt hatten, dass Getreide in kaltem Boden nicht keimt – obwohl die übereilten Aktionen ihnen schlaflose Nächte bringen würden, erfüllt von der Sorge, dass die Saat erfrieren könnte.

Die meisten Frauen warteten, wie sie es immer getan hatten, mit der Aussaat in ihren Gemüsegärten, bis sie Hermine in ihrem Garten vor Wild Wills Boneset House – die Insel selbst war für Gemüse zu schattig – säen sahen, aber einige bekundeten Solidarität mit den Männern, indem sie ebenfalls früh säten. Diese Frauen zogen jedoch, einfach nur sicherheitshalber, auch noch Setzlinge in den Eierkartonanzuchtschalen im Schutz der kleinen Gewächshäuser, die sie aus alten Einfachfenstern gebaut hatten. Das ganze Jahr sammelten sie Eierkartons, wie sie es immer getan hatten, und hinterließen die, die sie selbst nicht brauchten, auf dem Boneset-Tisch, damit Herself sie mit Eiern der mit Kräutern gefütterten Inselhühner füllen konnte.

Titus Clay war nicht unter den Farmerssöhnen an diesem Spätvormittag im Muck Rattler, noch nicht. Nach dem Gottesdienst hatte er gesagt, er wolle mit seinem Vater nach Hause gehen, um nach ihren Notstromaggregaten zu sehen, und werde bald nachkommen, aber die Männer im Muck Rattler waren sich nicht ganz sicher, ob sein Vater, Titus Clay senior, nicht vor ihnen allen mit der Aussaat beginnen würde. Trotz des dünnen Bluts, an dem er litt und das er Titus junior vererbt hatte, lebte der bedeutende ehrbare Farmer in einer Welt der Gewissheit und war bekannt dafür, unverrückbare und bindende Entscheidungen von jetzt auf gleich zu treffen. Während die Sonne sich durch den Nebel zu kämpfen versuchte, hielten sie Ausschau nach Titus’ Pick-up. Alles ergab mehr Sinn, wenn Titus dabei war. Obwohl erst vierundzwanzig, hatte er immer den passenden Witz parat, das passende Bibelzitat, den passenden Kommentar, wenn ein Mann ein Loch grub (»Larry, sieht aus, als ob du deinem schlimmsten Feind eine Grube gräbst – ich seh dich schon selbst reinfallen«) oder eine verführerische Frau im Ort auftauchte (»Zurrt eure Planen fest, Jungs, da kommt ein Tornado im Rock«). Während sie auf ihn warteten, waren sie in nervöser Bewegung, als könnte keine Steh- oder Sitzposition, die sie einnähmen, wirklich richtig sein, und rückten ihre Kragen und Gürtel zurecht. Die Mehrzahl der Männer trug zum Kirchgang Jeans und ein sauberes Sportshirt und Rick Dickmon sogar ein Button-down-Hemd, Jamie Standish aber hatte seine üblichen Tarnhosen und ein grünes T-Shirt an, und es war bekannt, dass er immer eine kleine Pistole in der Tasche trug, selbst im Haus des Herrn.

Diese Männer versuchten ein anständiges, behagliches Leben zu leben. Sie alle – auch Smiley, der Barmann, der bald herauskommen würde – hatten die Vorstellung, von ihrer Familie und ihren Freunden aufrichtig gemocht und respektiert zu werden und locker und nett mit jedem im Ort reden zu können. Ihr Hang zur Bescheidenheit wurde nur durch den Wunsch gemildert, als Männer wie ihre Väter und Großväter anerkannt zu werden, aber sie hielten sich nicht für sonderlich wichtig im Gesamtgefüge der Dinge. Standish dachte, er wäre vielleicht wichtig geworden, wenn er zu den Marines hätte gehen können, aber mit seinen dreiundzwanzig Jahren hatte er bereits die Füße eines alten Mannes – platt und mit Ballenzehen und eingewachsenen Fußnägeln, die sich leicht entzündeten.

»Denkt ihr, es ist noch okay, Aspirin zu nehmen?«, fragte Tony Martin. »Reverend Roy hat gesagt, wir sollen uns einfach zusammenreißen.«

Niemand hatte darauf eine Antwort oder auch nur einen spöttischen Kommentar. Sie alle hofften, dass es nicht das war, was der Reverend meinte. Standish schüttelte den Kopf, sauer, dass Tony das Dilemma ansprach. Tony, genannt Two-Inch-Tony, war nicht aus Whiteheart, seine Eltern waren aus Potawatomi auf der anderen Seite des Flusses; er hatte vor sechs Jahren die rothaarige Cynthia Darling geheiratet und bemühte sich immer noch dazuzugehören. Cynthia hatte sich im letzten Monat mit Standishs Frau Prissy in Standishs Küche betrunken, und Standish, der nebenan fernsah, hatte gehört, wie sie lachend über die mangelnde sexuelle Leistungsfähigkeit ihrer Ehemänner herzogen. Am nächsten Morgen hatte er seinen Pick-up an der Lovers Road geparkt und war hinüber zum Boneset-Tisch gegangen, wo Hermine Zook, Herself, wie so oft um diese Tageszeit in einem großen Holzstuhl saß, die Zöpfe zu einem Kranz um den Kopf geschlungen und diese verdammte gruselige Kaurimuschelkette auf dem Busen. Jetzt kam er sich wie ein Idiot vor. Schon beim Gedanken, dass er auf dem Klappstuhl neben dieser Hexe gesessen und ihre Hand gehalten hatte, wo ihn jemand hätte sehen können, ließ ihn schamrot werden und bewirkte, dass seine Füße schmerzten. Als Herself ihn angesehen hatte, waren ihr Tränen in die Augen getreten. Wer, zum Teufel, war sie, dass sie sich anmaßte, um seinetwillen zu weinen?

»Wenn wir leiden sollen«, sagte Whitey Whitby, »warum hat sich Reverend Roy dann den Rücken operieren lassen?« Whitby war Titus’ Cousin mütterlicherseits und arbeitete auf Whiteheart Farms, seit er zehn war. Er war fast so groß wie Titus und hatte es mit seinen gerade mal neunzehn Jahren geschafft, sich einen zotteligen Bart wachsen zu lassen. Da er das dünne Blut, das in der männlichen Linie vererbt wurde, nicht hatte, übertrug ihm Titus Clay senior die gefährlichen Farmarbeiten, wie Bullen zu kastrieren oder in Getreidesilos zu steigen, um Verstopfungen zu beseitigen.

Standish blickte jetzt auf und sah auf einem Ast über sich eine Krähe, die ihn ganz offensichtlich verspottete. Er ging auf seinen schmerzenden Füßen zu seinem Pick-up und nahm sein Gewehr aus dem Halter in der Kabine. Als er die Pick-up-Tür zuknallte, schwang sich die Krähe in großen Sätzen über die Waters davon, mit ihrer Freiheit protzend.

Dann drehte der Wind und wehte Rauch vom knatternden Notstromaggregat über den Tisch, und Whitby bekam einen so schweren Hustenanfall, dass er seinen Sargnagel neben seinem Mountain Dew auf den Rand des Picknicktischs legen musste. Er hatte schon länger eine hartnäckige Erkältung samt Nebenhöhlenproblemen, die er einfach nicht loswurde.

»Ich glaube, ich riskiere die ewige Verdammnis und frage Herself nach irgendwas gegen diesen Husten«, sagte Whitby, als er wieder sprechen konnte. Er war eigentlich immer schlagfertig gewesen, ein richtiger Witzbold, aber in den letzten Monaten war er zum Kettenraucher und Grübler geworden, und sein Leben fühlte sich nicht mehr spaßig an.

»Mein Pop hat von Herself immer was Wirksames gegen Katarrh gekriegt«, sagte Dickmon und schob seine schwere schwarze Brille wieder hoch. »Schwor drauf. Aber als Erstes wird sie dir sagen, du sollst die Krebsstängel aufgeben.«

»Rev Roy hat recht. Man braucht dieses Hexenzeug nicht«, sagte Standish, obwohl auch sein Vater und sein Großvater auf diese bittersüße Hustenarznei aus Wasserhanf, Ulmenrinde und Honig geschworen hatten. Standish hatte die alte Frau um etwas anderes gebeten, etwas, was bewirkte, dass seine Frau ihn liebte, einen Liebestrank, so hatte er Leute das nennen hören, und wieder wurde er schamrot beim Gedanken an diese Bitte. Als Reaktion auf die Tränen der Alten hatte er seine Hand weggezogen, war in seinen Pick-up gestiegen und weggefahren.

»Was ist Katarrh?«, fragte Two-Inch-Tony. Er sah nicht aus wie die anderen Männer, schon wegen seines dicken dunklen Haars und der Adlernase, und er war auch kleiner, kräftig und drahtig wie ein Akrobat, nur dass bei ihm ein Bein nicht so lang war wie das andere. Aber der Spitzname bezog sich nicht auf seine Größe oder seine Proportionen. Er kam daher, dass die Leute behaupteten, Tonys Betonflacharbeiten seien zu dünn, seit ein Waldmurmeltier einen Riss im gegossenen Garagenboden von Ralph Darlings Onkel verursacht hatte. Davor schon war auf einer Terrasse, die er gegossen hatte, eine Baumwurzel durch den Beton gebrochen. Da könne man doch nichts machen, sagte er – sein Ton defensiv –, wenn die Waldmurmeltiere hier gebaut seien wie Sumoringer und die Baumwurzeln so viel Kraft hätten wie Sumpfschlangen. Tony brauchte Arbeit, die etwas einbrachte, aber die Leute waren derzeit unsicher, was die Zukunft anging, und glaubten es sich nicht leisten zu können, Terrassen oder Fundamente für Nebengebäude gießen zu lassen.

Die Farmer ließen nach den schlechten Erträgen des letzten Jahres ein wenig die Schultern hängen, wenn auch kein Farmer jemals zugeben würde, ein gutes Jahr gehabt zu haben. Manche Leute schoben die Probleme auf einen Fluch von Hermine Zook, die schlechte Laune hatte, seit Rose Thorn weg war. Rosie war für sie alle ein Lichtblick gewesen. Schon vor zehn Jahren waren die Leute gekommen, um neben Herself am Straßenrand zu sitzen, weil sie hofften, das hübsche verträumte Mädchen im Gras ein Buch lesen oder langsam und träge über den Steg von der Insel herüberkommen zu sehen. Wenn Rose Thorn dann etwas sagte, sprach sie über die Charaktere in Büchern, als wären deren Abenteuer real, oder sie erzählte, sie habe unterm Steg einen Troll gesehen.

»Grandpa hat gesagt, der alte McIntyre ist hundert geworden, weil er immer das Aloewasser von ihr getrunken hat«, fuhr Whitby fort. »Und ihr wisst ja, er hat jeden Tag gearbeitet, bis er in seinem Beerenmoor tot umgefallen ist. So will man doch sterben.«

»Ich würde lieber als Krieger sterben«, sagte Jamie Standish weise nickend.

»Pop hat gesagt, McIntyre ist mit neunundneunzig gestorben. Hat die hundert nicht geschafft. Niemand in Whiteheart hat je die hundert geschafft«, sagte Dickmon und blies seine Fassbrust auf. Er hatte Standish und dessen Militarismus satt. Dickmon hatte selbst einen Schrank voller Waffen, aber nachdem er und Hannah Grace zu Beginn ihrer Schwangerschaft eine Angstphase durchgemacht hatten, wollte er übers Schießen oder Töten nicht mal mehr reden. Kapierten die anderen denn nicht, wie verdammt kostbar das Leben war? Gerade Standish, der eine vierjährige Tochter hatte, sollte das doch wissen.

»Außer Herself«, sagte Whitby.

»Wie soll die denn hundert sein?«, fragte Dickmon ärgerlich. »Sie kann ja noch nicht mal siebzig sein. Sie hat doch eine achtzehnjährige Tochter.«

»Sieht aus wie hundert, die schrumpelige alte Heidin«, sagte Standish verächtlich.

»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte Whitby. »Sie tut doch weiter nichts, als Leuten zu helfen. Wenn du ihre Hilfe nicht willst, dann bitte sie halt nicht drum.«

»Yeah, Satan hilft Leuten auch, wenn er ihre Seele will.«

»Als sie den alten McIntyre nach dem Tod aufgeschnitten und reingeguckt haben, war er so rein wie ein Neugeborenes«, sagte Whitby. »Das hab ich gehört.«

»Mich schneidet niemand auf, wenn ich tot bin«, sagte Ralph Darling und tätschelte zärtlich seinen Bauch. »Niemand soll wissen, was in mir drin ist.« Mit Anfang zwanzig entwickelte er bereits den runden Bierbauch seines Vaters und die seltsame Angewohnheit, ihn auf diese Art zu tätscheln. Sein Vater trank still zu Hause, aber sein Großvater, Old Red, war ein berüchtigter Säufer gewesen, bekannt dafür, in der Öffentlichkeit ins Suffkoma zu fallen. Wie Old Red war auch Ralph gern in Gesellschaft, also wusste niemand, wo es bei ihm mit dem Trinken noch hinführen würde.

»Ich glaube, Rev Roy ist einfach auf der falschen Bettseite aufgewacht«, überschrie Whitby den Generator, der gerade einen Zahn zugelegt hatte, »ohne Molly.«

Die Männer genossen Whitbys respektlose Bemerkung erst mal schweigend, während der Generator weiterratterte. Whitby konnte nicht anders, als an jedem zu rütteln, der eine hohe Meinung von sich hatte, so wie offenbar der Reverend. Er hatte kürzlich erlebt, dass ein großer Mann weit weniger groß sein konnte, als die Leute glaubten, und wusste nicht, was er damit machen sollte, außer zynisch zu sein.

»Die beiden haben ja nur zehn Jahre was miteinander gehabt«, sagte Standish. »Wenn er echt ans Leiden glaubt, sollte er mal heiraten.«

Smiley Smith öffnete die Tür des Muck Rattler und blieb auf der Schwelle stehen. »Halleluja, amen, und mögen die Weiber weinen!«, verkündete er. Er trat heraus und ließ die selbst gebaute Fliegentür klappernd hinter sich zufallen. Er hatte die Plastikabdeckung zum Kälteschutz noch nicht vom hölzernen Rahmen abgenommen, und sie war zerrissen und flatterte. Im Näherkommen trocknete Smiley sich die Hände an einer weißen Barschürze ab – einer Schürze, auf der immer Blut zu sein schien, obwohl es im Muck Rattler nichts aus frischem Fleisch gab, nur die Pizzen, die seine Mutter machte. Smileys Hände waren immer sauber und rissig vom Wischen der Theke und vom Spülen. Er hatte eine Stirnglatze, und vom Alter her hätte er der Vater der meisten dieser Männer sein können, aber er hatte nie geheiratet und keine Kinder. »Herrlicher Tag in den Waters. Die Vögel singen sich eins.«

»Bestimmt kommen die Klapperschlangen gerade aus ihren Löchern«, sagte Standish. »Wenn ich dieses Jahr sechs erwische, könnte ich mir Stiefel machen lassen wie die von Wild Will.«

Unter den Schlangenaccessoires, die Wild Will gesammelt hatte – Schlüsselanhänger, Flaschenöffner und Westernkrawattenspangen –, waren seine Schlangenhautstiefel am berühmtesten. Die M’sauga war eine geschützte Art, aber etwas Giftiges zu schützen, schien eindeutig falsch, so wie Sünde zu verteidigen, und es würde sich doch wohl kein Mann beschweren, wenn ein anderer Mann eins dieser Viecher schoss.

»Du kannst ja noch nicht mal die Stiefel schnüren, die du anhast«, sagte Dickmon, justierte das schwarze Plastikgestell auf seiner Nase und zog sein Button-down-Hemd zurecht, das inzwischen ein bisschen eng war, vielleicht wegen Hannah Grace’ nahrhafter Küche. Die Herzkrankheit seines Pops war eine Warnung, und er wusste, er würde sie irgendwann ernst nehmen müssen. »Du sieht echt schlampig aus.«

»Meine Füße müssen atmen.« Standish konnte mit diesen Jungs nicht über seine Fußschmerzen reden. Seine Ma hatte die gleichen Probleme, aber die hinderten sie nicht daran, hinter den Männern her zu sein.

Im Graben auf der Waters-Seite der Lovers Road ließen Rotflügelstärlinge auf schwankenden Rohrkolben ihr Balzgetriller los. Chorfrösche sirrten und Schreifrösche stießen ihre dröhnenden Laute aus. M’sauga-Klapperschlangen rasselten hell, und es juckte den Männern in den Fingern, sie zu schießen, wenn sie sie nur zu Gesicht bekämen.

»Wer ist das?«, fragte Darling und spähte mit zusammengekniffenen Augen die Lovers Road ostwärts entlang, in Richtung des eine Meile entfernten Schießstands. Er stieg auf den Picknicktisch, um bessere Sicht zu haben. Die anderen blickten ebenfalls hin, aber da die Straße eine leichte Kurve nahm, verdeckten im Moment gerade Sandweiden und Weißer Hartriegel die Gestalt.

»Du isst wohl zu viele Karotten. Ich sehe nichts.« Whitby spähte angestrengt.

»Warum machen sie sonntags den Schießstand nicht auf?«, fragte Standish, weil sie gerade alle dorthin schauten.

»Könnte ein Hund sein«, sagte Dickmon. »In der Kirche habe ich gehört, Ed Cole sucht seinen gelben Labradormix.«

»Den habe ich heute Morgen vorm Gottesdienst quer über die River Street laufen sehen, garantiert hinter einer läufigen Hündin her«, sagte Darling, die Hand schützend auf seinem Bauch. »Was glaubt ihr, was Titus macht? Er wird doch nicht schon aussäen, oder?«

Darlings Vater weigerte sich, sein Land Titus Clay senior zu verkaufen, und er war nicht der Einzige: Titus seniors eigene Tante, Ada McIntyre, der die andere Hälfte von Whiteheart Farms und die Obstwiesen und Cranberrymoorfelder gehörten, weigerte sich ebenfalls. Aber Ada ließ Titus senior ihr Land bewirtschaften, solange Titus junior mit dem Obst half. Ihr Enkel Alan hatte immer geholfen, bis er im letzten Herbst im Sumpf verblutet war. Frauen wie Ada trugen die Erbanlagen für das dünne Blut in sich, hatten aber keine Symptome.

»Von Säen hat Titus nichts gesagt«, sagte Whitby.

»Wäre ein verdammter Idiot, der Mann, wenn er vor Freitag mit der Aussaat anfangen würde«, sagte Dickmon und wappnete sich gegen Widerspruch. So etwas mit solchem Nachdruck zu sagen, war riskant, zumal er keine Landwirtschaft mehr betrieb. Dickmons Vater hatte vor sechs Jahren an Whiteheart Farms verkauft, bevor er nach Alabama gezogen war und Rick fünf Acres hinterlassen hatte und das Farmhaus, das ständig repariert werden musste.

»Eindeutig jemand zu Fuß«, sagte Darling.

»Haben sie dir gesagt, wann der Strom wiederkommt?«, fragte Dickmon Smiley, der die Achseln zuckte.

»Hoffentlich bald. Ich traue mich nicht, den Generator laufen zu lassen, wenn ich nicht da bin.«

Dass da jemand die Straße entlangkommen sollte, machte die Männer neugierig, und es stimmt ja, wenn man lange genug hinsieht, taucht gewöhnlich auch etwas Sehenswertes auf, und wenn es nur ein Stockententrio ist, das aus dem hohen Gras hervorkommt, zwei Erpel, die die Ente besteigen, und die Ente, die unter ihnen wegschlüpft, sodass ein Erpel den anderen vögelt. Oder ein Stärlingsweibchen, das dem Werben eines Männchens nachgibt, wenn dieses lange genug seine roten Schulterklappen auf einem albern wackelnden Rohrkolben präsentiert hat, oder ein junges Pärchen, das langsam dahinkutschiert und dringend ein ungestörtes Plätzchen sucht. Die Männer scharten sich um den Picknicktisch und blickten alle in dieselbe Richtung, fühlten das Gewicht dickbödiger Bierkrüge oder eisige Aludosen in der Hand, fühlten das Vibrieren des laufenden Generators.

Jenseits der Straße blubberten die Sumpfquellen unter der feuchten Last des Himmels. Jetzt, im Frühling, leuchteten ganze Partien der Waters von winzigen Wildblumen, die voller Pollen waren und im Sommer und Herbst von kleinen sauren Früchten strotzen würden. Und die Früchte würden von den Sumpfkreaturen gefressen und von Herself, die mit einem Floß zwischen den kleinen sumpfigen Inseln umherstakte, für Arzneien geerntet werden. Trotz der Zeichen, die in den Waters um M’sauga Island auf Steine und Baumstümpfe gemalt waren, wusste niemand genau, wo Herselfs Besitz endete und das geschützte Countygebiet begann, und die Männer hatten keine Lust, dort draußen ihrer kräftigen Gestalt zu begegnen, also hielten sie sich meistens fern. Es gab noch eine Gestalt, die Whitby und Dickmon im Sumpf gesehen hatten – ein Mann oder vielleicht auch der Geist eines Mannes. Niemand, von dem sie jemandem erzählen wollten.

»Da!«, sagte Darling und deutete mit dem Finger. »Jetzt müsst ihr blinden Maulwürfe ihn doch auch sehen.«

»Könnte jemand sein«, sagte Whitby. Er traute dieser Tage seinen Augen nicht, oder besser gesagt, er hatte Angst, was er sehen könnte, wenn er zu genau hinsah. Bis letzten Herbst hatte er gern auf Whiteheart Farms gearbeitet, lieber, als zu Hause zu sein, und er hatte sich im Spiegel anschauen und mit sich im Reinen sein können. Und wichtiger noch, er hatte andere Männer anschauen und davon ausgehen können, dass sie anständige Menschen waren, dass sie wirklich das waren, was sie zu sein schienen. Inzwischen hatte er gelernt, dass man kein Verbrechen begehen musste, um sich schuldig zu fühlen; ein Verbrechen zu sehen, reichte schon.

»Na bitte, auf mich hört ja keiner«, sagte Darling mit Genugtuung, weil ihm niemand geglaubt hatte.

»Sicher, dass es kein Kojote ist?«, fragte Standish und legte die Winchester seines Vaters an, um das Objekt durch das Zielfernrohr, das er darauf montiert hatte, ins Visier zu nehmen.

Dickmon drückte Standishs Gewehrlauf mit einer leichten Berührung abwärts. »Erschieß nicht noch jemanden, Mann. Wie viel Bier hast du intus?«

»Ich stelle es ja nur scharf. Außerdem hast du doch gesagt, es ist ein Kojote. Seit wann willst du mich davon abhalten, einen Kojoten zu schießen?«, sagte er. »Gott hat mir dieses Gewehr gegeben, damit ich’s gebrauche.«

»Du hast es von deinem Dad gekriegt«, sagte Whitby. »Ist dein Dad jetzt Gott?«

»Gott hat mir das Recht gegeben, es zu tragen.«

»Das Recht hat dir die Verfassung gegeben«, sagte Dickmon.

»Aber Gott hat mir die Verfassung gegeben.« Er merkte, wie er sich hineinsteigerte, setzte das Gewehr ab und richtete es am Schulterriemen mit dem Lauf nach unten aus.

Das Wesen, das sich da näherte, war, soweit durch die Bäume erkennbar, gelblich, so wie das Gras auf der trockenen Seite der Straße, das noch nicht wieder grün geworden war. Es pendelte von einer Seite der Straße zur anderen, ging bald schnell, bald langsam, als würde sein Wunsch, sich in diese Richtung zu bewegen oder überhaupt in Bewegung zu bleiben, mal stärker und mal schwächer. Eine Vorhut von Krähen hüpfte im selben Tempo vor ihm von Baum zu Baum. Neben den hohen Weiden wirkte die Gestalt zwergenhaft.

»Ist das ein Buckliger?«, fragte Smiley.

»Buckliger?«, sagte Two-Inch-Tony. »Ich habe noch nie einen Buckligen gesehen.«

»Du hast Quasimodo nie gesehen?« Dickmon sprach den fremdartigen Namen genüsslich aus. »Anthony Quinn hat ihn gespielt. Im Stummfilm war’s Lon Chaney.«

»Charles Laughton. Einer von Grams Lieblingsfilmen«, sagte Smiley und lehnte sich auf die Ecke des Picknicktischs. »Ich habe ihn ein Dutzend Mal gesehen. Also, mein Dad hat gesagt, es gab mal einen Mann, der sich ein geheimes unterirdisches Haus im Sumpf gebaut hat, nachdem die Fleischverwertungsfabrik zugemacht hatte. Dad hat gesagt, er hat haufenweise Mauerziegel geklaut, um sich das Haus zu bauen.«

»Mein Grandpa hat gesagt, das war Wild Wills Bruder von einer anderen Mutter«, sagte Darling. »Oder so ähnlich. Er hat gesagt, dieser Mann hat ihm das Leben gerettet, als er mal im Sumpf ins Suffkoma gefallen war. Hat ihm eine unterirdische Wohnung gezeigt, einen alten Fuchsbau. War warm dort drin, sogar im Winter.«

»Old Red hat, nach allem, was ich gehört habe, genug getrunken, um jede Nacht ein Wunderlandabenteuer zu erleben«, sagte Whitby. Wenn er zugäbe, in den Waters jemanden gesehen zu haben, könnte das zum Beschluss führen, dem nachzugehen, und Whitby wollte nicht da draußen herumstöbern.

»Vielleicht hatte der Typ ja einen Buckel, weil er unter der Erde wohnte«, sagte Two-Inch-Tony, froh, sich am Gespräch beteiligen zu können. »Konnte wahrscheinlich nicht aufrecht stehen.«

»Was, zum Teufel, redest du da? Man kann im Sumpf nicht unter der Erde wohnen. Da wäre man ja unter Wasser«, sagte Dickmon.

»Vielleicht war der Buckel ja die Strafe dafür, dass er die Mauerziegel geklaut hat«, sagte Smiley, und Two-Inch-Tony nickte. Bestrafung war ein Lieblingsthema der Männer. Sie glaubten fest an das Prinzip, dass Sünder am Ende bestraft wurden.

Whitby dachte da seit letztem Herbst anders: nämlich dass jeder bestraft würde, ob schuldig oder nicht.

»Ich glaube, es ist eine Sie«, sagte Darling. »Jepp, es ist eine Sie.«

Neues Interesse ließ die Männer tief einatmen. Der Generator wurde langsamer und drohte auszugehen, lebte dann wieder auf.

»Wahrscheinlich deine kleine Schwester, Standish«, sagte Whitby. »Sie ist ja so eilig aus der Kirche verschwunden. Zu wem ist sie denn auf dem Parkplatz ins Auto gestiegen?«

»Wehe, meine Schwester treibt sich hier draußen rum. Sie sollte bei meiner Frau sein.« Er sprach immer noch gern von seiner Frau, war immer noch stolz, dass eine Frau ihn geheiratet hatte, auch wenn sie ihn schlecht behandelte.

»Wie kommt ein hässlicher Vogel wie du zu so einer hübschen Schwester?«, fragte Whitby.

»Meine Mom ist nicht hässlich«, sagte Standish.

»Allerdings«, bestätigte Whitby. »Deine Mom sieht echt gut aus.«

»Du hast sie nicht zu beäugen.« Standish fühlte, wie er rot wurde. Seine Mom war jung mit ihm schwanger geworden, und es stimmte, sie sah immer noch toll aus. Sein Dad war mehr als doppelt so alt gewesen wie sie.

»Bleibt immer noch die Frage, wieso du hässlich bist«, sagte Whitby.

»Ich glaube nicht, dass es ein Buckel ist«, sagte Smiley. »Sieht aus wie ein Raketenrucksack.«

»Raketenrucksack? Wer, zum Teufel, hat denn einen Raketenrucksack?«, fragte Dickmon.

»Weiß nicht«, sagte Smiley. »Das Militär hat alle möglichen Waffen, von denen wir nichts wissen. Alien-Technologie, Kanonen, die Menschen verdampfen.«

»Du hast alle möglichen Theorien«, sagte Dickmon. »Bescheuerte Theorien. Hast du schon gehört, dass die Erde eine Scheibe ist?«

Die Männer lachten allesamt, und das Lachen hallte über die Waters, wo Kreaturen aneinander vorbeiglitten und scharfe Rufe ausstießen und ihre Empfängnisbereitschaft hinaussirrten und hinauszwitscherten und, im Fall der Zwergklapperschlangen, hinausrasselten. Ein Arzneimittel von Herself stand immer noch in den Schränken von Whiteheart, kleine blaue Gläschen mit einem schleimigen Gegengift, das, wenn man es sofort auf die Wunde und in kleine drum herum angebrachte Einschnitte rieb, ins Blut überging und wie der Blitz durch den Körper jagte, um jedes einzelne Schlangengiftmolekül zu erwischen. Das Gegengift war einst aus Wild Wills Blut hergestellt worden – er hatte so viele Bisse überlebt, dass sein Blut zu einem Heilmittel geworden war. Und seit Herself Wild Will weggeschickt hatte, machte sie das Gegenmittel aus Eselsblut von der Stute Aster, nachdem sie ihr immer wieder kleine Mengen des Gifts injiziert hatte.

»Es ist ein blondes Mädchen, jetzt seh ich’s«, sagte Darling. »Und das ist definitiv ein Rucksack.«

»Hey, es ist Rose Thorn. Sie lebt noch!«, rief Whitby, als die Gestalt näher heran war, »Rosie ist zurück aus Kalifornien! Wo, zum Teufel, ist Titus?«

Rose Thorn war bekannt dafür, so hübsch zu sein, dass ihr Anblick eine Atempause von allem bescherte, was einem zu schaffen machte. Und sie war berühmt dafür, Titus so viel zu bedeuten, dass er bei Gott und vor ihnen allen geschworen hatte zu warten, bis sie achtzehn war und er sie in allen Ehren heiraten konnte. Als sie im letzten September verschwunden war, hatte das Titus so erschüttert, dass er zur Armee gegangen war, sehr zum Ärger von Titus senior. Farmerssöhne wurden zu Hause gebraucht! Nach vier Monaten entdeckte man zur Erleichterung seines Vaters – und seiner eigenen – sein dünnes Blut, und er wurde aus medizinischen Gründen entlassen.

Standish ruckelte an dem Schulterriemen des Gewehrs, um dessen Gewicht zu verlagern. Er sah plötzlich seine Tochter vor sich, wie sie zu ihm hochschaute und ihn fragte, warum die Sonne jeden Morgen aufgehe. Bei Rose Thorns Anblick dachte er, dass er das Auto seiner Ma reparieren sollte, wie er es versprochen hatte, auch wenn es ihn ärgerte, dass ihr Boyfriend dazu nicht in der Lage war. Der Mann behandelte ihn wie einen dummen Jungen, und seine Ma sprang Standish nie bei, aber sie erwarteten von ihm, dass er seinen freien Tag, den einzigen Tag der Woche, an dem er nicht nach Grand Rapids fahren musste, darauf verwandte, ihren Wagen zu reparieren. »Ich wusste, sie würde wiederkommen«, sagte er.

»Nein, wusstest du nicht, Arschloch«, brummelte Dickmon. »Du wusstest nicht mehr als wir anderen.«

Während Dickmon Rose Thorn näher kommen sah, beschloss er, seiner Frau einen Strauß wilde Geranien zu pflücken, bevor er nach Hause fuhr. Vielleicht würde er seine hochschwangere Hannah Grace umarmen und hochheben, obwohl er’s vom Setzen der T-Pfosten gestern im Rücken hatte. Sie hatten beschlossen, einen Teil des hinteren Grundstücks zu umzäunen, der steinig von altem Aufschüttungsmaterial war.

Smiley dachte, als er Rose Thorn sah, dass er heute Abend mit seiner Ma in das christliche Pflegeheim zu seiner Gram fahren würde, damit sie alle zusammen einen Film gucken konnten. Er und seine Ma liebten Actionfilme, aber seine Gram mochte lieber die alten Filme, in denen Fred Astaire und Ginger Rogers tanzten. Sie bewegte sich dann in ihrem Rollstuhl, als tanzte sie selbst. Die anderen Männer redeten endlos über ihre Dads und Grandpas, aber Smiley hatte sich immer den Frauen seiner Familie näher gefühlt.

Two-Inch-Tony dachte an den mannsgroßen Kastendrachen, den er letztes Jahr zu bauen begonnen und dann unterm Dach seiner Garage verstaut hatte. Seine ganze Familie – Cynthia und ihr Sohn und ihr Babytöchterchen – könnten nach draußen gehen und ihn auf dem Friedhof hinter der Kirche steigen lassen. Was für ein toller Anblick das wäre, die im Wind emporfliegenden Regenbogenfarben! Er würde mit dem Drachen rennen, zusammen mit seinem Sohn, egal wie seine Hüfte schmerzte.

Darling und Standish gingen zum Straßenrand, um dort auf Rose Thorn zu warten. Whitby wäre gern mitgegangen, hatte aber Angst. Eines Nachts im September, auf Whiteheart Farms, hatte Whitby auf einem Milchkasten neben der Apfelmosterei gesessen und sein drittes geklautes Bier getrunken, und da hatte er Rose Thorn im Dunkeln vor Titus’ altem Schlafzimmer herumschleichen sehen. Nach seiner Entlassung aus der Armee war Titus in die Werkstatt hinterm Haus seiner Großtante Ada gezogen. Adas Enkel Alan, Titus’ Cousin, er ruhe in Frieden, hatte da gewohnt. Neben der Arbeit für seinen Vater kümmerte Titus junior sich jetzt auch um Adas Obstwiesen und ihr Cranberrymoor. Whitby beneidete ihn nicht. Titus musste die Apfel- und Pfirsichbäume spritzen und beschneiden und das Cranberrymoorfeld fluten, mit Sand aufbessern und wieder trockenlegen, vom Ernten der Beeren von Hand ganz zu schweigen. Er hatte selbst zu Whitby gesagt, dass all diese Acres Moorland wahrscheinlich besser genutzt werden könnten.

In jener Septembernacht hatte Whitby es putzig gefunden, wie Rose Thorn an Titus’ Fenster klopfte und seinen Namen rief und dass sie Liebe mit ihm machen wolle. Whitby wusste, dass Titus nicht da war, sondern draußen beim Nachtangeln, und er hätte es Rosie gleich sagen sollen, aber es hatte ihm Spaß gemacht, sie zu beobachten.

Als ein Mann erschien, war es nicht Titus, Rosies Liebster, sondern Titus senior, Whitbys angeheirateter Onkel und Boss; er kam aus der Remise, wo er getrunken hatte. Seine Frau, Tante Mary, billigte es nicht, wenn er trank. Whitby mied ihn um diese Uhrzeit – wie sie alle –, zum einen, weil der große Farmer kein netter Betrunkener war, aber auch, weil er Whitby sonst womöglich noch Arbeit aufhalste, obwohl es längst dunkel war. Noch während Rose Thorn Nein sagte und nach Titus rief, noch während sie sich wehrte, noch während ihr Schenkel aufschimmerte, konnte Whitby nicht glauben, dass es wirklich passierte. Es musste eine Art böser Traum sein, die Wirkung der drei Bier. Whitby rannte zu seinem Fahrrad und fuhr wacklig auf der Lovers Road davon.

Falls Titus bemerkte, dass Rose Thorn sich danach seltsam verhielt, sagte er nichts zu Whitby und den anderen Männern, die sie eine Zeit lang nicht sahen. Und als Titus ihr ein paar Wochen später den Heiratsantrag machte, der eigentlich nur noch eine Formalität hätte sein sollen – sie hatten ihre Hochzeit für den Tag ihres achtzehnten Geburtstags geplant –, sagte sie Nein. Niemand konnte es glauben. Dann kam ein früher Kälteeinbruch, und Rose Thorn floh zu ihrer Schwester Prim.

Nach all den Monaten noch schlief Whitby nicht gut. Seit er gesehen hatte, was er gesehen hatte, tat ihm in jeder Liegeposition im Bett etwas weh, nichts war bequem.

Die Männer von Whiteheart waren damit aufgewachsen – wie auch jetzt noch die Jungen damit aufwuchsen –, untereinander eine gewisse Art Kameradschaft zu halten, die darin bestand wegzuschauen, wenn es um Missetaten eines anderen ging. Es gehörte sich einfach, nichts zu sagen, wenn einer Altöl in den Straßengraben kippte oder eine seltene Ente in der Schonzeit schoss oder seiner Frau oder einem Kind auf dem Beifahrersitz eine langte. Wenn man sonst nichts für einen Kameraden tun zu können glaubte, konnte man ihm immerhin noch Respekt erweisen, indem man sich aus seinen dunklen Angelegenheiten heraushielt. Ein Mann musste schon mit seiner eigenen Seele ringen, wer war man da, ihn darauf hinzuweisen, wie schlimm etwas war? In dieser sündigen Welt, wer war man da, über einen anderen Mann zu urteilen? Aber wenn so etwas noch einmal passierte, dachte Whitby, würde er sofort einschreiten, bevor es überhaupt passieren konnte, und sagen: Das ist nicht recht. Egal ob es ein Freund war oder sein Onkel oder sogar der Reverend.

Die Männer am Picknicktisch warteten so lautlos wie Jäger, die Hände in den Taschen oder auf ihren Waffen, und beobachteten Rose Thorns fließende Bewegung, ihre schlanken Arme eine liebliche Melodie im Kontrast zum Soundtrack des ratternden Generators. Die Binsen im Straßengraben bewegten sich im leichten Wind, und die Männer stellten sich vor, was alles ungesehen und ungehört in den Waters geschah – wie Schlangen, Schnepfen und Moorhühner unter dem flach liegenden Gras vom letzten Jahr umherschlüpften. Aus einer gewissen Entfernung war Rose Thorn so leuchtend wie ein Engel, so herzerhebend wie der erste warme Frühlingstag. Als sie näher kam, fühlten sie mehr, als dass sie es hörten, das leise Geräusch ihrer billigen Tennisschuhe auf dem Asphalt. Dann sahen sie, dass die Schuhe voll Schlamm waren und Schlamm Rose Thorns nackte Schienbeine überzog und bis auf ihre Knie gespritzt war. Wenn sie sich auch fließend und leuchtend bewegte, war sie doch nicht ganz ihr gewohntes anmutiges Selbst.

Sie trug ein komisches Kleid und wankte bei jedem Schritt wie vor Müdigkeit, den Rucksack über den Schultern und in der Taille festgegurtet. Whitby machte sich Sorgen, dass sie vielleicht irgendwie verletzt war, ohne dass er es sehen konnte. Mit Sicherheit war sie erschöpft.

Sie hatten jetzt schon eine Geschichte zu erzählen – sie war wieder da –, und vielleicht, dachten sie, sei es besser, wenn sie einfach vorbeiginge. Es wäre sogar eine gewisse Erleichterung, wie wenn man auf ein Tier zielte und schoss und es verfehlte, die Erleichterung, dass man nicht entscheiden musste, ob man es häuten und essen oder verwesen lassen sollte. Rose Thorn im Davongehen wäre allemal bewundernswürdig, das Muskelspiel dieser gebräunten Beine unter dem Kleid, das Schöße hatte wie ein Hemd. Diese karamellfarbene Sonnenbräune im Mai! Wie jemand im Fernsehen. Sie bewunderten ihre sanft abfallenden Schultern und ihren leuchtenden Blondschopf, ignorierten dabei, dass ihr Haar ungekämmt und fettig wirkte, dachten, vielleicht trägt man das so in Kalifornien. Beim Anblick dieser hübschen matschverdreckten Beine befürchtete Whitby, er könnte sein Mountain Dew auskotzen. Er wünschte, Titus käme jetzt sofort, um sie von der Mühsal des Gehens zu erlösen. Sie von ihnen zu erlösen.

Als sie sie fast erreicht hatte, sahen die Männer, wie zerrupft sie in dem aussah, was sich tatsächlich als übergroßes Hemd entpuppte. War es falsch geknöpft? Ja, war es. Ihr Haar flog teilweise, und teilweise hing es ihr ins Gesicht, als wäre sie sogar zu müde, um es zurückzustreichen. Sie schien sie gar nicht zu bemerken, als hätte sie nicht die Kraft, den Kopf dahin zu drehen, wo die Männer neben der Straße standen. Vielleicht lenkte der laute Generator sie ja ab. Ihr Gesicht schien etwas verquollen wie von zu viel Schlaf, und ihre Miene war mürrisch. Sie wollten sie lächeln sehen; ihr missmutiger Ausdruck erinnerte sie daran, dass sie nicht nur Licht und Lieblichkeit war, dass sie manchmal schneidend und boshaft sein konnte, kein schöner Zug an einer so jungen Frau. Keinem Mann ließ sie unkommentiert etwas durchgehen, was nicht stimmte, nicht mal Titus, obwohl er sechs Jahre älter war als sie und sie so sehr liebte wie sein eigenes Leben. Jesus oder der Reverend mochten die Männer ja triezen und hohe moralische Anforderungen an sie stellen, aber doch nicht die Tochter einer Hexe! Dieses faule Mädchen war das genaue Gegenteil dessen, wofür sie standen: harte Arbeit und Gottgefälligkeit. Und doch konnten sie den Blick nicht von ihr wenden. Mehr denn je fühlten sich die Männer wie trockenes, durstiges Land, und sie mussten sie in sich hineintrinken wie kühles Wasser, brauchten es, sie zu sehen, wie sie es brauchten, die Sonne aufgehen zu sehen, selbst wenn sie nicht auf sie scheinen würde.

Als es schien, sie würde grußlos an ihnen vorbeigehen, trat Ralph Darling zu ihr auf die Straße und sagte: »Tu uns das nicht an, Rosie! Wir haben gewartet!«

Die anderen waren froh, dass Darling dazu neigte zu sprechen, ohne nachzudenken. Sie hatten noch gegrübelt, was sie sagen sollten.

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