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Mitternachtsschatten

hier erhältlich:

Ein geheimnisvoller Doppelselbstmord überschattet das Leben der jungen Architektin Jillian Meyer. Als jedoch die ganze Wahrheit ans Licht kommt, muss sie um ihr Leben fürchten. Mutig stellt sich die junge Architektin Jillian ihrem skrupellosen Vater Jackson Meyer entgegen. Er will so schnell wie möglich das Land verlassen, da ihm die Polizei auf den Fersen ist. Und sein Mitarbeiter Zacharias Coltrane soll ihm dabei helfen, Jillian und ihre Geschwister auszuschalten, damit sie ihm nicht in die Quere kommen können. Doch Coltrane verfolgt einen ganz anderen Plan. Er hat mit Jackson noch eine alte Rechnung zu begleichen. ...


  • Erscheinungstag: 10.12.2012
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955762773
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne Stuart

Mitternachtsschatten

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Katja Henkel

Image

MIRA® TASCHENBUCH







MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg

Deutsche Taschenbucherstausgabe

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Shadows At Sunset

Copyright © 2000 by Anne Kristine Stuart Ohlrogge

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: by Corbis, Düsseldorf

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Berger Grafikpartner, Köln

ISBN 978-3-95576-277-3

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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PROLOG

Aus: Die Spuk-Häuser in Hollywood, Hartsfield Books, 1974

Eines der interessantesten Häuser Hollywoods ist die berühmte Casa de las Sombras – das Haus der Schatten. 1928 von den Green-Brüdern erbaut, ist La Casa ein hervorragendes Beispiel des maurischen Kolonial-Stils, allerdings ist das Anwesen auf dem ausgedehnten Gelände baufällig und muss vermutlich bald abgerissen werden.

La Casa de las Sombras war in den frühen fünfziger Jahren Schauplatz eines berüchtigten Mordes und Selbstmordes. Die verblühende Filmdiva Brenda de Lorillard erschoss hier zuerst ihren verheirateten Liebhaber, den Filmproduzenten Ted Hughes, und danach sich selbst. Die beiden Leichen fand man im Schlafzimmer. In den darauf folgenden Jahren erschienen die beiden immer wieder als Geister. Manchmal stritten sie sich, manchmal tanzten sie im Mondschein auf der Terrasse, und hin und wieder, zum Entsetzen der Grundstücksmakler, wurden sie auch beim Liebesspiel auf der großen Festtafel erwischt. Das Rätsel um ihren Tod ist bis heute nicht gelöst.

Das Haus wurde schließlich von Meyer Enterprises übernommen und stand bis Mitte der sechziger Jahre leer, bis stadtbekannte junge Schauspieler und Musiker dort eine Art Kommune eröffneten und dem ehemaligen Glanz des Hauses schwer zusetzten. In den letzten Jahren versuchten die jetzigen Besitzer mehrfach, das große alte Haus zu restaurieren. Doch seine Tage sind gezählt, und vermutlich wird es ihm ergehen wie vielen historischen Gebäuden in Hollywood. Bleibt nur die Frage, wohin die beiden Geister ziehen, sollte das imposante Anwesen eines Tages abgerissen werden.

Brenda de Lorillard, Star auf Bühnen und Leinwänden, in Boulevardzeitungen und Albträumen, räkelte ihren schlanken Körper wie eine Katze und murmelte: „Es ist schon über fünfzehn Jahre her, dass dieses fürchterliche Buch veröffentlicht wurde, Liebling. Ich glaube, man hat uns völlig vergessen.“

Ted ließ seine Zeitung sinken und schaute sie durch seine Brille aus Drahtgestell an. Als sie ihn zum ersten Mal damit sah, hatte sie ihn gnadenlos aufgezogen. Wofür um Gottes willen brauchte ein Geist eine Brille? Sie waren tot, du liebe Zeit! Wie also sollte es möglich sein, dass seine Sehschärfe sich verschlechterte? Und wo hatte er diese Brille überhaupt gefunden?

Doch er hatte sie nur wie üblich nachsichtig angelächelt, und wie üblich war Brenda dahingeschmolzen. Genau so wie damals, als sie ihn zum ersten Mal bei Dreharbeiten gesehen hatte. Er war nur ein kleiner Regisseur gewesen und sie ein großer Star. Trotzdem liebte sie ihn vom ersten Augenblick an, ob das nun vernünftig war oder nicht. Sie hatte sich fast ihr ganzes Leben lang, also dreiunddreißig … ähm … achtundzwanzig Jahre lang, ausschließlich auf ihre Karriere konzentriert und setzte sie mit einem Mal wegen einer verrückten Liebe aufs Spiel. Doch diese Liebe überdauerte alles: ihren beruflichen Niedergang, die Zeit und sogar den Tod.

„Mach dir keine Sorgen, Liebes“, sagte er und nahm einen Schluck Kaffee. „Das Haus steht noch, wenn auch mehr schlecht als recht, und die Touristenbusse halten sogar gelegentlich noch bei uns an.“

„Ja, aber nur bei der Tour, Skandal-Häuser‘“, meinte Brenda. „Das sind die gleichen Leute, die Valentinos Grab und den Ort, wo die Schwarze Dahlie gefunden wurde, besuchen. Eine so herrliche Villa wie La Casa de las Sombras hat das einfach nicht verdient!“ Sie schniefte. „Und uns beiden schmeichelt das auch nicht sonderlich. Ich hasse es, dass man sich an uns nur wegen unseres Todes erinnert.“

Ted legte seine Brille neben die Zeitung, drehte sich zu Brenda um und schaute sie mit seinen wundervollen grauen Augen an. Es las die Los Angeles Time vom 27. Oktober 1951, erschienen also einen Tag, bevor sie gestorben waren. Ted las sie jeden Morgen aufs Neue und so aufmerksam, als habe er sie noch nie zuvor gesehen. Und Brenda glaubte langsam, dass dem tatsächlich so war.

„Schätzchen, jeder, der einen Film von dir gesehen hat, wird sich immer an dich und deine Schönheit erinnern. Vor allem, wenn es ein Film war, bei dem ich Regie geführt habe“, fügte er mit einem schelmischen Grinsen hinzu. „Ars longa, vita brevis, Skandale verblassen, Kunst hat Bestand, das weißt du doch.“

„Ich will keine Werbeslogans hören“, sagte sie schnippisch. „Schließlich habe ich nie für MGM gearbeitet, und darüber bin ich froh.“

„Oh, dieser Spruch ist ein klein wenig älter …“

„Und sei nicht so verdammt eingebildet, nur weil du Latein gelernt hast“, unterbrach sie ihn und starrte auf ihre Fingernägel, die sie jeden Tag ein wenig feilte, weil sie tatsächlich immer noch eine kleinste Unebenheit fand. Wie herrlich es war, niemals älter zu werden! Zwar konnte sie sich in den Spiegeln, die in jedem Zimmer des La Casa hingen, nicht sehen, aber sie erkannte an Teds Blicken, dass sie so schön war wie eh und je. Mehr brauchte sie nicht.

„Sie werden es nicht abreißen“, sagte er geduldig. „Dieses Haus hat die Sechziger und diese abstoßenden Langhaarigen, die hier kampiert haben, überlebt. Es hat Jahre der Vernachlässigung überstanden – und jetzt haben wir wenigstens jemanden, der das Haus genauso liebt wie wir. Sie wird schon darauf aufpassen. Und auf uns.“

„Aber wenn nicht?“ rief Brenda. „Was, wenn es abgerissen wird und ein neues Geschäftshaus gebaut wird? Dann müssen wir heimatlos herumwandern, verloren …“

„Schätzchen“, murmelte er mit seiner warmen und tröstenden Stimme, „wir schaffen das schon. Schaffen wir es nicht immer, wir beide zusammen?“ Sie schmiegte sich in seine Arme und fand den Frieden, der stets dort auf sie wartete, und sah ihn an, so liebevoll, so süß, so reizend, so endgültig.

„Für immer“, sagte sie mit zitternder Stimme. Sie presste ihre karminroten Lippen auf seinen Mund, und sie begannen, sich in Luft aufzulösen.

1. KAPITEL

Immer wenn Jilly Meyer sich dem Büro ihres Vaters näherte, entspann sie in Gedanken ganz absurde Fantasien. Als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie sich nicht gegen das Bild einer französischen Edeldame wehren können, die auf einem Karren zu ihrer Hinrichtung gefahren wird. Das tatsächliche Treffen mit ihrem Vater entwickelte sich dann fast ebenso schlimm, woraufhin sie in den folgenden eineinhalb Jahren kaum eine Hand voll Worte miteinander gewechselt hatten.

Nun war sie wieder hier, nur fühlte sie sich diesmal nicht wie eine Märtyrerin, die ihr Schicksal eben hinnimmt. Diesmal war sie eine Kriegerin und bereit, gegen das Böse zu kämpfen. Sie musste nur noch Charon, den Fährmann der Unterwelt, bitten, sie über den Fluss Styx zu bringen, damit sie Satan selbst treffen konnte.

Natürlich ist es nicht nett, den eigenen Vater mit dem Teufel zu vergleichen, dachte sie zerstreut. Und die streng blickende Mrs. Afton hatte es auch nicht verdient, Charon genannt zu werden, auch wenn sie ihren Arbeitgeber mit einem ähnlich besessenen Eifer abschirmte.

„Ihr Vater ist ein sehr beschäftigter Mann, Jilly“, sagte Mrs. Afton in dem eisigen Ton, der Jilly als Kind in Angst und Schrecken versetzt hatte. „Sie sollten es eigentlich besser wissen und nicht einfach unangemeldet hier auftauchen. Sie können nun wirklich nicht erwarten, dass er für Sie alles stehen und liegen lässt. Aber ich schaue mal in seinen Kalender, ob ich sie irgendwann dazwischenschieben kann …“

„Ich rühre mich nicht von der Stelle, bevor ich ihn nicht gesehen habe“, sagte Jilly, und ihre Stimme zitterte nicht, welch ein Segen! Mrs. Afton entmutigte sie zwar wie immer, doch ihr Vater hatte nun endgültig keine Macht mehr über sie. Grundsätzlich ging Jilly allerdings Auseinandersetzungen lieber aus dem Weg, und sie wusste, dass jetzt eine ziemlich große auf sie zukommen würde.

Mrs. Afton presste ihre dünne Lippen missbilligend zusammen, doch Jilly rührte sich nicht vom Fleck. Sie war noch drei Türen vom Heiligtum entfernt, aber diese Türen waren elektronisch gesichert. Wenn sie also versuchen würde, einfach durchzumarschieren, würde das peinlich enden.

„Sie können im Empfangszimmer warten“, sagte Mrs. Afton endlich, ohne das Gefühl zu vermitteln, dass sie kapituliert hatte. „Ich werde mal sehen, ob er einen Augenblick Zeit für Sie hat, aber ehrlich gesagt glaube ich das nicht.“

Die, die ihr eintretet, verbannt alle Hoffnung, dachte Jilly und sagte: „Es macht mir nichts aus zu warten.“

Immerhin war es schon nach drei Uhr, und seit ihr Vater mit Melba verheiratet war, arbeitete er nicht mehr ganz so besessen wie früher. Jilly wusste nicht, ob Jackson Meyer aus Eifersucht oder einfach Bequemlichkeit seine dritte Frau nicht genauso verließ wie seine ersten beiden, und sie wollte es auch gar nicht wissen. Offenbar war der alte Bastard einfach ein wenig ruhiger geworden, hoffentlich ruhig genug, um ihr, Jilly, das zu geben, was sie so verzweifelt wollte.

In dem in Grau gehaltenen Wartezimmer lag eine geschmackvolle Auswahl an Zeitschriften, die sich überwiegend mit dem Zigarrenrauchen beschäftigten, was Jilly nicht sonderlich faszinierte. Die Ledercouch war bequem, und durch das Fenster hatte man einen schönen Blick über Los Angeles. An einem klaren Tag hätte sie die Hollywood Hills sehen können, vielleicht sogar die Turmspitzen der Casa de las Sombras, dieser ehemals herrschaftlichen Villa, in der sie mit ihren Geschwistern lebte. Doch Smog und Herbstnebel verwehrten ihr die Sicht auf Los Angeles, und sie fühlte sich wie gefangen in dem leblosen, gut gekühlten Glaskasten.

Sie hatte sich passend für eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater gekleidet, sie trug ein schwarzes Leinenkostüm mit ein paar hellbraunen Akzenten. Ihr Vater schätzte es, wenn Frauen sich gut kleideten, und wenigstens einmal wollte sie seine Regeln einhalten. Das, was sie dafür bekäme, war jeden Einsatz wert.

Da er sie so lange warten ließ, würde er sich jedoch mit ihren zerknitterten Klamotten abfinden und ihr zuhören müssen, trotz der Knitter, trotz allem.

Sie kickte die Schuhe von ihren Füßen, kuschelte sich in die Ecke des grauen Ledersofas und zog ihren kurzen Rock so weit herunter, wie es nur ging. Dann kramte sie in ihrer Tasche nach der Puderdose, bis ihr einfiel, dass das die Handtasche war, die Melba ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte, und nicht die, die sie üblicherweise benutzte. Sie hatte nur ihre Geldbörse und ihren Ausweis eingesteckt, keinen Puder, kein Make-up, nur einen kleinen Kamm, mit dem sie bei ihrem dichten Haar nichts würde ausrichten können. Sie schloss die Tasche wieder, lehnte sich zurück, seufzte und versuchte, sich zu entspannen.

Es war lächerlich. Sie war fast dreißig, eine starke, unabhängige und gebildete Frau, und sie hatte noch immer Angst vor ihrem Vater. Während der letzten beiden Jahrzehnte hatte sie alles Mögliche ausprobiert, von Meditation bis hin zu Beruhigungsmitteln, Psychotherapie und Selbstverteidigungs-Training. Und jedes Mal, wenn sie geglaubt hatte, ihre Angst besiegt zu haben, präsentierte Jackson Meyer sie ihr auf einem Silbertablett. Und nun war sie hier, um wieder eine Portion zu nehmen.

Co-Abhängigkeit war ein Fluch. Für sie wäre es einigermaßen leicht gewesen, sich dem Einfluss ihres Vaters zu entziehen. Er interessierte sich nicht für sie, wahrscheinlich bemerkte er es nicht einmal, wenn sie sich jahrelang nicht sahen. Ihr Vater hatte sich entschieden und lebte sein Leben, wie es ihm gefiel. Sie konnte ihm nicht helfen, selbst wenn er das gewollt hätte.

Ganz anders sah es bei ihren Geschwistern aus. Rachel-Ann war nicht Jacksons richtige Tochter, er hatte sie adoptiert. Und sie war vermutlich sowieso nicht mehr zu retten, alles, was Jilly ihr noch geben konnte, war Liebe. Und Dean? Seinetwegen war sie hergekommen, hatte sie den Löwenkäfig betreten, um zu kämpfen. Für ihre Geschwister war sie bereit, alles zu tun.

Dean saß schmollend zu Hause an seinem geliebten Computer. Wieder einmal hatte Jackson es geschafft, seinen Sohn herabzusetzen und zu beleidigen, wie er es seit ewigen Zeiten schon tat, wieder einmal hatte Dean es hingenommen und sich nicht gewehrt.

Jackson hatte Dean als Leiter der Rechtsabteilung durch einen Mann namens Coltrane ersetzt. Offenbar vertraute er einem Fremden mehr als seinem eigenen Sohn. Dean hatte eine Gehaltserhöhung bekommen und keine Arbeit, womit sein unbarmherziger Vater ihn völlig gedemütigt hatte.

Jilly wollte anstelle ihres Bruders kämpfen. Sie konnte nicht einfach zusehen, wie er sich hinter seinem Computer verschanzte, sich völlig aufgab und seinen Platz einem Eindringling überließ.

Wenn sie objektiv war, musste sie zugeben, dass Dean nur zu gerne das Opfer spielte. Er hatte niemals versucht, einen anderen Job zu bekommen. Gleich nachdem er sein Juraexamen bestanden hatte, nahm er den hoch bezahlten Job in der Firma seines Vaters an. Er hatte sich arrangiert, ertrug Jacksons Beschimpfungen, war ein absoluter Jasager und hoffte noch immer verzweifelt auf die Anerkennung seines Vaters.

Auch diesmal hatte er seinen Vater nicht zur Rede gestellt, sondern war nach Hause geeilt, hatte sich betrunken und an der Schulter seiner Schwester ausgeheult. Deswegen war sie hier. Sie wollte ihrem Bruder helfen. Auch wenn sie wusste, dass ihre Chancen nicht besser standen als die eines Schneeballs in L.A., musste sie es wenigstens versuchen.

Jilly legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sie wünschte, sie hätte sich die Fingernägel maniküren lassen. Ihre Großmutter hatte immer gesagt, dass keine Frau der Welt sich mit gepflegten Fingernägeln jemals unsicher fühlen würde. Zwar zweifelte sie daran, dass künstliche Nägel ihr im Augenblick helfen könnten, aber einen Versuch wäre es wert gewesen.

Vielleicht sollte sie den Rat des Drachens Mrs. Afton annehmen und ganz offiziell ein Treffen mit ihrem Vater vereinbaren. Dann könnte sie ein anderes Mal mit manikürten Händen und vielleicht sogar mit einem anständigen Haarschnitt zurückkommen. Jackson Meyer mochte ihr langes Haar nicht. Sie könnte es ja mit einem kürzeren und fransigen Schnitt versuchen, mit einer Frisur, wie Meg Ryan sie trug. Das Problem war nur, dass sie überhaupt nicht der süße und freche Typ war. Sie war groß und kräftig, hatte unmodern langes dunkelbraunes Haar, und egal, was sie anstellte, sie würde sich niemals in eine anbetungswürdige, feminine Frau verwandeln. Auch nicht mit einer Maniküre.

Tief atmen, befahl sie sich selbst. Beruhige dich, lass nicht zu, dass du seinetwegen so nervös bist. Stell dir vor, wie du ganz langsam eine Treppe hinuntersteigst und wie sich dein Körper entspannt. Zehn, neun, acht …

Irgendjemand beobachtete sie. Während ihrer Meditation war sie wohl eingenickt, doch jetzt spürte Jilly, wie sie angestarrt wurde. Wenn sie die Augen nicht aufmachte, würde er vielleicht einfach wieder verschwinden. Ihr Vater konnte es ja nicht sein, er würde seinen Tagesablauf von ihr nicht durcheinander bringen lassen. Mrs. Afton war es auch nicht, denn die wäre bestimmt durchs Zimmer gelaufen und hätte sie wachgerüttelt.

Andererseits, dachte Jilly, kann man sein Leben nicht in den Griff bekommen, wenn man sich hinter geschlossenen Augen versteckt. Sie blinzelte und wunderte sich, wie dämmrig es in dem Raum inzwischen geworden war. Es musste schon spät sein. Der Himmel, den sie durch das große Fenster sehen konnte, färbte sich bereits dunkel, und der Mann, der sie betrachtete, stand in Schatten gehüllt in der Tür.

In dem Geschäftsgebäude war es still geworden, sie war alleine mit einem Fremden. Grund genug, sich jetzt eigentlich zu Tode zu fürchten. Doch sie war ja eine vernünftige Frau.

„Sind Sie dort festgewachsen?“ fragte sie scharf, zwang sich, nicht zu schnell vom Sofa aufzustehen, und widerstand dem Impuls, den kurzen Rock über ihre Schenkel zu ziehen, denn dadurch würde sie nur seine Aufmerksamkeit darauf lenken.

Er schaltete das Licht an, und sie konnte sich einen Moment lang nicht orientieren.

„Es tut mir Leid, dass Sie so lange warten mussten. Mrs. Afton hat mir einen Zettel auf den Tisch gelegt, auf dem steht, dass Sie mit mir sprechen wollen. Aber ich habe ihn eben erst gesehen.“

„Auf Sie habe ich nicht gewartet. Ich weiß ja nicht einmal, wer Sie sind. Ich bin hier, um mit Jackson zu sprechen.“

Jetzt trat er in den Raum, sein Lächeln war herablassend und charmant – und völlig unecht.

„Ihr Vater hat mich gebeten, mich um Sie zu kümmern, Jillian. Mein Name ist …“

„Coltrane“, fügte sie hinzu. „Das hätte ich sofort wissen müssen.“

„Wieso?“

„Mein Bruder hat mir von Ihnen erzählt.“

„Nicht viel Schmeichelhaftes, schätze ich“, sagte er leichthin. Seine Stimme klang nicht so sanft wie die der Kalifornier, doch sie konnte seinen Akzent nicht deuten, deshalb vermutete sie, dass er aus dem Mittleren Westen kam. Für sie war das der einzige Hinweis darauf, dass er nicht dem direkten Umfeld ihres Vaters entstammte.

„Kommt ganz darauf an, was sie unter schmeichelhaft verstehen“, sagte Jilly und überlegte, wie sie ganz unauffällig in ihre Schuhe schlüpfen konnte. Er war sowieso schon ziemlich groß, da konnte sie ihm doch nicht auch noch ohne Absätze gegenübertreten.

Wie hatte Dean ihn beschrieben? Als einen hübschen Jungen mit der Seele einer Schlange? Das erschien ihr passend. Er war wirklich attraktiv, ohne den femininen Zug, der meist mit so außergewöhnlich gutem Aussehen einherging. Sie hatte keine Ahnung, ob er homosexuell war oder nicht, davon abgesehen, dass sie das auch gar nicht interessierte. Denn unabhängig von seinen Neigungen war er auf jeden Fall tabu für sie. Wie jeder, der mit ihrem Vater zu tun hatte.

Aber es war eine Freude, ihn anzusehen. Alles an ihm war perfekt: die sonnengebleichten Haare, der Anzug von Armani und das am Kragen geöffnete Hemd aus teurer ägyptischer Baumwolle, das seinen gebräunten Hals zeigte. Er hatte den lang gestreckten, muskulösen Körper eines Läufers. Seine Augen lagen unter schweren Lidern, und sie konnte weder ihre Farbe noch ihren Ausdruck erkennen. Doch sie war überzeugt davon, dass sie hellblau waren und neugierig schauten.

Sie bückte sich und zog ihre Schuhe an, ohne sich länger darum zu kümmern, dass er sie beobachtete. Es war ihr auch egal, dass sie ihm dabei einen tiefen Einblick in ihr Dekolletee gewährte. Er machte nicht gerade den Eindruck, als könne ihn ein tiefer Ausschnitt aus der Fassung bringen.

„Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich doch noch Zeit für mich genommen haben“, sagte sie, „aber ich wollte mit meinem Vater sprechen und nicht mit einem seiner Günstlinge.“

„Einen Günstling hat man mich schon lange nicht mehr genannt“, sagte er gedehnt.

Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Noch immer war sie ein ganzes Stück kleiner als er, doch mit den hochhackigen Schuhen fühlte sie sich weniger verletzlich. „Wo ist mein Vater?“

„Ich fürchte, er ist schon weg.“

„Na gut, dann fahre ich eben zu ihm nach Hause …“

„Er ist nicht in der Stadt. Er und Melba machen einen Kurzurlaub in Mexiko. Es tut mir sehr Leid, aber ich kann ihn dort nicht erreichen.“

„Oh ja, ich sehe, wie Leid es Ihnen tut“, murrte Jilly, und es war ihr egal, wie unhöflich sie war.

Coltrane schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein, sein Lächeln war kühl und unverbindlich.

„Ich will Ihnen nur helfen, verstehen Sie? Wenn Sie irgendein juristisches Problem haben, dann werde ich mich sehr gerne darum kümmern. Oder gibt es Schwierigkeiten mit Ihrem Exmann? Dann kann unsere Rechtsabteilung …“

„Kann sich Ihre Rechtsabteilung auch um einen Eindringling kümmern, der meinem Bruder den Job weggenommen hat?“

Jetzt öffnete er seine Augen weit, und Jilly war überrascht, dass sie nicht blau, sondern smaragdgrün waren. So verwirrend grün, dass es sich dabei nur um farbige Kontaktlinsen handeln konnte, und sie blickten nicht neugierig, sondern abschätzend.

„Hat Ihnen Ihr Bruder das erzählt? Dass ich ihm den Job weggenommen habe?“ Die Vorstellung schien ihn zu belustigen, und Jilly wurde noch wütender.

„Nicht nur seinen Job. Auch seinen Vater“, sagte sie, und ihre Stimme war genauso kalt wie seine.

„Seinen Vater? Nicht Ihren? Jackson Meyer ist kein rührseliger Mensch. Ich glaube, dass er sich weder für mich noch für Ihren Bruder besonders interessiert. Er will nur, dass die Arbeit gut gemacht wird. Und das tue ich.“

„Tatsächlich“, sagte sie jetzt ganz sanft. „Und was tun Sie sonst noch für ihn?“

„Ich morde für ihn, ich verstecke die Leichen, ich tue alles, worum er mich bittet“, antwortete Coltrane unbeeindruckt. „Haben Sie heute Abend schon etwas vor?“

„Das glaube ich Ihnen sofort“, murmelte Jilly, und dann erst registrierte sie seine Frage. „Was haben Sie gesagt?“

„Ich fragte, ob Sie heute Abend schon etwas vorhaben. Es ist nach sieben, und ich habe Hunger. Und Sie sehen so aus, als könnten Sie mich noch mindestens eine Stunde lang beschimpfen, weil ich angeblich das Leben ihres kleinen Bruders ruiniert habe. Wenn Sie mit mir Essen gehen, dann können Sie mich ganz genüsslich auseinandernehmen.“

„Ich habe keine Lust, mit Ihnen Essen zu gehen“, sagte sie verwirrt.

„Na gut, dann bestellen wir uns etwas. Ihr Vater hat einen Lieferservice, der Tag und Nacht bereitsteht.“

„Und außerdem ist er nicht mein kleiner Bruder. Er ist nur zwei Jahre jünger als ich“, fügte sie hinzu.

„Vertrauen Sie mir“, sagte Coltrane, „er ist ganz bestimmt Ihr kleiner Bruder.“ Sie konnte den spöttischen Unterton in seiner Stimme nicht überhören, und das machte sie nur noch wütender. Sie hatte versagt, ihr Vater war mal wieder nicht zu erreichen, wie üblich.

„Ich werde mit meinem Vater sprechen, wenn er zurück ist“, verkündete sie kühl und nahm ihre Handtasche. „Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mr. Coltrane.“

„Coltrane reicht völlig“, sagte er, „und meine Hilfe war noch nicht ausreichend. Sie kommen hier nämlich ohne mich nicht raus.“

„Wie meinen Sie das?“

„Dieses Gebäude hat ein Hochsicherheits-System. Hier kommt nach 19 Uhr niemand rein oder raus ohne eine Codenummer. Jetzt ist es Viertel nach sieben, und ich vermute mal, dass Sie den Code nicht kennen, oder?“

„Nein.“

„Wo haben Sie geparkt? In der Tiefgarage, stimmts? Woanders hätten Sie keinen Parkplatz gefunden. Und dort werden Sie ohne einen Code ebenfalls nicht reinkommen. Wenn Sie also heute noch nach Hause wollen, dann brauchen Sie meine Hilfe.“

Jilly hätte das alles beinahe für einen bösartigen Plan der Vorsehung gehalten, doch dann fiel ihr ein, dass das Schicksal sich bestimmt nicht ausgerechnet für sie interessierte. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, während sie Coltrane anschaute und ihre Möglichkeiten abwog. Sie konnte Dean anrufen, aber er ging häufig einfach nicht ans Telefon. Vielleicht war er auch wieder betrunken, dann konnte er sowieso nicht mehr Auto fahren und sie abholen. Wo Rachel-Ann war, wusste sie nicht. Und außer der herrischen Mrs. Afton kannte sie keine Mitarbeiter von Meyer Enterprises, die ihr hätten helfen können.

„Ich würde gerne gehen“, sagte sie mit fester Stimme. „Jetzt.“

„Und Sie wollen, dass ich Ihnen helfe? Und sagen schön: ‚bitte‘?“

„Ja“, sagte sie und hoffte, dass es in der Hölle einen speziellen Ort für Männer wie ihn gab.

„Sehr gerne.“ Er knipste das Licht aus, und in der plötzlichen Dunkelheit wäre sie beinahe gegen ihn gestoßen, als sie aus der Tür eilen wollte. Instinktiv hatte sie gerade noch rechtzeitig gebremst, aber sie war ihm nahe genug gekommen, um den Stoff seines Jacketts und die Hitze seines Körpers zu spüren. Es machte sie nervös. Doch Jilly hatte schon vor langer Zeit gelernt, ihre Unsicherheit zu verstecken. Sie folgte ihm in vernünftigem Abstand, entschlossen, ihn akkurat einzuhalten.

Das hat Jackson ja mal wieder gut hingekriegt, dachte sie böse. Nicht nur, dass er seine Tochter einfach ignorierte, er schickte ihr auch noch den Feind, um sich um sie zu kümmern. Wäre sie nicht sowieso schon die ganze Zeit verärgert gewesen, dann wäre sie es spätestens jetzt.

Das Gebäude war völlig verlassen, was Jilly erstaunte. Jackson Meyer ermutigte nämlich seine Mitarbeiter, genauso lang und hart zu arbeiten wie er selbst. Sie folgte Coltrane vorbei an den aufgeräumten Schreibtischen und leeren Büros; keine Seele schien mehr in dem Haus zu sein.

Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was die Angestellten hier tatsächlich zu tun hatten, und genauso wenig wusste sie, womit ihr Vater sein Geld verdiente. Ihr Großvater hatte Meyer Enterprises 1940 gegründet und war ins Immobiliengeschäft eingestiegen, indem er riesige Grundstücke, heruntergekommene Fabriken und verfallene Villen aufkaufte. Auch das Haus, in dem sie mit ihren beiden Geschwistern lebte, hatte er kurz vor seinem Tod in den frühen 60er Jahren erworben. Es war das einzige Gebäude, das nicht niedergerissen wurde, um Platz für ein äußerst gewinnbringendes Bürohochhaus zu schaffen, und solange sie dazu irgendetwas zu sagen hatte, würde das auch nicht geschehen.

Gott sei Dank konnte ihr Vater im Moment nicht über das Haus verfügen. Grund dafür war ein erbitterter Streit zwischen ihm und seiner Mutter. Julia Meyer hatte dafür gesorgt, dass die Casa de las Sombras ihren Enkeln Jilly, Dean und Rachel-Ann so lange gehörte, wie mindestens einer von ihnen dort lebte. Sobald jedoch der Letzte von ihnen ausgezogen war, würde es Jackson überschrieben und abgerissen werden.

Seit Jahren schon setzte er alles daran, sie aus dem Haus zu vertreiben. Er versuchte es mit Drohungen, Bestechungen und Wutausbrüchen, und Dean und Rachel-Ann hatten mehr als einmal geschwankt. Doch Jilly, die viel unnachgiebiger war als ihre Geschwister, hatte dafür gesorgt, dass sie nicht aufgaben.

Coltrane tippte ein paar Zahlen in eine Tastatur an der Wand ein, zu schnell, als dass Jilly sie sich hätte merken können, und hielt ihr dann die Tür auf. Sie ging, abermals zu dicht, an ihm vorbei und lächelte ihn kalt und herablassend an.

„Vielen Dank für Ihre Hilfe, doch ab jetzt komme ich alleine zurecht.“

„Ohne den Sicherheitscode können Sie den Aufzug nicht rufen“, sagte er. „Wir befinden uns im 31. Stockwerk, das ist ein verdammt langer Weg nach unten. Und wenn Sie schließlich unten ankommen, werden Sie feststellen, dass die Tür verschlossen ist, und Sie müssen die ganzen Treppen wieder hochsteigen. Ganz abgesehen von dem kleinen Garagen-Problem.“

„Ich habe mein Handy dabei, ich kann mir ein Taxi rufen.“

„Früher oder später werden Sie aber Ihr Auto hier rausholen müssen. Es sei denn, Sie wollen sich von Daddys Geld einfach ein neues kaufen.“

Seine offensichtliche Verachtung ließ sie zusammenzucken, und sie starrte ihn an.

„Offenbar wissen Sie nicht, dass ich nicht vom Geld meines Vaters lebe. Das wundert mich doch sehr. Vielleicht sind Sie in seine Angelegenheiten doch nicht so eingeweiht, wie Dean vermutet.“

Coltrane lächelte. „Sie haben die Wahl, Jilly. Sie können die Nacht damit verbringen, einunddreißig Stockwerke hoch und runter zu laufen, oder Sie können meine Hilfe annehmen.“

Im Moment schien es ihr tatsächlich angenehmer, im Treppenhaus eingesperrt zu sein als mit Coltrane in dem bronzefarbenen Aufzug im Art-déco-Stil, den Jackson in das Meyer-Gebäude hatte einbauen lassen. Doch das wollte sie ihm nicht verraten.

„Dann rufen Sie doch schon diesen Fahrstuhl“, sagte sie resigniert. Sie fühlte sich wieder wie auf dem Karren, der unerbittlich der Guillotine entgegenfuhr.

Coltrane gab schnell eine andere Zahlenkombination ein, und die Tür öffnete sich sofort. Sie hatte keine Ahnung, warum der Aufzug bereits auf der richtigen Etage war, aber sie wollte nicht nachfragen. Es war schon schwer genug, mit dem Widersacher ihres Bruders in ein und denselben Fahrstuhl zu steigen.

Jilly litt ein wenig unter Höhen- und Platzangst, aber auch unter Angst vor Männern wie Coltrane. Große, unglaublich attraktive, selbstsichere Männer, die genau wussten, wie beunruhigend sie wirkten. Es war eine raffiniert erotische Beunruhigung, also die schlimmste ihrer Art, und normalerweise war sie für so etwas unempfänglich. Trotzdem wäre sie lieber nicht mit ihm zusammen in den engen Fahrstuhl gestiegen.

Leider hatte sie keine Wahl. Er beobachtete sie, während er wartete, doch sie konnte den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten. Schließlich trat sie, von Coltrane gefolgt, in den Aufzug, die Türen schlossen sich mit einem leisen Zischen, und Jilly wappnete sich, um ihrem Verhängnis sehenden Auges entgegenzutreten.

2. KAPITEL

Jackson Meyers Tochter hatte Angst vor ihm! Coltrane war fasziniert von dieser Entdeckung. Er wünschte, es gäbe einen Weg, den Aufzug anzuhalten, damit sie noch länger mit ihm in einem engen Raum eingesperrt war.

Er hatte sie beim Schlafen beobachtet, erstaunt darüber, dass sie ganz anders war, als er sie sich vorgestellt hatte. Er hielt nicht viel von Dean und hatte sich deshalb ein ganz bestimmtes Bild von dessen Geschwistern gemacht. Hinzu kam, was er über Rachel-Anns unersättlichen Appetit auf Drogen und Sex gehört hatte. Er war davon ausgegangen, dass Jillian ebenso genusssüchtig und selbstzerstörerisch veranlagt sein und ihrem Vater mehr ähneln würde.

Jilly Meyer war keine der typischen Blondinen, wie man sie überall in Kalifornien sah. Sie hatte eine braune Mähne, einen kräftigen Körper und endlos lange Beine. Sie war wahrlich keine zierliche Blume. Ihre körperliche Präsenz war aggressiv und erregend zugleich, selbst jetzt, als sie sich in die hinterste Ecke des Aufzugs presste.

Es überraschte ihn, dass sie klug genug war, Angst vor ihm zu haben, schließlich war er sehr gut darin, sich als lässiger, harmloser Südkalifornier auszugeben. Niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, wie gefährlich er in Wirklichkeit sein konnte.

Ausgenommen Jilly Meyer, die aussah, als wünschte sie, dass der Boden sich vor ihr auftäte und sie verschlänge. Ihre Kleidung war zerknittert, ihr Haar zerzaust, und sie wirkte schläfrig, vorsichtig und feindselig zugleich. Das war wirklich eine unwiderstehliche Kombination.

Coltrane gab sich kurz der anschaulichen Fantasie hin, wie er den Notfallknopf drücken, sie gegen die Fahrstuhlwand pressen und ihren viel zu kurzen Rock hochschieben würde. Er stellte sich vor, wie sie ihre langen, starken Beine um seine Hüften schlingen und endlich aufhören würde, ihn so fragend anzuschauen.

Im Erdgeschoss öffnete sich die Fahrstuhltür mit einem leisen Zischen, und seine Fantasie löste sich auf – unerfüllt. Sie gingen zu der Tür, die zu den Garagen führte. Er tippte den Code für die Garage ein, worauf ein Brummen ertönte. Als er die Tür aufstieß, schob sich Jilly an ihm vorbei, und er wünschte sich fast, dass sie versuchen würde wegzurennen. Es würde Spaß machen, sie aufzuhalten.

Aber sie war viel zu gut erzogen. Sie streckte ihm ihre schmale Hand entgegen, und er bemerkte, dass sie elegante, schlichte Ringe aus Silber trug. Seine Hand verschluckte ihre geradezu, und er drückte sie so fest, dass sie ihn nicht länger übergehen konnte. Sie schaute ihn durch ihre langen Wimpern hindurch an.

„Ich bin naturgemäß nicht in der Lage, mit Ihnen einen Pinkel-Wettbewerb auszutragen, Mr. Coltrane“, murmelte sie.

Er gab ihre Hand frei. „Wo wollen wir zu Abend essen?“

„Keine Ahnung, wo Sie zu Abend essen. Ich jedenfalls gehe nach Hause.“

„Können Sie gut kochen?“

„Nicht für Sie.“

Es machte ihm Spaß, sie zu ärgern. Er hatte noch nicht beschlossen, wie es weitergehen sollte; es war so einfach, ihr auf die Nerven zu gehen, viel einfacher, als sie zu verführen.

Oder auch nicht. Das würde er schnell herausfinden.

Nur noch wenige Autos standen in der verlassenen Garage. Er fragte sich, ob ihr das rote BMW-Cabriolet oder der Mercedes gehörte. Doch dann sah er die Corvette, Baujahr 1966 vermutete er, liebevoll restauriert, ein Kunstwerk!

Er machte nicht noch einmal den Fehler, sie zu berühren, sondern steuerte einfach auf das Auto zu.

„Hübsche Corvette“, sagte er.

Sie warf ihm einen vorsichtigen Blick zu. „Wie kommen Sie darauf, dass das mein Auto ist?“

„Es passt zu Ihnen. Lassen Sie mich fahren?“

Genauso gut hätte er ihr vorschlagen können, gemeinsam seine Fahrstuhlfantasie auszuleben. „Auf gar keinen Fall!“

„Sie brauchen sich keine Sorgen um Ihr Auto zu machen. Ich bin ein guter Fahrer, und ich kann mit einer Gangschaltung umgehen. Ich werde dem Getriebe bestimmt keinen Schaden zufügen.“

Ihr Gesichtsausdruck war unbezahlbar. „Mr. Coltrane, wenn Sie meine Corvette mit demselben Geschick behandeln wie mich, dann wird sie kaputt sein, bevor sie auch nur den ersten Gang eingelegt haben“, sagte sie. „Sie werden weder mein Auto noch mich bekommen. Ist das klar genug?“

„Kristallklar“, antwortete er gedehnt. Ich gebe ihr eine Woche, dachte er. Eine Woche, bevor sie sich mir hingibt, zwei Wochen, bis ich ihr Auto fahren darf.

„Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie mich auch nicht nach Hause bringen wollen?“

„Wo ist denn Ihr Auto?“

„Noch beim Händler. Zurzeit fahre ich einen Geschäftswagen, aber Sie haben mich abgelenkt, und ich habe oben den Schlüssel vergessen.“

„Dann fahren Sie doch wieder hoch und holen ihn.“

Er schüttelte den Kopf. „Die Tür hat ein Zeitschloss. Sobald der letzte Mitarbeiter gegangen ist, kann keiner mehr vor dem nächsten Morgen rein.“

„Was zum Teufel versteckt mein Vater denn da oben? Das Gold von Fort Knox?“ fragte sie irritiert.

„Nur private Unterlagen. Ihr Vater ist in einige sehr komplizierte und heikle Geschäfte verwickelt. Es wäre nicht sinnvoll, wenn jeder einfach reinlaufen und die Akten einsehen könnte.“

„Jemand wie seine Tochter vielleicht? Die offenbar viel zu einfältig ist, um diese komplizierten und heiklen Geschäfte zu verstehen?“ spottete sie.

Er ignorierte das. „Ich wohne in der Nähe von Brentwood. Das wäre für Sie kein großer Umweg.“

„Woher wissen Sie, in welche Richtung ich fahre?“

„Sie sagten, Sie wollten nach Hause. Sie leben in diesem alten Mausoleum mit Ihrem Bruder und Ihrer Schwester. Und meine Wohnung liegt fast auf dem Weg.“

„Rufen Sie sich doch ein Taxi.“

„Mein Handy funktioniert nicht.“

„Dann nehmen Sie meines.“ Sie wühlte in ihrer Handtasche, fest entschlossen, ihn endlich loszuwerden. Einen Moment später hielt sie ihm ein Telefon entgegen.

„Warum nur fühlen Sie sich in meiner Gegenwart so unwohl?“ fragte er und machte keine Anstalten, das Telefon zu nehmen.

„Darum geht es doch gar nicht“, sagte sie. „Ich habe eine Verabredung.“

Gleich zwei Lügen, dachte er, und sie log nicht einmal besonders gut. Ganz anders als ihr Bruder Dean, der nicht viel von der Wahrheit hielt. Und ihr Vater interessierte sich für die Wahrheit nur dann, wenn sie ihm hilfreich war, meistens also, wenn er andere manipulieren wollte. Jilly Meyer hingegen konnte nicht lügen, was er auf eigenartige Weise reizvoll fand. Doch auch davon würde er sich auf keinen Fall von seinen Plänen abbringen lassen.

„Na gut, dann müssen Sie aber doch bestimmt zuerst nach Hause und sich umziehen. Und, wie gesagt, meine Wohnung liegt auf dem Weg“, wiederholte er.

Sie warf ihr Handy zurück in die Handtasche und ging auf die Fahrertür zu. „Steigen Sie schon in das verdammte Auto ein.“

Er rechnete fast damit, dass sie einfach wegfahren würde, ohne ihn vorher einsteigen zu lassen, wobei sie nicht weit kommen würde – die Garagentür ließ sich ebenfalls nur mit dem Code öffnen. Doch sie setzte sich hinter das Lenkrad, lehnte sich über den Sitz, entriegelte die Beifahrertür und zog sich sofort wieder zurück, als er einstieg. Die Corvette war bestens erhalten, und einen Augenblick lang war er von purem Neid erfüllt. Er wollte dieses Auto haben!

Nicht dass er einfach eine Corvette besitzen wollte. Mit dem völlig überzogenen Gehalt, das Jackson Meyer ihm zahlte, konnte er sich jedes Auto leisten, das ihm in den Sinn kam. Aber es ging ihm nicht einfach um irgendeine Corvette aus dem Jahr 1966. Er wollte genau diese Corvette.

Jilly befestigte die Metallschnalle des Gurtes und warf Coltrane einen bedeutsamen Blick zu. Doch er machte keine Anstalten, sich anzuschnallen. „Ich lebe gerne gefährlich“, sagte er.

Ihr kurzer Rock rutschte noch ein Stück weiter hoch, aber er hatte beschlossen, ihr zunächst keine schönen Augen mehr zu machen. Sie hatte ihn bereits verstanden, er konnte sich ein wenig zurückhalten. Auf seinen Range Rover verschwendete er keinen einzigen Blick. Sie würde bestimmt nicht auf die Idee kommen, dass das Auto ihm gehörte, dazu war sie viel zu durcheinander.

Wie ein geölter Blitz schoss sie aus der Garage, die quietschenden Reifen schienen gegen seine unerwünschte Gegenwart zu protestieren. Als sie durch die Straßen von Los Angeles raste, klammerte er sich verstohlen an seinem Ledersitz fest und bemühte sich, völlig ausdruckslos zu blicken.

Sie fuhr wirklich gut, das musste man ihr lassen. Sie fädelte sich in den Verkehr ein, scherte aus, beschleunigte, wenn er es am wenigsten erwartete, und wich Fußgängern und Polizisten mit derselben Geschicklichkeit aus. Am liebsten hätte er ihr ins Lenkrad gegriffen. Es war klar, dass sie ihm mit ihrer Raserei Angst machen wollte, und sie hatte Erfolg damit. Sie war in L.A. aufgewachsen und hatte gelernt, wie man auf den Freeways und Boulevards fahren musste. Jetzt rächte sie sich dafür, dass er sie so eingeschüchtert hatte.

Während ihrer wilden Fahrt durch die belebten Straßen verschwendete sie keinen einzigen Blick an ihn. Sie konzentrierte sich ausschließlich auf die Fahrt, während er sich noch ein wenig fester hielt und kein Wort sagte. Er wünschte nur, er hätte sich angeschnallt.

Als sie mit quietschenden Reifen vor seinem Wohnblock anhielt, musste er sich am Armaturenbrett abstützen, um nicht durch die Windschutzscheibe zu fliegen. Sie wandte sich ihm zu und lächelte unschuldig, doch ihre Augen glänzten in stillem Triumph. „Wir sind da.“

Er ließ sich nichts anmerken. „Für den Fall, dass sie mir Angst einjagen wollten: Es ist Ihnen nicht gelungen. Wie gesagt, ich lebe gerne gefährlich.“

„Wir sind da“, sagte sie noch einmal, nachdrücklicher diesmal. „Adieu.“

„Und was ist mit Ihrem Bruder?“

„Was ist mit ihm?“

„Wollen Sie nicht wissen, was Ihr Vater mit ihm vorhat? Sind Sie nicht deshalb überhaupt in sein Büro gekommen?“

„Was hat mein Vater denn vor?“

„Morgen Abend. Ich hole Sie um sieben Uhr ab. Zum Dinner.“

„Ich habe zu tun.“

„Verschieben Sie es. Ihr Bruder steht bei Ihnen schließlich an erster Stelle, man kann es Ihnen ansehen! Oder ist er Ihnen doch nicht so wichtig?“

Jetzt trieb er es eindeutig zu weit, aber er wollte, dass sie verärgert blieb und somit interessiert und kämpferisch.

„Okay, ich werde Sie abholen.“

„Und mir damit die einmalige Chance nehmen, die legendäre Casa de las Sombras zu sehen? Nein, ich hole Sie ab.“

„Wenn Sie sich für berühmte Hollywood-Häuser begeistern, dann können Sie eine dieser Bus-Rundfahrten machen. La Casa de las Sombras wird von den meisten angefahren.“

„Auch von der Tour, die ausschließlich an skandalösen Orten anhält? Wie auch immer, ich würde auf jeden Fall lieber von einem Bewohner durch das Haus geführt werden.“

„Dean ist einer der Bewohner. Wenn Sie ihn gut behandeln, wird er Sie ja vielleicht einmal einladen.“

„Ich bin nicht gerade Deans Typ“, sagte er.

„Meiner sind Sie auch nicht.“

„Wie ist denn Ihr Typ? Ich hätte zum Beispiel nicht vermutet, dass sie einen Mann wie Alan Dunbar heiraten würden.“

Sie hatte offenbar vergessen, dass er Zugriff auf sämtliche Akten der Meyers hatte, ihre Scheidungsunterlagen inbegriffen.

„Ich glaube, ich habe erst einmal genug von Ihnen“, sagte sie mit ruhiger Stimme.

„Erst einmal“, stimmte er zu, öffnete dann die Tür und schwang seine langen Beine aus dem Auto. „Ich hole Sie morgen um sieben ab.“

Sie ließ den Motor aufheulen und raste davon, während er unter einer Palme stand und ihr nachsah. Er konnte sich nicht entscheiden, ob es ihn mehr nach der Frau oder nach dem Auto verlangte. Und vor allem, was davon er hinterher behalten wollte.

Er zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich weder noch. Nach fast einem Jahr kam endlich etwas Bewegung in sein Vorhaben, und es wurde auch höchste Zeit. Jilly Meyers dickköpfige Haltung zu brechen war dabei nur das Sahnehäubchen, es ging ja in Wirklichkeit um viel mehr.

Eigentlich hatte er vorgehabt, Rachel-Ann zu verführen und zeitgleich den Rest der Familie Meyer zu vernichten. Rachel-Ann war offenkundig die Verletzlichste der Geschwister, das wusste er, obwohl er sie bisher nie zu Gesicht bekommen hatte, noch nicht einmal aus der Ferne. Seit er in L.A. wohnte, war sie zunächst mit ihrem dritten Mann in den Flitterwochen gewesen, hatte dann eine schnelle Scheidung hinter sich gebracht und lange Zeit in Kliniken und Entgiftungs-Zentren verbracht. Mit 33 war sie, wie er gehört hatte, noch immer sehr schön und sehr einfach zu haben. Doch ihn reizte die Herausforderung, das undefinierbare Vergnügen, das Jilly Meyer ihm bereitete. Sie wäre ein köstliches Dessert in seinem Menüplan aus Wahrheit und Rache.

Zunächst aber musste er sich bei den drei ungleichen Geschwistern einschleichen. Er blickte an dem teuren, exklusiven Apartment-Haus hoch, in dem er seit einem Jahr lebte, umgeben von Geschäftemachern und Händlern, die genauso skrupellos waren wie er selbst.

Es war höchste Zeit, einen kleinen Brand zu legen.

Jilly jagte die lang gezogene Einfahrt zu La Casa hinauf, kleine Kieselsteine spritzten unter den Rädern hoch. In der riesigen Garage, in der sieben Autos Platz hatten, kam sie abrupt zum Stehen. Ihre Hände zitterten, als sie den Motor abstellte. Sie blieb mit geschlossenen Augen sitzen, noch immer angeschnallt, und versuchte, sich zu beruhigen.

Sie hatte sich komplett lächerlich gemacht. Allein die Tatsache, dass sie im Wartezimmer ihres Vaters eingeschlafen war! Und dann ließ sie es auch noch zu, dass dieser idiotische Coltrane sie zur Weißglut brachte. Er war genau so, wie Dean ihn beschrieben hatte: ruhig, attraktiv und so verdammt selbstsicher, dass sie ihn am liebsten geohrfeigt hätte. Außerdem irrte sich Coltrane in einem Punkt gewaltig: Teil des Problems war nämlich, dass er genau Deans Typ entsprach! Leider schien Coltrane Deans sexuelle Vorlieben nicht zu teilen, was alles viel einfacher gemacht hätte. Dann würde er sie nicht ansehen, als sei sie Julia Roberts, und sie in Ruhe lassen.

Sie lehnte sich vor und legte ihre Stirn auf das lederbezogene Lenkrad. Sie hatte überhaupt keine Lust auf so etwas. Sie war es leid, ständig auf ihre Geschwister und das Haus aufzupassen, das immer mehr verfiel. Dieses Haus, das sie mit absoluter Hingabe liebte.

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